Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand #SchweizerBuchpreis 24/05

Nicht erstaunlich, dass in der SRF-Bestenliste vom Oktober 2024 vier von fünf Titeln der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises entsprechen, Platz 2 bis 5. Nicht erstaunlich, dass der fünfte Titel „Polifon Pervers“ von Béla Rothenbühler fehlt. Weil er sich in vielem quer stellt. Weil er sich mit Wonne und Lust zwischen Klischees und Abgründen bewegt. Weil er in Mundart geschrieben ist, rotzfrech und direkt. Und weil er beisst!

Dass die Kulturszene für Menschen ohne direkten Bezug nur schwer durchschaubar ist, kann ich nachvollziehen. So wie jede Szene in sich eine Welt ist, die einem von ausserhalb rätselhaft oder gar undurchschaubar erscheint. Es ist auch keine Neuigkeit, dass es in der Kulturszene Akteurinnen und Akteure gibt, die sich längst vom Prinzip der Wertschöpfung entfernt haben und nur arbeiten und existieren können, weil sie am Tropf der Allgemeinheit, an Segnungen von Fonds und Stiftungen hängen. Das ist auch gut so. Würde Kultur nur nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionieren, müsste Kultur stets gefallen. Sie müsste sich verkaufen. Und in den Geldstömen, die unentwegt fliessen, auch dann wenn es in der Wirtschaft kollektiv unter Finanzknappheit stöhnt und ächzt, scheint Kultur auch ein guter Ort zu sein, um zu kompensieren, auszugleichen, sich einen guten Namen zu schaffen, dem Selbstbild Glanz zu verleihen.

«För alles, wome mues mache, gets Chole, ond alles, wo Schpass macht, esch Läif.»

Béla Rothenbühler hat mit „Polifon Pervers“ einen erstaunlichen Roman aus eben dieser Kulturbubble geschrieben. Die Geschichte einer wilden Truppe, die sich aus dem scheinbaren Nichts konstituiert und zu einem beeindruckenden Konstrukt wächst, dass sich selbst am Leben hält, nicht nur zu einer erfolgreichen Unterhaltungsmaschine wird, sondern auch zu einer wirksamen und gerngesehenen Waschmaschine für Drogengeld und zwilichtige Geschäfte. Die Geschichte eines immer grösser werdenden Unternehmens, dass scheinbar ungehemmt und ungebremmst wuchert, auch wenn jedem der Beteiligten irgendwie bewusst ist, dass dereinst ein Ende mit Schrecken kommen muss.

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand, edition spoken script 50, 2024, 220 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-149-4

Sabine und Chantal gründen den Verein „Polifon Pervers“ mit der Absicht, zu einem wichtigen Player in der (alternativen) Unterhaltungsszene zu werden. Sie machen sich zu Produzentinnen und sammeln um sich eine illustre Gruppe mehr oder minder erfolgreicher Kulturschaffender, die im Schweif der grossen Ideen der beiden Frauen ihren Platz finden, nicht zuletzt darum, weil da Sozialversicherungen, Altersvorsorge und ein geregeltes Einkommen winken, woher auch immer. Eines ihrer Rennpferde ist „Käschwöscher“, eine Performanceshow, die sich zum Hype mausert. Aber „Käschwöscher“ ist längst zum Programm des Vereins geworden. „Polifon Pervers“ macht (fast) alles, um zu Geld zu kommen, tatsächliche Kultur, anderes mit frisierten Besucherzahlen, Geldwäscherei mit Drogengeld und Investitionen in den Anbau berauschender Pflanzen. Das Geschäft floriert und alles, was das Kollektiv in die Hand nimmt, scheint sich zu Geld zu verwandeln. Bis man augenreibend feststellen muss, dass im März 2020 die Strassen leergefegt sind, bis eine Lokaljournalistin mit dem windigen Unternehmen einen argen Schiffbruch provoziert, die Pandemie eine der beiden Frauen niederstreckt und die Geschäfte buchstäblich in Rauch aufgehen.

«All die Theater-Arschlöcher send ned nomen aberglöibig, versoffe, verloge, hochschtaplerisch ond chliikriminell, sondern hend ebe au no sone huere Hang zom Pathos.»

Dass Béla Rothenbühler nicht einfach wild fabuliert und selbst aus eben dieser Kulturbabble kommt, dass er im Erzählen weiss, wovon er schreibt, dass ich mir auch als Leser während der Lektüre die Augen reibe, sei es am fundierten Szenewissen, der wilden Story oder der genüsslichen Fabulierlust, macht den Roman zu einer Entdeckungsreise. Auch wenn die Figurenzeichnung darunter leidet. Protagonisten dieses Romans scheinen nicht die Menschen zu sein, von denen der Roman erzählt. Protagonist ist der wilde Tripp durch die Zeit, eine Fregatte wie bei „Fluch der Karibik“ aber auf den unergründlichen Untiefen des Kulturbetriebs. Klar kann man den Roman als grosse Persiflage lesen, als Satire, als verspielte, bitterböse Überzeichnung. Aber in den Szenerien steckt derart viel Echtes, dass man das Buch nicht einfach als literarische Spielerei abtun kann.

Man muss doch einiges an Biss entwickeln, um dranzubleiben. Nicht nur wegen der Mundart. Und ob dieses Buch wie im Reglement zu den «herausragenden Büchern» des Jahres zählt? In Sachen Skurrilität ganz bestimmt.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Fundraiser, Kulturkomissionsmitglied, Songwriter, Lyriker, Produzent sowie ehrenamtlicher Lektor des Deutsch-Lehrmittels einer amishen Gemeinde im Bundesstaat Indiana. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

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Illustration © leale.ch

Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch

Martin Frank «ter fögi ische souhung», Der gesunde Menschenversand

Als „ter fögi ische souhung“ von Martin Frank 1979 erschien, war der Roman Sensation und Skandal zugleich. Der Roman bestach erst recht damals mit seiner absoluten Eigenwilligkeit, seiner Unverblümtheit und als erster queerer Mundartroman aus der Schweiz. Auch über vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen ist „ter fögi ische souhung“ ein Ereignis!

Beni ist fünfzehn und irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Pflichten und Rebellion, zwischen Rausch und Zorn. Die Beziehung mit seinen Eltern ist schwierig. Sie haben resigniert, ihren Sohn auf den richtigen Weg zu bringen. Nicht einmal ein arrangiertes Treffen mit dem erfolgreichen Onkel bringt Beni zurück auf den tugendhaften Weg. Beni hat ganz andere Vorstellungen von Leben, einem Leben, das gar nichts zu tun haben will mit den Konventionen der Zeit.

Beni will sein wie Fögi. Wie Fögi Musik machen. Musik wie die Stones. Wie Fögi die Welt sehen. Wie Fögi das Leben geniessen und abhängen. Fögi ist zehn Jahre älter als Beni und versucht sich mit seiner Band über Wasser zu halten, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Es geht nicht ohne das Verticken von Stoff, den er für sich und seine Band, für Beni und zum Verkauf besorgt, mit Connections bis in den Libanon und nach Schweden. Beni vergöttert Fögi als seinen ganz persönlichen Guru. Er liebt ihn, ist ihm verfallen. Er liebt ihn über alles, nur schon deshalb, weil Fögi ihm alles gibt, was ihm sein Leben sonst verweigert. Beni fühlt sich getragen und begehrt, verstanden und geliebt.

«mängisch chunntermer for wine guru odere zem meischter so öpis fo rue giz eifach nid.»

Zusammen mit Fögi taucht er immer öfter und intensiver ab in den Rausch, erlebt die Fahrten in den Taumel zusammen mit seinem Freund wie ein weiches grosses Bett, ein in weiche Decken gepolsterter Himmel des Glücks. Und wie alle, die sich solchen Zuständen ergeben mit dem Glauben, alles vollkommen im Griff zu haben.

Marin Frank «ter fögi esche souhung», Der gesunde Menschenversand, 2023, Neuauflage, 104 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-144-9

Da ist die Geschichte eines Jugendlichen, der in eine Zwischenwelt ab- und eintaucht. Aber da ist auch die absolute Selbstverständlichkeit, mit der sich Beni seinen Neigungen hingibt, seiner Liebe zu Fögi, seinem Traum einer ganz eigenen Zweisamkeit. Als der Roman 1979 erschien, entsprach die Welt der meisten so gar nicht der, die Beni und Fögi auslebten. Dass Martin Franks Art über alternative Lebensvorstellungen und die Schwulenszene zu schreiben später unter den Eindrücken und Schreckensszenarien von Aids wieder verwässert wurde, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich hingegen ist es, dass dieser Roman, der wie „Mars“ von Fritz Zorn (erschienen 1977) in vielerlei Hinsicht einzigartig ist in der Schweizer Literaturgeschichte.

Neben Geschichte, Szenerie und Selbstverständlichkeit ist es aber vor allem die Sprache, die Mundart, die in Schrift gefasste Mundart, beinah phonetisch, die Martin Frank zu einer Kunstsprache macht, ermachis eifach uf guet Glük. Ein Unterfangen, dass das Lesen nicht einfach, aber – wer genug Geduld aufbringt – zu einem ganz besonderen Lesegenuss macht, einem Lesen zwischen kindlicher Freude und einer Authentizität, die sonst in der geschriebenen Sprache kaum erreichbar ist.

«tagen unächt schpile lose schite trip ufoglen uaues he zech ufglöst inen uferlose fluss womer trin tribe si oder no bessere teil fo üsem tanz fürnen übermächtige go.»

„ter fögi ische souhung“ ist ein Stück Geschichte, Literatur- und Kulturgeschichte. Ein ganz spezieller Genuss!

Martin Frank, geboren 1950, aufgewachsen in Bern und Zürich. Ab 1970 Reisen in Süd- und Nordindien, wo er Hindi, Urdu und Tamil lernte. Die Erzählungen «Blinde Brüder» erhielten 2001 den Buchpreis der Stadt Bern. Martin Frank schreibt Schweizerdeutsch, Deutsch und Englisch. Letzte Veröffentlichung: «Venedig, 1911» (Rimbaud Verlag, 2021).

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Guy Krneta «Ds gröschte Gschänk» – «Tschuldigung» 8

Am Morge vo Heiligaabe het dr euter Sohn gseit, uf eis Gschänk fröi’r sech bsungers. Öb’s öpis sig, won’r sech gwünscht heig, ha ne gfragt. Vo wäm dass’r’s überchöm, ha ne gfragt. U vo won’r überhoupt wüss, dass’r’s überchöm, ha ne gfragt. Aber är het glachet wi eine, wo meh weiss aus angeri.

Am Aabe si ungerem Boum vrschidnigi Gschänk gläge. U hingerem Boum es grosses Päkli, wo em jüngere Sohn ufgfauen isch. Für wän das Päkli sig, het’r wöue wüsse. Aber i ha gseit, das gsäch’r de, itz müess’r haut no chli Geduud ha bis zur Bescheerig.

Bir Bescheerig isch’s dr jünger Sohn gsi, wo aus erschts sini Päkli het wöue vrteile, won’r gmacht het gha im Chindergarte. När hei d Ching d Päkli übercho vo den Erwachsnige. U em Schluss isch’s dr euter Sohn gsi, wo sini Päkli vrteilt het.

Was mit däm grosse Päkli sig hingerem Boum, het dr jünger Sohn gfragt, wo aui angere Päkli si vrteilt gsi. Das gsäch’r grad, het dr euter Sohn gseit, itz gäb’s nämlech non en Überraschig. U när het’r das grosse Päkli hingerem Boum füregno.

Das Gschänk, het dr euter Sohn gseit, mach är öper ganz Bsundrigem: Tschuudigung, sich säuber. U när het’r’s aafa uspacke. Es isch guet iipackt gsi, ire Chischte, mit viu Papier drumume, und usecho isch am Schluss es Chüssi. Won’r säuber het gfärbt u gnäjt gha ir Schueu. Über Wuche. Mir hei ne globt u das Chüssi beschtuunt.

Aber dr jünger Sohn het gfragt, öb me das überhoupt dörf, sich säuber öpis zur Wienachte schänke. Wüu we me das dörf, tschuudigung, de mach är das nächschts Jahr o.

© Ayse Yavas

Guy Krneta, 1964 geboren in Bern, lebt in Basel. Krneta war Dramaturg und Co-Leiter an verschiedenen Bühnen in Deutschland und der Schweiz. Er ist Mitbegründer des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» und initiierte u.a. das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Krneta schrieb zahlreiche Theaterstücke und Bücher, die mit Preisen ausgezeichnet wurden.

«Die Perücke», Roman, Der Gesunde Menschenversand; Alles oder nichts. Alles fürs Theater macht die Regisseurin Rike. Kompromisslos widmet sie ihm ihr ganzes Leben. Nichts mehr vom Leben erwartet die junge Esther. Kompromisslos bringt sie sich um. Beiden gerecht zu werden versucht ein Ich-Erzähler. An der Seite Rikes wird er vom Regieassistenten zum Autor. Als Freund Esthers schaut er hilflos zu, wie sie verzweifelt.
Guy Krneta hat aus einem Stück Lebens- und Theatergeschichte einen bewegten und bewegenden Roman geschrieben.

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44. Solothurner Literaturtage: Ein überzeugendes Comeback!

Nach pandemiebedingtem Unterbruch strahlen die 44. Solothurner Literaturtage über alle Erwartungen hinaus. Ein dreitägiges Fest der Literatur, der kulturellen Vielfalt und der Freundschaften. Und fast 20000 BesucherInnen!

Mag sein, es hatten alle Hunger und Durst. Es war, als würde über allem das Wort „Endlich“ stehen. Durchaus im doppelten Sinn. Zum einen war da die Freude, dass es dieses Festival in der einem so lieb gewordenen Form überhaupt wieder gegeben hat. Zum andern war man sich bewusst, dass es der äusseren Einflüsse genug gäbe, die einem solchen Festival an die Gurgel springen können.
Es war ein Fest – ein Fest des Wiedersehens, ein Fest der Begegnungen, ein Fest der Freude, ein Fest der Hoffnung, ein Fest des Buches, ein Fest der Kunst – ein Fest der Freundschaft. Und niemand hatte Lust, sich dieses Fest verderben zu lassen, schon gar nicht, wenn das Wetter zum verlässlichen Freund wird. Ich erinnere mich an Austragungen der Solothurner Literaturtage, an denen heftigst darüber diskutiert wurde, wen man versäumt habe, einzuladen, wer vergessen ging, wie gross der angerichtete Schaden sei. Diese Diskussionen fanden kaum statt, auch wenn man hätte diskutieren können.

«Ein eindrücklicher Beweis, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!» Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir»

Es gab wie immer von allem einiges, von Spoken Word, zum Beispiel die junge Sarah Elena Müller, der das Publikum artig applaudierte, obwohl sie all den Gutbetuchten einen grellen Spiegel vorhielt, Lyrik wie der von Simone Lappert, die bewies, das Dichtung einen Körper zum Instrument werden lassen kann und dieses Instrument ein Stadttheater zum Wabern bringt, grosse Namen der Belletristik wie jener von Nino Haratischwili, die mit ihrer Art des Erzählens nicht nur in ihren Büchern bannt, bis hin zu Kinder- und Jugendbuchliteratur, die es meisterhaft versteht, Geschichten sinnlich werden zu lassen. Kleine Verlage und grosse, grosse Namen und unbekannte. Als Ganzes war das Programm durchaus gelungen, auch wenn der ganz grosse Gast aus Übersee, Joshua Cohen, eben preisgekrönt durch den Pulitzer-Preis, seine Teilnahme absagen musste.

«Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.» Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht»

Auffällig war, wie sichtbar das Aufbrechen von Grenzen war. Musik beispielsweise wird immer offensichtlicher nicht einfach zu einer Begleitung, einer Auflockerung. Vielen AutorInnen gelingt es eindrücklich, mit Musik Sinne zu öffnen, Bilder und Eindrücke zu verstärken, manchmal alleine durch die eigene Stimme, die Rhythmus und Tonalität in ganz andere Sphären hieven kann. So sah man Michael Fehr auf der Bühne des Stadttheaters sitzen und singen, ohne Begleitung, nur mit sich und seiner Stimme! Da wird jemand zu Musik! Oder in Formation, unterlegt durch einen eigentlichen Soundtrack.

