Douna Loup «Verwildern», Limmat

Als ich vor mehr als zehn Jahren den ersten in Deutsch erschienen Roman von Douna Loup las, hatte ich das Gefühl, eine Perle gefunden zu haben, etwas Besonderem begegnet zu sein. „Verwildern“ ist die konsequente Fortführung einer ganz eigenwilligen Stimme, die sowohl in der Form wie in ihrer Tonalität Resonanzen erzeugt, die weit über das Übliche hinausgehen!

„Die Schwesterfrau“, Douna Loups deutschsprachiges Debüt, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Prix Michel Dentan und dem Prix Senghor du premier roman francophone. Dass es 12 Jahre dauerte, bis Douna Loup mit einem zweiten Buch auf dem deutschsprachigen Markt erscheint, mag verschiedene Gründe haben. An Gelegenheiten zu Übersetzungen hätte es nicht gefehlt. Mit Sicherheit belohnt „Verwildern“ aber die Neuentdeckung. Zu hoffen ist, dass „Verwildern“ weit über die Schweiz hinaus wahrgenommen wird. Buch und Autorin hätten es mehr als verdient.

„Verwildern“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Mädchen zusammen mit ihrer Mutter weit draussen aufwuchs, eingebettet in die Natur, als Teil ihrer selbst. Keine paradiesische Kindheit, aber eine Kindheit in absoluter Unmittelbarkeit, wörtlich hautnah mit der Natur verbunden. Umso grösser ist der Schrecken, als das Mädchen erfährt, dass sie nicht nur einen Vater hätte, sondern auch noch einen drei Jahre ältern Bruder. Aber weil es nach ihrer Geburt zum Bruch zwischen Mutter und Vater kam und dieser die junge Mutter mit der Tochter alleine zurückliess, wird das Wissen um einen bisher nicht existierenden Bruder zu einer ultimativen Kraft, mit der das Mädchen die Mutter zwingt, sich gemeinsam mit ihr auf die Suche zu machen. Auf die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.

Douna Loup «Verwildern», Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Mutter und Tochter machen sich mit fast nichts auf den Weg, auf einen langen Weg, lernen sich ganz neu kennen, nicht nur sich, auch die Welt, der sie sich bisher verweigerten. Es ist ein jahrelanger Weg. Ein Weg, der die beiden auch in Städte führt, die für das Mädchen so fremd sind, wie unbekannte Planeten. Die Mutter hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, das Mädchen lernt alles, was es wissen muss von Ihrer Mutter und sich selbst. Bis sie mit einer Fähre auf eine kleine Insel kommen. Das Mädchen ist über die Jahre eine junge Frau geworden. So wie sie das Gefühl hat, in ihrem Körper langsam angekommen zu sein, so sehr will sie vorerst bleiben auf dieser Insel, die ihr alles zu geben scheint, wonach sie sich sehnt. Die Sehnsucht nach ihrem Bruder ist so sehr zu einem immerwährenden Gefühl geworden, dass seine Erfüllung mehr und mehr in den Hintergrund trat. Die Mutter geht weiter, die junge Frau bleibt. Die junge Frau findet die Liebe, endlich ein Gegenüber, das einen grossen Teil des Suchens stillt.

Aber irgendwann treffen Briefe der Mutter auf der Insel ein. Briefe, die der Tochter zeigen, wie sehr ihre Mutter zu kämpfen hatte, dass die Suche für sie nie zu Ende war. Dass sie den Bruder gefunden hat und die Tochter bittet, sich auf den Weg zu ihr zu machen.

Die Geschichte dieses Buches ist das eine. Was mich aber viel, viel mehr faszinierte, ist die Sprache dieser Autorin, die Melodie ihrer Sätze. Wie sehr der Inhalt mit ihren Gefühlen, ihrem Empfingen, ihrer Wahrnehmung korrespondiert. Leser*innen lieben Bücher wie „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens, den meistverkaufte Belletristiktitel des vergangenen Jahres. Ein durchaus gutes Buch einer jungen Frau, die man wegen eines Mordfalls in ihrer Nähe aus ihrem Leben in der wilden Natur reissen will. Eine Geschichte, bei der die Natur nur Kulisse bleibt, die Naturverbundenheit der Protagonistin bloss ein Mosaik. In „Verwildern“ macht Douna Loup die Natur und die junge Frau zu einem Paar. Sie erzählt von dieser Verbundenheit, einer Liebe ohne Enttäuschungen. In ihrem Roman ist die Natur keine Kulisse. Sie setzt die Geschichte nicht in die Natur. Sie erzählt aus der Natur. Ihre Sprache ist von einer derartigen Intensität und Nähe zur Natur, das man riecht und schmeckt. Man hört die Stille und spürt die Kiesel unter den blossen Füssen.

„Verwildern“ ist ein literarisches Manifest ohne Bitterkeit, ohne Enttäuschung, ohne Belehrung. Dafür ein ganz zartes Kunstwerk, dass von Liebe und Respekt durchtränkt ist. Wie schön!

Douna Loup wurde 1982 in Genf geboren, ihre Eltern waren Marionettenspieler. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Frankreich, arbeitete in Madagascar und lebt heute in Nantes. Ihr erster Roman, «L’Embrasure» (2010) («Die Schwesterfrau (Lenos 2012)) wurde mit dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet. Ihre Texte erscheinen in der Mércure de France und im Verlag Editions Zoé in Genf.

Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf sowie Contemporary Arts Practice an der HKB in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freier Übersetzer arbeitet er im Übersetzerhaus Looren. Er lebt in Zürich. 2023 erhielt er den Kulturförderpreis der Stadt Thun sowie eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich für seine Übersetzung von C.F. Ramuz’ «Sturz in die Sonne».

Beitragsbild © Roman Lusser

Louise Glück «Marigold und Rose», Luchterhand

Marigold und Rose sind Zwillinge. Noch nicht einmal ein Jahr alt und schon mitten im Leben, auch wenn dieses nur aus Zimmer, Haus und Garten besteht. Eine Welt, die langsam aufbricht. Eine Welt, von der die Zwillinge, von der Maigold schon ahnt, dass alles anders sein wird.

Bis zum Nobelpreis war Louise Glück ein Geheimtipp, der Preis für viele eine Überraschung. Aber mit der Verleihung begann die grosse Auseinandersetzung des Publikums mit dem Werk der Lyrikerin, einer ganz eigenwilligen Stimme. Dass „Maigold und Rose“ als letztes Buch vor ihrem Tod im Oktober 2023 erschien, ist nicht nur seltsam, weil es das einzige Prosawerk der Dichterin ist, sondern weil sich die damals fast 80jährige Dichterin in diesem Buch ins Wesen eines Säuglings begibt, in ein Leben, in dem die Sprache noch nicht artikuliert wird, sich alles im Werden begreift. Louise Glück blickt durch die Wahrnehmung eines Kleinkinds auf eine Welt, die sich noch ganz im Kleinräumigen verortet, einer kleinen, in vielerlei Hinsicht paradiesischen Welt, von der die nicht einmal Einjährige ahnt, dass sie dereinst vertrieben wird.

Obwohl Zwillinge, ist vieles an den beiden verschieden. Marigold liebt Bücher, die Rose nicht interessieren. Sie „liest“, auch wenn sich ihr der Sinn der vielen Zeichen in den Büchern noch nicht erschliesst. Aber sie mag die Bilder, Bilder von Tieren. Irgendwann würde sich das Geheimnis der Schrift auflösen. Und dann würde sie selbst zu schreiben beginnen, Bücher schreiben. Die Bestimmung ihrer Schwester Rose ist es, brav zu sein, angepasst. Sie sind Schwestern, Zwillinge, und doch fühlt sich Marigold einsam, ausgeschlossen vom Leben ihrer Schwester, sehr oft auch von der Zuwendung ihrer Mutter. Marigold spürt, dass Rose bei der Mutter an erster Stelle steht, dass Rose für ihre Artigkeit, ihre Angepasstheit bevorzugt wird. Da hilft auch die Liebe ihres Vaters nicht viel.

Louise Glück «Marigold und Rose», Luchterhand, aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, 2024, 64 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-630-87769-3

„Eigentlich waren die Zwillinge ein Baby, nur eben zweigeteilt. Ich bin ein halbes Baby, dachte Maigold. Ich bin das Hirn, und Rose ist das Herz.“ So sehr Marigold sich in Gedanken schon in ihrem eigenen Buch verstrickt, so sehr empfindet sie damit die wachsende Distanz zur Welt, zu ihrer Schwester, zu Mutter und Vater. Kein Wunder beginnt Rose früher zu sprechen als sie, ist ihr Blick doch viel mehr nach Innen gerichtet. „Rose lernte zu sprechen, und Marigold lernte zu beobachten.“ Vielleicht liegt die Bestimmung der beiden Mädchen schon in ihren Namen. Rose ist die, die zu verzücken weiss. Und Marigold, bei uns besser bekannt unter dem Namen Ringelblume, ist jene, die ihre Werte in ihrer indirekten Wirkung sieht – nicht zuletzt als Heilpflanze.

Legt man die Erzählung „Marigold und Rose“ über das Leben der Autorin, drängen sich gewisse Interpretationen auf. „Marigold und Rose“ ist viel mehr als ein kleines Kunstwerk einer grossen Dichterin. Vielleicht ist diese kleine Erzählung ein Schlüssel zum Urschmerz der Autorin. Vielleicht eine Erklärung dafür, was später aus ihrem Leben wurde. Aber ebenso verschliesst sich die Autorin. Am Ende eines Lebens schreibt die Nobelpreisträgerin eine kleine Erzählung über ein Mädchen vor der Zeit des Erinnerns. Schreiben ist immer Erinnern. Vielleicht sucht auch die Autorin mit dieser Erzählung.

„Marigold und Rose“ ist voller Vielleicht. Eine schillernde Erzählung voller Ahnungen. Ein Text, der mich zur Reflexion zwingt, tragen wir doch alle einen Zwilling mit uns herum, jenes gespiegelte Ich, die andere Seite, den anderen Weg. „Marigold und Rose“ ist kein Vermächtnis, aber der Beweis, dass das Schreiben über Grenzen hinaus erzählen kann.

Louise Glück, geboren 1943 in New York, veröffentlichte dreizehn Gedichtbände, zwei Essaysammlungen und ein Prosakurzstück. 2020 wurde sie ausgezeichnet mit dem Literaturnobelpreis «für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht». Für ihre Werke erhielt sie u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize, den National Book Award und die Gold Medal for Poetry from the American Academy of Arts and Letters. Sie lehrte an der Yale und der Stanford University. Louise Glück starb am 13. Oktober 2023 im Alter von 80 Jahren.

Eva Bonné übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild ©  Katherine Wolkoff

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher

Generation Setzlinge

Die Kieler Schriftstellerin Zara Zerbe bietet mit ihrem Debüt-Roman PHYTOPIA PLUS elegante und kluge Unterhaltung. Nebenher nimmt sie sich das Genre der ‚Climate Fiction‘ zur Brust.

Gastbeitrag von Frank Keil
Der Journalist lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales.

Das hätte auch schiefgehen können! Hätte ein Anklagestück werden können, schwer und düster, das man bald halbgelesen liegen lässt: wo wir doch alle wissen, das es nicht gut aussieht mit den Gletschern, den Polarkappen, den Regenmengen, die auf uns niederprasseln und den Südsee-Atollen, an denen der wachsende Meeresspiegel nagt – also mit dem Klima und der Zukunft, um mal zu untertreiben.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Man liest Zara Zerbes dystopisches Roman-Debüt schnell ein wenig wie früher, als man erstens Bücher las, um sich zu unterhalten, zweitens um den Kopf weit hinaus in die Welt zu strecken und drittens um sie unbedingt weiterzuempfehlen. Was alles auch an dem präzisen und gleichzeitig so lockeren Erzählstil liegt und überhaupt an dem dramaturgischen Geschick, mit dem Zerbe zu Werke geht.

Der Clou und vielleicht auch der Trick: Zara Zerbe führt uns in eine durchweg vertraute Welt wie der von heute, nur ist sie einige Jahrzehnte in die Zukunft verlagert, so dass alles ein bisschen schief und verdreht ist und doch zugleich vertraut.

Die Stadt, in der wir nun eine Zeitlang lesen lebend, Hamburg nämlich, ist dabei in einem durchaus desolaten Zustand: Das Vorland hat sich in eine sumpfige Elbuferlandschaft zurückentwickelt, entsprechend drückt das Flusswasser beständig in die Straßen, unterhöhlt die Straßen und Gebäude, weshalb im Süden die Menschen leben, schon immer nicht zu den Gewinnern unseres Wirtschaftssystems gehörten. „Ich fand es sehr eindrücklich, als ich mir mal den Überschwemmungsstatus von Hamburg angeschaut habe; also was wäre, gäbe es all die Deiche nicht“, sagt Zara Zerbe. Längst gibt es dort mehr Waschbären als Menschen; die Waschbären randalieren des Nachts in den Hinterhöfen, holen sich aus den Mülltonnen, was zu holen ist; so sieht das also aus, wenn das, was wir Natur nennen, aus den Fugen geraten ist.

In den im doppelten Sinne höheren Norden der Stadt dagegen haben sich die der zurückgezogen, die genügend Geld und gesellschaftliche Kontakte und damit Beziehungen haben, um auch in schwierigen Lebenslagen nicht ganz verzagen zu müssen; leben hier hinter hohen Mauern in gut abgesicherten Wohnquartieren, wortkarges Wachpersonal sorgt für zusätzliche Sicherheit; an den Pforten kreiseln die Überwachungskameras.

