Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan», Der gesunde Menschenversand

Rolf Hermann hat den anderen Blick. In seinen Geschichten spiegelt sich eine Welt, deren Perspektiven sich den gewohnten Sichtweisen entziehen. Vielleicht ist Rolf Hermanns neue Text- und Geschichtensammlung deshalb eine Anleitung, die Welt nicht gar so tierisch ernst zu nehmen, meinen Blick zu öffnen, eine Anleitung zum Sehen, ein anderes Ordnungssystem.

Rolf Hermann macht Ordnung. Ob er das nun mit alphabetisch geordneten Aufzählungen macht, die einem an ein Walliser Urmantra erinnern, ob er Laute, Buchstaben, Silben neu ordnet, ob er die Kuh Manhattan aus ihrer festen Ordnung ausbrechen lässt, eine Kuh, die nach einer ganzen Reihe gewonnener Kuhkämpfe im Kanton eine neue Herausforderung sucht und an der Universität Miséricorde in Fribourg immatrikuliert, um an ihrer Bachelorthese «Das Rind als Stallmeister seiner selbst» zu schreiben.

In den vergangenen Jahren ist Rolf Hermann so etwas wie die literarische Stimme des Rhonetals geworden, zumindest des deutsch sprechenden Teils.
GF: Merkst du das, wenn du dich im Wallis bewegst? Ein literarisches Gegengewicht zur historischen Übermacht der Giganten des letzten Jahrhunderts; Charles Ferdinand Ramuz, Stéphanie Corinna Bille und Maurice Chappaz?
RH: Seit einer Weile habe ich das Gefühl, mit meinem Schriftstellerdasein geht es sehr gemächlich – ein kleines Bitzeli – bergauf. Zurzeit ist es ungefähr auf der Höhe von Goppenstein angelangt. Das liegt auf 1’200 Metern über Meer, also knapp 500 Meter höher als dort, wo ich aufgewachsen bin. Das macht in meinem Alter einen Höhenunterschied von knapp 11 Metern pro Jahr aus. Eigentlich nicht wirklich der Rede wert.

Rolf Hermann feiert in einer Welt, die immer mehr in der Absurdität abrutscht, das Absurde selbst. Er potenziert das Komische bis ins Verwegene, das eine Mal mit Geschichten, ein ander Mal mit Lautgedichten und sprachlichen Absurditäten. Dabei empfinde ich seine «Absurditäten» alles andere als absurd. Rolf Hermanns Schaumschlägereien sind Sprachkunst, surreal in ihrer Inszenierung, witzig und urkomisch in ihrer Direktheit, Originale eines Originals.

GF: Du pflegst das Bild des einstigen Schafhirten, der sich damit in ferner Vergangenheit sein Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa USA verdiente. Was ist vom einstigen Schafhirten übrig geblieben? Vom Anglistiker?
RH: Tatsächlich habe ich sieben Sommer lang im Wallis Schafe gehütet. Von 1993 bis 2000. Zum ersten Mal kurz nach der Matura. Das war eine prägende Zeit für mich. Weit oberhalb der Waldgrenze. Inmitten von Felsen und Geröll. Ohne fliessendes Wasser. Ohne Strom. Oft allein. Aber mit vielen Büchern und Notizheften. Ich habe mich damals extrem verbunden gefühlt mit dieser atemberaubenden Landschaft. In Gedanken bin ich auch jetzt noch hin und wieder da oben. Es ist gut möglich, dass ich eines Tages diese Sommererfahrungen in einen längeren Text einfliessen lasse. Und die Anglistik? Die ist mir immer noch sehr nahe. Ich rede mit meiner Frau, einer US-Amerikanerin, und unseren zwei Kindern meistens Englisch. Und sehr gerne lese ich immer wieder Bücher auf Englisch, z. B. die wunderbaren Gedichte von Emily Dickinson, die mich schon seit über zwanzig Jahren begleiten.

Schoutaim
Am lätschtu Wuchunänd bin i mit miinum viärjeerigu Meitji gaa schpaziäru. Wiär sii va Sänggärma uff Raro gluffu, an Räbä und Mattä värbii, bis wär, schoo fascht am Ändi va ischum Üssflug, vor där Burgchilchu z Raro gschtannu sii. Ds Meitji, waa bis jäzz no niä inära Chilchu isch gsi, isch im Schpurt uff du grooss Büx züe, hätt mit allär Chraft ds Portaal üffgita, isch där Mittilgang därdur und schich vollär Ärwaartig mitsch in d eerscht Reiu gaa säzzu. Küm bin i näbu miinum Meitji gsi, hätts wällu wissu, wä dä hiä äntli d Schou afeegä. Und ich ha mär gideicht: Bassär hätti sus niämär chännu sägu.

Showtime
Letztes Wochenende bin ich mit meiner vierjährigen Tochter spazieren gegangen. Wir sind von St. German nach Raron gelaufen, an Reben und Wiesen vorbei, bis wir, schon fast am Ende unseres Ausflugs, vor der Burgkirche in Raron standen. Meine Tochter, die davor noch nie in einer Kirche war, ist auf das grosse Gebäude zugespurtet, hat mit aller Kraft das Portal aufgerissen, ist durch den Mittelgang nach vorne gerannt und hat sich erwartungsvoll in die erste Reihe gesetzt. Kaum war ich bei ihr, wollte sie wissen, wann denn hier endlich die Show anfange. Und ich hab mir gedacht: Besser hätte es niemand sagen können.

Aber immer bleibt hinter den Texten der ganz besondere Sound des Autors selbst. Wer irgendwann einmal das Vergnügen hatte, dem Autor bei einer seiner performativen Auftritte dabeizusein, dem bleibt etwas vom Klang dieser Texte auf ewig im Kopf zurück. Rolf Hermann spielt dabei mit Klang, Rhythmus und Laut so sehr, dass er wie bei der Konkreten Poesie auf die  Bedeutung von Wort und Text ganz verzichtet. Dann wird ein Text zur Partitur, das Gesprochene, der Laut, der Text zur Musik. Und das Sprechen, selbst für mich als Ostschweizer mit maximaler Distanz zum Walliser Dialekt zum Eintauchen in eine andere, neue Welt. Dann trifft mich der Spass an der Übersetzung, das Suchen nach Bekanntem, das Erkennen von Resonanz.