Lange forderte man das Ende der klassischen „Wasserglaslesung“, schien es nicht mehr zu genügen, dass Schreibende aus ihren Werken lesen und Fragen dazu beantworten. Glücklicherweise gibt es diese noch immer, auch jene kauzigen Urgesteine der Literatur, bei denen man nie so richtig weiss, ob sie Zuhörende an der Nase herumführen oder die Performance der einzige Weg durch das Buch ist.

«Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist.» Frank Heer «Alice»


Auch bei den Formaten ist man selbst nach der 44. Austragungen noch immer auf der Suche nach Verbesserungen. So platzierte man die „Gratislesungen“ auf der Aussenbühne vor die breite Treppe der St. Ursenkathedrale. Was für ein Anblick, wenn bei der Lesung von Julia Weber aus ihrem Roman «Die Vermengung» auf der Treppe vor der beeindruckenden weissen Kalksteinfassade regelrechte Arenastimmung aufkommt und der Eindruck, Literatur breite sich über eine ganze Stadt aus!

«Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!» Rebecca Gisler «Vom Onkel»


So viele Menschen wie schon lange nicht mehr besuchten dieses Festival der geschriebenen Bilder. Der Organisation der Solothurner Literaturtage gelang das, was eigentlich nur schwer zu schaffen ist; eine repräsentative Nabelschau der CH-Literatur, angereichert mit grossen Namen aus dem Ausland. Aber es waren nicht Landesgrenzen, die man demonstrativ überschritt, sondern jene der Künste. Etwas, was angesichts der Grenzenlosigkeit in der aktuellen Geschichte Signal sein könnte.

«Ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.» Julia von Lucadou «Tick Tack»

Wer nicht an den Solothurner Literaturtagen war – lesen Sie! Kaufen Sie Bücher! Lesen ist vielfach sinnlich. Und wenn auch kein Buch die Welt zu retten vermag; Literatur schenkt unendliche Weiten! Besuchen Sie die vielen Festivals, die übers Jahr stattfinden. An solchen Festivals, an Lesungen und Darbietungen rund um die Literatur entsteigt den Büchern der Dschinn, der fast jeden Wunsch in Erfüllung bringen kann.

«Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.» Yael Inokai «Ein simpler Eingriff»


An einer Lesung von Urs Mannhart aus seinem hellsichtigen Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, sass eine Frau neben mir, die während der Lesung zeichnete. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind ein Geschenk der Zeichnerin Charlotte Walder, entspringen einer spontanen Begegnung und symbolisieren wunderbar, was ein solches Festival leisten kann: Viel mehr als Berührungen!

«Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.» Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“

Reservieren Sie sich den 19. bis 21. Mai 2023!

(Eingefügt in den Text sind all jene Rezensionen auf literaturblatt.ch, die mit den AutorInnen an den 44. Literaturtagen in Solothurn korrespondieren.)

Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir», Der gesunde Menschenversand

Mag sein, dass Rolf Hermanns neuer Gedichtband «In der Nahaufnahme verwildern wir» als Naturlyrik katalogisiert wird. Was sie mit Bestimmtheit ist, denn die Natur ist Protagonistin, Objekt, Kulisse und Inhalt zugleich. Aber gerecht wird man dem Buch damit bei weitem nicht. Die Lyrik des ewigen Wallisers schlüpft förmlich in die Natur hinein, selbst dort, wo sie durch menschliche Eingriffe kontaminiert ist.

Seine Gedicht sind lange und kurze Kamerafahrten, «Nahaufnahmen», nicht nur an der Natur vorbei, sondern durch sie hindurch. Seine Art des Sehens erinnert mich an den Dokumentarfilm «Mikrokosmos – Das Volk der Gräser» von Claude Nuridsany und Marie Pérennou, der 1996 Furore machte und den Blick auf die Natur in eine ganz neue, überraschende Dimension brachte. Kamerafahrten und Slow Motion, als wäre man ein untrennbarer Teil von ihr. Nicht nur das Sehen auf die Natur, ebenso durch sie hindurch, aus ihr heraus.

Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir», Der gesunde Menschenversand, 2021, 176 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-03853-116-6

«In der Nahaufnahme verwildern wir» ist mehr als ein Titel, er ist Programm. Eine Aufforderung, Ermunterung an ein Wesen, das sich in den vergangenen Jahrhunderten immer mehr von dem entfernte, was wir heute Natur nennen und als unser Gegenüber empfinden, nicht mehr zu uns selber zählen. Hier der Mensch, dort die Natur. Rolf Hermanns Gedichte ziehen mich zurück in die Natur, an die trockenen Walliser Hänge, den Pfynwald an den Ufern der Rhone, die bewaldeten Bergflanken. Naturwesen sind wir längst keine mehr. Eine Rückverwilderung täte gut, zurück in den Dreck, in die Kälte, die Feuchte, die Hitze, die Unmittelbarkeit, zu jener echten Nähe, in der man nicht nur besucht, dick eingemantelt und beschuht der Natur als netter Kulisse begegnet, der man erzwungene Notwendigkeit zuspricht.

Rolf Hermann liess sich von den Gedichtzyklen Rainer Maria Rilkes beeinflussen, die dieser im Wallis in seinen letzten Lebens- und Schaffensjahren von 1924 bis 1926 in französischer Sprache schrieb. Er habe alles gelesen, was ihm vom Dichter in die Hände gefallen sei. Angefangen habe  die direkte Auseinandersetzung, die Transformation mit Rilkes kürzesten französischsprachigen Zyklus «Les Fenêtres». Er «schleuste» die Gedichte via Computer durch alle Sprachen, mit denen sich Rilke auseinandersetzte, ganz am Schluss ins Deutsche, um dann darauf wiederum dichterisch zu reagieren, neue Bilder, neue Zusammenhänge entstehen zu lassen.

Rolf Hermann erklärt dies eindrücklich an einem Beispiel:

Rilkes Original:

II

Tu me proposes, fenêtre étrange, d’attendre;
déjà presque bouge ton rideau beige.
Devrais-je, ô fenêtre, à ton invite me rendre?
Ou me défendre, fenêtre? Qui attendrais-je?

Ne suis-je intact, avec cette vie qui écoute,
avec ce cœur tout plein que la perte complète
Avec cette route qui passe devant, et le doute
que tu puisses donner ce trop dont le rêve m’arrête ?

Was der Computer generierte quer durch die Sprachen von Französisch ins Arabische usw. ins Deutsche:

II

 Ich war ein spezielles Feld angeboten, hoffe ich.
Fast seine beige Vorhang destabilisieren.
Wenn die Verbindung Fenster oder gehen?!
Oder das Fenster zu schützen? Wer würde nicht erwarten?

 Sie sind völlig intakt aus diesem Leben gehört zu werden,
Alles vollständigen Verlust des Herzens?
Auf diese Weise und Zweifel
Es kann Ihnen aufgehört zu träumen?

Was Rolf Hermann damit machte:

I

hat es in ihnen aufgehört zu träumen

jenseits der aufbäumenden räume 
flirren diesseitslider 
im irisierenden takt der silberpappeln
ein verlust der grossraum-herzen

das waren-ich ist botenstoff im angebot
das illusorisch lodernd hin zum fenster geht 
und eine träne schützt 
die da nicht warten wird

Rolf Hermann durchstreift gleich mehrere Landschaften synchron, jene seiner Erinnerungen, seiner Kindheit und Jugend, jene seiner Heimat, dem tiefen Tal, den steilen Hängen und jene seines schreibenden Bildervaters Rilke, der noch immer atmosphärisch im Rhonetal wirkt. Sein Langedicht «eins» versetzte mich bei der lauten Lektüre in einen wahren Sprachrausch. Ein Gedicht, das eindrücklich beweist, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!

Rolf Hermann ist Gast am Wortlaut-Literaturfestival in St. Gallen, mit «In der Nahaufnahme verwildern wir» Teil der Eröffnung am 25. März und am 27. März in einer von mir moderierten Lesung. Wortlaut-Programm

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, Kanton Wallis, lebt als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Er schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Spoken-Word- und Theatertexte. Das Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Neben Einzellesungen aus seinen Büchern tritt Hermann mit zwei weiteren Projekten auf: der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und dem Literaturpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Flüchtiges Zuhause» (2019).

Rezension «Eine Kuh namens Manhattan» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Das Leben ist ein Steilhang» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Dirk Skiba

Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand

Michael Fehr ist ein Phänomen. Da sitzt einer gleich neben mir an einem kleinen Tischchen, ein Glas Wasser, ein kleines schwarzes Büchlein und ein Mobilphone mit einer Tastatur auf dem Display. Er stampft und klatscht, gibt den Rhythmus mit Luft, die durch die Lippen schiesst, singt und gibt den Bass, ein einziges vielfältiges Instrument von der Sohle bis zum Scheitel. Mensch gewordenes Lebensgefühl!

Besucht man die Webseite von Michael Fehr, springt einem der Schriftsteller und Dichter nicht gleich entgegen. Auf den ersten Blick könnte er auch ein Musiker sein. Vielleicht ein Saxophonist, einer, der mit seinem rauen Spiel die Szene aufmischt. Vielleicht ist dieser erste Eindruck ja auch gar nicht falsch. Vielleicht ist Michael Fehr einmal Musiker, einmal Dichter, ein Stimm- und Wortmusiker, oder alles in einer Person. Einer, der mit seiner eigenwilligen Kunst schwer einzuordnen ist, es tunlichst vermeidet, einer Schulbade zuzugehören. Michael Fehr ist Schriftsteller, Dichter, Performer, Sänger. Jedes seiner Bücher ist eine Überraschung, so wie man davon ausgehen kann, dass sein im Frühling erscheinendes Buch „Hotel der Zuversicht“ auch zu einem Sprach- und Leseexperiment wird. Vielleicht ist Michael Fehr so etwas wie der Tom Waits der Schweizer Literatur, ein bisschen «lonsome Cowboy».

Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand, 2021, 45 Seiten, CHF 15.00, direkt beim Verlag zu beziehen

Das sind für die Charakterisierung eines Künstlers vielleicht ein bisschen viele «Vielleicht“. Wer „super light“ auf der Bühne lauscht, den entführt Michael Fehr in eine ungefähre Zwischenwelt. Ein Vielleicht. Das mag mit der Entstehung seiner Texte zusammenhängen, da sie viel näher am Klang, am Sound, an der Akustik sind, als bei den meisten anderen Wortkünstlern, bei denen die noch stumme Schrift vorausgeht. Das mag an der Konzentration seiner Sprache liegen, an der Verdichtung der Bilder, einer Szenerie der Verknappung. Michael Fehr Erzählminiaturen öffnen Räume, erst recht, wenn er sie selber liest, noch viel mehr, wenn er sie in einen Rhythmus setzt, sein ganzer Körper mitgeht, wenn er singt, wenn er seine Augen schliesst und seine Arme in der Luft seinem Gesang Richtung geben.

Michael Fehr gab an diesem Abend sehr viel von sich, seinen Arbeiten, seinem Ringen um Sprache, seinem Denken und Nachdenken preis. Gedanken, die in seine Texte fliessen, von denen er durchdrungen ist, die durch seine Performance ein Ventil finden. Vielleicht auch, um sich angesichts der vielen Ungerechtigkeiten Luft zu machen.

Das Literaturhaus Thurgau dankt Michael Fehr und im Speziellen der Zeitschrift ERNST für die Zusammenarbeit!

Die Redaktion des Magazins ERNST, einem Schweizer Magazin, das sich sehr ambitioniert mit den verschiedensten Themen auseinandersetzt, nicht zuletzt literarisch, beabsichtigte schon lange eine Nummer zur Literatur, zum Buch. Nun wurde es gar eine Doppelnummer zum Thema „Manuskript“. Angefragt wurden Schreibende, sich zu ihren ganz verschiedenen Arten des Schreibens zu äussern. Darunter Gianna Molinari, Paul Nixon und Michael Fehr. Mehr Informationen zum ERNST.

Michael Fehr, geboren 1982, aufgewachsen in Muri bei Bern. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und am Y Institut der Hochschule der Künste Bern. 2014 gewann Fehr mit einem Auszug aus «Simeliberg» den Kelag-Preis und den Preis der Automatischen Literaturkritik in Klagenfurt.

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Beitragsbilder © Marc Doradzillo

Michael Fehr «Und ich dachte, Schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen…»


«…In einer gewissen Über­heblichkeit hatte ich
nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei.
Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben»

Text: Anita Zulauf

Da war mal einer. Ein Kleiner. Schmaler. Sechs Jahre alt, vielleicht. Er sitzt am Schlagzeug. In der Bibliothek einer feudalen, alten Villa, in Muri bei Bern. Es ist ein Sommer in den Achzigern. Die Sonne wirft Strahlen, warm, in diesen Raum, durch zwei Jahrhunderte alte, blind gewordene Fensterscheiben. Staubpartikel tanzen. Er sieht sie nicht. Sitzt an diesem Schlagzeug. Und spielt.

Der Schlagzeuglehrer hat ihn angewiesen, zu üben. Bis er wiederkommt. Wohin er ist? Irgendwohin. Aufs Klo? Nach draussen, rauchen? Der Junge schlägt die Stöcke auf die ­Becken. Bald in einer Art Trance. Den Fuss, rhythmisch auf das Pedal.

Und dann passiert es. 

«Auf einmal war da dieses Gefühl. Ich spürte, da ist was. Etwas, das tief in mir Zuhause ist. In mir angelegt. Etwas, das mich nie mehr loslassen wird.» Und er spielt. Und spielt. Und jetzt kann er nicht mehr aufhören. Und will auch nicht mehr aufhören. Er muss pinkeln, aber dafür ist keine Zeit. Er spürt, wie ihm der Urin die Beine runterläuft, er hört das leise Plätschern, vermutet, dass sich nun alles über das Pedal ergiesst. Er spielt weiter.

33 Jahre später. Michael Fehr. Autor.

«Als der Schlagzeuglehrer zurückkam, war es mir uh peinlich, und er fand es natürlich nicht grad lustig. Mit ­Papiertüchern tupfte er den Urin so gut wies eben ging vom Pedal.» Diese Geschichte erzählt mir Michael Fehr an einem Nachmittag im vergangenen August, an einem der wenigen warmen Sonnensommertage. Wir treffen uns im Seebistro Luz in Luzern. Die Holzterrasse des Restaurants ragt über den See, unter uns plätschern leise leichte Wellen an die Ufermauern.

Michael Fehr lebt in Bern. Er ist stark sehbehindert. Juvenile Makuladegeneration lautete die Diagnose, mit der er 1982 zur Welt kam. Seinen Mund umspielt ein Lächeln, spitzbübisch irgendwie, leicht ironisch, so, als wäre er amüsiert, über all die Wichtigkeiten und die sich zu wichtig Nehmenden. Er trägt einen Anzug, ein Hemd, elegant. Und trotzdem wirkt es irgendwie so, als hätte er sie in jenem Sommer in den Achtzigern in dieser Bibliothek schon getragen. Und sie wären einfach zusammen gross geworden. 

Obwohl fast blind, hält Michael Fehr mehrheitlich Blickkontakt. Kannst du mich sehen? Frage ich. Er versucht zu erklären, ich zu verstehen: «Ich erkenne Schemen, Farben, Ahnungen.» Und dann: «Wenn wir beide vom Sehen sprechen, sprechen wir nicht vom Gleichen. Ich habe ja nie ­gesehen wie du. Insofern kommt auf diese Frage keine Antwort.»

Es ist sein Vater, der ihm beibringt, Augenkontakt zu halten. Von klein auf. «Er sagte, schau hinauf zu den Leuten, wenn sie mit dir reden.» Dieser Vater, der mit derselben Sehbehinderung zur Welt gekommen ist. Wie wiederum dessen ­Mutter. Der Vater, der daher aus Erfahrung weiss, worauf es ankommt, im sozialen Miteinander, was wichtig ist, gesellschaftlich verlangt. «Doch wenn du klein bist und fast nichts siehst, siehst du die Gesichter der Leute erst recht nicht. ­Zudem hat es mich absolut nicht interessiert, was da oben vor sich ging. Doch mein Vater hat darauf bestanden. Darum kann ich den Blick halten, wenn ich will. Das hat einen entscheidenden Vorteil im sozialen Alltag. Obwohl mir selbst das wenig bringt.»

Wie nennt er, Michael Fehr, es, was er hat? Handicap? Beeinträchtigung? «Ich habe eine Behinderung. Ich habe dem immer so gesagt, das war in unserer Familie kein Tabuthema. Es ist genau das, was es macht: es behindert mich.» Nur mit der Änderung des Sprachgebrauchs und dessen Repetition verändert sich nichts, sagt er. «Dieses Bemühen um politische Korrektheit ist Stumpfsinn, wahnsinnig intellektuell und das Privileg der Reichen. Das langweilt mich total. Du darfst also gerne Behinderung sagen.»

Aufgewachsen ist er in Gümligen bei Bern, ein Dorf, damals. In einer Blockwohnung, ohne Geschwister. «Meine Eltern hatten wenig Geld. Mir wäre das aber nie aufgefallen, mir hat nichts gefehlt.» Als kleines Kind fürchtet er sich vor den anderen Kindern, die unberechenbar, rabiat, wild und schnell sind. «Meine Eltern stellten mich regelmässig raus. Freiwillig wäre ich nicht gegangen. Sie sagten, das musst du jetzt aushalten, wir kommen in fünf Minuten. Ich weiss, dass das auch für sie nicht einfach war.» 

Die Teenagerzeiten waren dunkler

Jodler, Schlager, Marschmusik, das mag er, als Kind. Und da ist der Wunsch, Schlagzeugspielen zu lernen. Er trommelt auf Blech und Büchertürme. Die Eltern mieten ein Schlagzeug. Da ist er, wie gesagt, etwa sechs. Sie organisieren einen Übungsraum, im Luftschutzkeller, gleich neben dem Wohnhaus. Dort fürchtet er sich zwar, in diesem Keller, fürchtet sich vor Gespenstern. Darum singt er, laut, trommelt, um sie zu vertreiben. 

Das Singen und Trommeln im Luftschutzkeller. Zusammen mit den unzähligen Geschichten, die er als Kind der Achziger ab «Kassettli» in Endlosschlaufe hört. Geschichten, vollgepackt mit Abenteuern, die ihm nur gefallen, wenn sie dunkler sind als dunkel, heller als hell, in denen es kracht und alles explodiert. Und am Ende trotzdem alles gut kommt. Dies alles sammelt sich, schlummert in ihm, gärt, wächst, kumuliert. Bis es sich Jahre später allmählich ineinanderzufügen beginnt.

Trotz Sehbehinderung wollte er unbedingt in die Regelschule, und «meine Eltern unterstützen mich darin total». Damals, in den Achzigern, in denen noch wenig über Integration und Inklusion gesprochen wurde, war das eher neu. «Da gab es Lehrer, die mich total unterstützten und solche, die mich absichtlich schlecht behandelten.» Unter den Kindern war er immer akzeptiert. «Ich kam mit den meisten gut aus, ich konnte gut zeichnen, trommeln, ich hatte das Gefühl, ­gehört zu werden, die meisten waren gern mit mir.» Die Teenagerzeiten waren dunkler, «aber schon da war das Gefühl, da ist jemand in mir, der etwas will.» 

Hintertür zurück in die Kunst

Beim Wirtschafts- und Jura-Studium an der Uni in Bern greift seine bislang angewendete Methode, zuhören und auswendig lernen, nicht mehr. Nach vier Studienjahren gibt er überfordert auf. Es ist der Berufsberater der Uni, der ihn schliesslich auf das damals neue Literaturinstitut in Biel aufmerksam gemacht hat. «Da war ein Hintertürchen zurück in die Kunst, nachdem ich das Schlagzeugspielen mit zwanzig in einer grossen Frustration aufgegeben hatte, weil ich fand, ich sei zu schlecht, oder jedenfalls ungenügend. Und dann dachte ich, schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen. In einer gewissen Überheblichkeit hatte ich nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei. Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben.» Allerdings ist es dann gerade dieser fehlende Respekt, der es ihm ermöglicht, wieder frei und hemmungslos die Kunst in Angriff zu nehmen. Wie damals, am Schlagzeug, als Kind. «Ich dachte, jeder kann wie er will. Inklusive ich. Und das hab ich auch so praktiziert.» Womit er natürlich auch angeeckt ist. Weil ganz so einfach ist es dann halt doch nicht.

«Aber was ich bekommen habe, war Raum, frei arbeiten zu können und das Vertrauen der Leute, dass ich schon weiss, was ich tue.» Und ja, er war ein Arbeiter, hat es sehr ernst genommen. Es gab immer wieder einzelne Leute, die ihn dort unterstützt haben, indem sie sagten, lasst ihn machen. Der rennt jetzt dreihundertmal gegen die Wand, bis er es selbst rausfindet. «Eine Zeit lang bin ich nicht müde geworden, zu stänkern und zu provozieren.» Dass sie das ausgehalten haben, ihn toleriert, dafür ist er ihnen im Nachhinein dankbar. Sie hätten mich auch rausschmeissen können. Das haben sie nicht getan.» Und ja, da waren noch ein paar wenige, «wahnsinnig gescheite Leute», die er in Biel und später an der Hochschule der Künste in Bern kennen gelernt hat. «Wenn mir einleuchtet, dass es bei jemandem etwas zu lernen gibt, bin ich der Erste, der eifrig ist.»

«Ich will nicht eingeordnet werden»

Seit dem Erscheinen seines ersten Buches «Kurz vor der Erlösung» im Jahr 2013 wollen ihn Kulturkritiker einordnen, was er tut, dieser Fehr, der in so gar kein Genre passen will. Sie nennen es rhythmische Prosa. Oder Spoken Word. «Ich will nicht eingeordnet werden, ich will meine eigene Kunst machen. Zum Einen mache ich Songs, zum Anderen Geschichten. Die Geschichten sind etwas länger, die Songs kürzer. So einfach ist das.» 

Am Anfang versucht er, sich anzulehnen, sucht Schriftsteller, die er für grossartig hielt, versuchte, sie auf eine gewisse Art zu imitieren. «Aber sehr bald bin ich meinem eigenen Regelwerk verfallen, dem kompositorischen Verfahren verbunden mit dem Klingenden, mit Sound.» Jedes Wort musste er mindestens einmal wiederholen, dann entweder noch ein zweites Mal oder ein zweites Mal in einer Variation. Auf Silben-, Wort- und Phrasenebene, in bestimmten Rhythmen und Klang. «Dieses Verfahren habe ich erfunden und gesagt, so muss es sein. Und wenn man das schafft, und gleichzeitig auch noch, eine Narration darzubieten, dann ist man wirklich gut.» Er findet diese Technik immer noch äusserst interessant. «Aber heute, würde ich sagen, werde ich immer einfacher, unintellektueller und, wie ich finde, beseelter. Die Storys, die sind aber – und das ist geblieben – sehr absurd. Die gehen sehr weit in den logischen Zusammenhängen. Sind sehr strapaziös. Da darf man ruhig verblüfft sein. Oder sogar entgeistert.» 

Seine Texte zeichnet er mit einem Handy-Tonaufnahmeprogramm auf. «Ich bin nicht der pragmatische Schriftsteller, ich bin ein Kopfschreiber», sagt er. Es gehe ums Fassen von Gedanken, ein absolut innerlicher Prozess, tief hinein in jede einzelne Formulierung. «Wenn ich mit den Audio-Aufnahmen beginne, habe ich die Texte im Kopf, oder heute würde ich sogar sagen, in der Seele. Ich weiss ganz klar, was herauskommen wird. Ausgenommen das Abenteuer, wenn mir während des Sprechens auf einmal ganze Fragmente fehlen, ausgeschnitten, aus dem Sinn, und du weisst in dem Moment, die kommen nicht zurück. In diesem Moment passiert das Abenteuer, und du machst einen Ausflug, der nicht vorgesehen war. Das ist absolut spannend. Aber bis auf diese Hindernisse oder Abenteuer, die sowieso passieren, bin ich total vorbereitet.» So entstehen Audios, Bühnenprogramme, Texte werden transkribiert und als Bücher herausgegeben.

