Tabea Steiner «Balg», Shortlist #SchweizerBuchpreis 19/4

Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.

© Lea Frei

„Balg“ ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.

Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.

Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war er der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.

Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an dem er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.

© Lea Frei

Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.

Ein Interview mit Tabea Steiner:

Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung?
Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur“ mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind. 

„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen?
Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend. 

Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft?
Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen.
Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstande, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.

Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden?
Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird. 

In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen?
Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mir und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen. 

Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!

© Lea Frei

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.

Webseite der Autorin

Am 24. Oktober moderiere ich im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG ein Lesung zusammen mit Tabea Steiner.

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis19/3

5 Namen, 5 Bücher. 4 Frauen, 1 Mann. 2 Debütromane, 1 «Zweitling», 2 Werke in langer Reihe. Vom Kleinräumigen ins Grossräumige, von rissiger Idylle bis zur Endzeitstimmung. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 hat es in sich und überrascht. Wie immer. Was sie auch tun soll.

© Lea Frei

Freuen sie sich! Der kleine Strauss an Büchern könnte unterschiedlicher und vielseitiger nicht sein. Wer sie alle liest, wird staunen, wie breit sich Literatur lesen lässt, dass sich sowohl Inhalte wie Erzählweisen diametral voneinander unterscheiden können. Lesen Sie nicht nur die Bücher, sondern nutzen sie die vielen Möglichkeiten, die Autorinnen und den Autor auf ihrer langen Lesereise zu begegnen (z. B. am 25. Oktober im Literaturhaus Zürich oder an der BuchBasel vom 8. – 10. November).

Für den Schweizer Buchpreis 2019 hat die Jury über 70 Titel aus 45 Verlagen geprüft. Der Jurysprecher Manfred Papst sagt zur Wahl: „Die Bandbreite an Themen und Herangehensweisen war gross, und es gab viele interessante junge Stimmen. Die Jury hat sich für fünf eigenwillige und überraschende Texte entschieden:

Jury: In ihrem Roman «GRM.Brainfuck» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Phantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.»

Sibylle Berg ist ein Eckpfeiler in der deutschsprachigen Literatur, Garantin dafür, dass Literatur Leserinnen und Leser an die Grenzen der Wohlfühlzone bringt – zuweilen auch darüber hinaus. Sibylle Berg schreibt keine Literatur fürs Nachttischchen. Wenn man dann doch vor dem Schlaf liest, kann sich das Gelesene durchaus störend in den Schlaf schleichen.

© Lea Frei

«GRM.Brainfuck»
Vier Kinder in einer heruntergekommenen Stadt in Grossbritannien, in einem kaputten Staat, der auf Überwachung setzt. Sibylle Berg (*1962) verlängert in «GRM.Brainfuck» (Kiepenheuer & Witsch, 2019) eine brutale Gegenwart in eine gnadenlose Zukunft.

*****

Jury: «Im vielschichtigen Roman «Der Sprung» zeigt die Autorin Simone Lappert in einem raffiniert konstruierten Geschichtenmosaik, wie ein einziger dramatischer Moment auf verschiedene Einzelschicksale einwirkt.»

Simone Lappert überzeugte schon 2014 mit ihrem Debütroman «Wurfschatten». Mit «Der Sprung» gelang ihr aber weit mehr Aufmerksamkeit – mit Recht! Und seit dem vergangenen Internationalen Lyrikfestival in Basel im Januar dieses Jahres freue ich mich auch auf Simone Lapperts ersten Lyrikband. Die junge, umtriebige Schriftstellerin ist ein grosses Versprechen für die Zukunft!

© Lea Frei

«Der Sprung»
Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Mietshauses und weigert sich herunterzukommen. Das bringt den Alltag verschiedener Menschen aus dem Gleichgewicht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt Simone Lappert (*1985) in «Der Sprung» (Diogenes, 2019) von Halt und Freiheit.

*****

Jury: «Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich in Tabea Steiners Debütroman «Balg» als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist für Antonia und Chris anstrengender als erwartet, zur Isolation und Überforderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Diese Entwicklung zeichnet Tabea Steiner in einer einfachen, lakonischen Sprache mit glasklaren Bildern nach.»

Tabea Steiner, schon lange tätig als Organisatorin verschiedener Literaturfestivals (Literaare in Thun oder Aprillen in Bern), als Moderatorin, Literaturvermittlerin lebt ganz in der Literatur. Dass ihr jetziger Verlag Edition Bücherlese zusammen mit ihr ins Rennen um den Schweizer Buchpreis geschickt wird, freut mich sehr.

© Lea Frei

«Balg»
Timon, ein «Problemkind», steht im Zentrum des Debütromans «Balg» (edition bücherlese, 2019) von Tabea Steiner (*1981). Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie von Überforderung und Ausgrenzung in einem Dorf, das nicht zur Idylle taugt.