GF: So wie du mit Sprache, Wort und Text umgehst, scheint es dir beim Schreiben um weit mehr als den Transport von Information zu gehen. Du spielst mit dem Sound, dem Klang, dem Witz in der Sprache selbst, dem Grotesken, das daraus entstehen kann, dem Hinterhältigen. Was reizt dich daran? In welchen Texten liegt mehr Rolf Hermann?
RH: Wenn es mir in meinem Schreiben lediglich um den Transport von Informationen gehen würde, dann wäre ich kein Schriftsteller. Es geht mir vor allem auch darum, die Sprache zu belauschen und mit ihren Mitteln etwas heraufzubeschwören, das möglichst einzigartig ist, sei das nun eine Erzählung, ein Spoken-Word-Text, ein Gedicht oder sonst etwas. Immer wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, ich sitze wieder am Küchentisch meiner Grossmutter. Die Eltern sind da, meine Brüder, die Tanten, die Onkel, viele Cousinen und Cousins und auch ein paar Dorfbewohner haben sich unter die Gäste gemischt. Es wird über ein Haus gesprochen, das verkauft wird. Jemand erzählt einen sehr zotigen Witz. Dann wiederum sorgt man sich über eine Nachbarin, die ernsthaft erkrankt ist. Und dann meldet sich plötzlich Grossmutter zu Wort und gebietet allen, still zu sein, weil sie ein Gedicht vortragen will, das sie gerade in der letzten Nacht geschrieben hat. Und dann spricht sie und augenblicklich ist da eine Stimme, die sich selber – und auch mir – sehr nah ist. Vielleicht versuche ich ja genau das mit meinem Schreiben: Jene Küchenszene wieder auferstehen zu lassen – und die besteht halt aus vielen Stimmen.

sinklau nov red lüefs tegeb
äs Gibätji

neim rehr dun neim togt
mmin salle nov rim
saw chim tihrend uz rid

neim rehr dun neim togt
big salle rim
saw chim tehrüf uz rid

neim rehr dun neim togt
mmin chim rim
dun big chim zang uz neige rid

Zugegeben, es braucht etwas Mut, sich in das Geniessen dieser Texte hineinzugeben, nicht einfach in den von Ursina Greuel ins Hochdeutsche übertragenen Text zu flüchten, bloss um das Buch mit Tempo durchzulesen. Ernst gemeinte Lektüre braucht Langsamkeit, Geduld und den Willen, das Menü in kleinen Happen zu geniessen, die Schlucke klein über den Klanggaumen rutschen zu lassen.

GF: Ein nicht unwesentlicher Teil der Texte in deinem Buch lässt sich beim besten Willen nicht übersetzen. Lautmalereien, die an Konkrete Poesie erinnern. Wie entsteht ein solcher Text? Versteckt sich der Lautmaler Rolf Hermann erst einmal in den Hängen oberhalb Leuk, zwischen den Parabolantennen des Satellitenabhörsystems und gibt Signale in den Äther?
RH: Ich wünschte es wäre so einfach. Sobald ich in der Nähe der Satellitenschüsseln oberhalb Leuk bin, bricht in mir der dadaistische Sturm los. Nein, im Ernst, nachdem eine Textidee in mir gereift ist, gehe ich eigentlich oft recht konzeptuell, teils mathematisch vor. Vokale werden permutiert, Wiederholungen und Variationen eingebaut, Ellipsen in den Text geschlagen. Und das mache ich, solange bis mich der Sound des Textes, der ja in dem Fall über das Inhaltliche hinausgeht, überzeugt. Zu den vielen Stimmen kommt so eine neue hinzu.

GF: Du liebst Aufzählungen, Reihen, das Alphabet. Schreiben ist „Ordnung machen“. Ordnung in Buchstaben, Zeichen, Silben und Worte. In Gedanken und Ideen, Konstrukte und innere Landschaften. Bist du ordnungsliebend?
RH: Schreiben ist für mich auf jeden Fall eine Art von „Ordnung machen“. Eine Stimmung, ein Erlebnis, ein Witz, ein Monolog so aufs Blatt zu bringen, dass der Text im Idealfall in einem Gegenüber das erzeugt, was man sich erhofft hat – und das hat viel mit auswählen, gruppieren, umstellen, ja, mit neuordnen zu tun. Da kann ich sehr bedächtig an die Worte und Sätze treten und sie immer wieder abklopfen. Im Alltag hingegen bin ich eher chaotisch. Meine Schreibklause ist ein ziemliches Labyrinth mit recht zufällig entstandenen und entstehenden Staubhügelchen.

©Valérie Giger

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und einem Literaturpreis des Kantons Bern (2019).

Webseite des Autors

Rolf Hermann liest am 15. Mai im KultBau St. Gallen, an der Konkordiastrasse 27 um 20 Uhr aus seinem Buch «Ein Kuh namens Manhattan». Moderation: Gallus Frei-Tomic. Infos unter kultbau.org

Die Texte aus «Eine Kuh namens Manhattan» sind mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors eingefügt. Alle Rechte sind beim Autor.

Dragica Rajčić Holzner «Glück», Der gesunde Menschenversand

So wie das Dorf „Glück“ in Dalmatien kaputt und halb verlassen kein Ort ist, an dem man bleiben kann, ohne sich fesseln zu lassen, selbst wenn es der Ort von „Familie“ ist, ist Glück nie Zustand, höchstens Sehnsucht, ein Ort, an dem Ana nie ankommt.

„Wir Kinder hatten kein Wort
sondern dienten als Empfänger der Verheissungen des Vaters.“

Gebunden durch Gewalt in der Familie, von Generation an Generation weitergegeben, tief verankerten Verletzungen und Zerstörungen bis weit in die Vergangenheit, flieht Ana zusammen mit Igor in die USA, wandert aus, um „Glück“ zu verlassen und ihr Glück zu finden, vielleicht sogar gemeinsames Glück. Aber das Unglück, die ewige Zerstörung, klebt wie Harz am Leben der jungen Frau. Als wäre dieses in den Genen eingeschrieben, unauslöschlich, unabwendbar. 

„Ich wollte nicht Mutter werden
ich wollte fliegen
in Luft leben
Gedichte schreiben“

Die Idee einer grossen, glücklichen Liebe mit Igor auf der anderen Seite des Ozeans, in maximaler Distanz zum alten Leben, erweist sich als Irrtum. Was Igor in seiner Familie zurückzulassen versucht, wird durch Einsamkeit und Alkohol in ein Leben gebrannt, dass sich nicht aus den Ketten befreien kann. Ana wacht auf in den Schlägen ihres Mannes, im Blut ihres abgetriebenen Kindes, im Wunsch nach einem endgültigen Schnitt, ob bei ihm oder bei ihr, nur endgültig. 

„Ich glaube
mich wird der Schmerz vernichten
bevor ich es ablege
erzählen ohne Linderung
um erzählend sich zu vergewissern
dass es etwas gibt
wozu erzählen gut ist
es hilft nichts
es gibt keinen ersten Stein zu werfen“

Ana flieht in ein Frauenhaus, in ein Womenirrhaus, ein Haus der verirrten Frauen, am Leben geirrt, in der Liebe verirrt, vom Leben beirrt. In ein Haus, angespült an einen Fels aus Illusionen, geplatzten Hoffnungen und den zerrissenen Glauben an die Liebe, wo Blut geleckt wird, alle das selbe Blut lecken, gezeichnet, ernüchtert, verlassen. Wo man den letzten Rest Mut sammelt, um noch einmal beginnen zu können, um sich noch einmal zurück in die Hölle zu wagen, von der manche glauben, sie hätten einen zweiten Ausgang, einen für sich und einen für die unauslöschliche Idee einer Liebe.

