Der Wortlaut-Pass: das ideale Kulturgeschenk zu Weihnachten

Wer ein eindrückliches Geschenk zu Weihnachten sucht, wird in diesem Jahr bei Wortlaut fündig. Das im kommenden März zum 12. Mal stattfindende Sankt Galler Literaturfestival bietet allen Kulturinteressierten den preislich reduzierten Wortlaut-Festival-Pass für 65 Franken (Normalpreis: 70 Franken). Damit können Besucherinnen und Besucher die gesamte Festivalzeit, sprich: volle vier Tage, an allen 25 Kulturveranstaltungen der Reihen Laut, Luise, Lechts und Rinks teilnehmen.

Da Wortlaut das gesamte Festivalprogramm erst Anfang Februar bekannt geben wird, sollen an dieser Stelle lediglich ein paar geladene Künstlerinnen und Künstler genannt werden: Da ist zum einen die junge Ostschweizer Autorin Laura Vogt, die bei ihrer Buchvernissage im Raum für Literatur aus ihrem zweiten Roman mit dem Titel «Was uns betrifft» lesen wird. Zum anderen der Grafiker und Illustrator Nando von Arb, der mit seinem originellen Comic «Drei Väter» zu Wortlaut eingeladen wurde. Die zuletzt für den Schweizer Buchpreis nominierte Autorin Ivna Žic wird in der Kellerbühne ihr Buch «Die Nachkommende» vorstellen. Das Mundart Pop Duo Cruise Ship Misery präsentiert in seiner Show «Urteil» eine unbeschönigte und bunte Palette an Berichten rund um die physischen und mentalen Gefangenschaften des Lebens. Nicht zuletzt plant Lisa Christ, ihres Zeichens schweizweit bekannte Slam Poetin, einen fulminanten Auftritt in der Reihe Laut.

Der Wortlaut-Pass als Weihnachts-Kultur-Geschenk und Gutschein kann direkt über die Mailadresse info@wortlaut.ch bestellt werden. Die Veranstalter garantieren die postalische Zusendung des schön gestalteten Gutscheins rechtzeitig vor Weihnachten.

Ganz speziell lädt literaturblatt.ch am 6. März 2020, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, St. Gallen zur Buchvernissage von «Was uns betrifft» im Rahmen des St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» ein. Moderiert wird die Buchtaufe von Gallus Frei-Tomic.

«Manchmal träume ich von Lücken»
Ein Haus auf dem Land, ein Mann, ein Kind – ist es das, was Rahel sucht, als sie hochschwanger zu Boris zieht und ihre Karriere als Jazzsängerin aufgibt? Nichts für mich, findet ihre Schwester Fenna, die eines Tages vor der Tür steht, um auf unbestimmte Zeit zu bleiben. Während sich Fenna an ihrer leidenschaftlichen und schwierigen Beziehung zu Luc abarbeitet und die Schwester mit ihrer ganz eigenen Sicht auf die Welt konfrontiert, kämpft Rahel seit der Geburt ihres zweiten Kindes mit einer postnatalen Depression und den Erinnerungen an ihre Kunst sowie an ihren Vater, der die Familie längst verlassen hat. Als auch noch die kranke Mutter an- und Boris mit den Kindern abreist, scheint Rahel den Boden unter den Füssen ganz zu verlieren.

Was bedeutet es in der heutigen Zeit, Mutter zu sein? Was ist Weiblichkeit? Welche Beziehungen sind möglich, und wie bleibt man darin selbstbestimmt? Ein kluger zweiter Roman der Ostschweizer Autorin Laura Vogt.

Laura Vogt, geb. 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman ‹So einfach war es also zu gehen›. Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Webseite Wortlaut Literaturfestival

Webseite Laura Vogt

Fee Katrin Kanzler liest, Gallus Frei-Tomic moderiert

am 30. November, 19 Uhr, Raum für Literatur,
Hauptpost / St. Gallen, St. Leonhardstrasse 40 / 3. Stock,
Eintritt 15 CHF / ermässigt 10 CHF / GdSL-Mitglieder gratis

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

Andrea Gerster «Alex und Nelli», Lenos

2016 gab es in Deutschland 335 000 Obdachlose. 35 % mehr als 2010. (In der Schweiz gibt es sie auch – aber keine Zahlen!) Wer in Berlin oder irgendeiner andern Stadt durch die Gassen geht, sieht sie. Sie nicht zu sehen, ist unmöglich. Andrea Gerster erzählt in ihrem neuen Roman „Alex und Nelli“ die Geschichte von Alexander Steiner, der sich irgendwann nur noch Alex, noch später Ale nennt. Und von Nelli, die von Alexanders Verschwinden nicht losgelassen wird. Ein Roman über die Reduzierung mehrerer Leben.

Dem Roman ist ein Zitat von Elfriede Jelinek vorangestellt: „Wenn einer ein Schicksal hat, dann ist es ein Mann. Wenn einer ein Schicksal bekommt, dann ist es eine Frau.“
Alexander Steiner liebt seinen Jaguar, das Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik. Vielleicht liebte Alexander auch Nelli. Aber Alexander liebt sich selbst nicht, genauso wenig wie seine Hände, die er lieber in Lederhandschuhen versteckt. Als die Geschäfte bei Architektur Steiner & Berger schlechter gehen, sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster in den Tod springt, er mit seinem Raubtier eine Frau zu Tode fährt und Nelli ihn verlässt, bleibt nichts mehr übrig. Nichts. „Steiner schrumpft.“ Alexander Steiner taucht ab, nach Deutschland, nach Berlin. Zuerst mit der Absicht, es noch einmal zu versuchen, diesmal als Alex. Was nicht gelingt. Von Alexander Steiner bleibt Ale. Ale ist einer der Obdachlosen in der Millionenstadt, einer von vielen, ein Mann mit Schicksal. Ein Mann, der seine Vergangenheit auszulöschen versucht.

Bei Nelli, die bei Alexander Steiner auszog, waren es weder die kleinen noch die grossen Gemeinheiten, die sie aus der gemeinsamen Wohnung trieben. Nelli war schwanger und Alexander überzeugte sie davon, dass es besser sei, das Kind wegzumachen. Was man aus Nelli wegmachte, war aber viel mehr als das ungeborene Kind. Und weil dieses ungeborene Kind Nelli nicht loslässt, es sich im Laufe des Romans immer deutlicher als Vorstellung Nellis manifestiert, macht sich Nelli auf die Suche nach Alexander. Auf die Suche nach dem Verlorenen.

„Alex und Nelli“ ist keine Liebesgeschichte. Aber die Geschichte verlorener Liebe. Alexander glaubt sich von aller Liebe verlassen, lässt alles zurück, kappt alles. Nelli sucht nicht nur nach Alexander, auch nach dem was er ihr genommen hatte, nach dem, was ihr das Leben doch versprochen hatte, die Liebe. Alexander taucht ab, verschwindet, wird zusammengeschlagen, bleibt liegen als Haufen Elend. Was ihn am Leben lässt, ist die wiedergefundene Liebe zum Leben, das absolut reduzierte Sein.

«Man kann so oder so glücklich werden, muss aber nicht.»

Der Handlungsverlauf des Romans strapaziert die Grenzen des Konstruierten arg. Zufälligkeiten, die ich nur schwer nachvollziehen kann und Szenen, deren Glaubwürdigkeit meine Vorstellungskraft zu sehr ausreizt. Trotzdem überzeugt der Roman, die knappe Sprache, wie sehr sich die Autorin auf das Wesentliche fokussiert. Andrea Gerster spiegelt die Gesellschaft, lotet Gegensätze aus, packt jedoch viel in die Geschichte hinein. Allein Alexanders Herkunft, die Geschichte seiner frühsten Kindheit, erinnert an Bilder aus dem Film Trainspotting. Und das traumhafte Erscheinen des ungeborenen Kindes bei Nellis Suche nach dem nicht gewordenen Vater trägt das Geschehen an den Rand des Realen. Das Ungeborene, das sich einmischt. Nellis Kind, dass sie damals hatte abtreiben lassen, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Alex und Nelli“ ist die Geschichte von Lügen. Alex selbst belügt sich lange genug, bis die dünne Schicht nicht mehr trägt und er einbricht. Nelli lügt nicht weniger. Sie trennt sich mit einer Lüge von ihrem neuen Freund Len, reist mit einer Lüge nach Berlin und lockt Alex mit einer Lüge aus seinem abgewandten Dasein. Andrea Gerster offenbart, was Lebenslügen anrichten, dass Wahrhaftigkeit und Wahrheit vielleicht doch nicht ohne Lüge auskommen, dass Glück nicht immer dort liegt, wo man sucht. Weder Nelli noch Alex wollen die Konfrontation, obwohl sie Zufall und Absicht mehrfach aneinander vorbeischrammen lassen. Zufälle und Absichten, die mir nicht immer glaubhaft erscheinen.