Ein Gefühl von Wind, vielleicht

Auf der Bühne wird er wieder zu diesem Jungen im Luftschutzkeller. Er spielt Schlagzeug, schreit, singt laut, leise, die Stimme überraschend rau, rauchig, der Nachklang, ein Hauch, eine Ahnung, nach Abenteuer, Schurkenschaft, ­Halunken auf Raubzug. Worte explodieren. «Wenn nichts herrscht ausser Puls, stampfen, klatschen, singen, dann bin ich zufrieden, das gibt mir unendliche Geborgenheit.» Mit Musikerkollege Rico Baumann steht er aktuell mit dem Programm «super light» auf der Bühne. «Ich spiele für Menschen, die Freude haben an Irritation und Verblüffendem. Vielleicht sind sie auch mal entsetzt. Sie fragen sich, was ist das genau? Was will er sagen mit dem? Das gefällt mir. Es gefällt mir, wenn die Menschen danach nach Hause gehen, mit dem Gefühl, dass eine Türe aufgegangen ist, also nicht, dass sie mit einer Befriedigung heimgehen, sondern mit ­einem Gefühl von Wind, vielleicht. Mit Überraschung, Inspiration vielleicht.» 

 «Auftreten», sagt er, «ist ein wesentlicher Teil von mir. Der Moment des Entfaltens, der Präsenz, dieses Sendebewusstsein, mag ich sehr. Das musste ich lernen, übers ­Machen, im Sinn von Mut. Es ist eine Art Blossstellung, ein Gefühl, das wir erst mal gelernt haben, zu verhindern. Man könnte scheitern, gesellschaftlich in Ungnade fallen, man wird angreifbar. Doch man kann lernen, es zu geniessen, diese Radikalität, sich blossstellen, nackt fühlen, für einen Moment, oder einen Abend. Und wenn ich dann der bin, der schon lange ausgezogen dasteht, im Gefühl von Nacktheit, haben nur die anderen was zu verlieren. Weil hinter dieser Blossstellung, hinter der Scham, ist die totale Befreiung.»

«Ich arbeite an meinem Durchbruch»

«Mit ‹Kurz vor der Erlösung› ist es richtig losgegangen. Obwohl dieses Buch zunächst niemand gelesen hat ausser jene aus dem Betrieb, diejenigen, die mir die Preise gegeben haben. Damit wurde ein Interesse geboren, das man andernfalls vielleicht nicht hätte forcieren können, weil ich zu ungewöhnlich und schräg in der Landschaft stehe.» Zwei Jahre später gewann er mit «Simeliberg» unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern, den Kelag-, und den Preis der automatischen Literaturkritik im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises. Auf einmal wollten ihn alle. Zeitungen, Fernsehen, Radio. Anfangs ist es schön, dieses Erfolgsgefühl. «Man will mehr davon, mehr, und noch mehr. Und das passiert auch, eine gewisse Zeit lang. Dann geht es wieder zurück, genauso wie es gekommen ist. Und du merkst, das sind Wellen, du bist so schnell weg, wie du da warst. Aber ich muss sagen, ich akzeptiere bis heute nicht, dass ich nur so eine Welle bin. Ich arbeite bis heute an meinem Durchbruch.» Allerdings, sagt er, ist er nicht bereit, dafür Kompromisse in seiner Kunst zu machen. «Auf diesem Weg zu bleiben, das ist das Schöne daran. Es ist das Gefühl, das dich vor dem Fall bewahrt.»

Er schreibt nicht, weil er das unbedingt will. Er tut es, weil er muss. «So simpel das tönt, ich habe einen Auftrag in meinem Leben. Ich muss den Blues wiederbeleben, den ein paar Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Willie Johnson, Gary Davis, Lemon Jefferson, alle sehr mangelhaft sehende oder blinde Musiker, mit denen ich mich sehr stark identifiziere.» Er erzählt, von dem Bedürfnis, diese ungestüme und radikale, im Moment präsente Narration von etwas, das ihn jetzt gerade scharf betrifft, wiederzubeleben. Etwas, das hundert Jahre lang verloren gegangen ist. «Ich bin hier, in dieser Zeit, um das wiederzubeleben. Das ist mein Auftrag. Auf Teufel komm raus. Den verspüre ich des Nachts sehr intensiv. Dieses Ding muss ich stemmen.» Optimistisch gedacht habe er dafür hundert Jahre Zeit. «Das ist einfach wahnsinnig kurz. Weil zuerst musst du aufwachsen, dann muss dir alles bewusst werden. Dann musst du deine Ahnen, dein geistiges Kontinuum wieder finden. Herausfinden, wo sie sind, diese anderen. Vielleicht bin ich schon mal gestorben und jetzt dafür wieder geboren. Wie gesagt, es gibt viel zu tun. Also muss ich mich konzentrieren.»

Darum kann und will er sich nicht aufhalten lassen, schon gar nicht von Kritiken und Kritikern. «Natürlich bin ich total geschmeichelt, wenn mir jemand Komplimente macht. Natürlich bin ich verärgert, wenn mich jemand ­kritisiert. Manchmal auch betroffen. Aber ich habe einfach keine Zeit, mich länger damit zu befassen, insofern bin ich nicht kontemporär businesstauglich. Ich weiss auch nicht, ob ich mich selbst lesen würde. Ich bin natürlich ultrakritisch, finde eigentlich alles schlecht, was ich gemacht habe.» Zwar war es zu diesem Zeitpunkt das Richtige, sagt er. Aber nicht gut genug. «Das Bedürfnis nach dem finalen Werk ist da. Aber bis jetzt habe ich es noch nicht erreicht.»

Was hat dir deine Behinderung genommen? «Den Zugriff auf die Welt. Ich stelle es mir wahnsinnig schön vor, vom Tisch aus der Kellnerin zuzurufen, welches Sandwich von der Auslage ich gerne hätte. Ein schneller Blick auf die Bahnhofuhr, oder kurz mit dem «Charre» irgendwo hinfahren, auf der Autobahnraststätte Essen holen, das hat für mich etwas wahnsinnig Romantisches. Dieses Zugreifende, ich nehme mir was ich will, und ich nehme es vor allem, bevor du es nehmen kannst. In meiner Vorstellung wäre ich zweimal so breit geworden, wie ich bin, dann wäre ich so ein Typ, der mit dem Segelboot in die See und in die Welt sticht, loszieht, ich würde alles kurz und klein schlagen, alles wäre ganz gefährlich, es gibt fast keinen Ausweg, aber am Schluss gewinnen die Guten und alles ist genau richtig. Dann kommt man vielleicht wieder nach Hause und vielleicht nie mehr.»

Hat sie dir auch was gegeben, deine Behinderung? «Sound! Ich höre überall Artikulationen, höre, was alles kreucht und fleucht, Alltagssound, Musik, ich habe ein ­intensives Gefühl von Sound und Rhythmus. Wenn man da immer unterbrochen würde von allem, was man auch noch sieht, wäre es wahrscheinlich nicht so intensiv… aber vielleicht ist das auch ein romantischer Gedanke. Ich weiss ja nicht, wie’s wäre.»

Michael Fehr, geboren 1982, ist ein Schweizer Schriftsteller aus Bern. Fehr studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Hochschule der Künste Bern. Er erhielt unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern und für seinen Roman Simeliberg den Kelag-Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises.

ERNST-Magazin

Webseite Michael Fehr

Regina Dürig ist die erste Weinfelder Buchpreisträgerin!

Regina Dürig ist mit ihrer Novelle «Federn lassen» erste Trägerin der Weinfelder Buchpreises. Der von der BuchhändlerinKatharina Alder  initiierte Weinfelder Buchbuchpreis wurde erstmals übergeben. Der Preis ehrt die Qualitäten eines besonderen Buches und zugleich das Engagement einer leidenschaftlichen Bücherfreundin!

Hier veröffentlicht literaturblatt.ch die fünf Texte der Jury zu den Büchern, die nominiert waren.

Zum Siegerbuch von Regina Dürig «Federn lassen», Droschl:
Schwarz-weiss gestreift wie eine Vogelfeder, dazu noch lang und schmal, kommt dieses Buch daher. Es irritiert auf den ersten Blick, wenn es in der Hand liegt. Ein besonderes Format für ein Buch. Und auch die ersten Wörter sind ungewöhnlich. Verrissene Sätze und Absätze hindern den Lesefluss. Doch das stockende Lesen stört keineswegs das Verständnis der Geschichte. Es ist gewollt und gekonnt. Der Verzicht auf jegliche Interpunktion und die individuelle Interpretierbarkeit von Enjambements verleihen den Textabschnitten unzählige Varianten des Verstehens. Auf der Buchvorderseite steht Novelle, doch die Zeilen hören sich eher nach lyrischer Prosa an. Die Stimme hinter den Sätzen wurde nie erhört. Durch das Niederschreiben bricht wird ein Tabu gebrochen, das unerhörte Ereignis in doppeltem Sinn. Die Kategorie Novelle könnte also nicht treffender sein.

Die Geschichten handeln vom Alltäglichen. Ein namenloses Du erzählt rückblickend von Schweigen, Scham, Stille und Starre. Von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter werden wir Zeuge von Grenzüberschreitungen und Übergriffen, von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt.
Die Erzählerin schildert ihr Überhörtwerden bei der Arbeit, wie sie ihre Freunde bei kleinen Dingen nicht ernstnehmen. Aber auch, dass sie körperliche Nähe erfährt, die sie so nicht möchte und nicht einfordert. Es sind Dinge, die einer Frau tagtäglich passieren. Mit dieser Novelle ist Regina Dürig eine eindrückliche Gesellschaftskritik geglückt.

Und dann ist da noch diese Angst. Sie ist universal, sie ist allgegenwärtig und bestimmend. Diese Angst, dass es immer noch schlimmer kommt. Die Beschreibungen davon sind bedrückend und deprimierend. Die Federn werden fliegen gelassen – gerupft und nackt steht die Erzählerin da und hat uns ihr Innerstes offenbart.

Regina Dürig ist mit «Federn lassen» eine mutige und feministische Novelle gelungen, die aufrüttelt und an der innersten Sicherheit kratzt. Schonungslos und ungeschönt kommen sie Sätze daher. Sie verheimlichen nichts und gewinnen durch ihre Mehrdeutigkeit eine grosse Wucht.

Regina Dürig wurde 1982 in Mannheim geboren und lebt in Biel. Sie ist Autorin, Performerin und Dozentin für Literarisches Schreiben und hat Miniaturen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Kinderbücher, Jugendromane und unsichere Übertragungen veröffentlicht. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern

Judith Keller «Oder?», Der gesunde Menschenversand
Judith Kellers Oder? ist kurzweilig. Das liegt einerseits an den vielen Seiten, die nur mit ein paar wenigen Sätzen bedruckt sind und andererseits am flüchtigen Plot. Die Rahmenerzählung um zwei Schwestern, die ihren eigenen Autor finden wollen, weil sie sich „schlecht erzählt“ fühlen, bleibt so vage wie das Abtauchen ins mythologische Griechenland oder die Zusammenhänge der einzelnen Episoden. Ein bisschen veräppelt fühlt man sich da bei der Lektüre schon. Und gerade das ist immer wieder sehr unterhaltsam. So beispielsweise, wenn Keller sich im Roman etliche Male selbst zitiert – aus Werken, die in Zukunft erscheinen werden. Oder wenn es immer wieder um die nie stattgefundene Entführung von Roger Federer geht. Veräppelt werden nicht nur die Lesenden. Der Text macht sich über den gesamten Literaturbetrieb lustig und ist am Ende – genau so, wie es auf der ersten Seite steht – „überhaupt kein Roman“: Dieser Text ist das Ringen mit dem Roman, den es nicht gibt. Was man da in den Händen hält, ist nicht einmal ein Manuskript. Es ist eine Sammlung von Miniaturen und Notizen zu einem Roman, den Keller vielleicht einmal schreiben wird. Und darauf kann man hoffen, denn das Potenzial dieses Textes geht weit über den Schalk hinaus.

Judith Keller, 1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Seraina Kobler «Regenschatten», Kommode
In ihrem Debütroman inszeniert Seraina Kobler ein Zürich der nahen Zukunft. Geprägt von Dürren, steigendem Meeresspiegel und Waldbränden schafft Kobler die Atmosphäre einer nahen Dystopie. Und inmitten dieser kaputten Welt entsteht neues Leben: Der Roman verdichtet das Geschehen auf einen einzigen Tag im November, an dem Anna ohne jegliche Hilfe ein Kind zur Welt bringen wird. In einer Rückblende erzählt sie von sich und David, dem Baby, dass sie erwarten und dem Problem, dass nicht David, sondern ein guter Freund der Vater ist. Vom Verlassenwerden und der Frage, ob sie das Kind behalten oder abtreiben soll. Zugleich berichtet die Ich-Erzählerin von einem Feuersturm, der am Zürichberg wütet und die Stadt in Panik versetzt. Kobler verschränkt gekonnt die Geschichte einer Frau und ihrer Schwangerschaft mit der einer Klimakatastrophe. Die Geburtsszene bestimmt die Dramaturgie des Romans und über viele Seiten gelingt es Kobler die unterschiedlichen Ebenen und Motive stimmig miteinander zu verknüpfen. Erst gegen Ende franst das Nebeneinander von Persönlichem und Allgemeinem aus und die Erzählfäden sind nur noch lose bis gar nicht miteinander verknüpft und der Schluss wirkt abrupt. Dennoch gelingt es Kobler übers Ganze eine Atmosphäre zu kreieren, die überzeugt.

Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin, arbeitete sie als Redakteurin bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen, bevor sie sich mit einem eigenen Schreibatelier in der Zürcher Altstadt selbstständig gemacht hat. Sie ist Mutter von vier Kindern. «Regenschatten» ist ihr erster Roman. Ihr literarisches Schaffen wurde von verschiedenen Stiftungen, sowie dem Bundesamt für Kultur unterstützt.

Anaïs Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», mikrotext
Anaïs Meiers erste Kurzgeschichtensammlung mit dem Namen «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» ist ein buntes Sammelsurium. Gerade so gut könnte dieses Buch «Über Hindelbank, Verhütung und insbesondere Essiggurken», oder «Über Bünzli-Ferien, Crazy Ellipsen und insbesondere Emmentaler Schildkröten» heissen. Nichtsdestotrotz ist der erste Titel treffend. Über Berge geht es im ersten Text und von Menschen handeln fast alle von Meiers Geschichten. Genauer gesagt von Menschen aus der Schweiz. Auf sie richtet Meier einen Blick, der in seiner Unaffektiertheit und vermeintlichen Arglosigkeit nur umso härter mitten in die ‘Conditio Svizzera’ trifft. Schweizerische Kleingeistigkeiten, Essgewohnheiten und sonstige Entgleisungen werden aufs genaueste analysiert und entlarvt, zwar immer wieder aufgelockert mit absurden Einfällen und zielgenauem Humor, aber das Lachen bleibt einem allzu oft im Hals stecken (wie eine zu grosse Essiggurke). Meier ist eine abgeklärte Erzählerin und wache Beobachterin der Schweiz, die trotzdem nie Allwissenheit über ihr Sujet vorzutäuschen braucht. Und was hat es mit den ebenfalls titelgebenden Bergschnecken auf sich? Diese Antwort bleibt Anaïs Meier den Lesenden schuldig. Sie scheinen mysteriöse und unergründliche Wesen zu sein – genauso wie wir Schweizerinnen und Schweizer.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne “Aus dem Réduit” in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erscheint der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman “Mit einem Fuss draussen” bei Voland & Quist.

X Schneeberger «Neon Pink & Blue», Verlag Die Brotsuppe
«Wer erzählt, hat überlebt», schreibt Schneeberger. Tatsächlich scheint das gesamte Buch im Bewusstsein dieser makabren Realität entstanden zu sein. Alles muss erzählt werden, und das so schnell wie möglich. In gedrängten Sätzen und dem rastlosen Stil der indirekten Rede zeichnet Schneeberger das flackernde Portrait einer prekär lebenden Hauptfigur. Deren Fluidität zeigt sich hinsichtlich ihrer eigenen Identität, ihres Namens, ihrer Sexualität und sozialen Existenz. Schneeberger schildert Auseinandersetzungen mit dem Staat ebenso wie Auseinandersetzungen mit diversen Liebhaber:innen, Erfahrungen von sexueller und körperlicher Gewalt, Abhängigkeiten, Todesangst, aber auch Rausch, Parties, Lust, Ekstase. In den weniger düsteren Passagen ist «Neon Pink & Blue» schrill, humoristisch, schelmenhaft. Genauso vielschichtig wie die Biografie und Psychologie der Hauptfigur sind die wilden musikalischen und literarischen Referenzen, die sich kreuz und que(e)r durch den Text ziehen. X Schneeberger ist damit ein beeindruckendes Portrait gelungen und eine Geschichte, die gleichsam unglaublich und allzu glaubwürdig erscheint.

X Schneeberger, Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue».

Begleitbild © Christoph Heer 

Andri Beyeler «20.30 gleiches Ambiente», Plattform Gegenzauber

Ein Popduo, bestehend aus Marthe und Mägpi, gastiert in der Kleinstadt, aus deren ländlichem Umfeld Mägpi stammt. Vor gut zehn Jahren hat seine damalige Schülerband, bestehend aus Gwaag, Fink und ihm, in demselben Lokal eines ihrer letzten Konzerte gegeben.

I. Marthe
Mir hocked i eim vo däne Sofas, wo mr immer dinn hocked, und denäbed schtoht ein vo däne Chüelschränk, wo immer denäbed schtönd, au de obligat Täller mit de drei Öpfel, zwei Banane und de Orange ufem Tischli vorem Schpiegel fählt nid, und gliich isch da etz also die Garderobe, wie da nu die Garderobe isch, so wie de Mägpi di ganz letscht Ziit drüber gredt hät, ohni dan er drüber gredt hett, und ich gliich und genau gmärkt ha, dan er nu über da redt.
«Isch okay doh, oder?», frogt de Mägpi. «Doch», säg i und de Mägpi: «Nüt bsunders, aber okay.» –«Doch, hät nid tosche, de erscht Iidruck.» – «Klar ischs eis vo däne Löcher.» – «Es Ässe isch guet gsi.» – «Mol nid, hüt gits, was niemez susch git, wa denn gliich immer s Gliich isch wie überall, bis uf d Sauce villicht.» – «Würkli guet.» – «Schtimmt.» – «Und d Lüüt sind au fründlich.» – «So sind s halt doh», seit de Mägpi und ich: «Du mueschs jo wüsse.»

II. Mägpi
Müest i allwäg scho, und allwäg wüüsst is au, aber ich säg nüt meh dezue, wien i di ganz letscht Ziit nüt meh dezue gseit ha, wenns druf use gloffe isch, öppis meh dezue z säge, da mr hüt z Obed doh, wo d Marthe und ich etz ide Garderobe devo, us irgendere Gegend chömed mr schliesslich alli; überhaupt hockt me bequem i däm neue Sofa, brummt er aagnehm, dä neu Chüelschrank, und da ganz Gmües ufem Tischli vorem Schpiegel gseht au frisch pflückt us. Doh cha d Marthe nu so chli umetrömmele mit de Finger wie de Gwaag denn so chli mit de Sticks, tänk i und tänk dra, wien i tänkt ha: Guet, trömmelet er da nomol dure.
«Wa?», frogt de Gwaag, und ich säg: «Dä Rhythmuswächsel.» – «So», seit de Gwaag und ich: «Wa mr no gänderet händ halt.» – «Da isch nid würkli en Rhythmuswächsel, da isch eifach de Akzänt e biz andersch gleit», seit de Fink und ich: «Hauptsach, es chunnt denn.» – «Chunnt denn so oder so», seit de Gwaag und ich: «Jo, da sowiso.» – «Chunnt denn scho.» – «Klar chunnts denn scho, wie immer alles denn scho chunnt bi dir chunnt immer alles irgendwie», säg i und leg d Gitarre uf d Siite. «Färtig gschtumme?», frogt de Gwaag, und ich säg: «Für s erschte.» – «Scho klar. Und du?», frogt de Gwaag de Fink, wo uf sim Bass no so chli vor sich aneklimperet. «Wa?», frogt de Fink, und de Gwaag frogt: «Am ufwärme?» – «Nid würkli», seit de Fink und de Gwaag: «Natürli.» – «Hät nid schlächt tönt», säg ich und de Gwaag: «Sind jo schliesslich au kän Schportverein.» – «Ämel so wiit wie mes ghört hät.» – «Kä verdammti Junioreabteilig vo wa weiss ich wa für ere Kampfmannschaft.» – «Chönt me villicht öppis drus mache.» – «Wa für e Kampfmannschaft?», frogt de Fink und leit sin Bass wäg. «Nochwuchsband, wenn i da nu scho ghör», seit de Gwaag, und de Fink schtoht uf. «Wa machsch?», frog i, und de Fink macht en Schritt Richtig Türe.

III. Fink
Ich schtoh doh ide Garderobe und schtreck mi dure, no massig Ziit und langsam e chli äng doh inne, sowiso chönt me mol go luege, wär scho doh und öb überhaupt scho öpper; en erschts Mol go seiche sött i au, also use us däm Kabuff doh und über d Bühni dur de Zuschauerruum, wo no nid würkli de Huufe los isch und au no niemert umeschtoht, wo sichs lohne würd, schtoh z bliibe defür, wiiter Richtig Schtäge, und won i die denn grad durue wott, chömed grad zwei die durab, di eint vo ine känn i, märk i, und si, won i nu so vom Gseh känne, chunnt diräkt uf mich zue.
«Und, scho chli ufgregt?», frogt si. «Wa?», frog ich, und si seit: «Du ghörsch doch zu däne, wo etz denn doh.» – «Scho», säg ich und si: «Äbe.» – «Wa?» – «Scho chli ufgregt?» – «Und sälber?» – «Kän Grund dezue, oder?» – «Wa weiss ich.» – «Da würd i gärn wüsse.» – «Wa?» – «Äbe.» – «Chumm, isch guet etz», seit d Nati, und si, won i nu so vom Gseh känne – oder söll i säge: vom Luege – seit: «Guet.» – «Hoi», seit d Nati, und ich säg: «Hoi.» Und d Nati: «Dasch d Charlotte.» Uf da abe d Charlotte: «Hoi.» Denn isch en Momänt lang schtill. «Schö, chömed er cho lose», säg i und d Charlotte: «Öbs schö würd, ghöred mr denn.» – «Sind scho gschpanne», seit d Nati, denn isch en Momänt lang schtill. «Also bis schpöter», säg ich, und d Nati seit: «Jo bis nochane.» – «Bis denn», seit d Charlotte, und ich gang wiiter. Worum dan i nid no gschnäll gfroget ha, öb di andere au no chömed, weiss i allerdings au nid. «So isch er halt», seit d Nati und d Charlotte: «Denn wäred mr etz doh.» – «Oder tuet er zmindscht.»

IV. Charlotte
Wäred mr etz also gliich doh, au wenn mr üs bis zletscht nid würkli einig gsi sind, öb mr söled oder nid und defür is Kino, oder diräkt uf die Fete, aber etz simmr doh, zmindscht d Nati und ich schtönd doh etz vor de Bühni, bis da d Nati denn mol a d Bar goht, und wo da d Corinna und d Nico sind, wär weiss, si chöm e chli schpöter, hät d Corinna gmeint, guet, lueged mr mol, aber lieber wärs mr, ich gsähcht denn d Nico, au wenn die vo Aafang aa degege gsi isch, wan i jo au irgendwie verschtoh cha, aber irgendwie verschtohn is gliich nid. Klar ischs iren Brüeder, wo hüt z Obed doh, nu ischs jo nid nu er, und so wie d Corinna und d Nati verzellt händ, ischs eh vor allem er am Schlagzüüg, wo me nie wüssi, wa alles chös cho vo im; hät zwor vorane uf de Schtäge gar nid so de Iidruck gmacht, villicht eifach nomol froge, wär genau wa schpilt, wenn d Nati denn zrugg isch mitem Bier.
«So, doh wär i wider.»
De Kusi schtreckt mr da Bier ane, wie mr da denn d Nati anegschtreckt hät, fallt mr uf.
«Voilà.»
Und das d Nati und ich denn aber vo öppis anderem gha händ, fallt mr ii.
«Proscht.»
Wien i au etz bi öppis anderem bi weder de Kusi, wo wider aafangt und nomol erklärt, worum da Rock and Roll never dead will:
«Rock and Roll will never dead will…»

Illustration © Andri Beyeler

Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem Welti-Preis für das Drama ausgezeichnet. 2018 erschien bei Der gesunde Menschenversand «Mondscheiner«, eine Ballade.

Beitragsbild © Beat Schweizer