*****

Jury: «Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman «Unhaltbare Zustände» die Geschichte eines gewissenhaften alternden Angestellten. Der Autor schildert in einer Sprache, die sich und uns Zeit lässt, eine so vielschichtige wie anrührende Figur.

Seit Alain Claude Sulzers Roman «Urmein», der vor mehr als 20 Jahren bei Klett-Cotta erschien, bin ich treuer Begleiter des Basler Schriftstellers. Ein Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderem teilzuhaben.

© Lea Frei

«Unhaltbare Zustände»
Die Schaufenster des Dekorateurs Stettler sind legendär, über viele Jahre pilgern die Leute zum Warenhaus, um sie zu sehen. Doch dann kommt Stettlers Leben ins Wanken. Alain Claude Sulzer (*1953) beleuchtet in «Unhaltbare Zustände» (Galiani, 2019) die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre auf ungewöhnliche Weise.

*****

Jury: «Ein Zug zwischen Paris und Zagreb, eine junge Frau zwischen den Ländern und Sprachen ihres Lebens: «Die Nachkommende» von Ivna Žic ist ein Debüt von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität.»

Ivna Žic, eine neue Stimme, «wie aus dem Nichts» schreibt der Tages Anzeiger, eine frische Art des Erzählens. Eine Lesereise, bei der ich als Leser oder Leserin mit einsteige, weg und hin – oder hin und weg. Ihr Erstling «Die Nachkommende», erschien beim renommierten Wallstein Verlag.

© Lea Frei

«Die Nachkommende»
Ivna Žic (*1986) verbindet in ihrem Debütroman «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz, 2019) die Geschichte einer jungen Frau, die unterwegs zu ihrer Familie in Kroatien ist, mit einer Liebesgeschichte in Paris. Eine vielschichtige Spurensuche zwischen damals und heute.

Und seien sie weiterhin dabei, wenn litertaturblatt.ch seinen Senf dazu gibt!

Sämtliche Illustrationen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Highlights aus den 41. Solothurner Literaturtagen

Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.

Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.

Ferdinand von Schirach, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.

Aber was muss unbedingt gelesen werden:
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.

Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.

Franco Supino, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!

Beitragsbild zeigt Viola Rohner © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Tabea Steiner «Sienna Street 55», Plattform Gegenzauber

Wir hatten für die Reise nach Armenien eine Flugverbindung mit längerem Zwischenstopp in Warschau gewählt, weil sie billiger zu haben war. Ich wusste bis dahin nicht viel mehr über Armenien, als dass die armenische Kirche ihren eigenen Papst hat, dass die Bagdadbahn nur kraft der Zwangsarbeit zahlloser Armenier gebaut werden konnte und dass man die Armenier im Zuge der verschiedentlichen Genozide ohne jede Nahrung in die Wüste getrieben hat, mit der Absicht, sie verhungern zu lassen, auch Kinder.

Wir haben die Sienna Street 55 nicht auf Anhieb gefunden, weil wir vom Hauptbahnhof her zuerst die falsche Richtung eingeschlagen haben. Im Bahnhofsquartier blitzte alle Augenblicke ein Mercedesstern zwischen den hohen gläsernen Neubauten und den breiten Prachtbauten aus Sowjetzeiten auf. Der Stern drehte sich immerzu im Kreis und schleuderte so das Sonnenlicht weit über die Stadt.

Nummer 55 ist ruhig gelegen, gleich neben einer Imbissbude, die sonntags geschlossen ist. Im Hinterhof haben Kinder gespielt, aber das Gittertor war verriegelt. Wir haben gezögert, diese Kinder anzusprechen, bis uns eins der Kleineren bemerkt hat, stehen geblieben und dann davongesprungen ist, um kurz darauf in Begleitung eines grösseren Kindes zurückzukommen. Sie haben uns gemeinsam gemustert, dann haben sie von innen den elektronischen Türöffner betätigt und uns nicht weiter beachtet.
Im Innenhof ist mir zuerst das gerahmte Bild des Papstes aufgefallen, das in einer Wohnung im ersten Stock hing. Dieser Papst, an den ich nur noch im Zusammenhang mit dem Papamobil und seinem einsamen Tod im Fernsehen denken kann, blickte nach draussen, in die Richtung der Imbissbude, die aber hinter einer vielleicht sieben Meter langen und drei Meter hohen Mauer verborgen blieb. Gütig blickte er hinaus auf diesen Platz, mir war, als schaute er aus seinen Gefilden zu uns zurück durch ein Fernglas, das die Zeiten auf einer winzigen Linse zusammenpresst.