Andrea Gersters sechster Roman, der vom Lenos Verlag als „tragikomisch“ angepriesen wird, will viel, schafft aber nicht alles. Lesenswert, unterhaltsam, herausfordernd und gut geschrieben ist er aber allemal. Ein Roman, der den Nerv der Zeit trifft. Ein Roman über die Einsamkeit und Zerrissenheit des Menschen.

Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane, Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffenlicht. Andrea Gerster ist zudem Progammverantwortliche im Literaturhaus Lichtenstein.

Buchvernissage «Alex und Nelli»
Dienstag, 24. Oktober 2017, 19 Uhr, Hauptpost, Raum für Literatur, st. Leonardstrasse, St. Gallen, Buchfest mit Lesung und Apéro, Moderation Rebecca C. Schnyder, Büchertisch Buchhandlung Comedia, St. Gallen.

Webseite der Autorin

gedruckt im Kulturmagazin „Saiten“, Oktoberausgabe 2017

Titelfoto: Sandra Kottonau

Christine Fischer «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen», orte-Verlag

Kein Roman, keine Erzählung, kein Gedicht. Vielleicht philosophische Prosa. Ganz sicher Gedanken über die Hintergründe der Dinge, die abgewandten Seiten, die Unterböden, auf denen wir stehen, die aber fast immer unsichtbar sind. Ein Büchlein wie ein Brevier. Aber nicht so einfach hingebetet, keine Litanei, keine Allgemeinheiten.

Christine Fischer interessiert sich für Innenwelten. In ihren Büchern beschreibt sie Menschen in ihren Zweifeln, Abgründen, geht ihnen ganz nah. Dieses Büchlein blickt von Innen nach Aussen. Es bildet ab, was die Autorin denkt, fühlt und sieht; Das Denken um die Welt, das Fühlen einer Empfindsamen, das Sehen einer Frau, die weit über den eigenen Nabel, die eigene Nasenspitze hinaussieht. Fast hundert kurze und kürzeste Gedankenfenster mit den Kapitelüberschriften «Anrufungen», «Mutmassungen», «Anfechtungen», «Behauptungen», «Bedachtsamkeiten», «Begründungen» und «Lobpreisungen». Begriffe, die aus der Zeit gefallen scheinen, für die es sonst keine Verwendung mehr zu geben scheint. Ein Büchlein, das in der Buchhandlung in kein Regal passt, nicht zu Lyrik, nicht zu den Ratgebern, kein Reiseführer. Aber genau das ist es, was den Reiz dieses Büchleins ausmacht. Christine Fischer muss nichts mehr beweisen. Am allerwenigsten, dass sie schreiben kann, dass sie denken kann, dass Sprache ein Instrument ist, das ebenso Klang wie Wirkung erzeugt.

Das rosa Büchlein (Die Farbe vertrage ich auch in diesem Fall nur schlecht. Keine Ahnung, wie der Verlag zu dieser Farbe kommen konnte! Kein Deut von einer rosa Brille! Auch kein Wohlfühlbüchlein!) lag ein paar Tage auf meinem Nachttischchen. Christine Fischers kleine Texte begleiteten mich in die Nacht, an den Schlaf heran, dort, wo Gedanken sich freimachen. Einmal nahm ich das Büchlein mit in den Zug, las darin im Stehen gleich neben der Tür, weil der Zug so voll war. Irgendwann spürte ich die Blicke auf mir und dem kleinen rosa Büchlein. Nicht nur die Farbe verunsichert, manchmal tun es auch die Texte. Sie beschwört die Müdigkeit, bei ihr zu bleiben, den Zorn und die Fäulnis. Sie mutmasst, ob es tote Dinge wirklich gibt, was Pflanzen täten, wenn sie Wetterprognosen lesen würden. Christine Fischer nimmt die Nacht ins Visier, weiss, dass sie Nacht am Gürtel ein Messer trägt, mit dem sie Taue kappt, die einem mit dem Ufer der Gewissheit verbinden.
Kaum ein Text tut, was Morgenbetrachtungen tun. Sie schützen nicht, klären nicht, trösten nicht und beschwichtigen nicht. Sie rütteln und trotzen, sie zerren und stossen. Christine Fischer mischt sich ein, tut dies mit Poesie und Sprachgewalt.

behauptungen, Jan Kaeser

Die Graphit-Zeichnungen wurden vom St. Galler Künstler Jan Kaeser eigens für dieses Buch erstellt. Er liess sich von den Texten «erschüttern und erregen». Diese inneren Bewegungen habe er gleich einem Seismographen während des Lesens direkt mit dem Graphitstift auf Papier übertragen. Im Buch sind Ausschnitte davon abgebildet. Die beiden Künstler verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft. Etwas, das spürbar wird, wenn man sich auf Zeichnungen und Texte einlässt.

Ein Interview:

Deine Texte in deinem Buch machen ganz und gar nicht den Eindruck, als hättest du sie in eine Ordnung gebracht, Titel dazugeschrieben und sie so zu einer Einheit gemacht. Wie entstand dieses Buch? War da ein Plan, eine Absicht?
Wie so oft beim Schreiben, entstand der Anfang zufällig. Ein Schriftstellerkollege hatte mir gesagt, dass ich an den Anfang meiner Texte oft eine Behauptung stelle. Gut, dachte ich mir, so behaupte ich nun absichtlich! Und da ich in jener Zeit oft an Betten von Sterbenden wachte und ein ganz neues Verhältnis zur «Nacht» entwickelte, stelle ich als erstes Behauptungen zur Nacht auf. Nicht alle meine Gedanken konnte ich dort subsumieren, also suchte ich nach weiteren «Klarsichtmäppchen», in denen ich meine Gedanken und Überlegungen zur Wahrnehmung der Welt unterbringen konnte. Um diese Einheiten gegeneinander noch besser abzugrenzen, wählte ich für jede eine besondere sprachliche Form, vom Duktus her oder grammatikalisch, beispielsweise den Konjunktiv bei den «Mutmassungen», die biblisch anmutende Sprache bei den Textfragmenten über die Liebe in den «Begründungen», oder den immer gleichen Anfang wie bei den «Lobpreisungen». Es liegt also durchaus einiges an formalen Überlegungen und Strukturarbeit in dieser Textsammlung. Ich bekam so richtig Freude daran, subtilere Gedankengänge zu beschreiben und nach geeigneten Titeln, Wörtern, Bildern dafür zu suchen. «Subtleties», hiess der Arbeitstitel, also Subtilitäten, denn ich wusste ja auch nicht genau, was hier im Entstehen begriffen war und wie es zu betiteln wäre. Bis heute tue ich mich schwer zu erklären, was diese Sammlung enthält. «Federwolken», das war auch so ein geheimer, vorläufiger Titel. Dieser Titel weist darauf hin, wie dieses Buch entstand: Zwar aus dem Blauen hinaus sich Textwölckchen und Wölckchen entwickelnd, seine Form suchend und findend, ordentliche Reihen bildend – und sich dem Zugriff entziehend, vorläufig, flüchtig.

anfechtungen, Jan Kaeser

Wie entstanden die einzelnen Texte?
Wie bereits oben beschrieben, gab es eine initiale Sammlung von «Behauptungen zur Nacht», die aber ziemlich sofort nach weiteren Unterkapiteln rief. So entstanden parallel kurze Niederschriften auf Notizzetteln, die ich dann in der wachsenden Zahl von Titel Unterschlupf fanden, aber erst, nachdem sie sprachlich entsprechend gekämmt worden waren. Das ganze Konglomerat entstand über einen Zeitraum von etwa 4 Monaten. Ideen, Gedanken und ganze Sätze springen mich oft an im Halbwachzustand (Aufwachen, Einschlafen, Dösen), beim Spazieren oder beim Zugfahren, auch Abwaschen oder Staubsagen sind tolle Ideenbegünstiger. Der diskursive Geist muss abgelenkt werden, dann entsteht Raum für Subtileres, für «Federwolken». Ich glaube, dass jeder Mensch sich laufend ganz viele Gedanken macht zum Leben und seinen Erscheinungen, aber diese Gedanken vielleicht nicht erhascht oder sie ganz einfach nicht aufschreibt.

Die Texte lassen tief blicken, zeigen viel von dir. Wieviel Scham spielte bei der Auswahl der Texte?
Ich glaube, ich liess mich leiten vom Anspruch der Wahrhaftigkeit. Wird man ihm gerecht, ist man geschützt von Gefühlen der Scham, der Entblössung. Es gelangt dann das zur Gestalt, was Gestalt annehmen will und muss. Nicht im Sinne einer Sendung oder Mission, sondern als Ausdruck von Erkenntnissen, die mehr kollektiver als subjektiver Natur sind. Also kein Erfinden, sondern eher ein Beschreiben von tieferen Schichten der Wahrnehmung, dem eigentlich Unnennbaren. Dies als Versuch, der durchaus auch scheitern oder irren darf. 

Irgendwie erweckt dieses Buch den Eindruck, als wäre da drin Resümee, ein Statement zur Gegenwart und Zukunft. Was wünschst du dir?
Ich glaube nicht, dass man Erkenntnisse zusammenfassen kann – jedes Leben ist

mutmassungen, Jan Kaeser

ein «work in progress», alles andere wäre niederschmetternd. Für mich sind diese Texte Verlautbarungen aus dem gegenwärtigen Moment heraus. Schon ein Tag oder auch nur eine Stunde später würde es wohl anders tönen. Aber natürlich steht da Vergangenheit dahinter, erlebte Geschichte, all das, was man Lebenserfahrung nennt, aber auch Nachdenken, Nachspüren und die Lust am Spiel. Zukunftsweisend möchte und kann ich nicht sein, doch ich wünsche mir, dass wir die Gegenwart in ihrer unglaublichen Vielfalt und Feinheit besser durchdringen, uns von ihr nicht nur bedrücken, sondern auch bezaubern lassen und es ab und zu wagen, eine «Lobpreisung» zu formulieren. Dies tut unserem ernsthaften Bemühen um die Welt und ihren Fortbestand keinen Abbruch, im Gegenteil.

Christine Fischer, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten.

Christine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen.

Buchvernissage «Der Zweifel, der Jubel, das Staunen» von Christine Fischer, Donnerstag, 26.Okt. 2017, 19.00, Raum für Literatur, Hauptpost St. Gallen. Veranstalter: kleinaberfein, St. Gallen, Musik: Maya Homburger, Violine. Graphit-Zeichnungen: Jan Kaeser, Kunstschaffender. Lesung, Präsentation, Apéro, Bücherverkauf, Gespräch.

Webseite der Schriftstellerin

Webseite des Künstlers Jan Kaeser

Lydia Daher «Kleine Satelliten», Maro Verlag

Am Dienstag, den 23. Mai, liest die Lyrikerin Lydia Daher um 19 Uhr in der Hauptpost St. Gallen im Raum für Literatur aus ihrem experimentellen Lyrikband «Kleine Satelliten». Eine Veranstaltung mit einer Künstlerin, der es zu gönnen wäre, wenn mehr als eine Hand voll Interessierter lauschen, schauen und entdecken würden.

 

Lydia Daher wagte ein ganz besonderes Experiment. Als sie sich vor einigen Jahren als Lyrikerin für Comics zu interessieren begann, stiess sie im Internet auf den Comickünstler Warren Craghead III. Sie las ein Buch, in dem Craghead Gedichtzeilen von Guillaume Appolinaire zeichnerisch umsetzte. Eine Form des Ausdrucks, die sie begeisterte. Sie nahm im Netz Kontakt mit dem amerikanischen Zeichner auf, schilderte ihr Kollaborationsprojekt und gewann das Interesse des Zeichners. Sie begann mit Schreiben. So schickten sich Lyrikerin und Zeichner Text und Bild via Mail hin und her, ohne sich je von Angesicht zu Angesicht zu treffen.

Entstanden sind spezielle Texte kombiniert mit eigenwilligen Zeichnungen. Worte und Sätze, die sich mit Strich und Figur zu einem Ganzen fügen. Texte, die sich nicht auf den ersten Blick entschlüsseln. Bilder, die erst durch den Text an Deutlichkeit gewinnen. Wort und Text, die untrennbar mit der Illustration zusammenhängen. Es sind filigrane Kompositionen, die zum Verweilen einladen, die einem zum Verweilen zwingen, die neugierig machen. Kompositionen, an denen ich hängen bleibe, im ersten Moment leicht und luftig, je länger, desto mehr an Schwere und Tiefe gewinnend.

Ich konnte Lydia Dahers Buch «Kleine Satelliten» nicht lesen wie sonst ein Buch. Es sind Miniaturen, die sich zu einem Ganzen fügen. Miniaturen, die kreisen, immer wieder, wie Satelliten, die ich vor mir ausbreiten musste, damit sie sich entfalten konnten. Ein ganz besonderes, ein gelungenes Experiment!

Die Performance vom 23. Mai 2017 in St. Gallen mit Bild und Ton wird auch deutsch vorgetragen. Seien Sie mutig und besuchen Sie die Veranstaltung!

Lydia Daher, geboren 1980 in Berlin, aufgewachsen in Köln, lebt in Berlin. Sie ist Lyrikerin und Musikerin und arbeitet allein oder gemeinsam mit anderen nationalen und internationalen Künstlern auch im Bereich der bildenden Kunst und des Hörspiels (z.B. BR Hörspiel und Medienkunst). Zudem ist sie regelmässig Kuratorin für spartenübergreifende Kulturveranstaltungen.