Und wie eine Art Zwischenwelt, fast wie eine Schleuse fungiert der Gewächshäuserkomplex der Drosera AG, ein fiktives Biotech-Unternehmen, in dem es sprießt und wächst (und wer jetzt kurz an den Science Fiction Film „Lautlos im Weltall“ von 1972 denkt, der ist zumindest atmosphärisch auf keiner falschen Spur).

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher, 2024, 300 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-95732-581-5

Doch es geht dem Unternehmen, dass wir anhand seiner MitarbeiterInnen nach und nach kennenlernen, nicht allein  um die Pflege oder der Erhalt der Pflanzenwelt: Man vielmehr ein Verfahren entwickelt und erprobt es jetzt, um das menschliche Bewusstsein so zu digitalisieren, dass es sich in der DNA ausgewählter Pflanzen speichern lässt. „Länger bleiben mit Phytopia Plus“, lautet entsprechend der Werbespruch, der ein Weiterleben auf einer mehr als bedrohten Erde verspricht, denn wer weiß, was in den nächsten Jahrzehnten noch alles passiert. Und das mit dem Weiterleben funktioniert so: Noch zu Lebzeiten wird dem Speicherwilligen ein Bio-Chip in die Hirnrinde implantiert, der nach dem Ableben dann in den Gewebeteil einer Pflanze wechselt, der das Pflanzenwachstum steuert.

Heldin des Geschehens ist Aylin. Eine junge Frau, die bei der Drosera AG als Aushilfsgärtnerin arbeitet, sich um Setzlinge kümmert, deren Wurzeldichte scannt, sie vor Pilzbefall schützt, für den entsprechend kargen Mindestlohn, bis ihr etwas Besseres einfallen sollte. Ein bisschen verpeilt ist Alyin, wie wir Norddeutschen das nennen, wenn jemand sehr engagiert sein kann und es zuweilen auch ist, aber sich zugleich ständig verzettelt und daher nicht zu Potte kommt, auch das eine lokale Formel. Oft kommt sie zu spät und leicht zerzaust zum Arbeitsbeginn, ermahnt von der KI-Stimme Bella, die alles im Blick hat und entsprechend schwer auszutricksen ist. Und um all das gut auszuhalten, um zugleich wenigstens finanziell ein bisschen besser über die Runden zu kommen, hat sie sich eine Art Nebenerwerb ausgedacht: Sie knipst hier und da den einen und anderen Trieb ab, pflanzt ihn daheim ein, zieht das Gewächs groß und verkauft es unter der Hand weiter. Ist das streng verboten, könnte das Konsequenzen haben, wenn es auffliegt, stände der Rauswurf bevor oder würde sich der Ärger in Grenzen halten, so ganz genau weiß Aylin das nicht. Und diese diffuse Spannung wird uns bald durch die Seiten tragen.

Und weil ein Mensch eine Familie braucht, auch in der Zukunft wird das so sein, bleibt Aylin nicht ganz allein. Und Zara Zerbe lacht: „In einer meiner frühen Geschichte taucht gleich im ersten Satz meine Mutter gleich auf, aber ich wollte meine arme Mutter nicht noch mal nerven; also dachte ich, ich gönne es mir mal, die Elterngenerationen auszulassen.“ Dabei ist ihre Mutter Gärtnerin!
„Ich wollte den Stoff in der Zukunft ansiedeln, aber ich wollte auch gerne eine Figur aus der gegenwärtigen Generation haben; Elternbeziehungen sind ja immer so schwer, sind nicht mein Ding, mit einem Großvater kann ich ganz gut arbeiten, wobei der mit meinem tatsächlichen Großvater nichts zu tun hat“, setzt Zara Zerbe hinzu.

Und so muss den familiären Bindungsjob Aylins Großvater übernehmen, ein einstiger Gärtner, ursprünglich hat er Philosophie studiert, doch dann ist er vor langer Zeit aus Kroatien nach Norddeutschland eingewandert, hat hier sein Leben lang hart gearbeitet und muss sich nun Mühe geben, mit Aylins jugendlichem Tempo mitzuhalten. Jedenfalls mögen sich die beiden, und wieder einmal klappt das Spiel mit dem Aufeinandertreffen der jungen und übernächsten Generation, entwickelt sich aus dem Aufeinandertreffen von von Opa und Enkelin immer wieder ein munteres Geschehen.

Erst recht weil Aylin sich um ihren Großvater nicht nur sorgt, sie will auch sein durch Lebenszeit und -sinn gewonnenes Wissen nicht kampflos dem Vergessen übergeben, nur kostet es flotte 350.000 Euro, sein Bewusstsein in eine pflanzliche Form zu überführen – wobei Aylin als Mitarbeiterin der Drosera AG auf einen Rabatt von 50 Prozent zählen könnte, was immer noch 175.000 Euro wären! Und was nun passiert, wird facettenreich und spannend, wird so kunst- wie humorvoll erzählt, auf ein durchaus offenes Ende hin. Und Zara Zerbe sagt: „Oh, ob es eine Fortsetzung gibt, das werde ich immer wieder gefragt“, und wenn dem so ist, dann scheint es dafür ja gute, wenn nicht beste Gründe zu geben.

Zara Zerbe lebt und schreibt und arbeitet in Kiel, immerhin eine bundesdeutsche Landeshauptstadt, die Ostsee fast vor der Tür, davor verbreitert sich nur die Förde, gesegnet mit erstem Wind und Wellen; Kiel ist eine lebenswerte Stadt, die zugleich einen schlechten Ruf hat: verbaut und langweilig, ach wie provinziell und dergleichen mehr hört man, wenn man etwa in Hamburg oder Berlin bekennt, dass man gerne nach Kiel fährt und sich dort auch noch wohlfühlt. Mag alles sein, doch zugleich und vor allem ist Kiel ein Ort, von Fläche und Einwohnerzahl nicht zu klein und nicht zu groß und damit geradezu geschaffen, sich einigermaßen anstrengungsfrei durchzusetzen, wenn man ein junger Mensch ist, den es nun mal ins Kreative verschlagen hat. Und so sagt Zara Zerbe mit der ihr eigenen Lässigkeit: „Kiel als Literaturort, das passt schon.“ Und dass der Nachteil, dass man das, was man kulturell erleben möchte, selbst organisieren und auf die Beine stellen müsse, sofort durch den Vorteil ausgeglichen werde, dass man dieses in Kiel auch könne und wenn man das ein paar Jahre mache, dann kenne man alle interessanten Leute. Von daher gelte auch: „Die Leute, die meine Konkurrenten sein könnten, mit denen bin ich eh befreundet.“ Mithin: Die Wege sind kurz und vor allem sind sie nicht versperrt.
Also gehört sie auch zum Team der Kieler Literaturzeitschrift „Der Schnipsel“, auch das ein Name, der in Berlin, Hamburg oder München sofort Spott und Hohn auslösen würde, in Kiel geht er aber sowas von in Ordnung. 23 Nummern hat man so seit 2012 realisiert. Und nebenher hat sie in den vergangenen Jahren alle lokalen Literatur-Preise eingeheimst; für das Schreiben an ihrem Debüt etwa konnte sie zuletzt auf das Arbeitsstipendium der Kulturstiftung Schleswig-Holstein zurückgreifen.

