Zusammen mit der St. Galler Illustratorin Lea Le performt die steirische Lyrikerin Isabella Krainer. Lyrik und Illustration formen Bilder, treten in Austausch, erwidern und befragen sich. Kunstformen begegnen sich!
von wegen
vater war dafür sagte nur deswegen
verwegen
mutter fragte wofür dachte nur weswegen
verlegen
krieg vor der tür kämpfe nur entlegen
von wegen
An einem ganz normalen Leben entlang, von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt über Familienleben und Schulzeit bis zur Entwicklung von Geschlechterrollen, zu unvermeidlichen Kontakten mit politischer Wirklichkeit und zum Ringen um Mitmenschlichkeit spannt Isabella Krainer den Bogen einer österreichischen Jedermensch-Biografie. Immer weit am Rand der Komfortzone – oder schon jenseits davon – bewegen sich die Figuren, fühlen sich nicht zugehörig und gehindert am Weiterkommen.
Die österreichische Lebenswirklichkeit dringt in die Sprache dieser Gedichte, in der Krainer – unentwegt ihr enormes Sprachbewusstsein beweisend – mit Mundartelementen Heimatgefühl erzeugt, das sie mit Doppeldeutigkeiten und Konnotationen, kleinen Verschiebungen aber gleich wieder ungemütlich gestaltet. Alltägliches bekommt eine neue Bedeutung, Bekanntes wird überraschend anders, Erwartungen werden unterlaufen, Wörter treffen bis in den Kern.
„Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Gedichtband.“ Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, 2020
manchmal
manchmal möchten möhren eingesetzt vielleicht auch zu höchstleistungen angetrieben oder mehr noch wegen medial produzierter minderwertigkeitskomplexe karotten genannt und überhaupt attraktiver werden
Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.
Lea Le (1995) lebt und arbeitet in St. Gallen als selbständige Illustratorin, Event- und Comiczeichnerin. 2022 Förderbeitrag des Kantons Thurgau Instagram
Hansjörg Schertenleib wagt einiges: Ein Lehrer, der sich zu Sex mit einer Schülerin hinreissen lässt. Ein Video, der den heftigen Akt dorthin trägt, wo der Mob nur lüstern darauf wartet und eine junge Frau, die sich ihrer Macht mit jeder Faser ihres Körpers bewusst ist. Ein Roman, der nicht in die Gegenwart zu passen scheint – und deshalb genau richtig ist!
Was muss passieren, bis man das Leben führt, das man eigentlich in sich trägt? Ist man dann erst reif und erwachsen genug? Caspar Arbenz ist Schlagzeuger, fünfundfünfzig und Lehrer an einer Musikschule, verheiratet, leidlich glücklich und Vater eines Sohnes, der als Arzt all das erreichte, was der Vater bislang nicht schaffte; Konstanz und Souveränität. Juliette ist neunzehn, studiert Gesang und ist für wenige Lektionen Rhythmik sogar die Schülerin von Arbenz. Nicht dass sie verliebt gewesen wären, weder Juliette noch Arbenz. Aber an jenem Abend an der Jazzschule, nach einem Konzert, zuerst an der Bar, dann in den Gängen, am Schluss in einem vollgestellten Proberaum, in dem sie sich alleine glaubten, setzte sich fort, was wie ein Spiel begonnen hatte; ein Spiel von Macht, Rausch und Fatalismus.
Aber als am nächsten Tag in den Sozialen Medien ein zweiunddreissig Sekunden lange Film auftaucht, der unmissverständlich zeigt, was im Halbdunkel geschah, mehr als deutliche Bilder der jungen Frau und ihres Lehrers zeigen, kippen zwei Welten. Beide heisst man vorerst von der Schule fernzubleiben, Arbenz Frau verlässt Wohnung und Ehe, es droht Suspendierung und Kündigung. Juliette spürt das Beben zuerst in ihrer WG und dann mit voller Kraft dort, wo sich bislang ein ganzes grosses Stück ihres Lebens abspielte; im Netz. Der sensationsgeile Mob stürzt sich auf die beiden, macht sie gleichermassen zu Opfern und Tätern. Man urteilt und richtet, als hätte der reisserische Mob nur darauf gewartet, sich aus der Coronaerstarrung auf jene zwei Leiber zu stürzen, die taten, was in einer heuchlerischen Gesellschaft gut getarnt schon längstens plattgemachte Tatsache ist.
Man mag sie beide nicht. Aber muss man Protagonist:innen mögen? Die junge Frau, die selbstverliebt genau weiss, wie sie mit ihrer Macht spielen kann, wie sie jedes Spiel zu gewinnen glaubt? Den alternden Lehrer mit Lederjacke und ausgetragenen Jeans, der ebenso an seine Unwiderstehlichkeit glaubt, sowohl musikalisch wie als Mann? Beide weigern sich, sich der Konsequenzen ihres Tuns bewusst zu sein. Juliette ist bas erstaunt, dass man sie zur Schlampe erklärt, Arbenz, dass die eine Affäre mehr genügt, dem Arrangement seiner Ehe die Luft abzudrehen. Und doch mag ich sie, weil Hansjörg Schertenleib die Menschen in seinem Roman zeigt, wie Menschen wirklich sind. Wie naiv zu glauben, man müsse ausgerechnet in der Literatur, in der Kunst, den Lesern schmeicheln. Manchmal sehne ich mich nach Autoren wie Thomas Bernhard, die sich am Höhepunkt ihrer Popularität nicht scheuten, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, schamlos zu zeigen, was wirklich ist. Arbenz muss das Leben mit allem ins Gesicht schlagen, um ihm sein verkorkstes Leben vorzuführen. Und Juliette gerät gnadenlos in einen Cyberstrudel, der sie zu Gedanken zwingt, die sie sich nie gemacht hätte, hätten jene zweiunddreissig Sekunden nicht zurückgeschlagen. Beide flüchten, Arbenz in die alte Werkstatt seines Vaters am Rande eines Dorfes und Juliette ins Burgund, wo ihr Vater ein kleines Hotel trotz Corona am Laufen zu halten versucht.
Aber was den Roman zu einer Perle macht, ist seine Sprache, die ungeheure Intensität seiner Beschreibungen, die Nähe zu seinen Protagonist:innen. Alle die filigranen Kleinigkeiten, die nicht zufällig in den Roman eingestreut sind, so wie immer wieder einmal ein toter Vogel oder eine alte Obdachlose mit sybillischem Dialog. Und all die Fragen, die der Text ganz leise stellt, die mich als Leser nicht loslassen. Ob man jene kennt, die einem am nächsten sind. Ob wir den richtigen Fährten folgen. Hansjörg Schertenleibs Roman ist ein starkes Stück Literatur, eingetaucht in den Sound der Gegenwart. Ehrlich und direkt!
Und so ganz nebenbei: Ist doch gut, dass es bei Kampa neben den vielen Krimis auch noch Platz für Feinkost hat!
Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind auch «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel» erschienen.
Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, weil diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.
Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.
Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.
Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.
Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, schreibt & macht, was sie will. Ihre Arbeiten pendeln zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. Die Autorin lebt in Neumarkt in der Steiermark. Aktuell arbeitet sie an ihrem ersten Roman. „Heiliger Zorn“ wurde 2021 mit einem Arbeitsstipendium des Landes Kärnten bedacht. «Vom Kaputtgehen», ihr erster Lyrikband, erschien im März 2020 im Limbus-Verlag. 2019 erhielt sie für „Vom Kaputtgehen“ das Finalisierungsstipendium literarischer Projekte des Landes Kärnten. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet.
„Alles ist Herz; Herz ist alles!“, sagte einmal der am 1. Mai verstorbene Dichter, Romancier und Journalist Hans Peter Gansner (1953–2021). Der Tag der Arbeit passt zu dem bekennenden Linken. Doch wenn einer wie Gansner stirbt und ein weiterer Stuhl leer am Tisch bleibt, kann einem das schon zu Herzen gehen: konsequenter Antikapitalist, schlagkräftiger, scharfzüngiger Kritiker ungerechter Herrschaftsstrukturen, Freund des grossen Oikos, der Pflanzen, Tiere und Planeten, der Menschen auch, Liebender, an Herz-Insuffizienz demütig und kreativ Leidender, fulminanter Barde, freizügiger Conteur, Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage, ein Ausbund an Ideen und Projekten bis zuletzt… Auf der Homepage des Songdog Verlags schreibt Andreas Niedermann in seinem Nachruf: „Sein Output, sein Œuvre, ist beeindruckend und umfasst so ziemlich jede literarische Gattung. Un vrai homme de lettres.“ Bei Songdog, Bern/Wien, erschienen in den letzten Jahren Gansners „Herz“-Gedichtbände; darin spürt er in einem weiten Verweisungszusammenhang den konkreten und symbolischen Bezügen seines Leitthemas nach.
Der vor 10 Jahren verstorbene US-amerikanische Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935–2011), 18 Jahre älter als Gansner, wurde wie dieser von der Beat Generation beeinflusst, insbesondere von Brion Gysin, dem Entdecker der Cut-up-Methode. Surrealismus und Dadaismus, Alchemie, Dante und Rimbaud bildeten weitere Inspirationen seines Schaffens. Cohen unterhielt in New York eine Kammer, in der er die von ihm erfundene Mylar-Fotografie, eine Zerrspiegeltechnik, praktizierte und Jimi Hendrix, William S. Burroughs u.v.a.m. porträtierte. Er lebte in den 1960er Jahren in Marokko und in den 1970er Jahren in Katmandu, Nepal, wo er im Schatten des Himalaya auf einer Reispapier-Handpresse Erstausgaben von Paul Bowles, Diane di Prima oder Gregory Corso druckte. Er hinterlässt zahlreiche Gedichtbände, darunter Wo das Herz ruht (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) und Alcazar (Moloko Print, Pretzien 2021), beide zweisprachig erschienen.
