Hubert Mingarelli «Ein Wintermahl», ars vivendi

Es ist eisig kalt. Drei Wehrmachtssoldaten machen sich noch vor der Tagwache auf, um in der Umgebung nach versteckten Juden zu suchen. Der einzige Weg, um weg von den täglichen Erschiessungen zu kommen, weg vom alltäglichen Gräuel, der sie fest im Griff hat. Der im Januar 2020 verstorbene Hubert Mingarelli schrieb mit „Un repas en hiver“ ein Kammerstück über drei Männer, die der Geschichte nicht entrinnen können.

Obwohl Hubert Mingarelli in Frankreich zu den bekannten Autoren gehört, ist „Ein Wintermahl“ der erste in Deutsch erschienene Roman Mingarellis. Eine Entdeckung, denn der Roman fokussiert in die geschundenen Seelen deutscher Soldaten, denen während des Krieges, während des tödlichen Gehorsams in der Wärme eines Feuers, einer Mahlzeit Menschlichkeit aufbricht, die angesichts eines einzelnen Schicksals zum Rettungsanker werden soll. Hubert Mingarelli stösst mich als Leser in den Zwiespalt, Mitgefühl mit den Vollstreckern zu bekommen. Er zeigt mir, wie nah die Norm dem Bösen ist, wie elitär der Glaube ist, vor den Abgründen der Unmenschlichkeit gefeit zu sein.

Hubert Mingarelli «Ein Wintermahl», ars vivendi, 2020, 142 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7472-0178-7

Wären sie im Lager zurückgeblieben, hätte sie Leutnant Graaf früh morgens aus der Turnhalle in der Kälte antreten lassen, um sie zu den täglichen Erschiessungen polnischer Juden einzuteilen. Eine Maschinerie, der man nur ausweichen konnte, wenn man sich bereiterklärte, in der Umgebung, in den Wäldern nach flüchtigen Juden zu suchen. Sie machen sich auf, irgendwann immer hungriger werdend, bis sie durch Zufall in einer Erdhöhle versteckt einen jungen Juden aufspüren, den sie durch klirrende Kälte vor sich her treiben. Bis zu einer verlassenen Hütte am Strassenrand, in der sie den Ofen einheizen, in einem schmutzigen Topf Schnee ins Haus tragen mit der Absicht, aus einer Zwiebel, einer Wurst und Maisgriess eine Suppe zu kochen. Bis ein Pole mit seinem Hund auftaucht und sich nicht aus der Hütte vertreiben lässt. Bis dieser eine Flasche Kartoffelschnaps auspackt und sich zum Wintermahl einkauft.

Eine fast traute Situation am warmen Ofen, wenn da der Jude in der Kammer nebenan nicht wäre. Irgendwann fällt auch die Tür zwischen ihnen und dem Juden dem Ofen zum Opfer. Der Pole teilt seine Suppe mit dem Juden und zwischen den drei Soldaten entbrennt ein stiller Streit darüber, was mit dem Gefangenen anzufangen ist.

Hubert Mingarelli koppelt den Suppendampf mit dem Rest von Menschlichkeit, der in den drei Soldaten in der aufkommenden Wärme der Hütte aus dem zugeschütteten Gewissen der Soldaten dampft. Ein Dampf, der nur so lange dauert, bis der Hunger gestillt ist, bis sie die Kälte des polnischen Winters wieder in den Klauen hat und sie wissen, dass sie zurückkehren müssen zu Leutnant Graaf. Hubert Mingarelli schildert aus der Sicht einer der drei Wehrmachtssoldaten, die Gespräche zwischen ihnen und zwischendurch gar den Blick in den kommenden Frühling, zu diesem einen Moment unter einer Brücke im Regen, als eine Kugel das Leben aus einem seiner Kumpanen reisst.
Mingarelli konfrontiert mich mit dem verkümmerten Versuch, sich einen letzten Rest Menschlichkeit, Würde zu greifen, weil jeder der drei ganz genau weiss, dass ihr Tun sie nie mehr loslassen wird, dass es keine Gnade geben wird. Mingarelli kocht die Suppe in 142 Seiten ein, diesen Spagat zwischen eisiger Kälte und dem kurzen Moment der Sättigung, wenn die warme Suppe im Magen ist. 

Ein Meisterstück.

Hubert Mingarelli () war Schriftsteller und Drehbuchautor, Gewinner des Prix Médicis 2003. Mit 17 Jahren verliess Hubert Mingarelli die Schule, um sich der Marine anzuschließen, die er drei Jahre später verliess. Er zog nach Grenoble, wo er in vielen Berufen arbeitete und in den späten 1980er Jahren zu veröffentlichen begann. Er gewann er den Prix Médicis für seinen Roman «Quatre Soldats». Er liess sich in einem Weiler in den französischen Alpen nieder, wo er bis zu seinem Tod etwa vierzig Jahre lang lebte.

Der Übersetzer Elmar Tannert, geboren 1964 in München, lebt in Nürnberg. Kaufmännische Ausbildung, Studium der Musikwissenschaft und Romanistik. 1991 bis 2003 tätig in verschiedenen Berufen, u. a. Datentypist, Zeitungsverkäufer, Lagerist, Tankwart, Paketzusteller. Erste Veröffentlichungen in Zeitungen ab 1994. Freier Schriftsteller seit 2003.

P.B.W. Klemann «Rosenegg – Der Weiße Berg», Münster Verlag, Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni

«Ein Blick in extreme Zeiten»

Dem aus Süddeutschland stammenden Autor P. B.W. Klemann gelang ein lesenswertes Debüt aus der Perspektive eines Pfarrersohns im 17. Jahrhundert, mit dem er die Lesenden in die Welt des Dreißigjährigen Krieges in einem gewinnenden Erzählton zu verführen vermochte. Zu diesem Buch mit Kulissen von Süddeutschland, dem Bodensee und der Schweiz gibt der Autor Auskunft.

Urs Heinz Aerni: Es ist Ihr erster großer Roman, obwohl Sie schon länger am Schreiben sind. Wie viel Mut braucht es, das Vollbrachte der Welt zu übergeben?

P.B.W. Klemann: Ich habe mit 25 Jahren angefangen regelmäßig zu schreiben. Vier Bücher habe ich angefangen und keines zu Ende gebracht oder mich getraut eines zur Veröffentlichung anzubieten. Ich glaube, wenn einem ständig Geschichten im Kopf herum spuken, man von Abenteuern und Charakteren träumt, seine eigenen Welten erschafft und darin Zeit verbringt, beginnt man notwendigerweise mit dem Schreiben, und somit notwendigerweise mit dem Verfassen eines Romans, ohne dass dazu Mut erforderlich wäre.

Aerni: Aber Mut…

Klemann: Mut braucht es dann, wenn es darum geht, sein Geschaffenes auch zu präsentieren. Für mich lag darin die eigentliche Hürde.

Wie würden Sie die Ursuppe bezeichnen, aus der Ihr Buch entstanden ist?

Vor allem die Lektüre des Schriftstellers Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und seiner „Simplizissimus-Trilogie“ hat mich inspiriert. Ich fand alle Bücher großartig, und die Vorstellung, dass ich einen Menschen lese, der tatsächlich den Krieg miterlebt und sogar darin gekämpft hat, fand ich insbesondere faszinierend. Bemerkenswert fand ich zudem, dass, obwohl selbst Trossjunge und Soldat, und er zweifellos bei manchem Kampf dabei gewesen sein muss, Grimmelshausen nur sehr indirekt über Kämpfe und Schlachten schreibt. Überhaupt wird der ganze Schrecken – und dieser muss ungeheuer gewesen sein – mit Ironie und Witz stets auf Distanz gehalten und selten, wenn überhaupt, wird ein Einblick in die wirklichen Empfindungen der Charaktere gewährt. Und eben dies war es auch, was ich in meinem Buch anders haben wollte, ein möglicher Blick in die Empfindungswelt während so harten und extremen Zeiten.

Wir kennen und lieben die Romane wie «Name der Rose» von Umberto Eco oder «Der blaue Stein» von Gilbert Ginoué oder «Das Parfum» von Patrick Süskind. Sie erzählen uns eine Geschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg. Warum?

Auch durch die Lektüre der Bücher von Grimmelshausens brachten mich in diese Zeit. Nachdem ich ihn gelesen hatte, recherchierte ich ein wenig über den Dreißigjährigen Krieg, und war ganz erstaunt, wie wenig ich darüber wusste, obwohl er so verheerend für Deutschland – oder was man damals die «Teutschen Lande» nannte – war, so riesigen Einfluss auf unsere Geschichte hatte und so sehr in Kultur und Sprachgebrauch eingegangen ist. Noch heute finden sich seine Spuren überall.

Die uns gar nicht bewusst zu sein scheinen.

Richtig. Dennoch gibt es erstaunlich wenig Unterhaltungs-Bücher oder Filme über das, was man heute «die Frühe Neuzeit» nennt. Über das Mittelalter, die Wikingerzeit, die Antike, oder über spätere Epochen, das viktorianische England, den ersten und zweiten Weltkrieg, darüber gibt es unzählige wunderbare Geschichten, doch über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, so zumindest mein Empfinden, recht wenig. Auch deshalb wollte ich mich dieser Zeit widmen.

Das Recherchieren ist das Eine. Das Andere ist das Schreiben. Wie lange saßen Sie denn an diesem Projekt?

Ich habe dreieinhalb Jahre lang an «Rosenegg» geschrieben. Im ersten Jahr gerade einmal 80 Seiten, da ich hauptsächlich Recherche betrieb.

Wie nahe bewegen Sie beim Erzählen bei tatsächlich gelebten Menschen?

Die Hauptpersonen Kaspar Geißler und der Graf von Rosenegg sind fiktive Gestalten, ebenso alle Räuber und die Soldaten der späteren «Compania». Auch David von Schellenberg ist erdacht. Die meisten übrigen Gestalten sind wirkliche historische Personen, beziehungsweise Interpretationen von ihnen meinerseits. Besonders am Herzen lag mir die Darstellung von René Descartes – wohl auch, weil ich Philosophie studiert habe – , der bei dem Feldzug von 1620 zwar dabei war, über dessen Erlebnisse es jedoch keinerlei Zeugnisse gibt.

P.B.W. Klemann wurde 1981 in Singen unter der Festung Hohentwiel geboren. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Bohlingen. Der Autor hat an der Universität Konstanz Philosophie und Mathematik studiert. Seine erste Veröffentlichung war seine Abschlussarbeit zu Marc Aurel und der Stoa, die einen Universitätspreis erhielt. Es folgten Bücher im Bereich der Reiseliteratur sowie journalistische Arbeiten rund um Geschichte und Philosophie. Heute arbeitet er als Verlagsleitung und ist freier Drehbuchautor und Schriftsteller. Rosenegg ist somit nicht ganz ein Debüt aber Klemanns erster historischer Roman.

Webseite des Autors

Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol

In der denkbar schwierigsten Zeit gründen Unerschrockene in der Ostschweiz einen Verlag für Prosa, Lyrik und Wort-Art, der Schreibenden aus dem Bodenseeraum eine neue Heimat bieten soll. Der Caracol Verlag mit Sitz im thurgauischen Warth. Das spanische Caracol bedeutet „Häuschenschnecke“. Caracol nannten die Spanier ein Observatorium in der Maya-Stadt Chichén Itzá (Yucatán/Mexiko), wegen der gewundenen Treppe, die im Innern in die Tiefe führt.

Schreiben ist ein Prozess, der in die Tiefe führt. Und die Hoffnung aller Schreibender, dass die Lektüre dies genauso schafft, nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Erica Engeler, die seit Jahrzehnten schreibt und sich dabei vieler Ausdrucksformen kunstvoll bedienen kann, präsentiert mit der Erzählung „Wie ein Bisam läuft“ genau das, was der junge Verlag will; diesen gewundenen Weg nach Innen, das Suchen nach Tiefe. Erica Engeler, eine Autorin der leisen Töne, in ihrem Auftreten zurückhaltend und scheu, überrascht in ihrer Erzählung durch Direktheit, Witz, Schalk und einer Dramaturgie, die sich an inneren Bildern orientiert und alles andere als protokollieren will.

Wandas Leben verheddert sich. Nicht nur weil sich ihre Gegenwart in scheinbaren Zufälligkeiten verliert, sondern weil sich ihre Vergangenheit immer fester um sie windet, ihr den Atem und Orientierung raubt, sie einengt und lähmt. Wandas Mutter stirbt an Krebs. Sie, eine gefragte Pianistin, sie, die sich mit ihrer Krankheit einmal mehr von ihrer Tochter entfernt. Wanda leidet seit ihrer Kindheit an der Distanz zu ihrer Mutter, an einer Familie, die sich schon in ihren Kindertagen von Streitereien zerreissen liess. Bis der Vater die Familie verlässt und die Tochter mit einer Mutter zurücklässt, die dieser fremd bleibt.

Erica Engeler «Wie ein Bisam läuft», Caracol, 2020, 96 Seiten, CHF 20.00, ISBN 978-3-907296-01-1

Mit dem Krebs kommt Olivia ins Haus der Mutter, eine omnipräsente Hilfe, die der Mutter viel näher zu kommen scheint als Wanda. Und Wanda lernt in einem Café einen Mann kennen, tauscht Blicke aus und verliert ihn wieder. Einen Mann, der an ihr haften bleibt, sein Geruch, als er an ihr vorbeigeht und sich in der Stadt verliert. Wanda verliert sich an ihn, verliert sich in ihren Gedanken an die Mutter, an der lauten, zerstrittenen Vergangenheit der Familie.
Da sind Menschen, an deren Nähe sie sich verbrannte, Menschen, deren Nähe sie nie erreichte. „Wie ein Bisam läuft“ spürt genau diesen Gegensätzen nach, den traumatischen Bildern aus einer Kindheit, der Distanz zu ihren Eltern, den Schwestern Agnes und Verena, dem fehlenden Vater, den die Mutter vor die Tür setzte und der Krankheit, die Wanda mehr als nur die Mutter nimmt, sondern all das, das an Geheimnissen verschlossen bleibt.

„Wie ein Bisam läuft“ ist aber alles andere als Selbstzerfleischung, Selbstreflexion. Erica Engeler spickt ihre Erzählung mit würzigen Dialogen, kurzen, bissigen Sätzen, die in ihrer Prägnanz zum Schmunzeln zwingen. Die Geschichte ist das eine, ihre Sprache das andere. Erica Engeler spielt mit Nuancen, kippt zwischen Vorder- und Hintergründen. So wie das Leben unerklärbar bleibt, so bleibt Wanda vieles unerklärbar. So wie Wanda sich verheddert, so verheddere auch ich mich zuweilen bei der Lektüre – aber mit grösstem Vergnügen.

Ein Interview mit Erica Engeler

„Wie ein Bisam läuft“ ist eine Annäherung zwischen Tochter und Mutter. Ausgerechnet die Mutter-Kind-Beziehung, die so leicht idealisiert und verklärt wird, beschreibst du in deinem Buch als einen lebenslangen Kampf. Nicht so sehr von der Tochter gegen die Mutter, als von der Tochter mit sich selbst, gegen das, was dieses Verhältnis bei ihr anrichtet und auslöst. Wird der Blick einer älter werdenden Schriftstellerin milder?
Deine Überlegungen stellen die Mutter-Tochter-Beziehung mehr in den Vordergrund als bei mir gedacht. Für mich ist es eher eine Nichtbeziehung, oder eine erwünschte, die aber nicht zustande kam. Diese Mutter ist eine anwesend abwesende. Mehr Künstlerin als Mutter. 
Trotzdem lege ich ihr Tagores Verse in den Mund, die auch im wirklichen Leben meiner Mutter präsent waren und sich in mir festsetzten, wie eine Erbschaft oder eine verhaltene Aufforderung zum Schreiben (was auch sie gern getan hätte).

Was mir auffiel und besonderes Vergnügen bereitete, das waren die kurzen, witzigen und prägnanten Dialoge, die in deinem Text eingefügt sind und mehr entlarven, als andere Schriftsteller in ganzen Seiten versuchen. Steckt da in der Lyrikerin und Erzählerin auch noch eine verborgene Theaterautorin?
Das höre ich natürlich gern, aber ein Theaterstück würde ich mir nicht zutrauen. Mich fasziniert einfach die Redehemmung, die Zurückhaltung.

„Wie ein Bisam läuft“, der Titel deiner Erzählung irritiert und macht neugierig. Kannst du etwas erzählen, wie dein Titel seinen Weg auf den Buchumschlag fand?
Der Titel kam ins Buch als (versteckte) Hommage an meine Mutter. Er hat sich von selbst ergeben, war von Anfang an da.

Ein neuer Verlag, der Caracol Verlag. Was ist dir als Schriftstellerin bei einem Verlag wichtig, der dein Buch, deine zukünftigen Bücher herausgibt? Muss ein Verlag ein Stück Zuhause sein?
Ja, im besten Fall ist ein Verlag ein Zuhause. Nachdem mein Manuskript sehr lange unbeachtet (vielleicht auch ungelesen) bei einem anderen Verlag lag, habe ich mich sehr gefreut über die rasche und gut betreute Aufnahme meines Manuskripts im neuen Verlag mit dem schönen Namen Caracol – der für mich direkt aus meiner argentinischen Kindheit kommt.

Vieles in deiner Erzählung ist nur angedeutet, erschliesst sich mir erst bei genauem, vielleicht sogar erneutem Lesen. Auch ein Qualitätsmerkmal deines Textes, denn er macht genau das, was im Zusammenleben mit unseren Nächsten auch passiert; man kombiniert, interpretiert, man verheddert sich, tappt im Dunkeln. Lebt der Mensch mit dem permanenten Irrtum, Beziehungen wären wie Räume, die man mit Scheinwerfern ausleuchten kann?
Im Rahmen einer wortkargen Familie ist der natürliche Wortfluss eingedämmt. Man spricht zwar über Unwesentliches, das ist aber keine Kommunikation.

In einer Szene beschreibst du, wie die Mutter mit einem einzigen Satz alles in der Beziehung zu ihrer Tochter verändert: „Ich habe Krebs.“ Drei Worte, aber es verschieben sich Kontinentalplatten! Ein Satz, der alles verschiebt. Ist uns zu wenig bewusst, was Worte anrichten können?
Das ist schwer zu beantworten. Aber ich glaube, dass man in einer solchen Situation nicht überlegt vorgehen kann. Die Diagnose ist ein Schock, lässt sich weder klein- noch schönreden. Dass dieser Brocken so abrupt kommt, entspricht der Situation. Auch verschwiegene und berühmte Mütter sind nur Menschen – und dürfen es auch sein.

Erica Engeler ist 1949 in Ruiz de Montoya (Provinz Misiones) in Argentinien geboren. Seit 1974 wohnt und schreibt sie in St.Gallen. Seit 1985 veröffentlichte Erica Engeler Romane, Erzählungen und Gedichte.
Zudem war sie als Übersetzerin aus dem Spanischen tätig: Sie hat Werke von Alfonsina Storni, Ernesto Sabato und Roberto Arlt ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Ralph Ribi

Sasha Filipenko «Rote Kreuze», Diogenes

Eine junge Fremdsprachensekretärin im sowjetrussischen Aussenministerium gerät 1941 in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen. Einem jungen Mann wird im Minsk der Gegenwart durch einen tödlichen Tumor die Frau genommen, die Frau, die sein Kind in ihrem Bauch trägt. Sasha Filipenko hat in seinem Romandebüt viel gewagt und viel gewonnen. Mit Sicherheit viele begeisterte LeserInnen!

Alexander ist noch jung. Er versucht in Minsk, der Hauptstadt Weissrusslands, einen neuen Lebensabschnitt, vielleicht sogar ein neues Leben zu beginnen. Noch ist seine kleine Tochter bei seinen Eltern, die Wohnung leer und hohl, das Neue nicht begonnen, das Alte noch viel zu nahe. In der Wohnung gegenüber wohnt eine alte Frau, allein, wie die Maklerin erzählt, mit Alzheimer, wohl nicht mehr lange. So wie Alexander, nachdem ihm eine heimtückische Krankheit die Frau weggerissen hatte, ein neues Leben zu finden versucht, neuen Tritt, so versucht sich die neunzigjährige Tatjana Alexejewna  auf der anderen Seite des Treppenhauses gegen das Verschwinden ihrer Erinnerungen zu stemmen. Alexander will sich von der Vergangenheit befreien. Tatjana Alexejewna will retten, was angesichts der sich einschleichenden Krankheit noch zu retten ist.

Sie treffen sich im Treppenhaus. Alexander will eigentlich seine Ruhe. Aber Tatjana setzt alles daran, den neuen Nachbar in ihre Geschichte hineinzuziehen. Sie will erzählen, „weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu.“ Aber wenn ihre Erinnerungen so einfach ausgelöscht werden, dann scheint Gott sie ein letztes Mal von der Klippe zu stossen. Deshalb lässt Tatjana wenig Widerspruch zu, als Alexander ihr den Rücken zeigen will.

Sasha Filipenko «Rote Kreuze» Diogenes, 2020, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07124-5

Unwillig folgt Alexander ihr in ihre übervolle Wohnung, die mehr einem Atelier gleicht. Überall stehen Bilder herum, für ihn nicht ersichtlich ob fertig oder nicht. Tatjana erzählt; von ihren Eltern, die sich in Paris kennenlernten, wie sie in London 1910 zur Welt kam, wie ihr Vater nach der russischen Revolution in diesem neuen Land, an diesem neuen Aufbruch teilhaben wollte, wie sie mit neunzehn im Tessin war und im kleinen Porlezza auf der anderen Seite der Grenze einen jungen Mann kennenlernte, wie sie nach Moskau zurückkam, ihren Vater begrub und eine Stelle beim NKID, beim Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, dem heutigen Aussenministerium bekam.

Alexander hört zu, ein Leben wie jedes andere. Bis Tatjana davon erzählt, dass ihr Mann während des 2. Krieges in Gefangenschaft geriet und sie seinen Namen auf einer Liste des Roten Kreuzes fand. Alexander hört weiter zu und wird Zeuge eines Schicksals, einer Familie, einer Frau, die in den Mühlen der Geschichte beinahe zerrieben wurde und nur unter absoluter Kraftaufwendung aufrecht bleiben konnte. Tatjana gerät als Frau eines „Landesverräters“ in Lagerhaft, wird von ihrer Tochter getrennt, verliert alles – nur ihren Kampfeswillen nicht. Das, das spürt sie, was ihr der Alzheimer nehmen kann.

Alexander kann sich der Ehrlichkeit, der offensiven Nähe seiner Nachbarin nicht entziehen. So sehr nicht, dass Tatjana es schafft, dass auch Alexander zu erzählen beginnt. Seinem Leben als Schiedsrichter, dem einen Abend, als er seine zukünftige Frau kennenlernt, ihrem gemeinsamen, unschuldigen Glück und dem Moment, als man ihnen im Krankenhaus eröffnete, dass Alexanders Frau noch vor Ende ihrer ersten Schwangerschaft an den Folgen eines Hirntumors sterben wird. Der Mann, der auf dem Fussballfeld über richtig und falsch entscheidet, dem wird jede Entscheidung aus der Hand genommen. Bis es an ihm liegt, ob man nach dem langsamen Sterben und dem klinischen Tod seiner Frau alles daran setzen soll, das neue Leben im Leib seiner Frau mit allen medizinischen Mitteln zu ermöglichen. Ein Zustand, der kaum auszuhalten ist. Während seine Frau für tot erklärt wird, liegt ihr noch immer künstlich warm gehaltener Leib auf einer Liege im Spital, für niemanden mehr erreichbar.

Aber Lisa kommt zur Welt.

Tatjana wurde durch die Geschichte Mann und Tochter genommen. Alexander rettete wenigstens seine Tochter. Und doch sind sie beide Verlassene, jeder auf seine Art mit dem Vergessen konfrontiert.