„wie kann einer
sich Glück wachsen lassen
wie die Haare“

Was einst als Theaterstück aufgeführt wurde, ist nun als Text in Buchform zu lesen; kein Theater mehr, auch kein Roman. Die Autorin Dragica Rajčić Holzner bewegt sich zwischen den Sparten. Noch immer ist die Stimme der Protagonistin hörbar. Aber der Autorin geht es längst nicht bloss darum, von einem Menschen zu erzählen, der sich nur mit grösster Kraftanstrengung aus Schienen herausheben kann, von einer Gesellschaft, die von vererbter Gewalt, Stumpfheit und fehlender Empathie gezeichnet ist. Solche Geschichten gibt es zuhauf. Es ist die Art, die Kunst, wie Dragica Rajčić Holzner schreibt, erzählt. 

Gesetzt wie ein langes Gedicht stutzt man bei der Lektüre ob der Brüche, die durch den ein oder anderen „kroatischen“ Spracheinschluss verunsichern. Wortspielereien, die immer wieder zu Kippsätzen werden, die ganz überraschende Mehrdeutigkeiten erzeugen. Eine ganz eigene Textfärbung, die dem Buch nicht bloss Authentizität, sondern Eigenwilligkeit schenken. Dragica Rajčić Holzner vermeidet so, dass der Text sich auf eine emotionale Lesart einprägt. Natürlich geht es um eine junge Frau, die sich in ihrem Leben zu emanzipieren versucht. Natürlich geht es um eine Schriftstellerin, die ihre Stimme sucht, die sich aus einer scheinbar genetisch verankerten Umklammerung lösen will. Um eine junge Frau, die an die Liebe glaubt, um von ihr geschlagen zu werden, die wie viele andere mit selbstzerstörerischer Kraft zurück ins Verderben gezogen wird. Aber der Text, die Art ihres Erzählens funktioniert auch als Sound, als Spur der Verdichtung. Es gibt Sätze, die wie Hammerschläge an Intensität kaum zu überbieten sind, Szenen, die in ganz wenigen Worten maximale Wirkung erzeugen. Dragica Rajčić Holzner spielt mit der Sprache, aber nie mit mir als Leser.

„Glück“ ist literarisches Glück!

Dragica Rajčić Holzner, Geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozierende für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Rajčić Holzner schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke und hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt «Warten auf Brauch» und «Buch von Glück». Sie wurde unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.

Textauszug auf gegenzauber.literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Dragica Rajčić Holzner «Glück», Plattform Gegenzauber

Dies ist Auszug aus Dragica Rajčić Holzners Theatertext «Glück» in der Reihe Stückbox. Regie führte Ursina Greul, gespielt wurde es in Basel und Zürich.

Ana Jagoda, die Protagonistin, erzählt in Umgangsdeutsch die Geschichte ihrer Liebe. Es ist zugleich auch die Geschichte einer Suche nach Wahrhaftigkeit des Schmerzes und der Gewalt in einer durch und durch patriarchalischen Welt.

Glück 

Ganze Abend verflog wie im Halbtraum. Mein Mund trocken. Ich schmige meine Arme an Igor Arm weil es kälter wurde, ich bin übermutig und noch von einer unbestimmte einzige Absicht durchzogen.

Bin ich das Mädchen mit der tragischen und schönen Idee der Wel?. Sie ist in der Musik und unter dem Mantel des Rauchs versteckt erste, erste, letzte Liebe Jetzt.

Igors Hand um meine Schulter. – Gehen wir ausser Glück, Igor gab mir seiner Hand. Wir stolperten wie zwei von Ertrinken gerettete einander umklammert durch den steinigen Weg zur kleine Wiese mit dem Heuschober um sich dort auf Heu niederzulegen. Meine Zunge ist schwer, diese am Film gesehener filmischen Kuss verlor etwas an seine Filmigkeit weil wir nicht wussten wann hört man richtig auf, wo endet die Sehnsucht und beginnt Wirklichkeit. Heimlich wollte ich mich aus der Umarmung herausschleichen aber hatte Angst  das Igor womöglich diesen Wunsch sieht. Igor zu halten ohne das sich Zeit bewegt, das Glück stehen lassen in der Brust, in den Händen.

«Volim te» Wie weiss man das ?

Eingeboren ist es sagte Igor und hielt etwas länger seine Hand unter meinen Pulover am Rücken. Ist es gleich mit Vögeln, Katzen, Bearen, Schafen?

Sternwirklichkeit macht kein halt von Botanik und Zoologie, hast du nie gehört Ana das Gott Liebe ist?

Ja, von don Lilo, meinem Prister. Igor fragte nicht nach.

Schreib auf für später Ana so, gut so.

Alles was ich unter meiner Kopfhaut hatte, meinen Haaren, meinen Fingern, löste mich auf, dort wo es eine andere als mich geben könnte, mit diesen erträumten ersten Kuss kam ich schwindelfrei in die Glücke und entfernte die Unglücke von mir  wischte sie mit dem Atem, seinem, meinem, weg von mir, einender einatmen, wiederholend, dort wo wir miteinander oder jeder allein gehen könnte, ausgeholt, überholt von Herrlichkeit des nicht Sprechens, du aus allen Poren der Welt kriechendes Uhrzeiger des Schikals berührt meine Haare, drückte meine Schulter an sich herein, diese unbedingte Rettung vor der ganzen Welt, nein, vorübergehend war nichts, ewig ist es klang es im Kopf, ich untersuchte nichts, ein unerhörter Zustand, in welchem niemand sich befand außer uns, dort wo sich die Umstürze der Sterne ereigneten, waren wir.

Alfred Schlienger, NZZ Redaktor, schreibt: «Warum beglückt diese Inszenierung von Dragica Rajčić «Glück» in der Reihe Stückbox so sehr und so innig? Denn erzählt wird ja eigentlich der schmerzhafte Verlust von Glück. Aber da ist ein Text, der raffiniert mit Sprache spielt und gleichzeitig subtil unsere Emotionen entfacht und einfängt. Und da ist mit Monika Varga eine junge Hauptdarstellerin, die diesen Text und diese Figur mit jeder Faser trägt. Mit Charme und Trauer, Verletztheit und Wut, Sehnsucht und Verlorenheit. Das entwickelt im Spiel eine unglaubliche Präsenz und Wahrhaftigkeit, die einen von Anfang bis Schluss in Bann schlägt. Und da ist nicht zuletzt die souveräne Regie von Ursina Greuel, die all diese Mittel sehr gezielt und dosiert einsetzt. Kein falscher, rührseliger Ton, kein Zuviel und kein Zuwenig. Zauberhaft auch der intimäae Einbezug von Musik und Gesang. Keine Spur von Balkantümelei. Präzis verankert und dadurch universell. Ein rares, kleines, grosses Theater-Glück.»

Am 27. November 2019 ist Buchpremière im Literaturhaus Zürich.

