Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weiße Land», hanserblau

Es steht geschrieben, dass der erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 dauerte, vier Jahre. Das mag für Politiker und Diplomaten stimmen, von Kriegserklärung bis bedingungsloser Kapitulation. Aber ein Krieg beginnt lange vorher und endet vielleicht erst dann, wenn sich niemand mehr mit eigenen Erinnerungen darauf besinnen kann. Wenn jene Generation gestorben ist, die die Narben des Krieges durch ein ganzes Leben zu schleppen hatte. Beatrix Kramlovsky macht Erinnerung weit auf!

Ein maschinengeschriebenes Manuskript eines ehemaligen Berufssoldaten der österreich-ungarischen Armee findet den Weg zu Beatrix Kramloswsky. Nicht bloss ein Aufhänger, um eine Geschichte zu erzählen, sondern die real niedergeschriebenen Erinnerungen eines Mannes, der während des ersten Weltkriegs in russische Gefangenschaft gerät, und erst sechs Jahre später den Weg bis zurück zu seiner Familie in Wien fand. Die Geschichte eines Mannes, den Freundschaft und seine besonderen Fähigkeiten mit Pinsel, Stift und Schnitzmesser davor bewahrten, eines der vielen namenlosen Opfer zu werden, deren Knochen man irgendwo in Sibirien verscharrte.

Was als Typoskript für Enkelinnen und Enkel gedacht war, ist als „Fanny oder Das weisse Land“ eine in einen Roman gewandelte Geschichte eines Mannes, die in Erinnerung ruft, was den Menschen angesichts hoffnungsloser Umstände und unüberwindbarer Distanzen aufrecht erhalten kann. Eine Geschichte, die sich mit jeder kriegerischen Auseinandersetzung wiederholt, weil es nicht die Politiker, nicht die Privilegierten sind, die die Folgen eines Krieges auszubaden haben, seien die Kriege weltumspannend oder regional und kaum im öffentlichen Interesse, sondern die „kleinen Leute“.

Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weisse Land», hanserblau, 2020, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-26797-8

Karl und Fanny sind kleine Leute. Karl ist Berufssoldat. Nicht weil er Freude am Drill hätte oder als Held für die österreich-ungarische Monarchie aufsteigen möchte, sondern weil ihn sein Vater überredet, die Sicherheit einer militärischen Laufbahn zu wählen, statt jene eines brotlosen Künstlers. Und Fanny, die aus ganz einfachen Verhältnissen stammt, weiss ganz genau, dass man sie an der Seite eines Offiziers nie akzeptieren wird. Es reicht nicht einmal das Geld, um zu heiraten, obwohl mit dem kleinen Max die drei zu einer Familie werden. Doch Karl wird in den Krieg geschickt und findet sich als Kriegsgefangener wieder in Chabarowsk, nicht weit vom Japanischen Meer, am äussersten Zipfel Sibiriens, viele tausend Kilometer weg von Familie und Heimatstadt Wien.

Karl hat Glück im Unglück. Er ist unverletzt, zumindest äusserlich und kann im gleichen Lager seinen jüngeren Bruder Viktor in die Arme nehmen. Die beiden schliessen mit vier anderen Männern eine tiefe Freundschaft, eine Bande, die hoffen lässt, dass ein Fluchtversuch aus dem Lager erfolgreich werden kann. Chabarowsk liegt in den unsäglichen Weiten Sibiriens, eine Flucht quer durch den asiatischen Kontinent nur deshalb eine Option, weil das langsame Sterben im Lager mit seiner unstillbaren Sehnsucht hin zu seiner Familie nicht vereinbar ist.
„Fanny oder Das weisse Land“ ist die Geschichte dieser endlos scheinenden Odyssee Richtung Westen. Die Geschichte von vier Männern, die durch Freundschaft zu einer Art Familie werden, trennbar nur durch den Tod und durch die Hoffnung unterwegs ein neues Zuhause zu finden. Eine Reise zu Fuss, mit dem Zug, auf Karren durch die endlosen Weiten und Wirren eines Kontinents, der sich alles andere als menschenfreundlich zeigen kann.

Vielleicht ist ein Grund, warum Beatrix Kramlovsky die Geschichte dieses Mannes zu ihrer Geschichte machte, der Umstand, dass sie beide malen. Karl, der einstige Soldat und die Autorin selbst, die ihre Bilder immer wieder in Ausstellungen präsentiert. Karl und seine Freunde hätten die Reise niemals überlebt, wenn ihnen ihre Fähigkeiten nicht immer wieder Sonderbehandlungen ermöglichten; im Lager mit dem Schnitzen von Spielzeugfiguren, in den Dörfern Sibiriens mit Karls Zeichnungen und einmal gar mit einem Wandgemälde bei einer Mennonitengemeinde oder in den Gefängnissen als Porträtist. 

Mag sein, dass der Roman empfindlich nah an die Grenzen allzu pastellener Töne rutscht, dass der Roman das Gewicht einer Verantwortung mit sich trägt, jener eines „Erbes“ jener Familie gegenüber, die das Manuskript der Autorin anvertraute. Karl bleibt zu gut, scheint nie wirklich zu zweifeln, die Liebe zu seiner Fanny trotzt allem. Doch lohnt die Lektüre alleweil, denn sie provoziert die Frage, was denn wichtig sein muss im Leben, um dort zu überleben, wo der Tod zum allgegenwärtig sichtbaren Begleiter wird.

© privat

Beatrix Kramlovsky, geboren 1954 in Oberösterreich, lebt als Künstlerin und Autorin in Niederösterreich. Sie studierte Sprachen und veröffentlichte Kurzgeschichten, Gedichte und Romane. Ein Aufenthalt in Ostberlin (1987-1991) führt zu einem Publikationsverbot in der DDR. Sie wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. 2019 erschien ihr Roman «Die Lichtsammlerin» bei hanserblau.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau