15. Frauenfelder Lyriktage – 80 Jahre Beat Brechbühl

Auf dem Programm der 15. Frauenfelder Lyriktage standen Lesungen, Gespräche mit John Burnside, Zsuzsanna Gahse, Jürg Halter, Anja Kampmann, Sepp Mall, Marina Skalova und Christian Uetz und eine Performance von und mit Nicole Bachmann. Einer der Höhepunkte war eine Laudatio von Dichterfürst zu Dichterfürst: Christian Uetz über Beat Brechbühl:

«Warum finden die Frauenfelder Lyriktage statt? Elke Bergmann, wunderbare Mitinitiantin, du wirst es mir verzeihen, wenn ich hier sage: wegen Beat Brechbühl. Aber das ist nicht die Frage. Warum findet in Frauenfeld ein Lyrikfestival und das von internationalem Rang statt? Es gibt nur ganz wenig reine und gar mehrtägige Lyrikfestivals im Deutschsprachigen Raum, und in der Schweiz neben dem als Stadt zwar grösseren aber als Lyrikfestival kleineren Basel nur dieses hier. Warum also? Weil es den lyrischen Fels Beat Brechbühl von Oppligen im Kanton Bern mit 21 Jahren für drei Jahre nach Egnach in den Thurgau verschlagen hat. Und weil es ihm da so gut gefallen hat, dass dieser Riesen-Findling 1987 hierher zurückgekehrt ist und in Frauenfeld das Grossartige realisiert hat. Das Grossartige seines Schreibens und seines Verlags und seit 1991 der Frauenfelder Lyriktage.

Angesichts seiner jüngsten Veröffentlichung Flügel der Sehnsucht, mit Gedichten seit seinen Anfängen, stellt sich Beat die Frage, ob man die Gedichte 57 Jahre nach Entstehen noch lesen kann. O ja, man kann, und wie man kann, und man kommt nicht zu Ende in Begeisterung. Denn Beat ist von Anfang an ein Wahnsinniger gegen den Pragmatismus und die Abgeklärtheit und die Stumpfheit der Welt, gegen die es nur die Gegenwelt gibt und gegen diesen Menschen nur den Gegenmenschen und gegen dieses Leben nur das Gegenleben. So heisst es in Temperatursturz von 1984: Es gibt nur Gegenwelten, Gegenmenschen, Gegenleben. Brechbühl ist ein Querulant aus Prinzip, ein Rebell als Lebenshaltung, ein Aufständischer aus Instinkt, ein Berserker gegen Kleinlichkeit und Grosskotzigkeit, gegen Kleinkariertheit und Grossunternehmen, ein Fürsprecher für alles Schräge, Komische, Unangepasste, zugleich ein deftiger Grübler und Melancholiker. Und nicht zuletzt ein derber Erotiker. Seine Romane Kneuss und Nora und der Kümmerer sind regelrecht durchsetzt von Sexakten und Nacktfeiern der freien Liebe. Aber zuerst und zuletzt ist ein heftiger Verachter von allen, deren Geist Geld heisst statt Leidenschaft für das nutzlose Andere. Und Leidenschaft ist überhaupt das wichtigste Wort in einer Würdigung von Beat. Er ist ein Unikum der Leidenschaft für die Poesie sowohl im eigenen Schaffen als auch in der Veröffentlichung von anderen in seinem Waldgut Verlag und im Atelier Bodoni. Und wie seine Gedichte sind auch die Bodoni-Blätter einzelne, rare, handgefertigte, handgepresste Gewächse der Schönheit. Brechbühls ganzes Leben ist Liebe der Poesie, und seine Gedichte sind immer eine Art Liebesgedichte, zumindest die Liebe der Gedichte und deren innigster und äusserster Intensität. 

Brechbühl hat wohl schon tausend Gedichte geschrieben und es werden immer mehr. Schon die Titel seiner Gedichtbände schlagen ein:
Traumhämmer
Temperatursturz
Der geschlagene Hund pisst an die Säulen des Tempels
Gesunde Predigt eines Dorfbewohners
Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens
Spiele um Pan

Und viele mehr!

Aber auch seine Romane und seine Kinderbücher sind grossartig. Schnüff ist Kult. Und Kneuss in Kneuss und Quassel in Nora und der Kümmerer sind Hammercharakter und gleichen verdammt Beat Brechbühl selbst. Was ist der Hammer Brechbühl? Eben sein mutiger, den Arbeiter und den Nichtstuer preisender, hochsozialer Charakter, als Mensch wie im Werk. Und narrtürlich auch sein Humor, sein aberwitziger Schalk, und zuerst und zuletzt seine wilde Wut gegen alles Herzlose und Aufgeblasene und Dünkelhafte und Falsche.