Wenige Wochen vor dieser Reise war Claude Lanzmann gestorben, was mich daran erinnert hatte, dass ich Shoah an einem einzigen Tag geschaut hatte, als könnte man all das auf neun Stunden und diese neun Stunden auf einen einzigen Tag komprimieren.
In der letzten Szene des Filmes spricht ein Mann davon, wie er sich durch die Abwasserkanäle in das Warschauer Ghetto geschmuggelt und Botengänge erledigt hatte, hin und her. Nach seinem letzten Botengang hatte er keinen einzigen Menschen mehr angetroffen. Er schildert, wie er alleine in einem Hinterhof gestanden und geglaubt hatte, dass er nun der letzte verbliebene Mensch auf der ganzen Welt sei, zurückgeblieben, weil er alleine in den Untergründen unterwegs gewesen war, während alle anderen aus dem Ghetto abgeholt worden waren.
Jener Mann hatte das Ghetto wieder verlassen und war, auf welchen Wegen auch immer, von Claude Lanzmann aufgespürt worden, dem er schliesslich seine Geschichte der Einsamkeit erzählt hat.

Nachdem 1989 in Berlin die Mauer gefallen war, hatten sich die Amerikaner aufgemacht, um in Warschau an der Sienna Street 55 aus der ehemals kilometerlangen Mauer des Warschauer Ghettos einen Stein zu holen. Auf einer Tafel über der Stelle, wo der Stein herausgebrochen wurde, kann man nachlesen, dass dieser Stein heute im Kriegsmuseum in Washington ausgestellt ist.
Gebracht haben die Amerikaner Imbissbuden, die Fastfood herausreichen in Endlosketten.

Wir sind noch einen Moment vor diesem Mauerrest gestanden, den man auch in Amerika betrachten kann. Dann haben wir den Innenhof verlassen, den Kindern ein Dankeschön zugewinkt. An der Aussenmauer des Gebäudes an der Sienna Street 55 ist ein emailliertes Foto angebracht. Darauf ist eine kleine Schar abgebildet, aufgestellt in Reih und Glied, ausgerüstet mit Waffen, bereit zum Warschauer Aufstand vom 19. April 1943.

Am Gebäude gegenüber prangte hoch oben ein Plakat der Billiglinie Etam. Ein Model, auf eine geradezu aus der Mode gefallene Weise mager, warb für den Konzern mit dem Slogan The french liberté. Scheinwerfer waren angebracht, welche in der Nacht dieses ungeheuer grosse Modeplakat beleuchten; es musste weit über die Stadt sichtbar sein.
Es sind die gleichen Strassen und Gassen, die mit Licht geflutet worden waren, als die Mauer noch mehrere Kilometer lang war und als nach Einbruch der Dunkelheit, zur Nachtsperre, nur vereinzelt magere Gestalten über die Gassen und Plätze im Inneren des verriegelten Mauerrings gehuscht waren.

Wir sind zurückgegangen zum Bahnhof, ein Gebäude, dessen Standort und Stellenwert sich innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts mehrmals verschoben und verändert hat. Diesmal haben wir ihn auf Anhieb gefunden, haben Tickets für die Rückfahrt an den Flughafen gekauft, die Abflughalle erreicht, das Flugzeug bestiegen und sind wenige Stunden später in Jerewan gelandet. In der Dunkelheit der Nacht haben wir armenischen Boden betreten, dieses heisse, kleine, fruchtbare Land.

Tabea Steiner, 1981, studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern und hat sich in ihrer Masterarbeit mit der Wahrnehmung in zeitgenössischer Landschaftslyrik befasst. Sie ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Ihr erster Roman «Balg» erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese.

Webseite der Autorin

Am 25. Oktober 2019 liest Tabea Steiner aus «Balg» im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG. Gallus Frei-Tomic moderiert.

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Die Reise eines Buches beginnt. „Balg“ von Tabea Steiner, Edition Bücherlese

Sonst gibt es das eher, wenn alte Hasen ihre Bücher in die Welt entlassen. Dass sich Literaturprominenz im Foyer eines kleinen Theaters begrüsst, Wangen entgegenstreckt und den Rücken des Gegenüber tätschelt. Aber wenn eine ihr Buch zur Taufe freigibt, die schon lange auf verschiedenste Weise in der Szene mitmischt, dann sollt auch die Kollegin und der Kollege Respekt.

Tabea Steiner ist angekommen, die die schon lange schreibt, sechs lange Jahre an diesem, ihrem ersten Roman. Angekommen auf jener Seite, der sie meist als Moderatorin und Gesprächspartnerin gegenübersitzt. Noch vor ein paar Tagen sass sie bie dem von ihr gegründeten Literaturfestival „Literaare“ in Thun dem grossen Michael Köhlmeier gegenüber, einem ganz Grossen der Gegenwartsliteratur, einem Mann mit umfangreichen Werk, bei dem sich das Regalbrett langsam leicht nach unten wölbt. Nun sitzt sie auf der Seite der Grossen, mit Tischen, Mikrophon und Wasserglas, auch wenn es bei ihr noch ihr Erstling „Balg“ ist.

Noch bei den vergangenen Literaturtagen in Solothurn las sie aus dem unveröffentlichten Manuskript vor Publikum und einer mehrköpfigen Kritikerrunde und setzte sich der kritischen Meinung ihres Gegenübers aus. An diesem Abend im Theater Sogar in Zürich wollte niemand mehr Fragen stellen. Der Abend gehörte ihr, der Autorin und dem Buch, der Feier ihrer Ankunft dort, wo sie mit ihrem Engagement schon lange erwartet hingehört.

Tabea Steiner schreibt in „Balg“ von einem Dorf, einem wie sie in der Ostschweiz aufgewachsen ist, das sie kennt und eine Kindheit lang ihr ganzes Leben bedeutete. Ein paar Häuser, ein Schulhaus, eine kleine Bibliothek darin. Bewohnt von Menschen, die alle Rollen haben, so wie das Personal in ihrem Roman. Die überforderte, alleinerziehende Mutter, der ungeratene Sohn, der Briefträger, der einmal Dorfschullehrer war, bis ihn ein Beben aus seiner Bahn katapultierte, Nachbarn, Kaninchen und eine Kulisse, die immer gleich erscheint.

Ganz am Anfang ihres Romans, in den ersten Texten, war es Valentin, der alt gewordenen Briefträger. Irgendwann genügte die Banalität eines Briefträgers nicht mehr. Es brauchte den ersten Bruch, die Katastrophe, die aus Valentin das macht, was er bis in die Gegenwart mit sich herumschleppt- Es dauerte sechs Jahre, bis die Geschichten zwischen Buchdeckeln zu einem Roman werden konnten, bis die Linien endeten.
Valentin, der Briefträger. Der alte Mann der vieles Weiss und sich den Rest zusammenzureimen weiss. Die erste Figur, die maximalen Abstand zur eigenen Figur, zur eigenen Geschichte haben musste. Er ist Teil des Dorfes, blieb, obwohl man ihn im Kollektiv zu strafen wusste, er, der im Gegensatz zu vielen im Dorf stets an das Gute glaubt, auch an das Gute im Jungen Timon, der überall und am meisten bei seiner Mutter anzuecken scheint. Briefträger scheinen bei „Jungschreibern“ ein beliebtes Motiv zu sein, nicht nur weil sie Geschichten ganz offensichtlich mit sich herumtragen, weil sie verkörperte Vernetzung eines Dorforganismus sind, sondern mit all der Post ein Maximum an Interpretation mit sich herumtragen.

Bald kamen andere Personen dazu: Timon, der Junge und Antonia, seine Mutter, die mit ihrem Sohn nicht zurecht kommt, die an ihrer Mutterrolle scheitert, sowohl vor sich selbst wie auch in den Augen aller um sie herum. Eine Frau, die negative Lesegefühle förmlich auf sich zieht, nur schon weil sie ihren Sohn einen kleinen Scheisser schimpft oder sein Fahrrad, das er von seinem Vater on ihr getrennten Ex bekommt verkauft, um sich den einen Mantel im Schaufenster leisten zu können.

gezeichnet von Lea Frei, leafrei.com

Stark an ihrem Roman ist das Gegenüber von Lücke und ausgemalter Szene, von Personen, die nur skizzenhaft bleiben, ohne Geschichte und Erklärung und jenem Personal, dass bis in die tiefsten Winkel ausgeleuchtet ist. Tabea Steiner erzählt und lässt doch offen, verfällt nie der Versuchung, den Leser mit überflüssigen Erklärungen zu gängeln. Einzelne Figuren und Schauplätze sind nur gezeichnet, längst nicht in all ihren Farbnuancen ausgemalt. In der Handlung wichtig, aber nicht um den Zentren der Geschichte das Gewicht abzuziehen.

Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser. Ein Anfang ist gemacht, denn Medien feiern das Buch und bei der Nabelschau der Schweizer Literatur, bei den Literaturtagen in Solothurn, ist sie hoffentlich eingeladen.

Rezension von «Balg» auf literaturblatt.ch

Tabea Steiner «Balg», Edition Bücherlese

Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.

«Balg» ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.

Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.

Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war es der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.

Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an der er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.

Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.

Ein Interview mit Tabea Steiner:

Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung?
Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur» mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind. Beim eigenen Text ist man da ja sehr viel unsicherer, und trotzdem freue ich mich, dass das Buch jetzt da ist.

„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen?
Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend. 

Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft?
Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen.
Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstand, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.

Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden?
Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird. 

In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen?
Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mit und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen. 

Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau