Die 45. Solothurner Literaturtage – Welten, die aufeinandertreffen!

Wie gut, dass es in Zeiten globaler Krisen Gelegenheiten wie die Solothurner Literaturtage gibt, die in konstruktiver Weise versuchen, vieles von dem zu spiegeln, was Grund genug gäbe, an den gegenwärtigen Tatsachen und ihrer Wirkungen zu verzweifeln. Wie noch nie strömten Besucherinnen und Besucher, als wäre jedem bewusst, wie schmal der Grat geworden ist.

Die Solothurner Literaturtage sind das Flaggschiff im nationalen Literaturbetrieb. Als solches von beachtlicher Grösse und mit viel Masse und Wasserverdrängung. Kein Wunder, wenn der eine Kapitän von Bord geht, dass es zuweilen vernünftig ist, diesen schweren Kahn unter eine furchtlose Doppelleitung zu stellen. Nathalie Widmer und Rico Engesser, beide noch lange nicht so alt wie das Festival selbst, müssen bestehen im Spagat zwischen den Erwartungen jener, die Tradition und Beständigkeit hochhalten und anderen, die dem in die Jahre gekommenen Schiff am liebsten mehr als nur neue Segel setzen wollen. 

Aber ganz offensichtlich goutiert man der neuen Leitung den guten Mix zwischen modernem Gesicht und reifer Haltung. Schon am ersten Tag wurden die Veranstaltungen förmlich überrannt. Lange Schlangen bildeten sich vor den Eingängen und Interessierte mussten freundlich weggewiesen werden, weil jeder mögliche Sitzplatz besetzt war. Der Dichter und Schriftsteller Andreas Neeser meinte im Vorfeld seiner Lyriklesung, es würden sich wohl nur eine Handvoll Interessierter an seiner Lesung finden, weil gleichzeitig Kim de L’Horizon im grossen Landhaussaal las. Weit gefehlt. Klar, die Schlange vor dem Landhaussaal war überwältigend. Aber genauso jene, die sich vor dem Einlass zur Lesung von Andreas Neeser formierte. Und als der Dichter dann las, die Stimmung von raunender Erwartung in andächtige Stille überging, war das Sprachglück fast mit Händen zu greifen. So wie sich Neesers Gedichte den Konventionen entziehen, ohne mich zu brüskieren, so schafft es das Festival immer wieder zwischen Tradition und Zeitgeist Brücken zu schlagen.

Das Festival zählt 45 Lenze. Ich mag den neuen Anstrich, die motivierte Crew und die zurückhaltenden Steuerleute, die das «Festivalgeschäft» schon jahrzehntelang kennen und es bestens verstehen, die verschiedensten Strömungen unter die gleiche Takelage zu bringen.
So wie beispielhaft die 25jährige Newcomerin Mina Hava mit ihrem Debütroman «Für Seka» und der 80jährige Routinier, das literarisches Urgestein Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».

Mina Hava bei ihrer Lesung in der SRF-Sendung «Kultur-Talk» in der Cantina del Vino

Mina Hava schrieb sich mit ihrem Roman «Für Seka» in eine tiefe Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft Bosnien, dem Ort Omarska, der es im Krieg in den 90er Jahren nie in ein kollektives Bewusstsein schaffte, obwohl die Gräuel, die der Krieg in und um jenes Gefangenenlager anrichtete eine Wunde klaffen lässt, die bis heute weit weg von einer historischen Aufarbeitung steht. Was damals in Srebrenica vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah, ritzte sich ins kollektive Bewusstsein. Was in Omarska passierte, begegnete selbst der Autorin, deren Familie ganz in der Nähe lebt, erst im Laufe ihrer Recherchen zu ihrer Herkunft. Omarska, ein Konzentrationslager damals, noch heute eine Mine, in der gnadenlos ausgenutzt wird, was Menschenkraft und Natur hergibt. Omarska, ein Schreckensort ohne Denkmal, wo man alles andere als interessiert ist, die Leichen in Massengräbern mit ihren Geschichten zu Tage zu bringen.
«Für Seka» ist nicht einfach Geschichte, die erzählt wird, sondern ein literarischer Zettelkasten genau jener Recherchen, mit denen Mina Hava in Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten taucht. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bosnien und der Schweiz, ihre eigenen Geschichte, die sich in der Schweiz nicht «abgebildet» findet. Einmal mehr auch eine Auseinandersetzung mit dem verklärten Begriff der «Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen».

nach seiner Lesung im voll besetzten Landhaussaal beim Signieren seiner Bücher

Oder Christian Haller, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte und längst zu den ganz Grossen der Schweizer Literatur gehört. Ob als Romancier, Lyriker oder mit seiner kantigen Art auch als Essayist –  er mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Fragen, in seinem neusten Essay «Blitzgewitter», wie weit digitale Medien unser Leben nachhaltig verändern.
Auch sein neuestes Buch, die Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftig sich mit der Wahrnehmung, dem Irritierenden. «Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Geschichte darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit seiner Herkunft, seinem eigenen Leben auseinandersetzten, war der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zur Novelle wurde. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

Mina Hava und Christian Haller stellen Fragen, Schicht für Schicht. Die beiden Bücher repräsentieren das Suchen nach Antworten. Beide in reifer Distanz und doch so verschieden in der Überzeugung, was Erzählen bewirken soll. Sie bricht auf – er ordnet.

Andreas Neeser «Nachts wird mir wetter», Haymon

„Was sind wir anderes als fortgesetztes Vermuten.“ Kurzprosa und Lyrik vom Feinsten 

Braucht es Mut, Lyrik zu veröffentlichen? Man könnte die Frage Andreas Neeser oder dem Verlag stellen. Andreas Neeser würde antworten, dass sich diese Frage gar nie stellt. Seine Lyrik ist Notwendigkeit! Jene der Welt etwas entgegenzusetzen, was in dem lauten Geschrei, Müll und all der verbalen Gewalt untergeht.

Nach bald einem Dutzend Veröffentlichungen mit Lyrik und Kurzprosa, ob in der Kunstsprache Deutsch oder Mundart, vereint sein neustes Werk alles, mit dem sich Andreas Neeser seit einem Vierteljahrhundert einen Namen macht. Schon im Titel seines neusten Buches „Nachts wird mir wetter“ demonstriert Andreas Neeser, was sein Schaffen ausmacht. Andreas Neeser kann Wörtern eine ganz überraschende Bedeutung geben, sie in ein anderes Licht setzen. „wetter“ ist klein geschrieben, wird zu einem emotionalen Zustand, einem Gefühl. Ein Wort, das sonst in seiner Bedeutung klar umrissen ist. Der Autor nimmt die Mundart ins Hochdeutsche hinein, gibt einzelnen Sätzen und Texten eine ganz eigene Färbung, einen Geschmack, der sich durchaus lokal verorten lässt, den Sätzen und Texten aber nichts von ihrer Gültigkeit, ihrem Verständnis nimmt. Ganz im Gegenteil; Andreas Neeser wird mit seiner Schreibkunst zu einem Unikat. Und Andreas Neeser experimentiert, scheut sich nicht, „Dinge“ in Verbindung zu bringen, die sich sonst nur gegenüberstehen, als würde er als Maler mit ganz verschiedenen Materialien und Ingredienzen ein Neues, Überraschendes kreieren.

Sein Band „Nachts wird mir wetter“ ist in vier Kapitel unterteilt. Im ersten Teil „Naturalia“ widmet sich Andreas Neeser in Kurzprosa Erinnerungen an seinen Grossvater, jener Gegend, dem Garten, den Spaziergängen mit einem Mann, der ihm als Junge gleichermassen Geheimnis und Heimat war.

 

So keime und sprieße ich|inwendig|bilde ich Zellen
mit holprigem Nichts. Ich glaube, ich werde – ein
wahreres Leben. Respekt und Vernunft. Akzeptieren
was ist, und dann loslassen, alles, was war. Wie das
klingt, Hokuspokus, Reiki – im Gegenteil: Dreimal am
Tag geh ich raus mit dem Hund. Überhaupt bin ich
Möglichst oft draußen, ich brauche das Licht. Und die
Luft. Meine Kreise sind enger geworden, Termine sind
Selten, Verholzen braucht Energie, meine ganzen
Reserven – und das ist ein Glück.

 

Andreas Neeser «Nachts wird mir wetter», Haymon, 2023, 80 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7099-8182-5

Feine Betrachtungen über das eigene Sein, ein Nachspüren der eigenen Verletzlichkeit, ohne die Spur von Weinerlichkeit. Da verrät ein Mann seine Schwachheit, seine Ängste über den Zustand der Welt und seiner selbst.

Im zweiten Teil unter dem Titel „Zungen“ sind es Gedichte über Biographisches, Erfahrungen des Werdens, Erkundungen ohne den Zwang, erkennen zu müssen. Da in jedem in Deutsch geschriebenen Gedicht auch einzelne Mundartwörter eingeflochten sind oder eine einzelne Zeile wie ein Einschluss in einem Stein erscheint, sind diese Gedichte Umkreisungen von Geschmäckern, Gerüchen und Konsistenzen des Lebens. Die Mundarteinschliessungen werfen dabei einen ganz speziellen Schatten, erzeugen schimmerndes Licht.

 

Erweckung

Manchaml noch seh ich dich
damals
am See unserer Kindheit
erwateten zwei sich die Freiheit
und trauten sich
bis zu den Kniekehlen, manchmal
noch seh ich dich
licht auf der Sandbank
so nackt wie noch nie
standest du füdleblutt da als
ein Vorspiel auf Mundart und
Später erfuhr ich
Bei aufkommender Brise
den körnigen Klang deiner Brüste
viel praller und näher am Herz
warst du Blütter als
nackt
bist du immer noch
Zustand von Haut.

 

Mit „Einsagen. Aus“ ist der dritte Teil betitelt. Gedankenfetzen, angehängt an ein Satzzeichen. Gedanken, die schmerzen, die der Dichter nicht ausbreiten will, denen er in der Kürze den Stich mitten hinein lässt:

 

I

: Die Namen der Dinge –
doch das wär zu einfach
für alles.

II

: Aus der Haut fahren
ohne zu wissen
wohin.

III

– wäre das Grauen
nicht so unsagbar
farblos.

 

Auch im letzten Teil „Wettermachen“ bringt Andreas Neeser Wörter in neue Kombinationen, auch wenn hier Mundartausdrücke keine Rolle spielen. Aber das, was der Dichter in Mundart zu schaffen vermag, das gelingt ihm auch in der Kunst- und „Hochsprache“. Er bringt Sprache und Ausdruck in ein anderes Licht, als ob er mit einer einfachen sprachlichen Bewegung, einem Verschieben, den natürlichen Fluss eines Gedankens in neue, andere Bahnen lenken würde.

 

D-Day

Wie Geschwader von Bäuchen
zuehen sie westwärts, gestaffelt
von unten
glänzen die Schuppen
gewittergrau, schieferschwarz
unzeitliches Licht.

Kein Zweifel, sie kriechen an Land
aber uns geht es gut.

 

Andreas Neeser ist mit seinem Lyrikband Gast an den 45. Solothurner Literaturtagen vom 19. – 21. Mai 2023

Andreas Neeser, geboren 1964, lebt in Suhr bei Aarau. Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 freier Schriftsteller. Zahlreiche Buchveröffentlichungen im Bereich Lyrik und Prosa. Für seine vielfältigen literarischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit Atelierstipendien im Künstlerhaus Edenkoben und im Schriftstellerhaus Stuttgart sowie 2014 mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. Der Gedichtband «Nachts wird mir wetter» geht ausserdem als vertontes Text-Stück auf Lesereise – mit Andreas Neeser und der Jazz-Musikerin Sarah Chaksad.

Auf literaturblatt.ch besprochen: «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa, «Wie halten Fische die Luft an» (2015) Lyrik

Webseite des Autors

Beitragsbild ©  Ayse Yavas 

Klaus Merz und Sandro Zollinger «LOS»

Zusammen mit dem Bildkünstler Sandro Zollinger tourt Klaus Merz mit seiner 2005 erschienen Erzählung „Los“ durchs Land. „LOS“ wird zu einem mehrdimensionalen Sprach- und Bilderlebnis, das mit Hilfe von Virtual Reality, 3D-Brillen in ungewohnte Dimensionen führen will.

Erstaunlich genug, dass sich ein Dichter, der sich sonst so sicher und gewandt alt bewährter Kunstformen bedient, ein solches Wagnis auf dem Rücken digitaler Technik eingeht. Und weil ich dem sonst so besonnenen Dichter keine Experimente zutraue, die den Absturz mit einkalkulieren, freue ich mich auf einen akustisch-visuellen „Kunsttripp“ der Sonderklasse.

Spät im Herbst bricht Thaler auf eine Bergwanderung auf, von der er nicht wieder zurückkehrt. Es beginnt eine aufgeregte Suchaktion nach dem Verschwundenen. Aber selbst Hubschrauber, Passbilder im Fernseher oder Hellseher bringen ihn nicht zurück. Er bleibt verschollen, verschwunden – für die Zurückgebliebenen ohne Hoffnung – höchstens so wie jene Verstorbenen, denen man in leicht verschobener Perspektive mit einem Mal zu begegnen glaubt. Mit dem leisen Verdacht, dass sich da jemand aus dem Staub machte, der die Absicht lange mit sich getragen hatte, der nicht einfach verschwand, sondern verschwinden wollte.

„Los“ ist das knappe Erzählen eines Lebens, in dem der Protagonist gar nie richtig angekommen zu sein schien, von einem Mann, der sich noch in den letzten Monaten vor seinem eigenen Verschwinden mit dem Sterben seiner Mutter auseinandersetzte, einen eigentlichen Bericht verfasste, ein Protokoll einer zunehmenden Entfernung.
 Thaler spürte, dass in ihm etwas wuchs, das nicht zu stoppen war. Und als ihm ein Arzt bestätigt, was er in seinem Bauch querliegen spürt, als Zeichen ihm bestätigen, wird unumkehrbar, was enden wird, erst recht als ein Schwan vom Himmel fällt.


Mit Thalers Pensionierung ist nicht eingetroffen, vorauf viele hoffen, weder Freiheit noch ein Stück unverbaute Zukunft. Schon gar nicht nach einer misslungenen Reise mit einer Freundin in den Grand Canyon. Thaler ist sich nicht sicher, ob all die Sehnsucht nach Zweisamkeit nur Verzweiflungen, dem Zweifel entspringt. Weder in der Ehe seiner Eltern, noch in der Tatsache des frühen Todes seines ihm so nahen Bruders kann Thaler die Bestätigung finden, dass es jene tiefe Verbundenheit gibt, nach der er sich stets sehnte. War der Gang in die Berge letzte Konsequenz? Eine Herausforderung an das Schicksal?

Klaus Merz «Los», Haymon, 2005, 96 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-85218-466-1

Thaler hat sich verloren. Er geht nicht nur einfach „los“, er lässt „los“, bindet sich „los“. Selbst der Rückblick auf ein Leben als Lehrer für Kultur, Sprache, Philosophie gibt ihm nicht jenen Trost, jene Hoffnung, mit dem wirklichen Leben je verschmolzen zu sein. Alltag und Routine machten ihn stumpf. Kann ein Ultimatum an das Leben der Grund für jene Wanderung im November gewesen sein? Er geht auf eine Reise, weil Reisen das einzige ist, was ihm ein Zuhause gibt. Auf eine Reise an einen ungewissen Ort.

In nicht einmal hundert Seiten öffnet Klaus Merz eine Welt. Er leuchtet sie nicht aus. Er analysiert nicht, er ordnet nicht ein. „Los“ sind lose Bilder eines Lebens, die ich als Leser selbst zusammenfügen muss, Facetten eines Lebens, die nur erahnen lassen, was wirklich passierte. Wichtig in Klaus Merz Erzählung ist aber nicht das Warum, sondern das Wie. Das Wie seines Erzählens, wie er es schafft, mit wenigen Strichen, mit wenig Farbe jene Tiefe zu schaffen, die sein verdichtetes Schreiben auszeichnet. „Los“ ist ebenso poetisch wie lyrisch, ebenso verdichtet wie offen. „Los“ ist eine jener literarischen Perlen, für den man den stillen Dichter nicht genug würdigen kann!

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, zählt zu den prägenden Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und mit renommierten Preisen im gesamten deutschsprachigen Raum ausgezeichnet.

Sandro Zollinger, Buch & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte nach seiner Ausbildung als Treuhänder Film- und Medientheorie in Berlin. Seit 2004 arbeitet er als unabhängiger Filmschaffender und Zukunftsforscher. Er ist Mitinhaber von «Montezuma». In seinen mehrfach ausgezeichneten Arbeiten beschäftigt er sich eindringlich mit der Suche nach innovativen Erzählformen und neuen Perspektiven.

Roman Vital, Montage & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Montage und Dokumentarfilm. Seit 2006 arbeitet er als freier Produzent, Regisseur und Filmeditor in Zürich. Er ist Inhaber von «Turaco Filmproduktion». Seine mehrfach preisgekrönten Arbeiten setzen sich nachdrücklich mit gesellschaftlichen Themen auseinander.

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Fabian Neidhardt «Immer noch wach», Haymon

Alex ist dreissig. Nach immer grösser werdenden gesundheitlichen Problemen erhält er von einem Arzt die Diagnose Krebs; ein Tumor im Bauch mit Metastasen. Alex ist am Ende. Und weil er nicht seine ganze Umgebung mit an ein Ende mit Schrecken führen will, zieht er sich in ein Sterbehospiz zurück, ohne irgend jemandem zu sagen, wo sich dieses befindet.

Aber bei folgenden Untersuchungen, die erst gemacht werden, nachdem Alex schon ein paar Wochen im Hospiz ist und von Attacken gebeutelt auf sein Ende wartet, stellt man fest, dass die Diagnose damals ungenau war, der Tumor wohl da, aber die Auswirkungen nicht zwingend und direkt zum Tod führen müssen. Alex wird wieder auf dem Hospiz entlassen. Etwas, was sonst nie vorkommt, auf jeden Fall nicht aufrecht.

Was tut man mit einem Leben, das einem wieder zurückgeben wird, dass nun doch nicht kurz vor seinem Ende steht? Wohin mit sich, wenn man seine Freunde, seinen Platz, seine Liebe verlassen hat, um nie mehr zurückzukehren? Im „Abspann“ seines Romans schreibt Fabian Neidhardt, er habe durch Zufall in einem aufgeschlagenen Spiegel (36/2014) die Überschrift „Abschied ohne Ende“ gelesen und dann die Geschichte eines Mannes, der sich mit Krebs im Endstadium in ein Sterbehospiz begab, dieses aber nach ein paar Wochen wieder verlassen musste, nachdem deutlich wurde, dass er „Opfer“ von Fehldiagnose und Verwechslung war. Eine wilde Geschichte. Hätte es die Notiz am Ende des Buches nicht gegeben, die ich beim Blättern im Roman schon nach den ersten Seiten der Lektüre entdeckte, hätte ich den Roman wahrscheinlich gar nicht zu Ende gelesen. Zu trivial wäre mir die Geschichte gewesen, beinahe wie ein Groschenroman. Ich las Fabian Neidhardts Roman weiter, weil ich wissen wollte, wie der Autor mit dem Plott umgehen, wie glaubhaft er die Geschichte schildern würde. Und auch darum, weil Fabian Neidhardt seine Geschichte von Beginn weg nicht allzu sehr aufbläst und mit Neben- und Zusatzschauplätzen versieht, die vieles an der Geschichte glaubhaft machen und mich durch das Buch ziehen.

Fabian Neidhardt «Immer noch wach», Haymon, 2021, 268 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7099-8118-4

Alex verlor als Kind seinen Vater durch Krebs. Und weil er damals zuschauen musste, wie dieser „verendete“, war ihm mit einer fast identischen Diagnose klar, dass er sein Sterben seiner Umgebung nicht zumuten will. Seine Mutter verstummte nach dem langen und qualvollen Sterben seines Vaters, reagierte auch Jahre später nicht auf Alex Fragen, auch dann nicht, als ein neuer Mann ins Leben seiner Mutter trat und dieses auch nachhaltig beschädigte, als sich herausstellte, dass Alex Mutter nur Affäre war. Alex Mutter stirbt, Alex verliert seine Familie. Alles, was ihn hält, ist Bene, sein Freund, den er seit seiner Sandkastenzeit mit sich weiss und Lisa, die er bei einem Festival kennenlernt und die Monate später vor seiner Wohnung steht und um Asyl bittet. Alex, Lisa und Bene werden Freunde, gar mehr, denn was zwischen den dreien passiert, lässt sich nicht so leicht in Freundschaft oder Liebe einordnen. Und als die drei zusammen einen Traum verwirklichen und an einer Kreuzung in der Stadt in den Räumen einer ehemaligen Metzgerei das Café „Türrahmen“ eröffnen. Alles entwickelt sich prächtig, bis Alex hinter der Theke zusammenbricht und seine Freunde ihn ins Spital bringen.

Der Roman lässt sich in drei Teile gliedern. Im ersten Teil muss sich Alex mit der Diagnose und seinen Konsequenzen auseinandersetzen, mit den Fragen seines Sterbens. Im zweiten Teil ist Alex ein „Gast“ im Sterbehospiz, einer der Erwartenden und begegnet den Kerzen, die vor den Zimmern der Verstorbenen brennen. Und im letzten Teil des Romans ist Alex auf Reisen, nicht mit der Liste der Dinge, die er noch tun will, sondern mit der Liste der Dinge, die all jene nicht mehr tun konnten, die Alex im Hospiz sterben sah. Alle drei Teile sind durchsetzt von Erinnerungen an seine Vergangenheit und Gegenwart, an die Begegnungen mit den Menschen, die sein Leben ausmachen.

Zugegeben, das Urteil über die Lektüre drohte immer wieder ins Negative zu kippen. Vielleicht wäre ein Lektorat gut bedient gewesen, wenn man die Handlung abgespeckt hätte. Die Fehldiagnose allein, die Rückkehr in ein verlassenes Leben, das Wiederauftauchen dort hätte für Fragen und Dramatik gereicht. Trotzdem ist Fabian Neidhardt Roman gute Unterhaltung und des Autors Schreibe ein Versprechen!

Interview

Du bist in etwa so alt wie dein Protagonist, der nach Untersuchungen erfahren muss, dass er wohl nicht mehr lange leben wird, dass sein Tumor im Bauch ein tödlicher ist. Meist sind Sterben und Tod in deinem Alter weit weg. Ich erinnere mich zumindest an meine Zeit zwischen 30 und 40. Ist dein Denken und Handeln dem Sterben und Tod gegenüber ein anderes geworden?
Ich habe meine halbe Jugend auf einem Friedhof verbracht, weil das Haus meiner Eltern dort steht. Und schon relativ früh war ich auf Beerdigungen meiner erweiterten Familie. Ich glaube, dass sich mein Handeln und Denken durch die Arbeit an dem Roman vertieft haben. Aber wäre nicht schon vorher ein Interesse und Auseinandersetzen da gewesen, hätte ich diese Geschichte so nicht verfolgt und ausgearbeitet.

Du warst für deinen Roman eine Woche lang in einem Sterbehospiz. Erstaunlich genug, dass man dich an einen solchen Ort lässt, da die Menschen dort ja wohl nur ungern zu Recherchezwecken „verwendet“ werden. Aber du schaffst es, das letzte Sein dort mit grossem Respekt zu schildern. Kein Mensch bezweifelt die Notwenigkeit solcher Institutionen. Aber sind sie nicht auch die Zeichen einer Zeit, in der man sich mit dem Sterben und dem Tod nicht auseinandersetzen will?
Total. Und Zeichen eines Systems, in dem für Effektivität auf Menschlichkeit verzichtet wird.

Mit einem Mal steht Alex sein ganzes Leben noch einmal offen. Das alte hat er zurückgelassen. Ein neues steht mit fast allen Optionen offen. Und doch kehrt er zurück, obwohl von seiner eigentlichen Familie ausser Erinnerungen nichts mehr geblieben ist. Warum ist es unrealistisch zu glauben, man würde dann einen absoluten Neustart beginnen?
Einerseits finde ich, dass in dem alten Leben eben doch viel geblieben ist: Seine selbstgewählte Familie, sein Lebenstraum und Menschen, denen er wichtig ist. Andererseits finde ich es überhaupt nicht unrealistisch, dass Menschen genau diesen Neustart beginnen. Im Gegenteil: Wie viele Menschen haben beispielsweise Kriegswirren genau dafür verwendet? Allein in der Geschichte meiner Familie ist das mehrfach passiert. Aber für Alex ist es nicht der Weg.

Während den Tagen, in denen du selbst das „Leben“ in einem Sterbehospiz begleitet hast, ist dir eine Person ganz offensichtlich speziell ans Herz gewachsen. Jemand, der als Imago auch in deinem Roman vorkommt. Wie war die Annäherung nicht als „Sterbender“, sondern als Schreibender?
Emotional aufwühlend und nachhaltig beeindruckend. Eine Woche lang bin ich Abends nach Hause gekommen, habe meiner Freundin erzählt, was ich erlebt habe, habe mich in den Schlaf geweint und bin am nächsten Morgen wieder hingegangen. Mehrmals befand ich mich in Situationen, in denen ich meine persönliche Grenze überschritten und das in den Momenten auf eine journalistisch distanzierte Art realisiert habe. Wie du ja selbst anmerkst, hatte ich nicht nur dieses erstaunliche Glück, dass die Hospizleitung mich hat eine Woche lang mitarbeiten lassen, sondern dass auch fast alle GästInnen und alle Menschen, die dort arbeiten, sehr offen mit mir umgegangen sind. Im Gegenzug habe ich aber auch alle Fragen, die mir gestellt worden sind, sehr offen beantwortet. Vielleicht ist das die kurze Antwort auf deine Frage: Indem ich diesem Vertrauensvorschuss mit sehr viel Vertrauen entgegengetreten bin, oft schmerzhaft offen. 

Bist du wie dein Protagonist ein Mensch der Listen?
Nein. Doch, klar, manchmal schon. In einigen Momenten helfen mir Listen, das Chaos in meinem Kopf in eine Struktur zu bringen und Dinge zeitweise auszulagern. Aber haben nicht alle Menschen ein Fable für Listen? Wenn man sich all die Top-Listen im Internet ansieht, könnte ich das meinen.

Gibt es ein Buch, das dich in den letzten Wochen und Monaten nicht in Ruhe gelassen hat? Und warum?
Irgendwo auf jeden Fall das nächste, das ich schreiben möchte. Und dann, weil mich die Geschichten nachhaltig beeindrucken, die Kurzgeschichten von Ted Chiang, dessen Gesamtwerk Ende 2020 erstmals komplett auf Deutsch im Golkonda Verlag erschienen ist. Ich habe einige von ihnen schon auf englisch gelesen und freue mich nun auf die deutsche Version. Weil Chiang in kurzen Texten unglaublich krasse Gedanken und Ideen verarbeitet und die, die ich gelesen habe, mein Denken verändert haben.

© Daniel Gebhardt

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 als erster von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, lebt in Stuttgart. Nach dem Volontariat beim Radio studierte er Sprechkunst und Kommunikationspädagogik an der staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim. Bis Mai 2019 absolvierte er die Ausbildung zum Storyliner bei der UFA Serienschule in Potsdam. Seit 2010 sitzt er als Strassenpoet mit seiner Schreibmaschine in Fussgängerzonen und schreibt Texte auf Zuruf. 2019 entwickelte er den Prosaroboter, der auf Knopfdruck Geschichten ausdruckt. 2020 ist er Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

«Die Vielleicht-Ära», ein TEDx-Beitrag

Fabian Neidhardts Blog

Beitragsbild © Sara Dahme

Sepp Mall «Holz und Haut», Plattform Gegenzauber

Liebeslied morgens

Wenn die Nacht dann / fällt
sind es gleich Millionen km
im Quadrat
Wie sollen zwei Zeilen / dies alles
durchmessen
mit ihren Zollstöckchen und Vers-
mäßchen
Wer Glück hat / hält
sich an den Rand der Dateien
(in den Dämmerschleifn der Ufer)
hofft dort deine Lippen zu
finden (um 5 Uhr morgens)
: die Landmassen des Tags
Wo sonst / lässt sich auf-
tauchen
im ersten Licht sich schütteln
wie ein Hund
: allem Unheil entronnen

 

Weiter nichts

Ein (Jänner) Tag / der hinausläuft
ins Grau
Wir trinken aus Leichtsinns-
Tassen / ver-
steckn uns hinter Kosenamen
Warum nicht (alles) aufzählen
die vertanen Jahre
all die entglittnen / Möglichkeiten
: und plötzlich alles hergeben wollen

Auf deinen Wangen Granatapfel-
farbn
und im Hecheln der Sekunden
(Liebesschwüre)
: wieder warten auf Schnee

 

Rien

Wir aßen zu Mittag
aßen zu Abend
Nichts als ein Hinhalten der Stunden

Dann irgendwann / das Zu-
nachten buchstabiern
lentement (Silbe für Silbe)
Und dein Kopf in meinem Schoß
: Nichts / nichts
über die Städte zieht Rauch
Flüchtig / wie alles

 

In die Nacht

Das Versprechen / sich nicht
aus den Augen zu verliern
Die Sträucher / die sich ducken im Wind
Und Schnee / der auf Felder fällt
(in glänzende Ackerfurchen)
Weit draußen die Häuser zusammen-
gedrängt

Schritt für Schritt verliern die Bilder
an Farbigkeit
verblassen im milchigen Licht
im Flockengestöber / das übers Hirn
zieht
: doch noch / ist es nicht

 

Sepp Mall «Schläft ein Lied», Haymon, 2014, 80 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-7099-7142-0

Sepp Mall, geboren am 1955 in Graun/Südtirol, lebt und arbeitet in Meran. Autor, Lehrer und Herausgeber. Schreibt vor allem Lyrik und Romane, ist aber auch als Übersetzer sowie mit Hörspielen und Theaterstücken an die Öffentlichkeit getreten. Diverse Preise und Stipendien, u.a. Meraner Lyrikpreis 1996. Für die Arbeit an dem Gedichtband „Holz und Haut“ (2020) erhielt Sepp Mall das Grosse Literaturstipendium 2017/18 des Landes Tirol.

Im kommenden Herbst erscheint bei Haymon neu: «Holz und Haut» Gedichte.

Beitragsbild © Claudia Pircher

Von Nähe und unsäglicher Distanz; Andreas Neeser im Literaturhaus Thurgau

Nachdem ich im Frühsommer 2014 Andreas Neesers Roman „Zwischen zwei Wassern“ unmittelbar nach einem Buch von Haruki Murakami gelesen hatte, musste ich den Autor unbedingt kennenlernen. So sehr mich der Erzählband Murakamis enttäuschte, so sehr faszinierte mich der Roman des 1964 geborenen Aargauers. Ich reiste von Amriswil nach Rothrist, an eine Lesung in der Bibliothek des Ortes. Eine denkwürdige Begegnung, denn seither begleitet mich das Schreiben und Wirken des Autors in seiner ganzen Vielfalt.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Andreas Neeser ist Erzähler, Romancier, Lyriker, Performer und vieles mehr in einem. Vor allem ist er ein Schriftsteller, der sich unglaublich nahe an seine Personen schreibt. Ein Autor, der die Musik in der Sprache liebt, ihren Klang, ihren Sound. Vielleicht ist dies eine Erklärung, dass Andreas Neeser sich in den letzten Jahren auch immer wieder der Mundart widmete. Und dabei nehme ich das Wort Mund-Art ganz wörtlich.

