Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt: «Das kann ich» von Andrea Gerster CH/TG

Die Ostschweiz bleibt am diesjährigen Bachmann-Wettbewerb vermutlich ohne Preis: Der Text der Thurgauer Autorin Andrea Gerster war einer Mehrzahl der Jurymitglieder zu «bieder» – andere lobten das Thema.

Kein anderes Wettlesen im deutschsprachigen Raum geniesst derart viel Aufmerksamkeit wie der Bachmannpreis, der seit 1977 in Klagenfurt der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zu Ehren verliehen wird. Andrea Gerster, arrivierte Schriftstellerin aus dem Kanton Thurgau, war eine der AutorInnen, die eingeladen wurden.

Wer die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger des Bachmannpreises liest, erkennt die Bedeutung dieses Preises. Die meisten sind Eckpfeiler der Gegenwartsliteratur, Namen, die sich tief ins Bewusstsein aller Lesenden eingegraben haben. Namen, die in der Folge auch andere, noch viel bedeutendere Preise gewinnen konnten, medial weniger ausgeschlachtet, dafür nicht weniger ehrenvoll. So eine ganze Reihe Namen, die auch auf der Liste des Georg-Büchner-Preises auftauchen, dem renommiertesten Literaturpreis des deutschen Sprachraums.

Wo die Literatur Skandale auslöst

Aber ebenso schillernd sind die Namen der Jurymitglieder, die seit 1977 amten, allen voran der 2013 verstorbene Marcel Reich-Ranicki oder die «Literaturaktivistin» Nora Gomringer, mit der ich kurz vor den Bachmanntagen 2018 im Zug weg vom Literaturfestival Leukerbad mitkriegte, was Tage später auf ihrem T-Shirt während den TV-Übertragungen sichtbar wurde: Literaturkritik sei «der schlechteste Ausgangspunkt für die Unterhaltung mit einem Autor» – ein Bachmann-Zitat.

Und all die kleinen und grossen Skandale, die mit Getöse in die Geschichte des Preises eingingen. Sei es Reinald Goetz, der sich 1983 während der Lesung die Stirne mit einer Rasierklinge ritzte und seine Lesung blutend fortsetzte, der Schweizer Urs Allemann, der 1991 mit seinem Text Babyficker selbst das österreichische Parlament zum Diskutieren brachte, oder der Österreicher Philipp Weiss, der 2009 während seiner Performance vorgab, sein Manuskript zu verspeisen. Gewonnen haben sie nicht, aber da waren sie.

Zudem ist es der Preis selbst, 1977 gestiftet mit einer Preissumme, die den einen unverschämt, den andern umso bedeutsamer erschien. Heute sind es 25’000 Euro, eine Summe, die eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller nicht nur auf ein Podest hebt, sondern für eine Weile unabhängig macht. Und all jene, die nie einen Preis gewannen, von Juroren zerzaust und von den Medien geschimpft wurden, können in ihrer Biografie oder auf den Klappentexten ihrer Bücher trotzdem das Gütesiegel einer Teilnahme vermerken.

Im Vorjahr war die Rorschacherin Anna Stern zu Gast und gewann nach kontroversen Diskussionen einen der Nebenpreise, den 3sat-Preis.

Diesmal las Andrea Gerster, eingeladen von der Literaturkritikerin Hildegard Elisabeth Keller, die schon das zehnte Jahr zur Jury des Bachmannpreises gehört, Das kann ich (der Text zum Nachlesen hier). Es ist die Geschichte einer zerbrechenden Ehe, einer Familie in der Krise, ein Text über Sorgerecht und dessen Verweigerung und Grosseltern von Kindern, die nichts retten können, über klaffende Wunden in einer Familie, die sich mit Geheimnissen, die im Streit offenbar werden, nur noch katastrophaler ins Unvermeidliche hineinmanövriert.

Erzählt ist der Text aus der Sicht von Carla, Grossmutter von Tilli und Mutter von dessen Vater Mathi, dem ehemaligen Burgtheater-Schauspieler. Mathi weint am Telefon, etwas, was er sonst nie tut, und Carla verletzt sich im Streit mit ihrer Schwiegertochter Julia mit einem Messer, etwas, was sie sonst auch nie tun würde. Katastrophen.

«Passiv-aggressiv» oder «bieder»?

Andrea Gerster las wie alle Kandidaten unter dem Porträt Ingeborg Bachmanns. Ihr Text spiegelt viel von dem, was sich in Familien abspielt, ist aber doch ganz traditionell, weit weg von den Skandaltexten der Vergangenheit – und doch viel zu nah an der Normalität. Nicht bloss an der Normalität des Geschehens, sondern auch an der des Erzählers.

Andrea Gerster gibt wieder, was passiert, bleibt aber eigenartig distanziert. Das mag an den vielen Wiederholungen liegen, aber auch daran, dass der Text nur wenige Dimensionen besitzt. Familientragödien genügen an sich. Aber die Katastrophen, die sie irreparabel anrichten, sind jene in der Tiefe der Seele. Da reichen auch Tränen und eine klaffende Wunde in der Hand nicht aus, um in diese Tiefe vorzudringen.

Jurorin Insa Wilke, Literaturkritikerin der Süddeutschen Zeitung, lobte die Biederkeit der Art des Erzählens, die kongruent zur Person der Grossmutter und ihrer Weltsicht sei, die «passiv-aggressive» Verzweiflung einer Mutter und Grossmutter, die aus meiner Sicht aber nicht an der Oberfläche bleiben dürfte. Was nur in Ansätzen zum Ausbruch kommt, was zaghaft und vielleicht typisch schweizerisch bleibt, ist die Bravheit des Textes, in dem kein Funke Risiko liegt – ohne dass dafür reales Blut fliessen oder mit Kraftausdrücken hantiert werden müsste.

Die Kritik blieb denn auch nicht aus. Juror Stefan Gmünder bemängelte die Ironielosigkeit und fand sie typisch schweizerisch, Klaus Kastberger vermisste Brüche und Kippmomente. Mehrmals hiess es: Der Text sei das Opfer seiner eigenen Mittel. Jurorin Hildegard Elisabeth Keller verteidigte die Langsamkeit des Erzählens mit den langsamen inneren Prozessen, die er abbilde, Michael Wiederstein schätzte die «guten und feinen» Beobachtungen im Unterschied zu den «Holzhammermethoden» der vorher gehörten Texte.

Wenn der preisgekrönte Schriftsteller Clemens J. Setz den Literaturbetrieb und die Klagenfurter Lesearena in seiner Eröffnungsrede mit der eines Wrestlingkampfs verglich, so war Andrea Gersters Text wohl doch einfach zu schmalbrüstig, zu wenig schwergewichtig.

Andrea Gerster, geb. 1959, hat fünf Romane, drei Erzählbände sowie zahlreiche Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Ausserdem schrieb sie Theaterstücke und Textinstallationen für Kunstausstellungen. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Andrea Gerster lebt in der Ostschweiz. Neuster Roman bei Lenos ist «Alex und Nelli».

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Andrea Gerster «Alex und Nelli», Lenos

2016 gab es in Deutschland 335 000 Obdachlose. 35 % mehr als 2010. (In der Schweiz gibt es sie auch – aber keine Zahlen!) Wer in Berlin oder irgendeiner andern Stadt durch die Gassen geht, sieht sie. Sie nicht zu sehen, ist unmöglich. Andrea Gerster erzählt in ihrem neuen Roman „Alex und Nelli“ die Geschichte von Alexander Steiner, der sich irgendwann nur noch Alex, noch später Ale nennt. Und von Nelli, die von Alexanders Verschwinden nicht losgelassen wird. Ein Roman über die Reduzierung mehrerer Leben.

Dem Roman ist ein Zitat von Elfriede Jelinek vorangestellt: „Wenn einer ein Schicksal hat, dann ist es ein Mann. Wenn einer ein Schicksal bekommt, dann ist es eine Frau.“
Alexander Steiner liebt seinen Jaguar, das Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik. Vielleicht liebte Alexander auch Nelli. Aber Alexander liebt sich selbst nicht, genauso wenig wie seine Hände, die er lieber in Lederhandschuhen versteckt. Als die Geschäfte bei Architektur Steiner & Berger schlechter gehen, sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster in den Tod springt, er mit seinem Raubtier eine Frau zu Tode fährt und Nelli ihn verlässt, bleibt nichts mehr übrig. Nichts. „Steiner schrumpft.“ Alexander Steiner taucht ab, nach Deutschland, nach Berlin. Zuerst mit der Absicht, es noch einmal zu versuchen, diesmal als Alex. Was nicht gelingt. Von Alexander Steiner bleibt Ale. Ale ist einer der Obdachlosen in der Millionenstadt, einer von vielen, ein Mann mit Schicksal. Ein Mann, der seine Vergangenheit auszulöschen versucht.

Bei Nelli, die bei Alexander Steiner auszog, waren es weder die kleinen noch die grossen Gemeinheiten, die sie aus der gemeinsamen Wohnung trieben. Nelli war schwanger und Alexander überzeugte sie davon, dass es besser sei, das Kind wegzumachen. Was man aus Nelli wegmachte, war aber viel mehr als das ungeborene Kind. Und weil dieses ungeborene Kind Nelli nicht loslässt, es sich im Laufe des Romans immer deutlicher als Vorstellung Nellis manifestiert, macht sich Nelli auf die Suche nach Alexander. Auf die Suche nach dem Verlorenen.

„Alex und Nelli“ ist keine Liebesgeschichte. Aber die Geschichte verlorener Liebe. Alexander glaubt sich von aller Liebe verlassen, lässt alles zurück, kappt alles. Nelli sucht nicht nur nach Alexander, auch nach dem was er ihr genommen hatte, nach dem, was ihr das Leben doch versprochen hatte, die Liebe. Alexander taucht ab, verschwindet, wird zusammengeschlagen, bleibt liegen als Haufen Elend. Was ihn am Leben lässt, ist die wiedergefundene Liebe zum Leben, das absolut reduzierte Sein.

«Man kann so oder so glücklich werden, muss aber nicht.»

Der Handlungsverlauf des Romans strapaziert die Grenzen des Konstruierten arg. Zufälligkeiten, die ich nur schwer nachvollziehen kann und Szenen, deren Glaubwürdigkeit meine Vorstellungskraft zu sehr ausreizt. Trotzdem überzeugt der Roman, die knappe Sprache, wie sehr sich die Autorin auf das Wesentliche fokussiert. Andrea Gerster spiegelt die Gesellschaft, lotet Gegensätze aus, packt jedoch viel in die Geschichte hinein. Allein Alexanders Herkunft, die Geschichte seiner frühsten Kindheit, erinnert an Bilder aus dem Film Trainspotting. Und das traumhafte Erscheinen des ungeborenen Kindes bei Nellis Suche nach dem nicht gewordenen Vater trägt das Geschehen an den Rand des Realen. Das Ungeborene, das sich einmischt. Nellis Kind, dass sie damals hatte abtreiben lassen, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Alex und Nelli“ ist die Geschichte von Lügen. Alex selbst belügt sich lange genug, bis die dünne Schicht nicht mehr trägt und er einbricht. Nelli lügt nicht weniger. Sie trennt sich mit einer Lüge von ihrem neuen Freund Len, reist mit einer Lüge nach Berlin und lockt Alex mit einer Lüge aus seinem abgewandten Dasein. Andrea Gerster offenbart, was Lebenslügen anrichten, dass Wahrhaftigkeit und Wahrheit vielleicht doch nicht ohne Lüge auskommen, dass Glück nicht immer dort liegt, wo man sucht. Weder Nelli noch Alex wollen die Konfrontation, obwohl sie Zufall und Absicht mehrfach aneinander vorbeischrammen lassen. Zufälle und Absichten, die mir nicht immer glaubhaft erscheinen.

Andrea Gersters sechster Roman, der vom Lenos Verlag als „tragikomisch“ angepriesen wird, will viel, schafft aber nicht alles. Lesenswert, unterhaltsam, herausfordernd und gut geschrieben ist er aber allemal. Ein Roman, der den Nerv der Zeit trifft. Ein Roman über die Einsamkeit und Zerrissenheit des Menschen.

Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane, Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffenlicht. Andrea Gerster ist zudem Progammverantwortliche im Literaturhaus Lichtenstein.

Buchvernissage «Alex und Nelli»
Dienstag, 24. Oktober 2017, 19 Uhr, Hauptpost, Raum für Literatur, st. Leonardstrasse, St. Gallen, Buchfest mit Lesung und Apéro, Moderation Rebecca C. Schnyder, Büchertisch Buchhandlung Comedia, St. Gallen.

Webseite der Autorin

gedruckt im Kulturmagazin „Saiten“, Oktoberausgabe 2017

Titelfoto: Sandra Kottonau