Sasha Filipenko ist ein ausserordentlicher Roman gelungen. Geschichte spielt mit uns. Tatjana ist in ihrem fast hundertjährigen Leben selbst als Sekretärin im NKID mitten im Krieg. Sie bearbeitet Anträge der verschiedensten Kriegsparteien, die sich um Kriegsgefangene bemühen – und in den Mühlen der UdSSR abgeblockt werden. Bis auch der Name ihres Mannes auftaucht. Alexander ist Opfer eines anderen Krieges, eines scheinbar kleinen Krieges, dem Töten, das eine Krankheit anrichtet. Zwei Geschichten prallen aufeinander und aus der anfänglich einseitigen Anhänglichkeit der alten Frau wird eine Freundschaft über den Tod hinaus.
Sasha Filipenko wählt dabei eine ganz spezielle Erzählstrategie, denn immer wenn Tatjana oder Alexander zu erzählen beginnen, kippt während zwei Sätzen die Perspektive. Ich tauche in einem einzigen Satz weg vom Erzähler direkt ins Geschehen. Eine Strategie mit ungeheurer Wirkung. Sasha Filipenko erzeugt einen Strudel, dem man sich nicht entziehen kann.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist weissrussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. «Rote Kreuze» ist der erste seiner fünf Romane, der auf Deutsch erscheint. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und lebt in St. Petersburg.

Ruth Altenhofer, geboren 1979, studierte Slawistik in Wien sowie in Rostow am Don und Odessa. wurde 2012 und 2015 für Übersetzungen von Marina Zwetajewa/Boris Pasternak und von Wjatscheslaw Pjezuch mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

 Beitragsbild © Lukas Lienhard

Christoph Simon «Swiss Miniatur», Edition Baes

Es gibt Autorinnen und Autoren, da wartet man als fleissiger Leser mit stetig steigender Ungeduld, bis endlich etwas Neues erscheint. Manche verschwinden für immer von der Bildfläche, andere tummeln sich auf anderen Bühnen. Nachdem es mit «Spaziergänger Zbinden» kaum ein Buch gab, dass ich öfter gekauft und verschenkt hatte, liegt nun endlich ein neuer «Christoph Simon» bereit, auch wenn dieser den Hunger nicht stillen kann.

Als vor fast 20 Jahren beim Bilger Verlag Christoph Simons erster Roman „Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen“ erschien, war der Autor genauso unbekannt und neu wie sein Verlag. Beide haben sich etabliert; Christoph Simon als wortgewandter Beobachter und Künstler, der Bilger Verlag mit seinem Gründer und Verlagsleiter Ricco Bilger als Säule in der Schweizer Verlagslandschaft.

Schon der erste Roman versprach vieles. Ich erinnere mich gut, dass ich bei einer Buchvorstellung in einer winzigen Buchhandlung in der Ostschweizer Provinz den BesucherInnen diesen Roman ans Herz zu legen versuchte und prognostizierte, es werde künftig viel von dem Mann zu hören sein.
Das traf zu, wenn auch nicht ganz so, wie ich es in meiner Prophezeiung vorhersagte. Christoph Simon schreibt noch immer. Aber nach Romanen, einem Kinderbuch und einem Lyrikband konzentriert sich Christoph Simon fast ganz auf sein Bühnenprogramm, mit dem er 2018 in den Olymp der Kabarettisten erhoben wurde und den Salzburger Stier gewann.

Christoph Simon «Swiss Miniatur» Edition Baes, 2020, 72 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-9504833-7-6

Christoph Simons sicheres Gespür für den Kern der Sache, seinen Witz in Sätzen und Geschichten lässt sich nun aber endlich auch wieder lesend geniessen, obwohl die Sammlung von Geschichten „Swiss Miniatur“ ein schmales Bändchen geworden ist und ganz offensichtlich Autor und LeserInnen sich gedulden müssen, bis dereinst wieder ein Simon erscheinen wird, der die Nachbarn im Bücherregal zur Seite schiebt. Zumindest sind es Kostproben seines Könnens, manchmal sogar Bezeugungen, dass er durchaus immer wieder einmal den neuen Roman in Angriff nimmt, derzeit aber anderem den Vortritt lassen muss. So gibt es zwei kleine Kapitel mit nicht ganz ernst zu nehmenden Romananfängen und -schlüssen: Erste und letzte Sätze der verworfenen Great Swiss Novel. Zum Beispiel: Zellweger war vierzig und Kreditberater in einer Bankfiliale – was nicht weiter ungewöhnlich ist, verbringen doch viele Kreditberater ihre Arbeitszeit in einer Bankfiliale. Man hört, wie der Motor absäuft – und der letzte Satz: „Gut“, sagte Zellweger, „dass man den Behörden in unserem Land noch trauen kann.“ 

Schlicht köstlich sind die Geschichten, von denen im Anschluss zwei präsentiert werden. Geschichten, Momentaufnahmen aus dem, was sich hinter den Fassaden abspielt:

Romeo und Julia älter

„Warum guckst‘n du so?“
„Ich guck halt.“
„Irgendwas denkst du dir doch dabei.“
„Ich guck nur so.“
„Ich merk doch, dass du dir was denkst.“
„Tu ich aber nicht.“
„Doch.“
„Verdammt nochmal, Julia!“
„Siehst du.“
„Was seh ich?“
„Sonst würdest du es ja nicht so energisch abstreiten.“
„Du machst mich nervös.“
„Dabei hab ich dir gar nichts getan.“ 
„Hör bitte auf.“
„Hab ich etwa damit angefangen?“
„Du hast dich doch darüber aufgeregt, dass ich gucke.“
„Jetzt bin ich also schuld daran, wenn dich etwas stört?“
„Mich stört ja gar nichts!“
„Und deshalb guckst du so.“
„Ich guck dich halt gerne an! Ich guck, weil du so schön bist!“
„Aha. Und ich dachte, der Romeo guckt ‚nur so‘?!“
„In Zukunft werde ich woanders hingucken, wenn dir das lieber ist. Siehst du, ich guck jetzt woanders hin.“
„Na toll. Schau ruhig weg, wenn ich mit dir rede.“

Lokalereignis

Eine ganz unpassende Veränderung war mit Olivier Horn, Immobilien, vorgegangen. Wenn einer ein unbeirrbarer Mann gewesen war, dann er. Das meiste von allem, was das Leben mit ihm unternahm, hatte er selbst ausgeheckt, und er hatte nie gezaudert, wenn eine Leitplanke seiner Bahn versetzt werden musste. Nichts war ihm unmöglich gewesen, und er hatte auch das Glück auf seiner Seite gehabt. Er konnte darauf bauen, dass gut ausging, was immer er sich vornahm. Unvergessen der millionenschwere Verpackungsmaschineningenieur, dem er – ohne Tricks und ohne die Steuer zu hintergehen – die halbe Industriezone K.s verschachert hatte! Aber jetzt? War mit ihm nicht mehr viel los. Horn zeigte nicht die geringste Lust, etwas anzureissen. Er verkroch sich in die düstere Blockhütte bei der Forellenzucht, hörte zu, wie die Fische im Wasser sprangen und die Stechmücken gegen das Fliegengitter surrten. Den traurigen Vorfall mit dem Anglerhaken, der erst im Schilf hängengeblieben, dann plötzlich, nachdem er kräftig an der Angel gezogen hatte, durch die Luft geschnellt war und ihm ein Auge ausgerissen hatte, verwand er einfach nicht. Es schien beinahe so, als geriete Horn dieses, aufs Augenlicht beschränkte Unglück regelrecht zur existenziellen Krise.

Am Schluss der Sammlung «Swiss Miniatur» die längere Geschichte «Bundesrat Liechti». Sie kennen die Geschichten vom Papst, der eingesperrt in seiner Welt einer ganz speziellen Eingebung folgt und unerkannt seinen Palast verlässt. Bundesrat Liechti tut es zwischen zwei Sitzung genauso. Er haut ab. Zwar mit Bügelfalte und Jacket, aber in der Schweiz wäre das möglich (ausser vielleicht für Bundesrat Berset!). Ein freier Tag für einen Bundesrat, ein Tag, der ihn glücklich macht. 

«Swiss Miniatur» macht glücklich – und lässt hoffen.

gezeichnet von Christoph Simon, ausgemalt von seinem Sohn

Ein Interview mit dem Autor:

Als du 2018 den Salzburger Stier gewonnen hast, dachte ich: „Aha, jetzt werde ich wohl mit dem Warten auf einen neuen Roman von Christoph Simon aufhören können.» Ist „Swiss Miniatur» auch ein bisschen Trost für all die, die wie ich warten?
Vielen Dank für die schmeichelnden Worte! Ja, ich möcht eh schon länger mal wieder was Längeres in Angriff nehmen. Mein Hauptverleger Ricco Bilger erwartet noch immer meinen Moby Dick, den ich ihm im Grössenwahn einmal versprochen habe. Die Bühne steht diesem Vorhaben eigentlich nicht im Weg, denn ich kann ja morgens einen Roman schreiben und abends auftreten. Im Weg steh ich mir selber, faul und ängstlich wie ich bin. Ein Roman ist ein Riesenberg an Arbeit, davor scheu ich seit Jahren zurück.

gezeichnet von Christoph Simon, ausgemalt von seinem Sohn

Du tourst als Kabarettist von Bühne zu Bühne, wirst gelobt für deinen Tiefgang und schwarzen Humor. Durchaus zwei Eigenschaften, die der Literatur gut tun würden, vor allem der „schwarze Humor». Aber warum scheint es so schwierig, schwarzen Humor zu einem Roman werden zu lassen?
Es scheint schwierig, weil es tatsächlich schwierig ist. Aber wahrscheinlich ist oberflächlich und ernsthaft Schreiben genauso schwierig. Schreiben an und für sich ist schwierig, herrje. Die Qualen eines Poeten auf der Suche nach dem treffenden Wort – ich glaube, nur eine gebärende Frau kann meine Qualen annähernd nachempfinden.

Deine längste Geschichte in „Swiss Miniatur» ist jene von Bundesrat Liechti. Durchaus ein Feld, das man literarisch beackern könnte, da mir kein Bundesratsroman bekannt ist und es in und um dieses Gremium Spielfelder genug geben müsste, um daraus eine gute Geschichte zu machen. Oder sind Bundesräte, nachdem man sie gerne in den Medien zu Helden macht zu heikel?
Ich habe mir den Liechti jetzt mal in den Kopf gesetzt als Bundesrats-Antihelden, und ich denke, es steckt tatsächlich noch mehr Schmerz und Sehnsucht in dieser Figur. Ein Bundesrat ist ein impotenter Künstler, jemand, der in der Regel nichts erreicht. Oder etwas andres erreicht, als beabsichtigt. Oder was er erreicht, ist die Arbeit anderer. Sie verlieren dauernd in Abstimmungen, sind umgeben von Schlangen und Ratten und Lärm und Unglauben. Ein harter Job. Stressig und repetitiv und rückenleidenfördernd wie Kleinkindhüten im Sandkasten.

gezeichnet von Christoph Simon

Bundesrat Liechti büxt aus, wie der Papst im Film «Habemus Papam», der vor nicht langer Zeit in den Kinos lief. Hast du dir die Filmrechte schon gesichert?
Da erwischst du mich an einer wunden Stelle. Die Filmrechte an meinem ersten Roman wurden verkauft, es wurde am Drehbuch geschrieben, es gab Sitzungen und Treatments und Eingaben. Dann wurde die Drehbuchautorin und Regisseurin schwanger, und seither liegt das Projekt auf Eis. Eine Verfilmung von einem meiner Stoffe würde mir wahnsinnig gefallen.

„Der Suboptimist» ist schon dein viertes Soloprogramm als Kabarettkünstler. „Simon ein begnadeter Figurenzeichner. Sein Personal besteht aus liebenswerten Antihelden, die meistens weniger als mehr auf die Reihe bekommen, das Herz aber auf dem rechten Fleck tragen», sagt eine Kritikerin. Worin unterscheidet sich das Schreiben eines Bühnenprogramms vom Schreiben eines Romans?
Ein Roman ist umfangreicher, ihn zu schreiben dauert exponentiell länger. Ansonsten seh ich keine grossen Unterschiede. Ich versuche meinen Figuren gegenüber wahrhaftig zu sein, ich folge ihren Wünschen und Ängsten, ich sehe ihnen zu, wie sie ihre Probleme zu lösen versuchen und sich weiter drin verheddern. Wenn am Ende des Schreibtages etwas herauskommt, das vor einem Kleintheaterpublikum an Lebendigkeit gewinnt, dann geh ich mit der Geschichte auf die Bühne. Kommt etwas heraus, das mich als Vermittler nicht erfordert, etwas, das eine Leserin im Licht der Nachttischlampe lesen kann, dann landet es gedruckt in einem Buch. Oder Miniatur-Büchlein wie hier.

(Beide Texte sind hier mit Genehmigung des Verlags und des Autors abgedruckt.)

© Michael Isler

Christoph Simon lebt in Bern. Mit seinen Romanen «Warum Antilopen nebeneinander laufen» oder «Planet Obrist» oder wie zu letzt wie seinem wunderbaren Buch «Spaziergänger Zbinden» (Bilger Verlag) hat sich eine neue grosse Stimme im deutschsprachigen Raum etabliert. Christoph Simon tourt aber auch seit Jahren erfolgreich mit Solo-Bühnenprogrammen, momentan mit «Der Suboptimist».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Michael Isler 

Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett-Cotta

Es gibt Lesemomente, die einem das Gefühl geben, an etwas ganz Besonderem teilzuhaben. Das passierte schon bei Iris Wolffs dritten Roman „So tun als ob es regnet“. Noch intensiver war der Sprachschauer bei der Lektüre ihres aktuellen Romans „Die Unschärfe der Welt“. Ein Leseerlebnis, das sich einbrennt. Ein Buch, das man nicht gerne weglegt. Eine Geschichte, die tief berührt und Sprache, die deutlich macht, wie Handwerk zu Kunst wird.

Im Banat, einem Gebiet im Westen Rumäniens, leben die Banater Schwaben, eine Deutsch sprechende Bevölkerungsgruppe, ein Bergland, in dem Iris Wolff aufwuchs. So wichtig die ProtagonistInnen, so wichtig ist in den Romanen der Autorin dieses Kulturgebiet. In Iris Wolffs Romanen wird eine Gegend zu einem Protagonisten. Auch darum, weil dieses Gebiet mit intensiven Emotionen aufgeladen ist. Auch darum, weil sich dieses Gebiet über Grenzen hinaus nach Serbien und Ungarn erstreckt. Und nicht zuletzt darum, weil das Banat immer wieder Konfliktgebiet der Geschichte war.

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.“

Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie. Wie Hannes, der junge Pfarrer im Dorf und seine Frau Florentine eine Familie werden. Wie der kleine Samuel aufwächst und schon von Beginn weg ein Sonderling ist, zuerst lange stumm, dann still, später einer, der wie kaum andere zuhören kann. Die Geschichte von Hannes Eltern, von seiner Mutter Karline, die der jungen Familie zur Hand geht und für Samuel ein Anker, eine Insel wird. Die Geschichte einer spektakulären Flucht, langer Jahre in der Fremde und einer Liebe, die sich wiederfindet. Von Stana, einem Mädchen, das mit Samuel gross wird und hin- und hergerissen ist zwischen dem Sanftmut ihres Freundes und der Strenge ihres Vaters, den permanent schwelenden Konflikten, den Übergriffen, seien sie auch bloss seelischer Natur. Stanas Vater ist ein Zudiener der Diktatur, mit Geschenken und Zuwendungen käuflich.
„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte eines Dorfes, etwas vergessen von der Geschichte, im Schatten der grossen Ereignisse in den letzten Jahren der Ceaușescu-Diktatur und den darauffolgenden Wirren in einem Land, das sich nur schwer aus den Klauen jahrzehntelanger diktatorischer Strukturen befreien konnte. 

Jede Geschichte passiert auf hunderte mögliche Weisen, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“

Iris Wolff «Die Unschärfe der Welt», Klett – Cotta, 2020, 216 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-608-98326-5

Was das Überragende dieses Romans ausmacht, ist nicht die Geschichte. Auch wenn sie raffiniert erzählt und gekonnt konstruiert ist. Das grosse Kunststück dieses Romans ist dessen Sprache. Was die Sprache in mir als Leser erzeugt. Iris Wolffs Blick in die Geschichte, ihr Erzählen ist kein fotografisches, filmisches. Iris Wolff öffnet einen Spalt breit, lässt die Tür mehr verschlossen, geheimnisvoll offen und erzeugt bei emphatischen LeserInnen dafür umso mehr innere Bilder, einen regelrechten Sinnenrausch. Sie beschreibt nicht, was sie sieht, sondern, was ihre Eindrücke in ihr erzeugen, das Echo des Geschehens. Ihre Sätze sind unterlegt, sagen weit mehr als sie vordergründig erzählen. Es ist, als würde man stets eine vielfach gespiegelte, weit detailreichere Realität dahinter, darunter oder darüber mitlesen, obwohl die Autorin nur einen Spalt breit die Tür öffnet.

„Vielleicht war getäuscht zu werden die grösste Sehnsucht von allen.“

„Die Unschärfe der Welt“ schärft den Blick auf die Welt. Auch auf das politische Geschehen Rumäniens, den Zusammenbruch, die Wirren nach der Hinrichtung des Diktators und seiner Frau, einer Flucht und den krassen Gegensätzen damals zwischen Rumänien und Deutschland und die Öffnung gegen Westen. Ein ungeheuer vielschichtiges, vielstimmiges und tiefgründiges Buch.

Für Anfänge musste man sich nicht entscheiden, Enden kamen von allein, wenn man sich nicht entschieden hatte.“

„Die Unschärfe der Welt“ ist eine Perle. Eine, die auch in Zukunft ihren Glanz nicht verlieren wird.

Ein Interview mit Iris Wolff:

„Die Unschärfe der Welt“ ist die Geschichte von Samuel und den Fixsternen im Leben Samuels. Nimmt der Titel des Romans auch Bezug auf die Art deines Erzählens? Du leuchtest nicht aus, du erklärst nicht. Dein Blick auf die Welt ist nicht der durch ein Okular.
Der Titel hat sich aus einem Satz heraus entwickelt, den Stana im vierten Kapitel sagt: “Sprache konnte nicht mehr sein als ein Anlauf zum Sprung.“ Es geht für die Figuren immer wieder darum, sich auf die Wirklichkeit ihrer Erfahrungen einzulassen – ohne vorgefertigte Deutungen und Konzepte. Es ist nicht ausreichend, ein Leben einzeln zu betrachten. Der Blick des Buches gleicht eher einem Kaleidoskop, in dem sich die einzelnen Teile immer wieder neu zusammensetzen, in dem es (für Menschen, Meinungen und Ideen) immer nur ungefähre Aufenthaltsorte gibt. Für mich als Schreibende liegt in dieser Unschärfe, Wandelbarkeit eine grosse Freiheit.

Dein Roman ist ein Fenster in das Land deiner Herkunft; Rumänien im 20. Jahrhundert. Ein Land, das Jahrzehnte vom Machtapparat eines Diktators geprägt wurde. Kann man überhaupt einen Roman schreiben, der in diesem Jahrhundert spielt, in dem der Diktator Ceaușescu direkt oder indirekt keine Rolle spielt? In der Schweiz werden nur wenige Romane geschrieben, in denen Politik eine Rolle spielt.
Ich mag es, mich mit geschichtlichen Themen auseinanderzusetzen, Zeiten und Umstände zu recherchieren, die nicht die meinen sind. Aber mir sind meine Figuren immer dann besonders nah, wenn sie aus der Zeit fallen. Sei es, dass sie den Mut finden, ihr eigenes Glück einem grösseren Zusammenhang unterzuordnen – wie Samuel, der viel aufgibt, um seinen Freund Oz zu retten. Die Gewalt- und Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat Spuren in den Lebensläufen der Menschen hinterlassen. Als politische Autorin sehe ich mich jedoch nicht. Es geht mir immer um die Figuren, um die Plausibilität ihrer Welt, um eine grösstmögliche Nähe zu den Leserinnen und Lesern.  

Die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sagte in ihrer Nobelpreisvorlesung, was für ein Alptraum es sei, die Frage gestellt zu bekommen, ob das denn alles so passiert sei. In deinem Roman sagt jemand: „Jede Geschichte ist auf hunderte mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.“ Haben wir es in Zeiten von Fakenews verlernt, aus den Geschichten die ihr eigene Wahrheit zu filtern?
Welch schöne Frage. Mir als Schreibende wird eine gewisse Weite, eine Offenheit der Komposition immer wichtiger. Trotz der Komplexität des Romans ist alles nur ein Ausschnitt, die erzählte Welt setzt sich imaginär über den Bildraum fort. Das versetzt die Lesenden in eine aktivere Rolle, sie werden zu Fährtenlesern, die die Verbindungen suchen. „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein“, schreibt Novalis. Die Freiheit der eigenen Deutung ist wichtig, und ebenso die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zuzulassen, Mehrdeutigkeiten, Ambiguität. Ich will als Autorin keine Wahrheit verkünden, sondern Wahrnehmung zur Verfügung stellen.

Samuel ist einer, der „mit Worten umging, als würden sie sich durch übermässiges Aussprechen abnützen“.  Er lebt in krassem Gegensatz zu all jenen, die sich permanent in den sozialen Medien kommentieren müssen. Spricht da deine Sehnsucht?
Für meine Protagonisten gibt es keine Sicherheit jenseits des eigenen Erlebens. Für alle sprachlichen Äusserungen, für alle Ideen und Vorstellungen gibt es immer nur einen Grad der Gewissheit, eine Wahrscheinlichkeit. Ich finde das befreiend, vor allem in einer Welt, die von Gewissheiten und Meinungen bestimmt ist, in der oftmals die Deutung vor der Erfahrung, das Urteil vor der Begegnung kommt. Die Stille ist (ebenso wie die Poesie) da ein heilsames Gegengift.

Du schaffst es, Sätze zu schreiben, die sich einbrennen. Sätze, die mich neidisch machen, weil ich weit weg bin von einer solchen Quelle. Sätze, die zeigen, dass sich die Literatur, die Kunst schon in einem einzigen Satz offenbaren kann. Musst du dich in einen „Schreibzustand“ versetzen, damit dir solche Sätze und Bilder einschiessen?
Ich muss in meinen Geschichten das Land meiner Herkunft berühren. Etwas geht davon aus, etwas führt immer wieder dahin zurück. Eine gute Freundin sagte einmal, dass eine bestimmte Sprache an einen bestimmten Ort geknüpft ist. Meine Sprache, die Melodie der Sätze, die Bildhaftigkeit entwickelt sich bislang nur, wenn ich von Siebenbürgen oder wie jetzt in meinem aktuellen Roman, aus dem Banat ausgehe – diesem faszinierenden Landstrich, in dem verschiedene Kulturen über Jahrhunderte zusammenlebten. Ich glaube, das ist meine Quelle.

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, aufgewachsen im Banat und in Siebenbürgen. 1985 Emigration nach Deutschland. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung. Bis März 2018 Koordinatorin des Netzwerks Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg. Mitglied im Internationalen Exil-PEN. Lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Falko Schubring

Nicolas Mathieu «Rose Royal», Hanser Berlin

Irgendwann kauft sich Rose, bald fünfzig, im Internet einen Revolver. Es sollte und durfte niemals mehr passieren, dass ein Mann sie mit der Hand oder auch mit Worten zu Boden schlägt. Nie mehr! Der Revolver in der Handtasche als Versicherung, dass es nie mehr passieren würde, nie mehr.

Rose hat sich in ihrem Leben eingerichtet. Ein Leben mit vielen Ups and Downs. Einer Scheidung, zweier Kinder, die sich irgendwie verlieren konnten, einer Arbeit, die sie nicht wirklich brauchte, aber müde machte und der Einfältigkeit eines immer gleichen Feierabends mit ziemlich viel Alkohol.

Bis in der Bar, in der sie sich nach der Arbeit oft mit ihrer einzigen Freundin trifft, die wie sie auf den einen besonderen Moment in ihrer immer schmaler werdenden Zukunft hofft, ein Mann in der Bar auftaucht. Ein Mann mit einem blutendenden Hund in seinen Armen. Einem Hund, dessen Eingeweide wegen eines Autos aus der Bauchhöhle fliessen, der sterben wird. Rose holt ihren Revolver aus ihrer Handtasche, dieses Ding, dass sie bisher nur im Wald ausprobierte, das sie mit seiner kalten, stählernen Schönheit aufrechter gehen lässt. Sie schiesst ein Mal, dem Hund in den Kopf. Das eine Leben hört auf, die Beziehung zu Luc beginnt, denn kurz nach dem Schuss ruft dieser an und sie treffen sich. Zuerst zaghaft, weil Rose keine Lust und auch keine Kraft mehr hat, sich ein weiteres Mal in den Fängen eines Mannes, in den Ketten einer Beziehung zu verheddern. Aber aus den gelegentlichen Treffen werden mehr. So wie aus der anfänglichen Faszination für diesen Mann auch die Ernüchterung steigt. 

Nicolas Mathieu «Rose Royal», Hanser Berlin, aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen, 2020, 95 Seiten, ISBN 978-3-446-26785-5

Und dann passiert es wieder. Ohne Vorwarnung, mit aller Wucht trifft Lucs Hand Roses Gesicht. Sie spürt den kupfernen Geschmack im Mund. Und als Luc ihre Wohnung mit Gepolter verlässt, ist sie es, die mit Schuldgefühlen zurückbleibt. Aber mit dem Entschluss, dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Wenn nötig auch mit dem Revolver.

Aber es kommt anders. Luc schafft es, sich mit Rose zu versöhnen. Obwohl Rose spürt, dass in der Beziehung keine Hoffnung mehr liegt. Zu viel ist passiert, zu viel Unentschuldbares, zu viele Verletzungen, zu viel Schmerz, zu viel Alkohol. „Eine Frau und ein Mann, die sich an der Hand hielten und dachten, sie verstanden sich. Mehr braucht es nicht, um ein Paar zu sein.“

Rose und Luc fahren noch einmal gemeinsam weg, in ein Hotel mit vielen Sternen. Sie sitzen an einem Tisch und alles inszeniert Luc zu einem grossen Neubeginn, einem Neustart, an den Rose weder hofft noch glaubt.

Auch wenn Nicolas Mathieus Roman nicht einmal hundert Seiten zählt, strotzt er vor Kraft und Wucht. Lebensentwürfe gibt es mit fünfzig keine mehr. Die Möglichkeiten in der Zukunft sind begrenzt und das, was man an Vergangenem mit sich herumträgt wird immer schwerer und belastender. Rose versucht sich an dem wenigen festzuhalten, was ihr geblieben ist. Und das Wenige, das sie sich noch erhofft, will sie sich nicht aufzwingen lassen. Aber wie soll man aus dem Ungleichgewicht ausbrechen, aus der Tatsache, dass viele Frauen in einer Beziehung alles aufgeben, und Männer nichts preisgeben. Dass das Feuer einer Liebe allzu schnell erlischt in Gewohnheiten, Unausgesprochenem und der Gewalt des Erstarrten. Die Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit macht nicht blind, aber sie lähmt. Und je länger eine „Beziehung“ in unerfüllter Sehnsucht vertrocknet, desto schwieriger wird es, aus ihr auszubrechen.

Nicolas Mathieu schreibt Sätze wie Revolverschüsse. Sie peitschen sich ins Bewusstsein: Der Revolver würde den üblichen Lauf der Dinge stoppen oder Das Unglück sass ihr unter der Haut. „Rose Royal“ ist ein Konzentrat. Der Roman schreit förmlich nach einer Verfilmung. Er zeichnet in wenigen Strichen, was meine Phantasie braucht, um mit eigenen Bildern den „Streifen“ aufzufüllen. Eine harte Geschichte um betoniertes Rollenverständnis. Frauen geben ihre Sicherheiten auf, Männer gewinnen.

Schnörkellos erzählt fährt der Roman bis in die Knochen!

Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren und lebt in Nancy. Sein erster Roman erschien 2014 und wurde für das Fernsehen adaptiert. «Wie später ihre Kinder» wurde 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Beitragsbild © Bertrand Jamot

Han Kang «Weiss», Aufbau

Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ gehört Han Kang zu Koreas wichtigsten literarischen Stimmen. Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, konfrontiert mit der Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen ihrer Mutter starb, entstand „Weiss“, ein Buch, reduziert bis auf das, was sich nicht mehr wegdenken lässt. 

Die Frau, von der erzählt wird, ist in der Fremde, an einem Ort, an dem während der Hälfte des Jahres Kälte herrscht; der Nebel, die Wolken, der Schnee. In einer Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht, in der kein Schild zu entziffern ist, in der sie sich fremd und verunsichert fühlt, tauchen im Weiss Bilder auf, die sie in die Erinnerungen zurückreissen.

Han Kang «Weiss», Aufbau, 2020, 151 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-351-03722-2

An die Mutter, die noch ganz jung, ganz allein, weit weg und ohne Zugang zu medizinischer Hilfe lange vor dem Geburtstermin ein Mädchen zur Welt bringt, unvorbereitet und in stiller Verzweiflung. Aber nicht einmal zwei Stunden lang dauert das kurze Leben des Mädchens. Es stirbt. Und nachdem Stunden später der Vater nach Hause kommt, hüllt er dieses in weisse Wickeltücher und beerdigt es auf einem nahen Hügel. Eine Tragödie, von der sich die Mutter nie ganz erholt, die immer wieder im Konjunktiv aufflackert. Eine Tragödie, die auch die Erzählende begleitet, denn trotz ihres kurzen Lebens bleibt das namenlose Mädchen ihre Schwester. Noch mehr, denn es hätte sie selbst nicht gegeben, hätte die Erstgeborene weiter gelebt.

Jahrzehnte später in den kalten Wintermonaten in einer fernen Stadt, allein gelassen mit sich selbst und mit Bildern, die sonst verborgen bleiben, tauchen Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen gekoppelt mit der Farbe Weiss. Während die Erzählerin als erstes eine Liste erstellt mit Dingen, die sie mit Weiss verbindet, tauchen weisse Fetzen aus dem Vergessen auf. Aus der Liste werden die Überschriften zu den kurzen Kapiteln, die sich wie Meditationen, Betrachtungen lesen; Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weisse Stadt, Weisse Kerze…

„Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen.“

Die Texte reflektieren nicht nur Erinnerung, sie beschäftigen sich auch mit dem Warum, warum sich ausgerechnet in dieser fremden Stadt, diesem fremden Land längst Vergessenes an die Oberfläche drängt. Woher dieses Bedürfnis, dieses Sehnen nach Reinheit und Sauberem, Makellosigkeit und Keuschheit.

Von den Erzählungen der Mutter weiss die Erzählende, wie sehr die Mutter flehte: „Stirb nicht, bitte stirb nicht.“ Mit dem Schreiben, dem Erzählen wandelt sich dieses Flehen an die Erinnerung: „Stirb nicht, bitte stirb nicht.“ Selbst wenn die Augen des kleinen Mädchens nur kurz schauten, der Atem wieder versiegte und die Haut des Mädchens erkaltete – die Erinnerung darf es nicht. „Stirb nicht, bitte stirb nicht“, wird zum Amulett, zuerst für die Mutter, dann für die zweite Tochter.

„Weiss“ ist ein ganz zartes Buch, ein Hauch im kalten Winter. Der Beweis dafür das wir leben, nicht bloss existieren. 

Wer das Buch liest, scheut sich, es so einfach in ein Regal zu schieben.

Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. Seit sie für «Die Vegetarierin» gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international grossen Erfolg. Auch der Roman «Weiss» war für den Booker Prize nominiert, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis, zuletzt erschien bei Aufbau «Deine kalten Hände». Derzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul.

Ki-Hyang Lee, die Übersetzerin, , geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin.

Beitragsbild © Baek Dahum

Quentin Mouron „Vesoul, 7. Januar 2015“ und „Heroïne“, Bilger


Auf dem Cover des französischen Originals von Quentin Mourons jüngstem Roman „Vesoul, le 7 janvier 2015“ (Olivier Morattel Éditeur, Dole 2019) springt einem ein Porträt des Schriftstellers entgegen: Quentin Mouron, 1989 in Lausanne geboren und in Québec, Kanada, aufgewachsen, hält ein brennendes Buch in Händen und blickt dem Betrachter direkt in die Augen: „Na, was denkst du hierüber?“, scheint er zu fragen, „verstehst du, dass die Kultur brennt, dass sie nicht mehr greift, dass wir in einer sinnentleerten Welt leben?“

Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur

Satirisch, illusionslos, dystopisch – thrilling

«Vesoul, 7. Januar 2015» ist Quentin Mourons viertes Buch, das im Bilgerverlag auf Deutsch erschienen ist. Es ist eine Burleske, eine Groteske, ein Absurditätenkabinett sondergleichen. Hansruedi Kugler bezeichnete es im «Tagblatt» vom 13. Juni 2020 als «eine originelle Zeitgeistsatire mit der Figur eines postmodernen Picaro, einem Nachfolger des Schelmenromans. Der unbeschwerte Freigeist und smarte, ideologie- und bindungslose, arrogante Snob und Genfer Vermögensberater nimmt den Erzähler als Autostopper mit zu einem Kongress in Vesoul, den Hauptort des Departements Haute-Saône in der Region Bourgogne-Franche-Comté in Frankreich. Dort geraten sie in einen «Tag der Republik» und damit auf einen grotesken Marktplatz mit pazifistischen Neonazis, Sittenpolizisten in der Literatur, Verschwörungstheorien und Avantgardekünstlerinnen.»

Quentin Mouron «Vesoul, 7. Januar 2015» (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller), Bilgerverlag 2020, 120 Seiten, CHF 24.00, ISBN 978-3-03762-086-1

Das Buch entpuppt sich als Polemik gegen die Verwerfungen unserer Zeit, gegen Ideologien, welche die Gesellschaft spalten, und gegen die Eiseskälte des Kapitalismus. Doch Moralisten seien mit diesem Zitat, das keinen Tabubruch ausschliesst, vorgewarnt: «Der Picaro kennt kein Schuldgefühl, es ist daher normal, dass in seiner Umgebung das Schamgefühl nach und nach verschwindet. Der pikareske Manager, wie ihn unsere Banken, unsere Start-ups, unsere Kunsthochschulen hervorbringen, zeichnet sich dadurch aus, dass er sich überall anzubiedern versteht, sich in jeder Situation den Rahmenbedingungen anpasst.»

Quentin Mouron «Heroïne» (aus dem Französischen von Andrea Stephani und Barbara Heber-Schärer), Bilgerverlag, 2019, 128 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-03762-078-6

Quentin Mouron gilt als der Tarantino der Schweizer Gegenwartsliteratur, als Genie des Roman noir zumal. Sein Stil ist filmisch, szenisch, atmosphärisch dicht, dabei welthaltig und anspielungsreich. Schon seine beiden ersten Bücher, «Notre-Dame-de-la-Merci» – eine unglaublich traurige Winterballade aus Kanada – und «Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain» – eine Revolvertrommel an Suspense –, haben diesem Autor im deutschsprachigen Raum begeisterte Kritiken und eine wachsende Leserschar eingetragen. Auch der dritte Roman fasziniert als ein Krimi der besonderen Art. «Heroïne» beginnt mit einer «Ouverture baroque», einer vollkommen abgedrehten Sexszene in einem Berliner Antiquariat, welche einem Georges Bataille alle Ehre gemacht hätte. Franck, Leiter eines New Yorker Detektivbüros, aus Hoffnungslosigkeit seit drei Jahren bibliophil, schiebt eine schräge Nummer mit der Buchhändlerin Mademoiselle Schulz. Abends im Hotel bemerkt er, dass er seinen Siegelring im Antiquariat vergessen hat, und kehrt zurück. Dort findet er, angeordnet wie auf einem barocken Stillleben, den Kopf der Buchhändlerin auf einem Silbertablett… Seine Nachforschungen lassen ihn auf einen bestimmten Kunden schliessen, doch erfährt er aus der Zeitung, dass „ein gewisser Wilfried Wagner – der sich Abu Mohammed Daoud al-Bavari nennen lässt –“ die Buchhändlerin enthauptete, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Voltaires „Mahomet“ aus dem Schaufenster zu entfernen. Mademoiselle Schulz ist nicht die einzige Heldin in Mourons Roman „Heroïne“, der nach der ausschweifenden Eröffnung in eine „Suite classique“ mündet. Darin forscht der Anti-Held Franck nach einer verschollenen Lieferung Heroin und nach dem Mörder des Vaters einer blutjungen Prostituierten, und zwar in Tonopah, einem 2000-Seelen-Krachen im Nirgendwo von Nevada – „einer Wüste in einer Wüste“, einer für Mourons Romane typischen kleinen Ortschaft, die den desaströsen Zustand des grossen Ganzen widerspiegelt (genauso tut dies die kleine Ortschaft Vesoul im eingangs erwähnten Roman). Leah, so heisst die eigenwillige Sexarbeiterin, ist die zweite rätselhafte Heroin, „fromm und verrucht, eine hehre und sich anbietende Jungfrau.“ Sie besorgt hauptberuflich die Bedienung in einem Fast Food, nebenberuflich arbeitet sie daselbst in einer „Besenkammer unter den Postern von Elvis, Spongebob und der Jungfrau Maria.“ Trotz ihrer seelischen Verwüstung setzt Leah, ein in sich zerrissener Charakter, ein Gegenzeichen in dieser trostlosen Welt. „Heroïne“ bietet ein Noir-Set par excellence, vorangetrieben in kurzen kaleidoskopischen Kapiteln, vollgepumpt mit Sex, Drogen und blauen Bohnen – illusionslos, dystopisch, thrilling. 

Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec.
Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Rezension von «Notre-Dame-de-la-Merci» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Bilgerverlag

Anne Weber «Annette, ein Heldinnenepos», Matthes und Seitz, Gasttext von Alice Grünfelder

Es sind wenig mehr als Gedanken, die ich hier notiere, weil sie mir beim Lesen unentwegt durch den Kopf gesprungen sind. Ich bin angenehm überrascht, dass solch ein ungewöhnliches – im sprachlich-formalen und thematischen Sinne – Buch den deutschen Buchpreis erhalten hat, was mich doch noch an die Vernunft der Vergabepraxis glauben lässt. 

© Mine Dal

Heldinnen früher und heute
Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder

Ich ärgerte mich über so manchen Feuilletonisten, der meinte, mit der Form, also eine Biografie in Versform, hätte Anne Weber den Stoff arg tief gehängt. Dabei ist es gerade diese Form, die Ambivalenz eines Heldinnenlebens in wenigen Worten und mit einer stupenden Präzision zu verdichten, um damit gleichsam die Widersprüche dieses Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Jedes weitere und unnötige Wort würde ihr Ansinnen verwässern.

Doch ich rätselte mitunter, warum dieser Titel – von der Autorin? Vom Verlag? – gewählt wurde, denn ist Anne Beaumanoir wirklich eine Heldin? Eine vermeintliche, eine verblendete? Die Heldin folgt dem Prinzip Gleichheit und Gleichberechtigung, und wegen dieses Prinzips ist sie immer mal wieder auf dem einen Auge oder gleich beiden blind. Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn Zweifel im «Sand der Gegenwart», dem algerischen wohlgemerkt, vergraben werden. Anne Beaumanoir sieht dieser Wahrheit erst spät ins Gesicht, als sie sich monatelang in einem Keller verstecken muss: «Die Wahrheit ist, dass sie für einen souveränen Staat (den algerischen A.d.R.), der binnen kurzer Zeit zu einem Militärregime mutiert ist, alles eingebüßt hat.» Vor allem unter dem Verlust ihrer drei Kinder leidet die Frau, die sie jahrelang nicht sehen durfte, denn um einer zehnjährigen Haftstrafe in Frankreich zu entgehen, floh sie auf Umwegen nach Tunesien. 

Man mache es sich zu leicht, schreibt Anne Weber, aus der Vergangenheit zurückzublicken und zu kritisieren, man bedenke indes, dass dies ungerecht sei, denn wenn man im Nebel stecke, sehe man die Möglichkeiten nicht unbedingt, die sich erst Jahre später herausschälen. Die Autorin blendet ihre Zweifel nicht aus, gräbt tief, fragt nach, hinterfragt die einstigen Ideale, will diese schillernde Persönlichkeit verstehen, die so viel aufgegeben hat, um am Ende ihres Lebens am Fuss eines Berges zu stehen und einen Stein hinaufrollen zu wollen. Wer nun an Camus‘ Sisyphos denkt, denkt richtig, denn mit ihm schliesst dieses Versepos: «Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu grossen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.»

mehr über Anne Beaumanoir

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Thorsten Greve