Ausgerechnet in diesem Frühjahr erschienen nun gleich zwei Romane; bei Haymon das Buch „Wie wir gehen“ und beim Zytglogge-Verlag der Mundart-Roman „Alpefisch“. Ausgerechnet in einer Zeit, in der keine Lesungen stattfanden, keine Festivals. In einer Zeit, in der die Buchverkäufe in den Keller rutschten und SchriftstellerInnen und Verlage in Existenznöte gerieten, Nöte, die noch längst nicht ausgestanden sind.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Wie wir gehen», Haymon Verlag Innsbruck: Was geschieht, wenn man es versäumt, eine gemeinsame Sprache zu finden? Wenn man sich trotz aller Liebe fremd bleibt? Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangenen Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden. 

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht. So wird ein Diktiergerät die Tür zu einem verschütteten Leben, zu mehreren verschütteten Leben, jenem des Vaters, der Tochter, des einstigen Mannes und der Geschichte von Mona selbst.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Alpefisch», ein Mundart-Roman, Zytglogge Basel: Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser lotet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Literatur am Tisch: Andreas Neeser

Ein grosser Tisch, darauf Leckereien und Wein, rundum Gäste, dazwischen Bücher. «Literatur am Tisch» hat Tradition; Angelika Waldis, Bettina Spoerri, Jens Steiner, Hansjörg Schertenleib, Patrick Tschan u. a. waren schon Gäste am Tisch in Amriswil. Andreas Neeser brachte seine beiden neuen Romane «Alpefisch» und «Wie wir gehen» mit an den Tisch.

Es gibt sie, die Menschen, die lesen. Jetzt in Zeiten einer Pandemie vielleicht immer mehr. Lesen kann aber weit mehr als blosse Unterhaltung sein, denn Bücher stellen Fragen. Bücher öffnen Türen. Bücher setzen einen Spiegel vor. Und wer nach der Lektüre sein Buch nicht einfach ins Regal schieben möchte, wer sich mit all dem, was hinter dem Papier verborgen ist, auseinandersetzen und gleichzeitig Gemeinschaft geniessen will, ist bei Literatur am Tisch genau richtig.

So richtig, dass ich in meiner Amtszeit als Programmleiter Literaturhaus Thurgau in Gottlieben am Seerhein dieses Format mit ins Programm des Literaturhauses bringen will. Nicht nur weil das Format eine einmalige Gelegenheit ist, einer Autorin oder einem Autor zu begegnen, sondern weil auch die Schreibenden das Format «geniessen». Nur selten bekommen SchriftstellerInnen wie Andreas Neeser die Rückmeldungen zum Buch so direkt, so emotional und ehrlich zu hören, wie bei Literatur am Tisch. Im Gegensatz zu einer Lesung sitzt man mit den Künstlern am Tisch, auf Augenhöhe, denn SchriftstellerInnen sind nichts ohne ihre LeserInnen.

«Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!» Andreas Neeser

Ich danke Andreas Neeser und der Runde um den Tisch für den unvergesslichen Abend!

Rezension zu «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

Eine Rezension zu «Alpefisch» folgt!

Fotos © Sandra Kottonau

Andreas Neeser «Wie wir gehen», Haymon

Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangener Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden.

Es gibt Momente, die alles in Frage stellen, die einem aus der gewohnten Sicherheit kippen. Monas Vater droht zu sterben. Und mit ihm all die Geschichten, von denen sie weiss oder ahnt oder auch keine Ahnung hat. Die Geschichten, die aus ihrem Vater jenen Johannes machten, den sie als Vater zu lieben versucht. Und zwar nicht einfach, weil er ihr Vater ist. Sie möchte ihn lieben wie damals als Kind, uneingeschränkt. Mit dem Tod eines nahen Menschen sterben Geschichten, das Verstehen, all die Leben dahinter, die mit jeder Generation zurück im Nebel des Vergessens entschwinden.

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht.

Andreas Neeser erzählt die Geschichte von Johannes, erzählt das, was viele mitnehmen, wenn sie gehen, sei es eine Scheidung oder der Tod. Erzählt von einem Leben als ungeliebter Sohn, verdingt an den reichen Onkel, der auf der anderen Talseite den grossen Hof bewirtschaftet. Von der Armut, die wie eine unheilbare Krankheit an der Familie klebt, sie nicht aus dem Würgegriff lässt. Wie Johannes, obwohl man ihn als Arbeitskraft schätzt, überzählig bleibt, keinen Platz findet, schon gar keine Liebe, auch dort nicht, wo sein Zuhause sein müsste.

Trotz Tuberkulose findet Johannes den Tritt, davon überzeugt, dass das Leben ein steter Kampf, niemandem zu trauen ist. Er findet Arbeit in der Fremde, bei den Bauarbeiten zum Grand-Dixance-Staudamm, wird Schweisser. Aber erneut von der Tuberkulose zurückgeworfen, schrammt er nur ganz knapp am Tod vorbei. Was Johannes in seiner Familie nie erfährt, vermag er auch in seiner Familie den Kindern nicht zu schenken, Mona, seiner Tochter nicht und schon  gar nicht Martin, seinem tot zur Welt gekommenen Sohn, der für die Eltern zum Trauma wird, das alles überschattet.

Andreas Neeser erzählt von Noëlle, Monas Tochter, die miterleben muss, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, wie Noëlles Vater nach einem Raubüberfall in sein Goldschmiedeatelier den Boden unter den Füssen verliert, nicht nur wirtschaftlich. Wie Mona zur Projektionsfläche wird, es niemandem Recht zu machen versteht, nicht ihrem Vater, der ihr zu entgleiten droht, nicht ihrer Tochter, die nicht verstehen will und kann, nicht den Menschen, die sie beruflich zu betreuen hat, die einer Heimat entflohen, viel weiter als Mona, die die ihre in Sichtweite zu verlieren fürchtet.

Wie nahe kommt man den Nächsten? Wie zu einem Vater, zu einer Mutter? Braucht es Krankheit und Tod, um jene Nähe zurückzugewinnen, die man ein Leben lang Stück für Stück verliert? Wie gross muss der Schmerz sein, bis die Wunde aufreisst? Wie viel Leben versäumt man, wenn man den tiefen Schmerz in seinem Leben unausgesprochen mit sich herumschleppt? Väter und Mütter sind nie weg, nicht wenn sie sich für immer verabschieden, nicht wenn sie verschwinden, nicht wenn sie sterben. Mona verliert ihren Vater, genauso wie Noëlle den ihren. Aber Väter bleiben. Fragt sich nur wie.

Andreas Neeser erzählt in seiner gewohnt gekonnten Art, webt ein dichtes Netz, öffnet Türen, die er manchmal nur einen Spalt offen lässt, lotet nicht aus, tut genau das, was das Leben auch macht. Er erklärt nicht, öffnet sacht, manchmal nur unvollständig, bewusst lückenhaft. Andreas Neeser erzählt von Familie, diesem zarten Gefüge, das lebenslangen Schmerz und tiefsitzende Verletzung bedeuten kann.

Fast zeitgleich erscheint Andreas Neeser erster Mundartroman «Alpefisch». Nach mehreren Sammlungen mit Kurzprosa, die unter den Titeln «No alles gleich wie morn» (2009), «S wird nüme, wies nie gsii isch» (2014) und «Nüüt und anders Züüg» (2017) sein erster buchfüllender Mundartroman wieder bei Zytglogge.

© Ayse Yavas

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.

Kurzgeschichte «Mücken» von Andreas Neeser auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Nüüt und anders Züüg» auf literaturblatt.ch

Andreas Neeser liest am Literaturfestival Wortlaut St. Gallen sowohl aus seinem Roman «Wie wir gehen» wie auch aus seinem Mundartroman «Alpefisch».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

«Literatur am Tisch» mit Andreas Neeser und seinem neuen Roman «Wie wir gehen»

Am Mittwoch 4. März besucht Andreas Neeser mit seinem neuen Roman «Wie wir gehen» den Literaturport Amriswil. Wer das Buch bereits gelesen hat und mit dem Autor am Tisch über sein Schreiben, die Literatur und den Roman diskutieren möchte, ist herzlich an den Tisch eingeladen. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Der Mindesteintritt ist 30 CHF. Eine Anmeldung unter info@literaturblatt.ch ist unbedingt erforderlich!

4. März, 20 Uhr, Maihaldenstrasse 11, «Literatur am Tisch»
mit Andreas Neeser

Mona steht mitten im Leben. Von Pierre hat sie sich getrennt, ihre Tochter Noëlle geht zunehmend eigene Wege. Ganz am Anfang hingegen ist die Beziehung zu ihrem Vater Johannes. Die beiden sind sich schon viel zu lange fremd – dabei geht sein Leben langsam dem Ende zu. Solange Zeit ist, will Mona mit ihrem Vater ins Gespräch kommen. Doch wie soll sie Zugang zu diesem spröden, gebrochenen Mann finden?
Sie bittet ihn, seine Geschichte auf ein Diktiergerät zu sprechen. Erzählerisch brillant spannt Neeser den weiten Bogen von Johannes’ Kindheit, in der
er als Verdingbub auf dem Bauernhof seines Onkels schuftet, bis in die Gegen- wart, in der sich ihm seine Tochter behutsam annähert: Welche Seele denkt und fühlt in diesem Menschen? Was für ein Leben hat ihn so werden lassen? Und wie wäre es möglich, einander doch noch lieben zu lernen? Andreas Neeser entwickelt einen feinsinnigen Familien- und Generationenroman: leise und voll poetischer Kraft.

«Literatur am Tisch» hat Tradition und ist ein Ereignis von besonderer Gute:

«Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen.
So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Patrick Tschan

«Ein Wunder, das sich Dank Gallus und Irmgard ereignet. Schön, mit Gallus einen Bruder im Geiste zu wissen, einen Verbündeten, der wie ich nicht leben kann und will ohne Bücher, ohne Geschichten, einen, der wie ich brennt für die Literatur. Danke, durfte ich Platz nehmen an besagter Tafel und meine Novelle zur Diskussion stellen.» Hansjörg Schertenleib

«Schön gibt es die Hauslesungen und «Literatur am Tisch» bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, wo man die Begegnung zwischen Leser/in und Autor bei bester Verköstigung üben und «likes» oder «unlikes» ausgiebig diskutieren darf. Ein grosses Dankeschön nach Amriswil. Weiter so!» Jens Steiner

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen.» Bettina Spoerri

Anmeldestand: 9 Anmeldungen, 3 Stühle frei