Dragica Rajčić Holzner, geboren 1959 in Split (Kroatien), lebt seit 1978 in St. Gallen. Hier Gelegenheitsarbeiten als Putzfrau, Büglerin, Heimarbeiterin, Aushilfslehrerin. Verheiratet, drei Kinder. 1988-1991 Kroatien: Gründung der Zeitung «Glas Kasela»; journalistische Arbeit. Nach Kriegsausbruch Flucht mit den Kindern in die Schweiz; Öffentlichkeitsarbeit über den Krieg in Ex-Jugoslawien. Bücher: «Halbgedichte einer Gastfrau» 1986 und 1994; Lebendigkeit Ihre züruck, Gedichte 1992 (vergriffen); Nur Gute kommt ins Himmel, Kurzprosa 1994 (alle eco Verlag); Theaterstücke: Ein Stück Sauberkeit, 1993; Auf Liebe seen, 2000.

24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 3/3

Literaturfestivals sind Orte der Begegnungen, für Schreibende und für Lesende. Und wenn sich dann die beiden Seiten gar mischen, Gespräche entstehen über die „Lager“ hinaus, dann stellt sich dieses Gefühl von Berauschung ein, die das Lesen allein nicht erzeugen kann. Dann wird Literatur greifbar, Sprache zu Stimme Geschichten zu Geschichte.

Dem 24. Internationalen Literaturfestival gelang es zwar nicht, sich den schwindenden Besucherzahlen der meisten Literaturfestivals entgegenzustellen. Dafür beugt sich Leukerbad aber auch nicht dem Geschmack der Masse, der Lust nach Ablenkung und Abschweifung.

Hier ein Streifzug durch meine ganz persönlichen Höhepunkte:

Nell Zink, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Wer „Virginia“ noch nicht gelesen hat, sollte es tun. Dass Nell Zink, die im länglichen Virginia aufgewachsene Amerikanerin, in Medien derart grosse Aufmerksamkeit geniesst, erstaunt nicht. Sie, die schon lange in Deutschland lebt und immer wieder in der Schweiz an Festivals anzutreffen ist, beweist mit ihrem Erfolg, den Bestsellern, dass sich der Durchbruch als Schriftstellerin nicht unbedingt mit 30 einstellen muss und man literarisches Schreiben nicht unbedingt mitten im Literaturkuchen erlernen muss/kann/soll. Ihre Romane sind eigenwillig, intelligent und schlicht sensationell erzählt.
In ihrem neusten in deutscher Sprache erschienenen Roman „Virginia“ leben die Mutter Peggy und ihre Tochter auf der Flucht aus einer gescheiterten Ehe mit erschwindelten Ausweispapieren als „Schwarze“ unerkannt in einem kleinen Ort in der Pampas, in Virginia, vergessen von der Weissen Seite der Amerikaner. „Virginia“ ist ein Familienroman mit überragendem Sound, ein Amerikaroman über das Leben in einer Kleinstadt im Schatten der grossen amerikanischen Metropolen, ein Identitätsroman über die Fragwürdigkeiten zugeschriebener und zugespielter Identitäten. Ein Roman über zwei Welten, Schwarz und Weiss, zwei Kasten, über eine Frau, die aus der einen Kaste ausbricht, um in der andern unterzutauchen, über Zufall und Glück, die Unmöglichkeiten von Schicksal, Geschlecht und Sexualität. Ein sprachliches Feuerwerk, das man auch in der deutschen Übersetzung von Michael Kellner geniessen kann.

Tanja Maljartschuk, Rolf Hermann und Pedro Lenz lesen Texte von Aglaja Veteranyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Aglaja Veteranyi, 1962 in Bukarest in eine Zirkusfamilie hineingeboren, wählte 2002 in Zürich in einer seelische Krise den Freitod . Doch in Leukerbad war sie da. Nicht nur auf dem Büchertisch, wo aus dem Nachlass beim Verlag “der gesunde Menschenversand“ zwei neue Bücher zum Entdecken und Vertiefen, zum Geniessen und Eintauchen bereitlagen, nicht nur durch ihr bekanntestes Werk „Warum das Kind in der Polenta kocht“, dass sich bei vielen Leserinnen und Leser tief in die literarische Erinnerung eingegraben hat und von der schwierigen Kindheit der Schriftstellerin erzählt, sondern weil Pedro Lenz, Tanja Maljartschuk und Rolf Hermann ganz oben auf dem Berg in einer Mitternachtslesung unter dem grossen schwarzen Zelt einer sternenklaren Nacht die Texte einer Künstlerin vortrugen. Aglaja Veteranyi, die sich das Lesen und Schreiben als Kind selbst beigebracht hatte, Artistin und Tänzerin war und sich die deutsche Sprache zu ihrem wichtigsten Instrument machte, schuf als Vielschreiberin Kunstwerke, die beim Lesen ebenso schmerzen wie bezaubern, verwirren wie erheitern. „Café Papa. Fragmente“ und „Wörter statt Möbel. Fundstücke“ sind gesammelte Texte aus Notizbüchern, Makulaturblättern, Texte voller Witz und Tiefe, Einsichten in die Welt einer Künstlerin, für die Sprache viel, viel mehr als ein Medium war, sondern Manege selbst. Tanja Maljartschuk, die in der Ukraine aufwuchs und studierte, in Wien lebt und schreibend noch immer in das im Würgegriff unversöhnlicher Fronten gefangene Herkunftsland eingreift, nennt Aglaja Veteranyi eine Ecke ihres literarischen Dreigestirns, neben Robert Walser und Peter Bichsel.

Maria Cecilia Barbetta, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Zehn Jahre nach ihrem gefeierten Debüt feiert die aus Argentinien stammende und deutsch schreibende Autorin Maria Cecilia Barbetta mit „Nachtleuten“ einen fulminanten Erfolg. Und wer die Schriftstellerin in ihrer leidenschaftlichen und authentischen Art lesen und erzählen hört, ist noch um ein Vielfaches mehr bezaubert und betört vom Feuerwerk aus Sprache, Sprachwitz, Originalität und der scheinbaren Leichtigkeit, die das Erzählen der Meisterin ausmacht. Maria Cecilia Barbetta besuchte die deutsche Schule in Buenos Aires, studierte später Deutsch und kam mit 24 mit einem Stipendium nach Deuschland. „Ich habe mich verliebt in die deutsche Grammatik“, beteuert die Autorin. In „Nachtleuchten“ erzählt Maria Cecilia Barbetta von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, von ihrem Viertel Ballester, wo sie aufgewachsen ist. Ein Kosmos der Vielfalt, ein Schmelztiegel der Kulturen. Ballester ist die Urmutter aller Geschichten und Figuren. Figuren und Orte, die sich aber überall finden, in jeder Stadt, in jedem Ort, auch in Berlin, wo die Autorin seither lebt. „Nachtleuchten“ spielt 1976, am Vorabend des politischen Umsturzes, in einer Zeit, als das grosse Verschwinden begann und in der im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Zehntausende ArgentinierInnen verschwanden. „Nachtleuchten“ ist ein sinnliches Feuerwerk!

Durs Grünbein und Stefan Zweifel, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Und wer sich traut, sollte aus dem umfangreichen Werk des deutschen Dichters und Essayisten Durs Grünbein lesen. Der häufige Gast in Leukerbad beweist in eindrücklicher Manier, dass Lyrik nichts mit weltfremden und entrücktem Dichten zu tun haben muss. Seine Gedichte erzählen Geschichten, leuchten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellen Fragen, konfrontieren, springen in der Perspektive. Seine Essays spiegeln den Weitblick des Autors, fordern heraus und zeigen, wie Geschichte, Wissenschaft und Gesellschaftskritik konstruktiv provozieren können.

Das 24. Literaturfestival Leukerbad hat überzeugt und gezeigt, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm geschieht. Leukerbad ermuntert und treibt an, denn was in den Umbrüchen der Gegenwart geschieht, spiegelt sich in der Literatur.
Der Handschlag zwischen zwei übergewichtigen Politikern ist eine grosse Geste mit kleiner Wirkung. Literatur sind kleine Gesten mit grosser Wirkung.

„Literatur kann gefährlich sein.“ Christos Chryssopoulus

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Rückblick: Andri Beyeler eröffnete das 11. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen stand damals für den aussichtslosen Kampf der untergehenden Aristokratie des 17. Jahrhunderts gegen den «technischen Fortschritt». Kämpft ein Literaturfestival diesen Kampf im 21. Jahrhundert? Den Kampf gegen den blossen Konsum, gegen die Berieselung, das frühlingshafte Wetter, gegen die Übermacht all dessen, was in einer Stadt wie St. Gallen sonst noch läuft?

«Wörter können ihre Bedeutung verändern», sagte Christine Lötscher, freie Literaturkritikerin und Rednerin an der diesjährigen Eröffnungsfeier. Genau das macht Literatur aus, unterscheidet sich von Journalismus und Geschichtsschreibung, zumindest in ihrer ursprünglichen Idee. Aber von Geschichtsschreibung bis Geschichten schreiben sind es nur ein paar wenige Buchstaben. Literatur pflegt den Fake bis zur Vollkommenheit, aber Fake ist noch lange nicht Literatur. Literatur spielt mit Inhalt, Sprache, Text und Wort.

Ideales Beispiel dafür, wofür das Wortlaut steht, für die Verbindung von «klassischer» Literatur, Comic, Kabarett, Spoken Word und Illustration war der diesjährige Starter Andri Beyeler am 11. Literaturfestival. Ein Text wie ein Trommelfeuer, vorgetragen von einer Schauspielerin, illustriert vom Autor selbst, geschrieben wie ein Theater, Kleinstadtmythen, die sich in einem Gasthaus in existenzielle Intensitäten hinaufschaukeln. Andri Beyeler, der bisher vor allem für die Bühne schrieb und dessen Text sich auch als Buch erst dann entfaltet, wenn er laut und mit viel Dynamik gelesen wird, schuf mit «Mondscheiner» ein aussergewöhnliches Sprachkunstwerk.

Beyeler formuliert das, was sonst im Kopf ausgeblendet wird, gibt den Gedanken jene Spur, die neben dem reinen Erzählen sonst vergessen wird. Andri Beyeler erzählt nicht wie andere sonst, lässt aus, wiederholt, kommentiert, schwingt zu ganz eigener Komik auf, zu einer Sprache, die dem Leben, den Gedanken, nicht unbedingt dem Denken und schon gar nicht der Struktur huldigt, schwingt sich zu Witz auf, der in seiner Beyeler’schen Entfaltung ganz eigen ist und wirkt.

Andri Beyeler ist Theatermann, badet in seinem Text über drei Figuren in einem Kleinstadtkosmos, genauso in Sprache wie in Auslassungen, Wort- und Sprachspielen, feinen Kommentaren, durchaus gesellschaftskritisch, sehr oft beissend und entlarvend, spielt mit der Dramatik des Alltags, mit dem, was sich im Alltäglichen an Dramatischem abspielt, den Bildern «dazwischen», jenen Momenten, wo andere während des Sehens blinzeln.

Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem «Welti-Preis für das Drama» ausgezeichnet.

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Am Samstag Nachmittag war ich als Moderator engagiert. Hier einige Eindrücke:

Lesung im «Raum für Literatur» in der Hauptpost St. Gallen mit Anna Stern und ihrem bei Salis erschienenen Roman «Wild wie die Wellen des Meeres»,
mit der Lyrikerin und Essayisten Monika Rinck aus ihrem bei kookbooks erschienen Lyrikband «Alle Türen»
und mit Daniela Krien, die aus ihrem zweiten, bei Diogenes erschienenen Roman «Die Liebe im Ernstfall» las.

Förderverein für den Verlag «Der gesunde Menschenversand»

Die Schweizer Literaturszene ist eine der kleinen Verlage. Wer als AutorIn seine Bücher international, im gesamten deutschsprachigen Gebiet verkaufen will, wer hofft, das grosse Geld zu verdienen, von seiner Schreibe leben zu können, sucht sich einen Platz in einem der grossen Verlage ausserhalb der Schweiz. Der einzige Verlag, der sich weit über die Landesgrenzen einen bedeutenden Namen schaffen konnte, ist der Diogenes Verlag. Umso wichtiger ist es, dass es mutige Menschen gibt, die sich auch innerhalb der Landesgrenzen trauen, Literatur herauszugeben.

Die Verlagslandschaft in der Schweiz ist vielfältig. Erstaunlich ist es, dass es immer wieder aufstrebende neue Verlagshäuser gibt, solche, die sich viel Anerkennung verschaffen, weit über die Schweiz hinaus. Aktuellstes Beispiel dafür ist der Kampa Verlag in Zürich, der sich mit einem ambitionierten Programm mit Pauken und Trompeten zu platzieren wusste.

Aber daneben existieren ganz viele kleine Verlage, die nur funktionieren und überleben, weil in ihnen Menschen mit überdurchschnittlichen Engagement, mit grosser Liebe zum Buch, mit nur schwer zu erschütterndem Idealismus wirken.

Einer dieser Verlage ist «Der gesunde Menschenversand», Verlag und Veranstalter für Spoken Word, 1998 von Matthias Burki und Yves Thomi (bis 2007) gegründet. Schon 2014 kürte man ihn zum Schweizer Verlag des Jahres 2014 (Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband). 2016 folgte der Weiterschreiben-Preis der Stadt Bern und 2018 der Preis der Landis & Gyr Stiftung an Verleger Matthias Burki.

Ein solcher Verlag lebt von den Akteuren, die Teil des Programms sind, von klingenden Namen wie Matto Kämpf, Guy Krneta, Pedro Lenz, Hazel Bruder oder Nora Gomringer und vielen anderen – und vom Förderverein des Verlags.

Man mag über Kulturförderung denken, was man will. Aber wenn ein kleiner, umtriebiger, innovativer Verlag von mittlerweile mehr als 200 Leserinnen und Lesern mit grösseren und kleineren Jahresbeiträgen unterstützt wird, ist das, so Verlagsleiter Matthias Bürki, substanziell und entscheidet darüber, ob besondere Bücher erscheinen oder nicht. Wie im aktuellen Programm zwei Bücher aus dem Nachlass von Aglaja Veteranyi (1962 – 2002) und Walter Vogt (1927 – 1988).

Quersubvention, Vernetzung, eine Organisation von Leserinnen und Lesern, um bei der Verlagsarbeit nicht bloss auf die zu erwartenden Verkaufszahlen angewiesen zu sein. Erstaunlich genug, dass sich ein Verlag, der sich fast ausschliesslich der Mundart (Mund-Art) verschrieben hat, vorwiegend in der deutschsprachigen Schweiz wahrgenommen wird, ausser es verirrt sich ein Titel in die Feuilletons der grossen deutschen Tagespresse oder ins Studio eines TV-Bücherpapstes, den Sterbegesängen auf die anspruchsvolle Literatur widersetzt.

Es gibt sie, die unsterblich Scheinenden, die Überlebenskünstler, die unverwüstlich Unverzagten, die sich zweimal im Jahr trotz erdrückender Übermacht der Flaggschiffe im Geschwader der Verlage aufraffen, Bücher zu machen, solche, die nicht bloss unterhalten, sondern sich mitunter politisch und gesellschaftlich einmischen, Relevantes anprangern, den Humor mit einpacken, wo es eigentlich längst nichts mehr zu lachen gibt.

Darum lasen am vergangenen Sonntag Michael Fehr, Stefanie Grob, Guy Krneta und Pedro Lenz zusammen mit Michael Pfeuti am Bassetto ohne Gage im Bodman Literaturhaus in Gottlieben TG, dafür mit viel Esprit!

„Ein Maximum an Bedeutung, aber ein Minimum an Form“

Zwei Höhepunkte an den 40. Literaturtagen in Solothurn waren aus meiner Sicht die 81jährige Anna Felder, die den Schweizer Grand Prix Literatur 2018 erhielt und die noch ganz junge Judith Keller, die mit ihrer ersten Geschichtensammlung «Die Fragwürdigen» längst nicht nur mein Herz rührt und meine Seele erquickt.

Anna Felder, die Tessinerin, die in Aarau lebt, hat nicht nur immer noch ein helles, offenes Gesicht. Sie besitzt ein helles, offenes Bewusstsein, ist eine stille und äusserst feinfühlige Beobachterin, die die Kostbarkeiten des Moments in literarische Bilder zu fassen vermag. Kleinsttragödien, die immer ein Spiegel von Grossem sind, Schöpferin von Texten, die allein durch den Klang der Assoziation eine Richtung geben können. Geschichten, die in Fragmenten aus der Stille steigen, die durchaus das Potenzial zu vielen hundert Seiten hätten. Anna Felder spürt der Kraft der Möglichkeiten nach, spielt mit der Imagination, nimmt sich dem Kleinen, Zarten an.
Wichtiger als Handlung ist ihr die Situation, alles, was aus der Vergangenheit in den einen Moment hineinwirkt. Ihre Geschichten im schmalen Band „Circolare“ sind Momentaufnahmen, langsam gewachsen, auch im Schreiben. Sie schreibt zuhause zu Beginn stets von Hand mit dem Blick in den Garten des Nachbarn. Ihr Papierkorb steht neben dem Stuhl, nicht nur um Sätze wegzuwerfen, sondern auch um nach ihnen zu suchen, wenn das Weggeworfene doch das Richtige war. Worte sind Schlüssel zu unendlich vielen Geschichten, einer Fülle an Leben. Momente, die mit Leben aufgeladen sind. Sie schreibt Geschichten, um Fragen ihres Lebens zu beantworten, im Wissen darum, dass stets neue Fragen entstehen, Fragen nie wirklich beantwortet sind.
Und ganz besonders erwähnenswert ist, dass die Geschichten in „Circolare“ äusserst sorgfältig übersetzt sind, nicht von ihrem Klang, ihrer Melodie einbüssen durch die Übersetzungen von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser und Clà Riatsch. So sehr sich Anna Felder für die Kehrseiten der Menschen interessiert, so sehr bemüht sich Anna Felder um die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks. Grosse Literatur einer ganz bescheidenen, aber grossen Dichterin.

In der Kürze und Prägnanz mit einander verwandt und doch weit weg von Anna Felder sind die Geschichten der jungen Judith Keller. Einer Frau, die auf der Bühne ihre Geschichten aus einem rot gefütterten Hut fischt, zieht die aus einem Zauberhut, wägt ab, „wirft“ sie den Zuschauern zu, tief in den dunkeln Raum, einzelne Sätze wie Aufforderungen an das Publikum. Geschichten, die ins Lachen branden, ein Lachen, das bleibt, noch lange nachhallt. Judith Keller scheint in einem unendlichen Reservoir an Geschichten wühlen zu können. Ganz im Gegensatz zu Anna Felder sind es aber nicht unbedingt Beobachtungen an den Menschen, sondern an der Sprache, an Redewendungen, die ihr entgegenspringen, zum Beispiel bei der Lektüre der Zeitung, abstrakte Bezeichnungen, unbeabsichtigte Metaphern, schräge Momente in absoluter Normalität. Geschichten, die feststellen und im Moment ihrer Feststellung kippen. Judith Keller nimmt den Blick von aussen, auch jenen von Tieren, sei es auch nur eine Taube. Der Humor ihres Erzählers liegt nicht in der Pointe, sondern im Grad der Wiedererkennung des Lesers, der Zuhörerin.
Judith Keller ist eine Zauberin. Sie zaubert Geschichten her, so leicht, als wäre es keine Anstrengung, sie zu schreiben, ihnen nachzugehen, als wären sie immer zufällig da, bei ihr, wo sich die Geschichten materialisieren. Die Geschichten passieren sie. Sie, die im schwarzen Kleid mit weissen Tupfen, den roten, samtigen Schuhen und den roten mit einem schwarzen Band über dem Kopf zusammengebundenen Haaren auf der Bühne zaubert. Judith Keller, eine Gschichtenmagierin – bezaubernd!

Die Solothurner Literaturtage waren auch in ihrer 40. Ausgabe ein strahlendes Ereignis. Organisiert von Beseelten, die es schafften, jenen Geist des Aufbruchs in die Gegenwart hinüberzuführen. Die Solothurner Literaturtage sind weit mehr als eine Leistungsschau. Für drei Tage wird die kleine Stadt an der Aare zu einer grossen Stadt der lebendigen Literatur.

Judith Keller „Die Fragwürdigen“, Der gesunde Menschenversand

In ihrer ersten Buchveröffentlichung zeigt die junge Schweizerin ein ganz besonderes Geschick, die Perspektive des Sehens zu verändern. Wenn man den Geschichten der jungen Judith Keller eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Geschwätzigkeit. Judith Kellers Geschichten sind Konzentrate, Sprachkunstwerke, die gleichermassen überraschen wie bezaubern. Eine literarische Entdeckung!

Zusammen mit den Autorinnen und Autoren Franz Hohler, Judith Keller, Thomas Flahaut, Alexandre Hmine und Jessica Zuan eröffneten die 40. Literaturtage in Solothurn ihr Jubiläumswochenende. Das literarische Schwergewicht Franz Hohler zusammen mit vier jungen Schreibenden aus den vier Sprachregionen der Schweiz.

Judith Keller nimmt das Wort beim Wort, nimmt es wörtlich. So wie sich andere der Metapher verschreiben, spürt sie dem Wort nach. Eine Handvoll ihrer Geschichten beginnt mit «Eine weit hergeholte Frau…». Meist tragen die Menschen in ihren Kurz- und Kürzestgeschichten Namen, ganz gewöhnliche, vielleicht etwas altmodische, im Kontrast zu ihrer Erzählweise, oder ausgefallene wie Nepomuk. Judith Keller wirft einen Blick in fremdes Leben, gibt dem Leben einen Namen oder lässt es bleiben, wenn der Moment mehr zählt als die Person, um die sich die Sätze schlaufen. Kurze Geschichten, in die man einsteigt und ganz unverhofft wieder aussteigen muss. Geschichten die auftun und nichts klären. Aber mit aller Deutlichkeit bewusst machen, dass selbst der schnelle Blick, diese eine Schlaufe um ein Leben, alles andere als einfach und einfältig ist. Es spiegelt sich Leben mehrfach in einem einzigen Satz. Es fächert sich auf. Manchmal nur als sprachlicher Schnappschuss, ein ander Mal als Bildfolge, aus Zusammenhängen sprachlich extrahiert, um sie mit dem Leben von Leserinnen und Lesern in neue Konstellationen zu bringen.

Keine Papiere
Esperance ist vor ein paar Jahren in einem Boot übers Meer geflohen. Sie ist nicht ertrunken. Aber jetzt lebt sie untergetaucht.

Judith Keller gibt dem Normalen intensive Farben, dem Farbigen Klarheit, auch wenn nicht die Deutung im Zentrum steht, sondern die Ahnung dem Genuss genügt. Sie schreibt kühn und so gar nicht in der Tradition der «Geschichtenerzähler» mit Mahnfinger und moralischer Motivation. Vielleicht bilden Franz Hohler und Judith Keller bei der Eröffnungsfeier der 40. Literaturtage in Solothurn mit Absicht ein «Erzählerpaar» der Gegensätze. Nicht nur, was ihr Alter betrifft. Der schon zu Lebzeiten zur Erzählerlegende gewordene Franz Hohler und die junge Judith Keller, die sich nur schwer in eine Schublade einordnen lässt.

Scheu
Amalia kennt den Vorwurf, sie sei arbeitsscheu. Es liegt ihr aber daran festzuhalten, dass die Arbeit ebenfalls scheu sei. Die Arbeit komme entweder gar nicht oder nur zögerlich auf sie zu, um dann gleich wieder zu verschwinden.

Mag sei, dass auch Judith Kellers Geschichten zuweilen einen moralischen Hintergrund besitzen. Aber diesen bette ich als Leser selbst unter den Text. Judith Keller setzt nichts vor, mahnt nicht, spiegelt nicht einmal mit Metaphern. Ihre Sprachkunst liegt in der Reduktion auf die Worte selbst, den Satz, der bezaubert, die Melodie, die mich betört. Judith Keller gibt dem Wort zurück, was Fakenews entwenden.

Judith Keller schreibt ganz in der Tradition Grosser, nicht zuletzt Mani Matters. Eindeutig, zweideutig, vieldeutig. So wie der grosse Berner Troubadour erzählt Judith Keller eindeutig und weckt vieles. Ich staune. Ich blicke mit den Geschichten Judith Kellers durch ein Kaleidoskop der Sprache, werde von Vieldeutigkeit überrascht und mit Sprachkunst überzeugt.
Franz Hohler und Judith Keller sind so etwas wie die Exponenten einer Kunst, die an den beiden ihre Vielfalt zeigt, wie viel sie miteinander verbindet und wie weit sie sich voneinander unterscheiden, wie viel sie verbergen und offenbaren, wie sehr sie schmeicheln und sich zieren.

Krieg
Er erklärt ihnen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er erklärt innen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er versucht es noch einmal. Sie verstehen ihn nicht. Weil er den Krieg nicht erklären kann, muss er zurück in den Krieg. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Im Flugzeug ist gerade noch ein Platz frei.

Unbedingt lesen und entdecken!

Ein kleines Interview mit Judith Keller:

Sie erzählen Geschichten in einer ganz eigenen Art und Weise. Es sind nicht einfach Erinnerungen, Episoden, „Geschichten, die das Leben schrieb“. Viele Ihrer Geschichten lesen sich wie „Negative“ (Fotografie), die den Blick auf eine Situation verändern, mein Auge, meine Wahrnehmung verunsichern. Wie werden Ihre Geschichten zu so kraftvollen Miniaturen?
Ich glaube, ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt.

Sie nehmen das Wort beim Wort. Es liegt viel mehr Gewicht auf der Bedeutung eines einzelnen Wortes als auf dem Transport eines Geschehens. Sind sie eine Wörtersammlerin?
Ja, ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss.

Der Umstand, das „Die Fragwürdigen“ beim Verlag „Der gesunde Menschenversand“ herauskommt, erscheint fast logisch. Da treffen sich zwei! Kein anderer Verlag hätte besser zu Ihren Texten gepasst. Ihre erste Erzählung „Was ist das letzte Haus“ erschien als E-Book beim überaus renommierten Verlag Matthes & Seitz Berlin. Öffnen sich die Türen so leicht?
Nein, ich habe viele Absagen bekommen für die kurzen Texte bei anderen Verlagen. Ich hatte sie auch schon vor ein paar Jahren dem gesunden Menschenversand geschickt, aber damals gab es einfach keinen Platz für neue Autorinnen und Autoren. Ich bin darum auch sehr froh, dass es jetzt geklappt hat, gerade bei diesem Verlag.

Ihre Geschichten liessen mich zuweilen stolpern, öffneten sich oft erst beim zweiten Lesen. Sie schreiben alles andere als Nabelschauen, scheinen stets für ein Publikum zu schreiben. Ihre Geschichten brauchen das Gegenüber. Testen Sie die Wirkung Ihrer Texte?
Ja, ich lasse sie oft ein paar Tage oder Wochen liegen und lese sie dann noch einmal wie eine fremde Leserin. Da spüre ich dann, ob es funktioniert oder nicht. Und dann gebe ich sie natürlich auch anderen zu lesen. Aber es kann schon auch vorkommen, dass ich nicht mehr weiss, ob es nur bei mir oder auch bei anderen funktioniert.

Dass Sie an der Seite von Franz Hohler, einem der Grossen der CH-Literatur die 40. Solothurner Literaturtage eröffnen, ist von der Festivalleitung her mit Sicherheit ein klares Signal, nicht nur für die Mehrsprachigkeit unseres Landes, die Vielfalt, sondern für die Qualität ihres Schreibens – und für mich keine Überraschung. Trifft sich dort auf der Bühne Tradition und Aufbruch?
Da kann ich leider zu wenig darüber sagen, weil ich die Texte der anderen nicht kenne. Ich glaube aber, dass sie genau so etwas wollen.

1985 in Lachen, am Zürichsee geboren, lebt Judith Keller in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung «Wo ist das letzte Haus?» bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem «New German Fiction» Preis ausgezeichnet.

(Ich danke dem Verlag «Der gesunde Menschenversand» für die Erlaubnis, aus Judith Kellers Buch «Die Fragwürdigen» drei Geschichten einfügen zu dürfen.)

Titelfoto: Sandra Kottonau

Jürg Halter „Mondkreisläufer“, Der gesunde Menschenversand

Jürg Halter dichtet nicht auf dem Standbein und trotzdem aus dem Stand heraus. Jürg Halter ist Dichter und bezeichnet sich zuweilen als Drifter. Ein driftender Dichter ist er sicher. Ein Vorspiegler wörtlicher Tatsachen. Einer, der listig und lustig behauptet, den Dingen aber nie den Ernst nimmt, denn Jürg ist nicht Ernst.

„Mondkreisläufer“ ist fast ein Gespräch, erinnert an den Fragenkatalog von Max Frisch. „Wie oft hast du in deinem Leben etwas getan, wozu du dich entschieden hast? Stehen Fühlen und Denken bei dir noch in einem Zusammenhang? Was für ein Verhältnis hast du zu deiner Machtlosigkeit? Wie lange beweist dich das Spieglein an der Wand noch?“ Jürg Halter fordert heraus. „Mondkreisläufer“ ist kein Roman, keine Erzählung, keine Geschichte. Ein Prosatext, der sich an mich wendet, der mich auffordert, mitzudenken, erst recht mit dem Denken anzufangen.

Als ich Jürg Halter zum letzten Mal zuhörte, war dies an der BuchBasel 2017 an der Greifengasse hinter einem Schaufenster. Er las drinnen als Teil einer Adventsdekoration und ich hörte draussen zu, in der Kälte, angeschupst von Vorbeieilenden. Er hörte mich nicht, ich ihn sehr gut durch einen Lautsprecher vor der Scheibe. „Mondkreisläufer“ ist genau so. Jürg Halter scheint mich zu sehen, aber nicht zu hören. Er scheint zu reagieren, auf mein Nicken, mein Kopfschütteln, mein Schulterzucken.

Die Lektüre flutscht nicht, sie beisst, kratzt und steht quer. In der Literaturlandschaft subversiv. Ein Monolog eines Wahn-sinnigen, der uns mitnimmt auf die Reise zu einer bergenden Mutter. Ein Text, der mich mitnimmt, mit Fragen und Aufforderungen:

Denken ist gefährlich, Denken hat Denken zur Folge, du wirst zum  Gedankenverfolgten, treiben sie dich in die Enge oder an den Rand des Abgrunds, können Gedanken tödlich sein.“

Ursprünglich war „Mondkreisläufer“ als Theaterstück geschrieben. Das Buch ist eine Weiterentwicklung des Theaterstücks in einen schillernden Prosatext, herausgegeben von einem Verlag, der sich wie der Autor Jürg Halter auf neues Terrain begibt.

Jürg Halter ist neben vielen anderen Gast am 3. Lyrikfestival NEONFISCHE 2018 im Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Am Wochenende vom 3. und 4. März lesen und performen neben Jürg Halter auch Joachim Sartorius, Robert Schindel, Kathrin Schmidt, Ernst Halter, Raphael Urweider, Frédéric Wandelère, Klaus Merz, Meret Gut, Cornelia Travnicek, Tim Holland sowie die Übersetzerinnen Elisabeth Edl und Marion Graf.

Bild: Corinne Futterlieb

Jürg Halter, geboren 1980 in Bern, lebt meistens in Bern, wo er Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern in studierte. Jürg Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zählt zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Auftritte in Europa, Afrika, den USA, Russland und Japan. Zuletzt erschienen: «Wir fürchten das Ende der Musik», Gedichte (Wallstein, 2014) und «Das 48-Stunden-Gedicht» mit Tanikawa Shuntarō (Wallstein, 2016).

Webseite des Autors

Guy Krneta «Filet Schtück», Der gesunde Menschenversand

Einfach Geschichten? Es sind Betrachtungen, die meisten kaum zwei Seiten lang, geschrieben für «Morgengeschichten» auf Radio SRF 1. Texte gemacht für öffentlich-rechtliches Radio, mutige, witzige, freche, «aufmüpfige», nachdenklich stimmende Texte, die trösten können, wenn man den medialen Wellen sonst kitisch gegenüber steht.

Guy Krneta schreibt Theater, Prosa, macht Theater und steht auf der Bühne – ein Mann des Wortes. Ich sah ihn einmal im vollbesetzten Zug zu den Solothurner Literaturtagen. Da kramte er in einem ganzen Wulst von Papieren, notierte, murmelte, studierte mit dem Stiftende an den Lippen. So ganz anders als ich, der ich bloss sass, schaute und mich freute auf das, was mich an den Literaturtagen erwarten würde.

100142_goc8_lGuy Krneta ist auch eines der Gesichter hinter dem umtriebigen Verlag «Der gesunde Menschenversand», dessen Echo es beispielsweise mit «Simeliberg» von Michael Fehr bis tief in den grossen Nachbarkanton (D) schaffte. Ein Verlag, dessen AutorInnen sich der MundArt bedienen, mit Büchern, die schon deshalb zu langsamem Geniessen zwingen.

Manchmal spiegelt sich der eigene Blick in der Literatur, in dem, was ich lese. Aus der Distanz, mit dem Buch des Berner Autors, sehe ich auf mich selbst, auf meine Umgebung, wie doppelt gespiegelt, durch einen Spiegel. Je direkter ich blicke, desto abgewandter der Blick im Spiegel. Und wenn ich mein eigenes Gesicht, mein eigenes Selbst so von mir abgewandt sehe, in völlig ungwohnter Perspektive, überrascht mich die Wirkung noch viel mehr. Guy Krneta tut genau das mit seinen kurzen Texten, die mäandern zwischen Geschichten, Betrachtungen und Dialogen. Auch ungewohnt ist die Tatsache, dass der ursprüngliche Respekt vor Berner Mundart das Lesen entschleunigt, den Ostschweizer zu langsamem Lesen zwingt und sich einzelne Wörter und Satzteile erst am Schluss des Satzes erschliessen. Ein spezielles Vergnügen für den Thurgauer, hörbar, wenn ich nachts im Bett neben meiner Frau mit dem Buch in Händen liege und einzelne Sätze und Wörter murmle, manchmal mehrmals, den Ton im Ohr und stets überrascht, wie viel Komik mitschwingt, wenn ich mich in Berndeutsch versuche.

Köstlich, einfach köstlich!

100028_i8i9_lGuy Krneta, geboren 1964 in Bern, lebt als freier Schriftsteller in Basel. Mitglied des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» und des Trios «Krneta, Greis & Apfelböck». Er war Dramaturg an der Württembergischen Landesbühne Esslingen und am Staatstheater Braunschweig sowie Co-Leiter des Theaters Tuchlaube und Dramaturg beim Theater Marie in Aarau. Krneta schrieb zahlreiche Theaterstücke, die mit Preisen ausgezeichnet wurden. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen.

(Titelbild: Sandra Kottonau)