Ich rezitiere Beat selbst aus dem Temperatursturz Seite 27:

Wenn doch alles so endgültig ist:
Die tausendjährigen Reiche,
die vergoldeten Exkremente der Diktatoren,
die gefängnismauerdicken Philosophien der Multis,
die schussbereiten Gewehre der Präsidenten,
die Unkenntnis oder die Not der Soldaten,
wenn doch alles so endgültig ist:
warum sterben die Gefolterten nicht immer an gebrochenem Herz,
warum geben viele Gefangene nicht auf,
warum benutzen wir Worte wie Psychopharmaka und Waffen,
warum bedeutet ein kranker Baum Hoffnung,
da – muss doch etwas sein,
angeboren, vererbt, es wächst wilder,
höher als die ganze Physik,
man hört es im Blut, es sprengt den Kopf,
es zerbricht Lügen und Horror,
irgendwann,
mit irgendwem,
irgendwo,
keiner weiss genau, was es ist,
es ist etwas wie Leben, wie Explosion.
Es ist jung, es ist grün.

(Dies Gedicht erschien 1984, als es noch kaum hellsehende Köpfe gab nicht nur für die militärische und heute auch digitale, sondern auch für die ökologische Selbstauslöschung der Menschheit.)

Und noch einmal Temperatursturz Seite 39:

Immer noch mild liegen die paar Hügel zwischen den Suchfingern der Bäche. Immer noch lau und begehrenswert wild reissen die Sommernächte an meiner unbestimmten Sehnsucht.
Immer noch pumpt mir mein Herz das Blut durch den Körper,
und immer noch helfen die Sonne mit und der Nebel und all deine Gerüche.

Immer noch bin ich in dieser Ecke Welt so frei, dass ich mir die Arbeit (zum Teil) und den täglichen Wahnsinn (zum Teil) selber einbrocken kann;
und ich wählte die Arbeit und den Wahnsinn.

In Die Bilder und ich erkennt sich Brechbühl im grossen Selbstbildnis Rembrands selbst. Seite 72:

Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten mit Erde geschrieben.
Mit schlechter Laune, Geldnöten, Frauen und Gläubigern.
Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten als grosse Reise bezeichnet,
als Weltumsegler, ständigen Aufbegehrer und Handwerker.

Und in Spitzwegs Alchimist. Seite 71:

In seiner Glaskugel betete er zur Materie,
schlief er in Träumen ausserhalb aller Bereiche,
liebte die Neugierde bis zur Erschöpfung –
in seiner Glaskugel am Rande der Zeit.
Er wollte mehr wissen, als es zu wissen gibt.
Er wollte mehr leben, als es zu sterben gibt.
Er wollte mehr lieben, als es zu verlieren gibt –
Der Mann dessen Himmelreiche unsterblich sind.

Temperatursturz Seite 96:

Silence intim.
Ich höre eines deiner Haare
auf den Teppich fallen.