herzlinie
ich habe gelesen: der daumen des prokurators war nach unten gerichtet und eine hohle hand wurde verstohlen nach dem lohn ausgestreckt während rohe fäuste nägel durch hände hämmerten errichtend das weltreich des faustrechts. ich weiss: kolbenhiebe haben die hände verstümmelt des sängers im stadion von santiago de chile und fäuste schlagen noch immer in stumme gesichter und die finger am abzug krümmen sich wieder und wieder im sinternden licht des morgengrauens. du berichtest: eine hand hat den schlagstock ergriffen und eine andere im aufgerissenen kopfsteinpflaster gewühlt um den ersten stein zu werfen auf die gletscherwand und die hand eines verzweifelten lege schon die lunte an die zellentür hinter der er erstickt. und doch glaube ich: eine faust wird sich öffnen und zeigen dass sie leer ist und ein finger wird sich nicht krümmen sondern ausgestreckt vorwärts weisen und der verstümmelte wird mit seinen armstümpfen dirigieren in der erinnerung des volkes bis zur befreiung. und die hand des verzweifelten zieht die zündschnur zurück und eine hand dreht den schlüssel im schloss und stein und schlagstock entfallen den erhobenen händen die endlich zueinander finden nach den handgreiflichkeiten und allen wird schliesslich ihre schwesterliche hand reichen eine neue und nie gekannte herzlichkeit
(aus Hans Peter Gansner: „megaherz – Gedichte“. Songdog. Wien 2016)
When I have nothing more to say will some greater truth come forth to fill the page with an understanding never experienced before? Will the precious yellow satin cover my thoughts & speak of secrets hidden from my deepest self? After all the scratching out will anything remain to say that recovery follows crucifixion that loss engenders victory in the passing of things, that to stand alone is to encounter the world and be done with it once & for all
Dec 27, 2006
DAS LETZTE GEDICHT
Wenn ich nichts mehr zu sagen habe wird dann eine höhere Wahrheit eingreifen, um die Seite mit einem Verstehen zu füllen das noch nie zuvor erfahren wurde? Wird die kostbare gelbe Atlasseide meine Gedanken verhüllen & von Geheimnissen sprechen, die meinem tiefsten Selbst verborgen sind? Nach all dem Geschabe wird noch etwas zu sagen bleiben dass Aufschwung auf die Kreuzigung folgt dass im Lauf der Zeit Verluste den Sieg erzeugen dass wer allein steht der Welt begegnet und damit hat sich’s erledigt, ein für allemal
Dans une ruelle piétonne de Prenzlauer Berg, coincée entre un bar à bières et un fast-food coréen, la Librairie du Nouveau Monde est le paradis du bibliophile. – Vous avez la forme d’une libraire, mademoiselle Schulz. Vous n’avez pourtant pas une coiffure qui vous distingue, disons, d’une teinturière ou d’une enseignante au primaire (même s’il est exclu que vous soyez plasticienne ou coach en séduction). Vous n’avez pas non plus un regard, un sourire ou des mimiques qui vous trahissent. Il n’existe pas, spécifiquement, de nez de libraire, de sourcil de libraire, de carnation particulière; beaucoup de gens portent le même nez que le vôtre. Pourtant, en regardant votre visage, et pour peu que l’on sache différencier une femme d’une autre, on ne peut que s’écrier : «Voici une libraire!» Ce n’est pas tel élément singulier qui se surajoute à votre visage; c’est tout un masque qui se compose, lentement, en imperceptibles mouvements de fond. Vous deviendrez de plus en plus libraire, mademoiselle. Vous vous aggraverez. Les contours de votre visage, de votre masque, de votre vie (ces mots sont synonymes), seront de plus en plus nets. Oh, vous ne faites pas que vendre des livres, je le sais bien! Vous pratiquez la randonnée, la cuisine asiatique, vous donnez pour les aveugles et vous aimez, tard le soir, vous enfiler un doigt dans le derrière en écoutant Beethoven (particulièrement le majeur, particulièrement les derniers quatuors). Pourtant, vous serez toujours une libraire qui randonne, une libraire qui cuisine, une libraire qui donne – et une libraire qui se socratise lorsqu’elle rentre chez elle. Mademoiselle Schulz pouffe. – Et qui vous dit que j’attends toujours d’être rentrée chez moi? Franck sniffe un trait de cocaïne à même la couverture du Tanzaï et Néadarné de Crébillon fils (dans l’édition Pékin Lou-Chou-Chu-La de 1734). Après avoir reniflé bruyamment, il dit, amusé, presque hilare: – Voyons, mademoiselle, vous n’avez eu ici de plaisir que vaguement intellectuel, discrètement historique. Votre jouissance se tient quelque part entre la poussière et le néant. Mais votre provocation vous a coûté une rougeur; n’investissez pas à perte! Tournez-vous, je vous prie! Ayant troussé la vieille libraire, Franck baise langoureusement son cul. Elle proteste. Il ne lui en maintient les cuisses que plus fermement; il y plante les ongles. Il se réjouit de ces fesses ridées comme d’un festin précieux. Il hume, il embrasse, il lèche, il mord. «Pas comme cela, Franck! se récrie la libraire. Vos doigts, vous me promettez vos doigts! Et voilà que vous m’arrosez de postillons, me faites la croupe en bave, me sarclez de morsures! Pour qui vous prenez-vous?» Elle se redresse, furieuse. – Pardonnez mon appétit. J’ai toujours quelque répugnance à me servir de mes mains, sauf s’il s’agit de faire craquer une reliure ou de tuer un homme. La vieille glousse. – Voilà l’une de vos phrases, de vos trouvailles, suffisantes pour éblouir vos pucelles, vos bardaches. Avec moi, ça ne prend pas. Ouvrez-moi le cul et fermez votre gueule. – Si la Poésie s’en mêle! Franck retire sa chevalière, qu’il pose sur la table. Il inspire profondément et glisse son majeur entre les fesses de la libraire, puis son index. Il la débourre enfin à quatre doigts; il la fait virevolter dans les coins, sur les «éditions originales», sur les «autographes», sur les «beau papier», tous les «Hollande», tous les «Japon», tous les «maroquins rouges». Les amants tournoient. Le sol craque, tremble. Ils percutent une étagère. Bam! Trois Marmontel en tombent. Ils achoppent contre un pupitre: quatre Ronsard. Ils repartent en arrière, piétinent indifféremment Cazotte, Chénier et Thiers. Cette débauche! C’est un affolement. C’est une furie. Les vélins volent! Verlaine y passe. Sa poésie. Sa prose. En feuillets libres, en pluie d’agrafes. Les deux amants bondissent de l’autre côté de la pièce. Index, majeur, annulaire. Franck entonne un chant letton. Ils glissent sur un «grand format» ;Restif de la Bretonne. Ils se reprennent in extremis.» L’arrière-boutique! L’arrière-boutique!» glapit mademoiselle Schulz. Ils y parviennent; c’est une forêt de «débrochés», de «désagrafés», d’in-folio sans ordre ni rigueur. Ils s’y faufilent, y rèptent, s’y lovent – tout au cœur. L’Histoire. La Culture. La Poussière. La touffeur de tout ça! L’étranglement par les racines. Et les milles insectes, les cancrelats poilus, les mites tenaces. Les voilà pris à la gorge, aux organes, investis de haut en bas. Ils sont maintenant pressés de finir. Franck s’ankylose, il se sent las, il se sent triste. La douairière beugle, se tord, elle vesse profusément. Elle s’effondre, finalement, sur les œuvres complètes de Montesquieu (Belin, 1817). Mademoiselle Schulz reprend place derrière le bureau de chêne. Légèrement rouge, elle roule une cigarette en lorgnant Franck qui dispose une autre ligne sur la couverture du Crébillon. – Etes-vous toujours convaincu que je ne sois qu’une libraire, mon ami? – Par la gueule et par le cul, pour pasticher votre poésie. – Mais vous-même, Franck… Il sourit. – Je vous interdis de parler de moi. Franck referme le volume de Tanzaï et Néadarné. Il glisse trois billets de cinq-cents euros sur le comptoir, baise brièvement la bouche de mademoiselle Schulz, et sort de la librairie. À côté, le fast-food coréen promet une réduction sur le bibimbap végétalien.
Quentin Mouron: «L’Âge de l’héroïne» (Editions La Grande Ourse, Paris 2016)
Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.
Auf dem Cover des französischen Originals von Quentin Mourons jüngstem Roman „Vesoul, le 7 janvier 2015“ (Olivier Morattel Éditeur, Dole 2019) springt einem ein Porträt des Schriftstellers entgegen: Quentin Mouron, 1989 in Lausanne geboren und in Québec, Kanada, aufgewachsen, hält ein brennendes Buch in Händen und blickt dem Betrachter direkt in die Augen: „Na, was denkst du hierüber?“, scheint er zu fragen, „verstehst du, dass die Kultur brennt, dass sie nicht mehr greift, dass wir in einer sinnentleerten Welt leben?“
Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur
Satirisch, illusionslos, dystopisch – thrilling
«Vesoul, 7. Januar 2015» ist Quentin Mourons viertes Buch, das im Bilgerverlag auf Deutsch erschienen ist. Es ist eine Burleske, eine Groteske, ein Absurditätenkabinett sondergleichen. Hansruedi Kugler bezeichnete es im «Tagblatt» vom 13. Juni 2020 als «eine originelle Zeitgeistsatire mit der Figur eines postmodernen Picaro, einem Nachfolger des Schelmenromans. Der unbeschwerte Freigeist und smarte, ideologie- und bindungslose, arrogante Snob und Genfer Vermögensberater nimmt den Erzähler als Autostopper mit zu einem Kongress in Vesoul, den Hauptort des Departements Haute-Saône in der Region Bourgogne-Franche-Comté in Frankreich. Dort geraten sie in einen «Tag der Republik» und damit auf einen grotesken Marktplatz mit pazifistischen Neonazis, Sittenpolizisten in der Literatur, Verschwörungstheorien und Avantgardekünstlerinnen.»
Das Buch entpuppt sich als Polemik gegen die Verwerfungen unserer Zeit, gegen Ideologien, welche die Gesellschaft spalten, und gegen die Eiseskälte des Kapitalismus. Doch Moralisten seien mit diesem Zitat, das keinen Tabubruch ausschliesst, vorgewarnt: «Der Picaro kennt kein Schuldgefühl, es ist daher normal, dass in seiner Umgebung das Schamgefühl nach und nach verschwindet. Der pikareske Manager, wie ihn unsere Banken, unsere Start-ups, unsere Kunsthochschulen hervorbringen, zeichnet sich dadurch aus, dass er sich überall anzubiedern versteht, sich in jeder Situation den Rahmenbedingungen anpasst.»
Quentin Mouron gilt als der Tarantino der Schweizer Gegenwartsliteratur, als Genie des Roman noir zumal. Sein Stil ist filmisch, szenisch, atmosphärisch dicht, dabei welthaltig und anspielungsreich. Schon seine beiden ersten Bücher, «Notre-Dame-de-la-Merci» – eine unglaublich traurige Winterballade aus Kanada – und «Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain» – eine Revolvertrommel an Suspense –, haben diesem Autor im deutschsprachigen Raum begeisterte Kritiken und eine wachsende Leserschar eingetragen. Auch der dritte Roman fasziniert als ein Krimi der besonderen Art. «Heroïne» beginnt mit einer «Ouverture baroque», einer vollkommen abgedrehten Sexszene in einem Berliner Antiquariat, welche einem Georges Bataille alle Ehre gemacht hätte. Franck, Leiter eines New Yorker Detektivbüros, aus Hoffnungslosigkeit seit drei Jahren bibliophil, schiebt eine schräge Nummer mit der Buchhändlerin Mademoiselle Schulz. Abends im Hotel bemerkt er, dass er seinen Siegelring im Antiquariat vergessen hat, und kehrt zurück. Dort findet er, angeordnet wie auf einem barocken Stillleben, den Kopf der Buchhändlerin auf einem Silbertablett… Seine Nachforschungen lassen ihn auf einen bestimmten Kunden schliessen, doch erfährt er aus der Zeitung, dass „ein gewisser Wilfried Wagner – der sich Abu Mohammed Daoud al-Bavari nennen lässt –“ die Buchhändlerin enthauptete, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Voltaires „Mahomet“ aus dem Schaufenster zu entfernen. Mademoiselle Schulz ist nicht die einzige Heldin in Mourons Roman „Heroïne“, der nach der ausschweifenden Eröffnung in eine „Suite classique“ mündet. Darin forscht der Anti-Held Franck nach einer verschollenen Lieferung Heroin und nach dem Mörder des Vaters einer blutjungen Prostituierten, und zwar in Tonopah, einem 2000-Seelen-Krachen im Nirgendwo von Nevada – „einer Wüste in einer Wüste“, einer für Mourons Romane typischen kleinen Ortschaft, die den desaströsen Zustand des grossen Ganzen widerspiegelt (genauso tut dies die kleine Ortschaft Vesoul im eingangs erwähnten Roman). Leah, so heisst die eigenwillige Sexarbeiterin, ist die zweite rätselhafte Heroin, „fromm und verrucht, eine hehre und sich anbietende Jungfrau.“ Sie besorgt hauptberuflich die Bedienung in einem Fast Food, nebenberuflich arbeitet sie daselbst in einer „Besenkammer unter den Postern von Elvis, Spongebob und der Jungfrau Maria.“ Trotz ihrer seelischen Verwüstung setzt Leah, ein in sich zerrissener Charakter, ein Gegenzeichen in dieser trostlosen Welt. „Heroïne“ bietet ein Noir-Set par excellence, vorangetrieben in kurzen kaleidoskopischen Kapiteln, vollgepumpt mit Sex, Drogen und blauen Bohnen – illusionslos, dystopisch, thrilling.
Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.
Dorothee Elmiger erzählt ganz eigen, mit Sicherheit nicht von Anfang bis Ende. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine eigentliche Erzähllandschaft, das Experimentierfeld der Schriftstellerin, eine verschlungene Reise mit unbestimmtem Ziel. Wer sich mit der Autorin auf den Weg macht, muss aushalten können, dass nicht einmal sie selbst ihrer Sache sicher zu sein scheint.
Zugegeben, es war Auseinandersetzung! Auseinandersetzung mit dem Buch, den Stoffen, den Themen, der Erzählweise, den Zeitsprüngen. Als sässe man in einem überfüllten Zug, in dem in jedem Abteil eine Geschichte erzählt wird und man von Abteil zu Abteil huscht, nie sicher, ob man das Entscheidende versäumt hat, während draussen vor dem Fenster die Landschaft vorbeirast. Es passiert und die Gleichzeitigkeit der Dinge verwirrt in höchstem Masse. Nicht weil die Autorin der Ordnung wiedersagt, sondern weil „Aus der Zuckerfabrik“ ein Forschungsbericht ist, nicht das Resultat einer Forschung.
Sonst sind Romane Endprodukte, denen Recherche vorausging. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine Werkschau, ein Recherchebericht. Wer nur einfach eine Geschichte erzählt bekommen will, ist bei Dorothee Elmiger an die Falsche geraten. Auch wenn sich Dorothee Elmiger Geschichten annähert. So wie jener des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger und seiner Patientin Ellen West vor hundert Jahren, einer Frau, die „dauernd ans Essen dachte“ und jung durch Suizid starb. Oder jener des Lottomillionärs Werner Bruni, dessen Gewinn sich irgendwann verflüchtigte und man sein letztes Hab und Gut bei einer Versteigerung zur Schuldentilgung verhökerte. Eines Mannes, der zum Lottokönig wurde und dabei kein Glück fand.
Alles ist mit allem verbunden, über und durch die Zeiten. So wie Zucker den Hunger nie zu stillen vermag, höchstens kurzfristig. Sie alle haben Hunger. Hunger nach Liebe, nach Anerkennung, nach Erfüllung, nach dem Gefühl des satten Zufriedenseins. Dorothee Elmiger spürt dem nach, diesem Hunger. „Je mehr ich zu wissen meine über diese Geschichte, desto zahlreicher die Unstimmigkeiten, Abweichungen…“ Und weil dieses Nachspüren und Nachforschen nicht zwingend in der Klarheit enden muss, weil Dorothee Elmiger an keinem Resultat interessiert zu sein scheint, bleibt das Buch das Experiment selbst. Sprachlich glasklar, inhaltlich mit voller Absicht verunsichernd.
So wie die Geschichte des Zuckers eine Geschichte der Abhängigkeiten, der Sklaverei ist, so kostet und misst die Schriftstellerin den Zuckergehalt des Lebens, sei es im Leben einer jungen Haitianerin im Wunsch sich ganz und vollkommen hinzugeben oder im Leben eines Lottomillionärs, den die Boulevardpresse lüstern in seinem Untergang begleitet.
„Ob man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material für eine Fallstudie lesen wird…“ Dorothee Elmigers literarisches Experiment „Aus der Zuckerfabrik“ ist sprachlich bestechend, als Unterhaltung eine «Zumutung». Ich habe grosse Teile des Buches laut gelesen, las mich über lange Passagen in einen wahren Rausch, fasziniert von Sätzen, Bögen und Konstruktionen. Aber so sehr die Lektüre in der Kleinheit verzückt, lässt sie einem in ihrer Gänze allein.
Lauter Menschen, deren Hunger nicht zu stillen war. Mein Hunger ist geblieben. Literatur soll nicht stillen. „Aus der Zuckerfabrik“ tut es ganz und gar nicht. Dorothee Elmiger schrieb ein Buch, das in keine Kategorie passt, sich nicht einordnen lässt. Sie entzieht und verweigert sich jeder Kategorisierung, schert sich einen Deut um Konventionen, darum, was Literatur soll und muss. Das ist mutig. Ihr Schreiben dreht sich in die Tiefe, nicht in die Breite. Ihr Schreiben ist kein Fluss, sondern ein Absinken, manchmal sogar ein Absacken in Tiefen, die mich verwirren. Und Dorothee Elmiger will schon gar nicht unterhalten. Der Genuss dieses Buches liegt in seiner Sperrigkeit ebenso wie in seiner Eleganz. Sperrig, weil es sich den gewohnten Leseerfahrungen entzieht. Elegant, weil die Sprache etwas Berauschendes hat. Sie macht mich trunken.
Bildende Kunst darf verunsichern. Man nimmt beim «Lesen» dieser Kunst Unklarheiten, Schatten, Provokation und ein gewisses Mass an Unverständnis in Kauf, will das gar so. Ebenso bei der Musik. Warum muss bei Literatur immer alles glasklar sein?
Als ich als Buchpreisbegleiter ganz zu Beginn gefragt wurde: «Was wünschst du dir für den Schweizer Buchpreis 2020?», antwortete ich: «Mut!» Verleiht die Jury den Buchpreis an Dorothee Elmiger für «Aus der Zuckerfabrik», dann ist das Mut.
Dorothee Elmiger, geboren 1985, lebt und arbeitet in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «Einladung an die Waghalsigen», 2014 folgte der Roman «Schlafgänger» (beide DuMont Buchverlag). Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Dorothee Elmiger wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, dem Rauriser Literaturpreis, einem Werkjahr der Stadt Zürich, dem Erich Fried-Preis und einem Schweizer Literaturpreis.
Rolf Hermann hat den anderen Blick. In seinen Geschichten spiegelt sich eine Welt, deren Perspektiven sich den gewohnten Sichtweisen entziehen. Vielleicht ist Rolf Hermanns neue Text- und Geschichtensammlung deshalb eine Anleitung, die Welt nicht gar so tierisch ernst zu nehmen, meinen Blick zu öffnen, eine Anleitung zum Sehen, ein anderes Ordnungssystem.
Rolf Hermann macht Ordnung. Ob er das nun mit alphabetisch geordneten Aufzählungen macht, die einem an ein Walliser Urmantra erinnern, ob er Laute, Buchstaben, Silben neu ordnet, ob er die Kuh Manhattan aus ihrer festen Ordnung ausbrechen lässt, eine Kuh, die nach einer ganzen Reihe gewonnener Kuhkämpfe im Kanton eine neue Herausforderung sucht und an der Universität Miséricorde in Fribourg immatrikuliert, um an ihrer Bachelorthese «Das Rind als Stallmeister seiner selbst» zu schreiben.
In den vergangenen Jahren ist Rolf Hermann so etwas wie die literarische Stimme des Rhonetals geworden, zumindest des deutsch sprechenden Teils.
GF: Merkst du das, wenn du dich im Wallis bewegst? Ein literarisches Gegengewicht zur historischen Übermacht der Giganten des letzten Jahrhunderts; Charles Ferdinand Ramuz, Stéphanie Corinna Bille und Maurice Chappaz?
RH: Seit einer Weile habe ich das Gefühl, mit meinem Schriftstellerdasein geht es sehr gemächlich – ein kleines Bitzeli – bergauf. Zurzeit ist es ungefähr auf der Höhe von Goppenstein angelangt. Das liegt auf 1’200 Metern über Meer, also knapp 500 Meter höher als dort, wo ich aufgewachsen bin. Das macht in meinem Alter einen Höhenunterschied von knapp 11 Metern pro Jahr aus. Eigentlich nicht wirklich der Rede wert.
Rolf Hermann feiert in einer Welt, die immer mehr in der Absurdität abrutscht, das Absurde selbst. Er potenziert das Komische bis ins Verwegene, das eine Mal mit Geschichten, ein ander Mal mit Lautgedichten und sprachlichen Absurditäten. Dabei empfinde ich seine «Absurditäten» alles andere als absurd. Rolf Hermanns Schaumschlägereien sind Sprachkunst, surreal in ihrer Inszenierung, witzig und urkomisch in ihrer Direktheit, Originale eines Originals.
GF: Du pflegst das Bild des einstigen Schafhirten, der sich damit in ferner Vergangenheit sein Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa USA verdiente. Was ist vom einstigen Schafhirten übrig geblieben? Vom Anglistiker?
RH: Tatsächlich habe ich sieben Sommer lang im Wallis Schafe gehütet. Von 1993 bis 2000. Zum ersten Mal kurz nach der Matura. Das war eine prägende Zeit für mich. Weit oberhalb der Waldgrenze. Inmitten von Felsen und Geröll. Ohne fliessendes Wasser. Ohne Strom. Oft allein. Aber mit vielen Büchern und Notizheften. Ich habe mich damals extrem verbunden gefühlt mit dieser atemberaubenden Landschaft. In Gedanken bin ich auch jetzt noch hin und wieder da oben. Es ist gut möglich, dass ich eines Tages diese Sommererfahrungen in einen längeren Text einfliessen lasse. Und die Anglistik? Die ist mir immer noch sehr nahe. Ich rede mit meiner Frau, einer US-Amerikanerin, und unseren zwei Kindern meistens Englisch. Und sehr gerne lese ich immer wieder Bücher auf Englisch, z. B. die wunderbaren Gedichte von Emily Dickinson, die mich schon seit über zwanzig Jahren begleiten.
Schoutaim Am lätschtu Wuchunänd bin i mit miinum viärjeerigu Meitji gaa schpaziäru. Wiär sii va Sänggärma uff Raro gluffu, an Räbä und Mattä värbii, bis wär, schoo fascht am Ändi va ischum Üssflug, vor där Burgchilchu z Raro gschtannu sii. Ds Meitji, waa bis jäzz no niä inära Chilchu isch gsi, isch im Schpurt uff du grooss Büx züe, hätt mit allär Chraft ds Portaal üffgita, isch där Mittilgang därdur und schich vollär Ärwaartig mitsch in d eerscht Reiu gaa säzzu. Küm bin i näbu miinum Meitji gsi, hätts wällu wissu, wä dä hiä äntli d Schou afeegä. Und ich ha mär gideicht: Bassär hätti sus niämär chännu sägu.
Showtime Letztes Wochenende bin ich mit meiner vierjährigen Tochter spazieren gegangen. Wir sind von St. German nach Raron gelaufen, an Reben und Wiesen vorbei, bis wir, schon fast am Ende unseres Ausflugs, vor der Burgkirche in Raron standen. Meine Tochter, die davor noch nie in einer Kirche war, ist auf das grosse Gebäude zugespurtet, hat mit aller Kraft das Portal aufgerissen, ist durch den Mittelgang nach vorne gerannt und hat sich erwartungsvoll in die erste Reihe gesetzt. Kaum war ich bei ihr, wollte sie wissen, wann denn hier endlich die Show anfange. Und ich hab mir gedacht: Besser hätte es niemand sagen können.
Aber immer bleibt hinter den Texten der ganz besondere Sound des Autors selbst. Wer irgendwann einmal das Vergnügen hatte, dem Autor bei einer seiner performativen Auftritte dabeizusein, dem bleibt etwas vom Klang dieser Texte auf ewig im Kopf zurück. Rolf Hermann spielt dabei mit Klang, Rhythmus und Laut so sehr, dass er wie bei der Konkreten Poesie auf die Bedeutung von Wort und Text ganz verzichtet. Dann wird ein Text zur Partitur, das Gesprochene, der Laut, der Text zur Musik. Und das Sprechen, selbst für mich als Ostschweizer mit maximaler Distanz zum Walliser Dialekt zum Eintauchen in eine andere, neue Welt. Dann trifft mich der Spass an der Übersetzung, das Suchen nach Bekanntem, das Erkennen von Resonanz.
GF: So wie du mit Sprache, Wort und Text umgehst, scheint es dir beim Schreiben um weit mehr als den Transport von Information zu gehen. Du spielst mit dem Sound, dem Klang, dem Witz in der Sprache selbst, dem Grotesken, das daraus entstehen kann, dem Hinterhältigen. Was reizt dich daran? In welchen Texten liegt mehr Rolf Hermann?
RH: Wenn es mir in meinem Schreiben lediglich um den Transport von Informationen gehen würde, dann wäre ich kein Schriftsteller. Es geht mir vor allem auch darum, die Sprache zu belauschen und mit ihren Mitteln etwas heraufzubeschwören, das möglichst einzigartig ist, sei das nun eine Erzählung, ein Spoken-Word-Text, ein Gedicht oder sonst etwas. Immer wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, ich sitze wieder am Küchentisch meiner Grossmutter. Die Eltern sind da, meine Brüder, die Tanten, die Onkel, viele Cousinen und Cousins und auch ein paar Dorfbewohner haben sich unter die Gäste gemischt. Es wird über ein Haus gesprochen, das verkauft wird. Jemand erzählt einen sehr zotigen Witz. Dann wiederum sorgt man sich über eine Nachbarin, die ernsthaft erkrankt ist. Und dann meldet sich plötzlich Grossmutter zu Wort und gebietet allen, still zu sein, weil sie ein Gedicht vortragen will, das sie gerade in der letzten Nacht geschrieben hat. Und dann spricht sie und augenblicklich ist da eine Stimme, die sich selber – und auch mir – sehr nah ist. Vielleicht versuche ich ja genau das mit meinem Schreiben: Jene Küchenszene wieder auferstehen zu lassen – und die besteht halt aus vielen Stimmen.
sinklau nov red lüefs tegeb äs Gibätji
neim rehr dun neim togt mmin salle nov rim saw chim tihrend uz rid
neim rehr dun neim togt big salle rim saw chim tehrüf uz rid
neim rehr dun neim togt mmin chim rim dun big chim zang uz neige rid
Zugegeben, es braucht etwas Mut, sich in das Geniessen dieser Texte hineinzugeben, nicht einfach in den von Ursina Greuel ins Hochdeutsche übertragenen Text zu flüchten, bloss um das Buch mit Tempo durchzulesen. Ernst gemeinte Lektüre braucht Langsamkeit, Geduld und den Willen, das Menü in kleinen Happen zu geniessen, die Schlucke klein über den Klanggaumen rutschen zu lassen.
GF: Ein nicht unwesentlicher Teil der Texte in deinem Buch lässt sich beim besten Willen nicht übersetzen. Lautmalereien, die an Konkrete Poesie erinnern. Wie entsteht ein solcher Text? Versteckt sich der Lautmaler Rolf Hermann erst einmal in den Hängen oberhalb Leuk, zwischen den Parabolantennen des Satellitenabhörsystems und gibt Signale in den Äther?
RH: Ich wünschte es wäre so einfach. Sobald ich in der Nähe der Satellitenschüsseln oberhalb Leuk bin, bricht in mir der dadaistische Sturm los. Nein, im Ernst, nachdem eine Textidee in mir gereift ist, gehe ich eigentlich oft recht konzeptuell, teils mathematisch vor. Vokale werden permutiert, Wiederholungen und Variationen eingebaut, Ellipsen in den Text geschlagen. Und das mache ich, solange bis mich der Sound des Textes, der ja in dem Fall über das Inhaltliche hinausgeht, überzeugt. Zu den vielen Stimmen kommt so eine neue hinzu.
GF: Du liebst Aufzählungen, Reihen, das Alphabet. Schreiben ist „Ordnung machen“. Ordnung in Buchstaben, Zeichen, Silben und Worte. In Gedanken und Ideen, Konstrukte und innere Landschaften. Bist du ordnungsliebend?
RH: Schreiben ist für mich auf jeden Fall eine Art von „Ordnung machen“. Eine Stimmung, ein Erlebnis, ein Witz, ein Monolog so aufs Blatt zu bringen, dass der Text im Idealfall in einem Gegenüber das erzeugt, was man sich erhofft hat – und das hat viel mit auswählen, gruppieren, umstellen, ja, mit neuordnen zu tun. Da kann ich sehr bedächtig an die Worte und Sätze treten und sie immer wieder abklopfen. Im Alltag hingegen bin ich eher chaotisch. Meine Schreibklause ist ein ziemliches Labyrinth mit recht zufällig entstandenen und entstehenden Staubhügelchen.
Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und einem Literaturpreis des Kantons Bern (2019).
Rolf Hermann liest am 15. Mai im KultBau St. Gallen, an der Konkordiastrasse 27 um 20 Uhr aus seinem Buch «Ein Kuh namens Manhattan». Moderation: Gallus Frei-Tomic. Infos unter kultbau.org
Die Texte aus «Eine Kuh namens Manhattan» sind mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors eingefügt. Alle Rechte sind beim Autor.
Als Gast und Stipendiatin der Bodman-Stiftung und der Kulturstiftung Thurgau weilt Margret Kreidl einen weiteren Sommermonat lang im Bodman-Haus in Gottlieben. Zusammen mit den Musikern Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Schlagzeug), eingeführt von Gallus Frei-Tomic, performte Margret Kreidl ihre Poesie mit Musik.
Margret Kreidl, 1964 in Salzburg geboren und zusammen mit ihrem Lebenspartner Lucas Cejpek aus Wien angereist, ist genau das, was eine von ihrer Leidenschaft durchdrungene Sprach- und Wortkünstlerin ausmacht. Eine, die sich mit unerschöpflicher Kreativität und Virtuosität in vielen Sparten bewegt, sei es als klassische Dichterin, als Theater- oder Hörspielautorin oder als Performerin, die mit ihren Kunststücken die Wirkkraft von Sprache ausschöpfen kann.
Margret Kreidl bringt Ordnung in die Sprache und zerpflückt sie. Sie kostet genüsslich aus und beweist, dass sie in der textlichen Kurzform, im Kontrast zu all der Geschwätzigkeit – auch in der Literatur – in aller Dichte und Kürze episch Leben erzählen kann.
«Der Abend klingt im wahrsten Sinne des Wortes noch in mir nach. Die Performance von Margret Kreidl zusammen mit den beiden Musikern öffneten in mir ganz neue Räume was Sprache, Rhythmus und Musik betrifft. Der Abend hat mich unglaublich inspiriert.» Jacqueline Forster-Zigerli
Margret Kreidl, man wurde im Kultbau St. Gallen Zeuge davon, ist frech, bringts auf den Punkt, fabuliert und kontrastiert, schimpft und schmeichelt. Witz und Schalk in ihren Texten fegen jede Patina, alles, was Staub ansetzen könnte, weg und verleihen der Sprache eine Frische und Unmittelbarkeit, die angesichts aller Instrumentalisierung, der sie ausgesetzt ist, das zurückgibt, was ihr als Stimmmusik ganz eigen ist; Melodie, Klang, Mehrdeutigkeit, die Stimme aller Sinne. In Margret Kreidls Sprachkunst pulst überschäumendes Leben.
An diesem Abend wurde man hineingerissen in ein musikalisches Abenteuer. Margret Kreidl agierte mit dem Gitarristen Christian Berger und dem Schlagzeuger Dominic Doppler so schlaftrunken sicher, dass man hätte meinen können, die Darbietung wäre bis ins kleinste Detail choreografiert. Aber genau dort zeigte sich, dass drei VollblutkünstlerInnen am Werk sind. Musik und Poesie kongenial vereint und verwoben.
«Wer Freude an experimenteller Sprachkunst und ihrer Darbietung hat, wer die Kombination von Poesie und spontaner Musik liebt und am 30. August 2019 sich nicht bei Noisma im Kult-Bau eingefunden hat, der hat definitiv etwas verpasst: Auf höchstem Niveau haben Dominic Doppler (Percussion) und Christian Berger (Gitarren) den roten Teppich für die unverwechselbare Wortkunst von Margret Kreidl ausgebreitet und die österreichische Dichterin hat diesen in vollendeter Selbstvergessenheit und geradezu ekstatischer Performance-Lust betreten: voller Witz, Chuzpe und Charme.» Florian Vetsch
Ein Bild ist kein Vergleich. Schreib diesen Satz
auf den Küchentisch. Dann stell eine rote Tulpe
in eine langhalsige Vase. So wird das Licht
nach oben brennen.
Hausübung
Ein Fenster ist keine Tür. Denk über diesen Satz
vor dem Einschlafen nach. Wenn der Wecker läutet,
steh auf. So wirst du vom Hundertsten ins Blaue
kommen.
Hausübung
Ein Stuhl ist kein Auto. Mach aus diesem Satz
ein Gedicht mit vierzehn Zeilen. Lern es auswendig.
So wirst du immer einen Parkplatz finden.
Hausübung
Ein Tisch ist kein Fisch. Sag diesen Satz
im Stehen. Dann wasch dir die Hände.
So wirst du begreifen, was der Fall ist.
Hausübung
Eine Melone ist keine Melone. Wiederhole diesen Satz
hundertmal. Dann trink langsam ein Glas Leitungswasser.
So wirst du die Kerne vergessen.
Hausübung
Rotwein ist kein Orangensaft. Übersetze diesen Satz
ins Französische. Dann putz dir die Zähne. So wirst du
verstehen, was eine Flasche ist.
Hausübung
Eine Frau ist kein Mann. Schau diesen Satz
so lange an, bis du müde wirst. Dann leg dich
ins Bett. So wirst du wieder zum Kind.
(Margret Kreidl, Hausübungen, aus: Jahrbuch der Lyrik 2019, Hg. von Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling Verlag, 2019)
Margret Kreidl performt am 30. August zusammen mit dem Musikduo Stories Texte im Kultbau St. Gallen. Der Abend beginnt um 20 Uhr. Mehr Infos unter kultbau.org.
Margret Kreidl lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Veröffentlichungen, zuletzt: «Einfache Erklärung. Alphabet der Träume», Edition Korrespondenzen Wien 2014. Theateraufführungen, zuletzt: gemeinsam mit Marlène Saldana und Jonathan Drillet: «Grinshorn et Wespenmaler. drames patriotiques», hTh Montpellier 2016. Im Frühjahr 2017 erschien in der Edition Korrespondenzen, Wien: «Zitat, Zikade. Zu den Sätzen» und 2018 beim Berger Verlag «Hier schläft das Tier mit Zöpfen».