Wie Beats Liebe zum Wein und die herrliche Möglichkeit, mit ihm Nächte durchzutrinken, in trautem Gespräch, gibt es noch etwas anderes hochgradig Ausserordentliches, was Beat betrifft, etwas kolossal Monströses, welches hier selbstverständlich auch genannt werden muss: es ist sein unendlicher Redefluss! Jeder und jede, der und die mit Beat Brechbühl spricht und ihm zuhört, gerät irgendwann in Not und denkt: Wie kann ich diesen Redefluss unterbrechen? Wie steige ich aus Beats Sprachfluss wieder aus? Wie komme ich da wieder weg? Wann macht Beat plötzlich doch einen kleinen Punkt, ein Komma, eine Pause? Und jeder und jede weiss: Man muss sich irgendwann mit Gewalt losreissen, es lässt nicht von selbst enden, denn Brechbühls Redefluss ist buchstäblich unendlich!  Aber was sagt uns Beat damit? Die Sprache ist unendlich, und sie hat Vorrang für uns, wir leben mehr von der Sprache und vom Erzählen als von der Realität und sie ist uns realer als alle Realität. Im Sprechen sind wir Menschen Gott und es ist uns in der Sprache alles möglich. Darum können wir so selbstverständlich lügen das ganze Leben lang, und wir können uns in der Sprache Fantastischeres und Grässlicheres und Anderes vormachen, als das was ist, und in der Sprache ist dann auch alles fantastischer und grässlicher und anders, als es ist. Im Sprechen sind wir Gott, und weil ich Uetz bin, sage ich: und im Schweigen auch. Und ich sage es gleich noch einmal: Im Poetischen oft schönster Weise und im Politischen meist monströser Weise und im Alltäglichen unendlich quasselnder Weise sind wir im Sprechen Gott, in der Tat aber nicht, und würden wir über alles nur sprechen miteinander, wären wir zumindest in quatschender Hinsicht vielleicht im Paradies. Es heisst mit Recht Taten statt Worte, aber auch das ist vor allem ein Wort, und eines, welches meistens nur gesagt wird, und es ist sonderbarerweise umgekehrt genauso wahr: Worte statt Taten, denn wenn wir über all den Horror, den wir Menschen begehen, nur reden würden, statt ihn auch zu tun, würden er gar nicht geschehen. Hättet ihr doch über die entsetzlichen Taten nur gesprochen statt sie auch zu tun! So viel ist gewiss: dass wir miteinander und zueinander sprechen können und ein Gespräch sein können, ist noch immer das Unfassbarste an uns, dass wir über alles reden können das ganze Leben, von morgens bis abends, Tag und Nacht, das ist noch immer ein so selbstverständlich gewordenes Wunder, dass es permanent vergessen wird. Beat Brechbühl aber ist auch in seiner unerschöpflichen Erzählfülle ein Wunder der Poesie, welches das Leben ist, wenn es zu Wort kommt, im Grässlichen wie im Wunderbaren.

Wenn Beat erzählt, dann wird das Leben lebendiger und die Gegenwart leuchtender und die Vergangenheit gegenwärtiger und die Zukunft offener. Und wenn ich hier schon als Würdiger für Beat fungiere, möchte ich es zum Schluss auch an unserem persönlichen Anfang und an unserer ersten Begegnung aufzeigen. Denn du Beat bist ja auch mein Entdecker, und ganz egal, ob es an mir überhaupt etwas Entdeckungswürdiges zu entdecken gibt, habe ich dir masslos viel zu verdanken und es ist mir tausendmal eine Ehre, für dich eine Rede zu halten. Nach meiner eigenen Erinnerung betrat ich im Februar 1993 deinen Verlag hier im Eisenwerk und sagte zu dir: Ich möchte mir den Verlag anschauen, und wenn er mir gefällt, lasse ich mein Manuskript mit Gedichten hier. Drei Wochen später kam ich wieder, und da hattest du mich gleich begeistert empfangen und gesagt: die Gedichte seien toll oder so ähnlich. Du erzählst die Geschichte immer in etwa so: Da trat kurz vor Feierband einer in den Verlag und sagte: Ich bin gut, lies jetzt sofort meine Gedichte. Du habest diesen Aufdringling spöttisch darauf hingewiesen, dass du noch anderes zu tun habest, er könne die Gedichte ja dalassen. Eine Woche später sei der schon wiedergekommen und hätte gefragt, ob du es jetzt gelesen habest, denn er sei gut. Und nachdem du ihn wieder subito weggeschickt, hättest du zum damaligen Mitarbeiter Martin Stiefenhofer gesagt: ich muss da jetzt mal reinschauen, sonst steht dieser Verrückte alle paar Tage hier. Und da hättest du das Manuskript zu lesen begonnern und schon bald gerufen: Die sind ja wirklich gut, verdammt gut! Und das Tollste ist jetzt, dass meine Erinnerung heute auch vor mir selber gar keine Chance mehr hat, und ich sehe mich jetzt schon selber, wie ich in den Verlag trete und sage: Ich bin gut, und so wie du es erzählst, ist es nicht nur poetischer, sondern auch wahrer und erfüllt Novalis: Poesie ist das echt absolut Reelle: je poetischer, desto wahrer.

© Caroline Minjolle

Vielleicht aber hast du meine Luren damals auch nur verlegt, weil ich aus Egnach komme, wo du drei Jahre gelebt und gearbeitet hast zur Zeit meiner Geburt, in der Druckerei von Noldi Schwitter und als Redaktor für die Zeitschrift Clou, und wo du deinen ersten Gedichtband Spiele um Pan geschrieben und gedruckt hast und wo es dir so gut gefallen hat, dass du auch heute noch von der Zeit in Egnach schwärmst. Wir aber schwärmen hier von dir Beat, und wir danken dir für das poetische Glück, womit du uns beschenkst, hier, in Frauenfeld, im Eisenwerk, an den Frauenfelder Lyriktagen.»