Und so strahlt sie die gelassene Zufriedenheit einer jungen Autorin aus, die wichtige Schritte gegangen ist: Die Kritiken waren durchweg positiv, erste Lesungen hat sie hinter sich, nächste sind verabredet, auch wenn es sich noch immer ein wenig unwirklich anfühle, dass nach diversen einzelnen Erzählungen nun ihr erster Roman tatsächlich gedruckt und gebunden vorliege. Und der will ja auch verkauft werden, will unter die Leute, und so geht sie regelmäßig bei sich um die Ecke zum Buchladen ihres Herzens, schaut dort vorbei, signiert weitere Bücher und hilft gelegentlich auch dem Buchhändler, einem Herrn alter Schule, mit dem Genre der Online-Bestellung besser klarzukommen, auch das ist Kiel.

Zara Zerbe wurde 1989 in Hamburg-Harburg geboren, hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“ und veranstaltet die „Lesebühne FederKiel“ in der Hansa48 in Kiel. Ihre Erzählung „Limbus“, für die sie mit dem Preis Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019 ausgezeichnet wurde, ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen. 2021 erschien die Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ im stirnholz Verlag. 2022 wurde sie mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. „Phytopia Plus“ ist ihr Debütroman.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Corinna Haug

Monika Maron «Das Haus», Hoffmann und Campe

Wie sehr wir uns einbilden, alles sei für eine Ewigkeit gemacht, sei es ein Leben, eine Liebe, eine Ehe, ein Zuhause. Monika Maron setzt in ihrem neuen Roman „Das Haus“ Menschen in ein neues Zuhause, Menschen, die alle spüren und wissen, dass das was kommt, endlich sein wird.

Eva hört bei Silvies achtundsechigsten Geburtstag von Katharinas Erbschaft, einem grossen Haus auf dem Land, das sie gerne zu einer Art Kommune für Freundinnen und Freunde herrichten möchte. Ein Landhaus mit grossem parkartigem Garten, alten Bäumen und einer Kapelle. Obwohl Eva im ersten Moment nichts von einer solchen Idee hält, wird alles anders, als man in der Stadtwohnung über ihr mit einem mehrmonatigen Umbau beginnt und Eva aus ihrer gewohnten Umgebung vertreibt. Und weil auf die Schnelle bei der aktuellen Wohnungssituation in Städten nichts zu finden ist, zieht Eva dann eben doch in Katharinas grossem Haus ein, allerdings nur „vorübergehend“. 

Monika Maron «Das Haus», Hoffmann und Campe, 2023, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-455-01642-0

Eine Alterswohngemeinschaft. Eine ehemalige Buchhändlerin, ein von seiner Frau sitzengelassener Galerist, eine Tierärztin, ein angeschlagener Historiker mit seiner Ehefrau… lauter Menschen, die sich in ihrem neuen Zuhause ein Stück Zukunft mit neuer Perspektive erhoffen. Eva bleibt distanziert, so wie die Bewohner des Hauses bei meiner Lektüre seltsam distanziert bleiben. Eva geniesst die Ruhe, man gibt sich kultiviert, sitzt an lauen Abenden vor dem Haus bei einem Glas Wein oder im Raucherzimmer und diskutiert. Man speist am langen Tisch im grosszügigen Esszimmer, spaziert durch den Garten, durchs Dorf. Eine Idylle – bis Katharina, als ehemalige Tierärztin, einen Hund aufnimmt und es wegen einer angeblichen Hundehaarallergie der Ehefrau des Historikers zum ersten Mal Risse im filligranen Gefüge der Wohngemeinschaft gibt. Aber weil Katharina die Besitzerin des Hauses ist und sich alle davor fürchten, was ein Machtkampf auslösen könnte, scheint die Ruhe fürs erste zurückgekehrt, weil sich alle darum bemühen, den Vierbeiner nicht zu einem Stolperstein werden zu lassen.

„Simmt es, dass du auf Katharinas Gnadenhof gelandet bist?“

Irgendwann quartiert sich Alexander ins Gästezimmer der AltersWG ein. Ein Schriftsteller, Krimiautor. Mit jedem neuen Gast verändert sich das Klima in der Gemeinschaft, die sich alle nicht aus Freude am Experiment zusammenfanden, sondern wegen des Mangels umsetzbarer Alternativen. Alex ist ein scharfer Beobachter, der sich auch nicht scheut, Gespräche dorthin zu manövrieren, wo Ungemach droht. Eva spürt, wie der Haussegen zu kippen drohnt. Und als in der nahen Umgebung der Wald zu brennen beginnt, die sommerliche Hitze unerträglich wird und man die Dörfer in der Nähe evakuiert, entfernt sich die Stimmung im Haus immer mehr von Landhausidylle und Genussresidenz.
Erst recht, als eines Morgens ein Schrei die Stille im Haus zerreist. 

Monika Maron bläst nicht in die Glut des Zeitgeschehens, damit sich die Dramaturgie ihrer Geschichte entfacht. In ihrer unspektakulären Art des Erzählens bleibt das Geschehen in und um dieses Haus beinahe wattiert. Man diskutiert bei einem Glas Wein über Klimaveränderung und die zunehmende Gewalt in der Gesellschaft, über Extremismus und die drohenden Zeichen der Zeit. Aber man schenkt sich weiter Wein ein und versucht, bis in den letzten Augenblick zu geniessen, im Wissen darum, dass „die Welt brennt“. „Das Haus“ ist ein ganz und gar still erzählter Gesellschaftsroman, der mich deshalb schon „aus der Vergangenheit“ erzählt scheint, weil ausser dem Fernseher, an dem die Hausgemeinschaft allabendlich die Neuigkeiten entgegennimmt, nichts von dem ins Haus kommt, was die Gegenwart ausmacht; kein Mobilphone, kein Computer. Man liest Bücher. Man spricht miteinander. Man isst am langen Tisch, bei Kerzenlicht und leiser Musik. Es ist, als ob in diesem Buch betuliche Vergangenheit und bedrohliche Zukunft aufeinandertreffen.

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, ist eine der bedeutendsten
Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit zahlreichen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017).

Beitragsbild © Jonas Maron

Gaea Schoeters «Trophäe», Zsolnay

Wie weit wir uns als Menschen aus dem Gefüge der Natur entfernt haben, davon erzählt Gaea Schoeters beeindruckender Roman. Sie beschreibt jene Sorte Mensch, die sich als absoluten Mittelpunkt des Seins sieht und selbst den Kampf um Leben und Tod zu einem Spiel erklärt, dessen einziger Zweck die Befriedigung einer Herausforderung ist.

Klar geht es in diesem Roman um einen Mann, der in der Grosswildjagd jenen Nervenkitzel sucht, den ihm sein Leben als Immobilienhai nicht bieten kann. In dessen Leben Geld längst keine Rolle mehr spielt und dessen Sehnsucht nach Glück, Befriedigung und Zufriedenheit eine ganze Maschinerie in Bewegung setzt, die an Dekadenz kaum zu überbieten ist. Ein Mann, der seine Sicht der Dinge, seinen Blick auf die Welt längst so ausgerichtet hat, dass jede seiner Handlungen «zum Wohl der Gemeinschaft» beiträgt.

Klar verfolge ich als Leser mit angehaltenem Atem den ungleichen Kampf der letzten Giganten in den immer enger werdenden Weiten Afrikas. Aber Gaea Schoeters macht mit ihrem Roman viel mehr, auch wenn sie mit scheinbar profanen Mitteln der Spannung eine Geschichte erzählt, in der es um alles und nichts geht.

Hunter White stammt aus einer Jägerdynastie. Männlichkeit, Erfolg und Prestige werden mit grosskalibrigen Gewehren geschrieben. Sein Dasein misst sich an jenen Momenten, in denen er über das Leben jener gebietet, die in der Natur sonst kaum je die Gejagten sind. Die Big Five Afrikas sind das Mass aller Dinge; Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard. Zusammen mit seinem Freund und langjährigen Jagdpartner Van Heeren, der in Afrika lebt und alles, was an Equipment zu einer solchen Grosswildjagd organisiert, bricht Hunter auf, unterstützt von einheimischen Fährtensuchern und aller notwendigen technischen Ausrüstung, einen alten Nashornbullen zu jagen, selbstverständlich mit einer teuer erkauften Lizenz, die das Überleben aller anderen Tiere in der Gegend sichern soll.

„Für ihn ist Afrika ein grosses Naturreservat, von Gott geschaffen, um ihm Freude zu bereiten.“

Gaea Schoeters «Trophäe», Zsolnay, 2024, aus dem Niederländischen von Lisa Mensing, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-552-07388-3

Doch die Jagd endet in einem Desaster. Hunter schrammt nicht ein erstes Mal knapp am Tod vorbei, auch wenn das zum Nervenkitzel dieser teuren Freizeitbeschäftigung gehört. Man bringt ihn um diesen einen Schuss, die Big Five voll zu machen. Ein Versäumnis, das im ersten Moment durch nichts zu ersetzen ist, ein Coitus interruptus des Jagens. Um ihm, der für sein Vergnügen teuer bezahlte, einen ebenbürtigen Ersatz zu bieten, ein anderes Ziel in einer ganz anderen Dimension verspricht, flammt die Lust, die Herausforderung neu auf, auch wenn die lebende Zielscheibe diesmal eine ganz andere Dimension aufreisst. Von den einheimischen Jägern gefeiert, stellt man ihm !Nqate zur Seite, einen afrikanischen Jäger, der sich nicht nur in der Gegend auskennt, einen Einheimischen, einen Jäger in afrikanischer Tradition. Sie brechen auf in ein Abenteuer mit offenem Ausgang, einem letzen Gegenübertreten zweier ungleicher Welten, einem Showdown mit tödlichem Ausgang.

Es ist nicht einfach eine „wilde Geschichte“, ein afrikanisches Duell in einer aus westlicher Sicht fast lebensfeindlicher Umgebung. Gaea Schoeters stochert in einem Riss tektonischer Platten. Einem Riss der Weltansichten. Dem Riss zwischen westlicher Weltsicht, die die Natur längst zum Freizeitpark erklärt hat und Jagd zu einer Mischung aus Kosmetik und Regulierung, und der traditionellen afrikanischen Sicht, in der die Jagd ein Teil des Überlebens ist, eine Notwendigkeit, die rein gar nichts mit Vergnügen zu tun hat. Hunter wird zum Prototypen westlicher Dekadenz, einer Art Mensch, die sich die ganze Welt untertan macht, die sich Macht mit ihrem unermesslichen Reichtum erkaufen kann, die das Blut fliessen lassen muss, um sich selbst lebend zu spüren.

„Der Augenblick, in dem er, der Jäger, über Leben und Tod entscheidet. Danach verlangt er. Das treibt ihn an.“

Am stärksten in diesem Roman sind die Szenen und Dialoge zwischen den Jägern Hunter und !Nqate auf ihrem Tripp durch die Savanne. Jagd ist nicht gleich Jagd. In Zeiten, in denen wir unseren Fleischhunger mittels Massentierhaltung stillen, wird die Jagd sehr schnell zum Spiel mit maximalem Nervenkitzel. Royale Fotos von Prinzen auf Grosswildjagd generieren höchstens Kopfschütteln und Hemingways Posieren Peinlichkeit. „Trophäe“ trifft mitten ins Herz!

Gaea Schoeters, geboren 1976, ist eine flämische Autorin, Journalistin, Librettistin und Drehbuchautorin. 2012 hat sie den Großen Preis Jan Wauters für ihren kreativen Umgang mit Sprache gewonnen. Für «Trophäe» wurde sie mit dem Literaturpreis Sabam for Culture ausgezeichnet. 

Lisa Mensing, geboren 1989, übersetzt Prosa, Poesie und Theaterstücke aus dem Niederländischen und arbeitet am Institut für Niederländische Philologie der Universität Münster.

Beitragsbild © Sébastien Van Malleghem

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe

Dass bei Jens Steiners neuestem Roman ein Zitat von Julio Cortázar voransteht, scheint Vorsatz und Programm. Nicht nur dass die Literatur selbst, die Kunst in diesem Werk eine Rolle spielt. Jens Steiners Roman bricht aus einer helvetischen Erzähltradition aus, nicht nur wegen seiner Schauplätze, auch im Gestus des Erzählens. Dieser Roman ist in vielerlei Hinsicht phantastisch.

Ein Roman eines Suchenden, über Freundschaft und Liebe, ein Familienroman, ein Abenteuerroman, ein Künstlerroman. Ein Roman der vom ganz Kleinen ins Grosse auf- und ausbricht, aus dem Mief der Kleinbürgerlichkeit ins Provisorische, Abenteuerliche, hinaus an die Ränder der Welt. Jens Steiner begibt sich auch sprachlich auf eine Abenteuerreise, eine Reise, die ich als Leser beeindruckt und ergriffen verfolge.

Kristian Aavik, noch während des letzten Weltkriegs geboren, ist der einzige Sohn estnischer Flüchtlinge, die im baslerischen Kleinhünigen nach einer schmerzhaften Flucht ein neues Leben zu beginnen versuchen. Sein Vater als Übersetzer, die Mutter in der Hoffnung, dereinst von ihren selbstentworfenen Schnittmustern für Kleider leben zu können. Lebensträume, die sich nie verwirklichen, ein Leben, dass sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht, auch das des noch jungen Kristian, der am liebsten in seiner Abgeschlossenheit liest. Estnische Wurzeln, die ein Leben lang nach Bedeutung pochen, erst recht darum, weil ihr Herkunftsland hinter dem eisernen Vorhang abgeriegelt ist.

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6

Kristian ist aber nicht nur von der Geschichte seiner Herkunft gezeichnet, der Enge der kleinen Wohnung, der Schwermut seines Vaters. An seiner linken Hand zählt man sechs Finger. Eine Anomalie, bei der Grossvater bei der Geburt zur sofortigen Amputation rät, der Vater sich aber widersetzt, eine Sonderbarkeit, die ihn als Kind zum Aussenseiter macht. Einziger Freund in dieser Zeit wird der fahrige Mikkel Jacobsen. Im Schutz seiner Freundschaft, eine Freundschaft zwischen Faszination und Abstossung, eine Freundschaft, die Kristian sein ganzes Leben begleitet, auch in den Jahren, in denen sich die beiden aus den Augen verlieren, auch nach Zerwürfnissen, die sich tief in die Biographien eingraben.

Nach dem Versuch, in Basel eine Ausbildung zum Bildhauer zu absolvieren, einer Reise nach Paris, die eigentlich der Beginn eines Künstlerlebens hätte werden sollen, bricht Kristian endgültig aus und folgt der Einladung seines Freundes Mikkel nach Kopenhagen in seine Wohngemeinschaft. Kristian macht sich auf die Reise, mit der Absicht, dort dänische Literatur zu studieren. Aber in jener Wohnung, die zum Schmelztiegel dessen geworden ist, was sich später zur Freistadt Christiana auswachsen würde, verliert sich der noch junge Kristian, bis er über den Dächern Kopenhagens Selma Olsen kennen und lieben lernt, eine Vertriebene und Getriebene wie er selbst. Selma stammt aus Grönland, hatte jene Vergangenheit zurückgelassen, so wie er die seine. Sie heiraten, eine Liebe mit einem grossen Versprechen, bis es erneut Mikkel ist, der einen Keil in das schlägt, was für Kristian zu Heimat wurde, in eine Welt, die endlich festigte, was bisher nur Ahnung war.

Kristian flieht erneut, über Italien bis in das von einer Militärchunta regierte Argentinien, wo er mit einer fremden Identität ganz im Süden eine neue Existenz aufzubauen versucht, ein neues Leben, abgenabelt von seinen Geschichten. Er glaubt ein Zuhause gefunden zu haben und spürt doch, dass ihn nicht loslässt, was ihm schon ein ganzes Leben Unruhe in seine Seele bläst.

Jens Steiner schildert Kristians letzte Reise auf eine Insel. Kristians Geschichte in Rückblenden sind die Schritte zurück zu jenem Mann, der ihn in seinem Leben gleichermassen hinzog wie wegstiess. Nach Jahrzehnten der Trennung macht sich Kristian auf zu Mikkel, der ein ganz anderer geworden ist. Kristians letzte Flucht ist sein endgültiges Ankommen, eine Versöhnung mit seinem Freund gleichermassen wie mit seiner Geschichte. Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe. Was Jens Steiner mit seinem Roman gelingt, gelingt nur wenigen in der hiesigen Literaturszene. Nichts an diesem Buch riecht nach Kleinräumigkeit, Selbstreflexion und Biederkeit, selbst dann, wenn es diese beschreibt. Und doch evoziert Jens Steiners Buch genau jene Fragen, um die sich ein ganzes Leben unentwegt drehen kann: Worher kommen wir? Wo ist mein Platz? Wohin soll es gehen?

Bücher wie „Die Ränder der Welt“ machen glücklich.

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane «Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit», «Mein Leben als Hoffnungsträger» und «Ameisen unterm Brennglas«. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund.

«Das Gleichgewicht der Welt» Kurzgeschichte von Jens Steiner auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsbild © privat

Gerrit Kouwenaar «Fall, Bombe, fall», C. H. Beck

Holland im Mai 1940. Der siebzehnjährige Karel macht sich mit dem Zug auf in die Stadt, um für seinen Onkel einen Brief zu übergeben. Eine Reise, die in den Wirren der Zeit zu einer Katastrophe wird. „Fall, Bombe, fall“ ist eine Novelle, die nichts an ihrer Brisanz verloren hat.

Vor der Lektüre dieses schmalen Buches war mir Gerrit Kouwenaar kein Begriff. Der in den Niederlanden zu den meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts zählende Schriftsteller schrieb wenige Jahre nach Veröffentlichung dieser Novelle fast nur noch Lyrik, versuchte sich zuvor aber in allen Gattungen, nicht zuletzt auch auf experimentellen Wegen. „Fall, Bombe, fall“ erzählt die Kriegsgeschehnisse im Frühsommer 1940. Gerrit Kouwenaar war damals selber siebzehn. Der Krieg wütete vor den Grenzen. Viele im Land waren davon überzeugt, dass das Schiessen mit dem Eingreifen Englands ein schnelles Ende nehmen, der Krieg ein Intermezzo sein würde. Statt dessen überrannte die deutsche Kriegsmaschinerie die Niederlande und ihre Nachbarstaaten in wenigen Tagen. Effektive Gegenwehr gab es kaum. Es passierte, womit kaum jemand gerechnet hatte. Hunderttausende Juden waren der faschistischen Willkür ausgesetzt. Die schiere Überlegenheit der deutschen Wehrmacht. Wer Einsicht und Mittel hatte, floh.

„Es ist Krieg und der Vater geht schlafen.“

Karel ist siebzehn. Alt genug, um in den Dienst eingezogen zu werden. Wonach er sich auch sehnt. Endlich geschieht etwas! Endlich reisst die Langeweile auf, die Monotonie dessen, was er in der Welt der Erwachsenen sieht. Ein Krieg schlimm? Er fände es herrlich. Aber gleichzeitig spürt Karel die drohende Gefahr, das nichts so bleiben würde, wie es war. Zwei Seelen in der Brust des jungen Mannes, der nicht mehr will, als aus dem Trott des Vorbestimmten herauszutreten.

Einzige Ausnahme in der wattierten Lethargie seine Familie ist sein Onkel, der ihm bei seinem Besuch nicht nur eine Zigarre anbietet und ihm einen Geldschein in die Hand drückt, sondern Karel bittet, einen delikaten Brief in die Stadt zu bringen.
Karel macht sich auf den Weg durch eine Gegenwart, die zu kippen droht. Da die Sehnsucht, es möge endlich geschehen, was die Zeit aus dem Schlaf reisst. Dort die Angst, dass sich das Töten und Sterben mit seinem Leben vermengt.

Gerrit Kouwenaar «Fall, Bombe, fall», C. H. Beck, 2024, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, 124 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-81390-0

In der Stadt klingelt er an einer Wohnung, bei einer Frau Mexocos. Ein Mädchen, so alt wie er, öffnet ihm und heisst ihn einzutreten. Frau Mexocos ist Künstlerin, die Wohnung so ganz anders als sein Zuhause. Man schenkt ihm Sherry ein und beginnt zu plaudern, auch wenn der Krieg hier bereits seine Spuren hinterlassen hat. Man beabsichtigt, mit dem Schiff nach England überzusetzen. Mutter und Tochter sind Jüdinnen. Was Karel in den wenigen Stunden im Haus der beiden betörenden Frauen erlebt, bringt ihn nicht weniger aus dem Gleichgewicht wie der drohende Krieg, nicht zuletzt die Frage der jungen Ria, ob er mit ihr wegfahre.

Karel fährt nach Hause , hin- und hergerissen, hält es nicht mehr aus in seinem nestwarmen Heim und fährt noch einmal zurück, weil dort in der zaghaften Umarmung jenes Mädchens etwas lag, was ihn fesselt. Aber aus der erneuten Fahrt in jene Stadt, längst donnern deutsche Soldaten durch die Strassen, wird eine Fahrt ins Ungewisse.

«Er hatte sich Krieg gewünscht, sein Wunsch war erhört worden, und die grosse Wende in seinem Leben stand vor der Tür.»

„Fall, Bombe, fall“ ist von betörender Klarheit. Die Novelle erzählt von menschlicher Naivität, von der Unfähigkeit, der Gefahr ins Auge zu sehen. So wie man beim Einmarsch deutscher Truppen damals glaubte, es würde bei einem kurzen Scharmützel bleiben, eine territoriale Verunsicherung, so glaubten viele auch beim kriegerischen Einmarsch der Russen in der Ukraine an ein kurzes Desaster, der Druck des Westens würde Schlimmes verhindern. „Fall, Bombe, fall“ beschreibt den Krieg in der Seele, im Kopf und im Herz eines Siebzehnjährigen, die Wirkung von unkontrollierbaren Hormonen, den Sturm, den Halbwahrheiten anrichten. Die Novelle beschreibt den Krieg zwischen jugendlicher Leidenschaft und kalter Realität, der Sehnsucht, am Weltgeschehen teilhaben zu wollen und der Tatsache von ihr überrollt zu werden.

Dass „Fall, Bombe, fall“ 73 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer Gültigkeit besitzt und sprachlich nichts von seiner Prägnanz einbüsst, macht die Novelle zu einem literarischen Kleinod!

Gerrit Kouwenaar (1923 – 2014) ist einer der bekanntesten und meistgelesenen niederländischen Dichter. Er schrieb zunächst einige Prosa-Werke, verfasste dann hauptsächlich Lyrik und übersetzte u.a. Werke von Brecht, Dürrenmatt, Sartre und Tennessee Williams.

Gregor Seferens, geboren 1964, lebt und arbeitet als Übersetzer, Lektor, Autor und Gelegenheitsschauspieler in Bonn. Seine Übersetzungen wurden wiederholt mit Preisen ausgezeichnet.

© Fotocollectie Anefo

Marie-Hélène Lafon «Die Quellen», Atlantis

Marie-Hélène Lafon ist Meisterin darin, eine Geschichte auf den Punkt zu bringen, ohne diesen vor mir auszubreiten. Die Autorin trifft den Punkt und es breiten sich Wellen aus, Wellen aus feinen Beobachtungen, Blicken nach innen und solchen nach aussen. Und darüber hinaus ist „Die Quellen“ ein unspektakulärer, literarischer Gang an den Ursprung.

Eine junge Frau, irgendwo in Frankreich, verheiratet, Mutter dreier Kinder, seit sieben Jahren mit ihrem Mann auf dem gemeinsamen Hof, weit ab, auf 1000 m über Meer. Ihr Leben ist eingepfercht und festgefahren. Sie spürt es nicht nur an den blauen Flecken, Spuren ihres Mannes, dass sie verloren ist, wenn sie bleibt. Aber der Hof gehört zur Hälfte ihr. Und es hätte ein gutes Leben werden sollen, auch wenn ihre Beziehung schon bald in beklemmende Schieflage kam. Das schmerzhafteste ist die Tatsache, dass sie sich selbst nicht mehr genügt, dass sie sich selbst fremd geworden ist. Warum akzeptiert sie, was nur noch Schmerzen verursacht? Die Frau, die sie im Spiegel sieht, ist ihr fremd geworden, aufgeschwemmt, nicht nur in ihrer Figur aus der Form geraten.

«Ihr Leben ist ein Desaster, sie weiss es, sie steckt in der Klemme, festgenagelt mit den drei Kindern…»

Drei Kinder, zwei Mädchen und Gilles, der Jüngste. Nicht nur, dass sie sich vor ihrem Mann fürchtet. Sie fürchtet sich auch für ihre Kinder. Da sind auch die gelegentlichen sonntäglichen Ausflüge zu ihren Eltern keine Hilfe mehr, schon lange nicht mehr. Sie machen ihr nur bewusst, was sie verloren hat. So weit ab der Hof gelegen ist, so weit ab fühlt sie sich vom Puls der Welt, von alledem, was sie mit sich herumgetragen hatte. Ein Hof am Ende der Welt, ein Leben am Ende der Welt. Und über allem die Angst, dass man im Dorf etwas davon mitbekommt, dass die Fassade zu bröckeln beginnt, dass es der Anfang vom Ende sein könnte.

Marie-Hélène Lafon «Die Quellen», Atlantis, 2024, aus dem Französischen von Andrea Spingler, 128 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-7152-5035-9

Sie kennt ihren Mann seit Schulzeit. Bevor sie heirateten, war er mehr als zwei Jahre Soldat weit weg, mehr als zwei Jahre, während derer sie sich schrieben und sie erst viel später wegen versteckter Fotos erfahren mussste, dass es dort ein Leben gab, dass ihr Mann verborgen hielt. Das Meer, ein Glück, eine Frau. Als er zurückkam, heirateten sie und kauften mit ihrem zusammengelegten Ersparten diesen Hof über dem Dorf. Was Glück hätte werden sollen, Erfüllung und Zuhause, ist zu einer eisernen Kette geworden, gleich mehrfach verankert; an ein Versprechen, an Kinder und den Hof.

«Er hat recht, sie stinkt.»

Nicht nur, dass er sie schlägt. Erniedrigungen, Beschimpfungen und seelische Pein sind zum permanenten Alp geworden, ihr Körper zu einer Wüste. Die verbalen Attacken lähmen sie. Kein Schritt in Haus und Hof ohne die immerwährende Angst, einen schmerzhaften Ausbruch zu riskieren.

Marie-Hélène Lafon beschreibt ein Leben, das bereits zu Ende ist, das sich mit diesem Ende arrangieren muss, um nicht alles andere mit sich in den Abgrund, in ein schwarzes Loch mitzureissen. Marie-Hélène Lafon beschreibt einen Überlebenskampf, eine Frau, die sich an immer Kleinerem festhält, um die Schwere des Grossen zu ertragen. Bis es ihr dann doch gelingt. Bis sie dann doch ausbricht.

«Sie denkt oft, dass sie, als sie ihn heiratete, in eine Art Winter eingetreten ist, der nicht enden wird.»

Im zweiten Teil schlüpft Marie-Hélène Lafon in den Mann, der auf dem Hof alleine zurückgeblieben ist, verbittert und trotzig. Marie-Hélène Lafon beschreibt den Typus Mensch, der nie wirklich zur Reflexion fähig ist, der die Welt nach seiner Fasson zurechtrückt, der seine Aufgabe, den Hof trotz gerichtlichem Beschluss und Unterhaltszahlungen in seinem Besitz halten will, zum höchsten Gut erklärt, zur letzten Bastion, zur allumfassenden Rechtfertigung.

Im letzten, ganz kurzen Kapitel, wird mir als Leser bewusst, wie sehr Marie-Hélène Lafon mit dieser Geschichte verzahnt ist. Eine Geschichte über einen langen Schmerz. „Die Quellen“ ist meisterhaft erzählt, so sehr verdichtet, dass dieser Sud in seiner Intensität seinen Schmerz überträgt. Grossartig!

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die vielfach übersetzt wurden, spielen im Cantal in der Auvergne, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den markantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la Nouvelle, 2020 den Prix Renaudot. Auf Deutsch liegen «Die Annonce», «Geschichte des Sohnes» und «Joseph» vor.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © Olivier Roller

Anne Weber «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber, heuer mit dem Solothurner Literaturpreis 2024 für ihr Lebenswerk geehrt, lebt seit vier Jahrzehnten in Paris, einem Sehnsuchtsort vieler, einer Stadt, die wie kaum eine andere mit Klischees verhängt ist. „Bannmeilen“ ist der beeindruckende Versuch der Schriftstellerin, jenen Teil ihrer Stadt zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb.

Anne Weber lebt und schreibt dort, wo andere Ferien machen – in der „Stadt der Liebe“. Eine ebenso irrwitzige Bezeichnung wie Ausblendung immer krasser werdender Gegensätze. Eine Blendung, der auch ich verfalle, einer Blendung, die zeigt, wie Wahrnehmung mit Wissen, mit Bereitschaft zur Aueinandersetzung verzahnt ist. Anne Weber liebt „ihre“ Stadt – und vielleicht ist genau diese Liebe der Ursprung für ein Abenteuer, dass der Schriftstellerin ihren Lebensmittelpunkt ganz neu erschliessen sollte.

Im Sommer 2024 finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Wie immer bei solchen Mega-Sportevents will sich der Austragungsort von der besten Seite zeigen. Man baut und pflanzt, man gräbt und schleift. Die Erzählerin im Buch bittet ihren Freund Thierry, der einen Film über die Auswirkungen der Olympischen Spiele drehen will, ihn auf seinen Recherchestreifzügen begleiten zu dürfen. Thierry will wissen, wie sich Paris verändert, sein Paris, auch wenn er im Gegensatz zur Erzählerin, einen ganz anderen Bezug zur Stadt hat. Thierry ist algerischer Abstammung, zwar in Paris geboren und aufgewachsen, aber ganz anders sozialisiert wie sie, sie, die einst aus Deutschland in die Stadt an der Seine zog und dort wohnt, wo Einheimische und Touristen in Strassencafés Kaffee trinken und an noblen Schaufenstern vorbeispazieren. Thierry selbst ist in den Banlieues aufgewachsen, dort, wo sich normalerweise kein Tourist hinverirrt, in jenen Teil der Stadt, ein Vielfaches grösser als das Postkarten-Paris, in dem Armut, Dreck und soziale Ungerechtigkeit grassiert.

Anne Weber «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen», Mattes & Seitz, 2024, 301 Seiten, CHF ca. 32.50, ISBN 978-3-7518-0955-9

Die beiden machen sich zu Fuss auf einen langen Weg durch jenen Teil der Stadt, der von Schnellstrassen und Autobahnen durchzogen, von schmutzigem Beton zugepappt, von Müllhalden gezeichnet und von der nach Idylle lechzenden Gesellschaft vergessen vor sich hindämmert. Dort gibt es kein Flanieren, schon gar keine einladende Bank in einem lauschigen Park, keine Läden, keine Cafés. Dafür Wohnsilos für Abertausende, Bauruinen, kaputte Strassen, Obdachlose, Zugefixte, Sans-Papiers, die unter Brücken hausen und schwarz gekeidete Chouffeurs, die allerorts auf Kundschaft lauern. Hinein in die Gegenden auf der anderen Seite des Boulevard périphérique, einer Ringautobahn rund um den Vorzeigeteil der Stadt Paris. 600 Kilometer auf unzähligen Streifzügen, für die beide den Blick des jeweils anderen brauchen. Sie beide spiegeln sich, in dem was sie mit ihrem Blick lesen, was hängen bleibt und zu Gespächen während ihrer Wanderungen führt. Paris ist viel mehr als der Eiffelturm, der Louvre und die Notre Dame. Paris pumpt sich dort auf, wo sich im Sommer der kollektive Blick bündelt, ungeachtet dessen, dass es für alle jene, die dort wohnen, oder auch von dort verdrängt werden, damit nicht besser wird.

Anne Weber spinnt in all die Streifzüge Geschichten. Thierry und die Erzählerin treffen sich immer wieder in einem der seltenen Cafés in den Banlieues, im Le Montjoie von Rachid, der mit jedem Besuch etwas mehr Vertrauen in die beiden fasst und zaghaft zu erzählen beginnt. Mitgenommene Geschichten wie jene des algerischen Marathonläufers Boughera El Ouafi, der bei den Olympischen Spielen 1928 für Frankreich zwar eine Goldmedaille erlief, der aber nach Profiläufen in den USA seinen Amateurstatus verlor, nicht mehr an Wettkämpfen zugelassen wurde, nach geschäftlichem Unglück immer mehr verarmte und schlussendlich durch eine Pistolenkugel sein Leben in der Bedeutungslosigkeit verlor. Ein Mann, der für einen kurzen Moment ruhmreicher Franzose sein durfte, begraben in einem vermüllten Pariser Friedhof.

Anne Webers „Roman in Streifzügen“ ist ein Bekenntnis zu den Schattenseiten, eine Vergewisserung des Andersartigen, eine Annäherung an eine fremde Welt. Es gibt diese Ausblendungen urbaner Tatsachen überall. Zu hoffen ist, dass das Café Le Montjoie von Rachid nicht zu einem Hotspot alternativer Reiserouten durch das unentdeckte Paris wird. Zu hoffen ist, dass Paris nach den Olympischen Spielen gewonnen hat. Nicht das Paris der Boulevards, sondern das Paris der Banlieues. Jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Die fünfköpfige Jury des Solothurner Literaturpreises ehrt die deutsche Autorin Anne Weber für ihr Gesamtwerk. Der Preis ist mit 15’000 CHF dotiert und wird zum 31. Mal verliehen.
In der Begründung der Jury zum Solothurner Literaturpreis heisst es: «Ob historischer Stoff, politisches Verhängnis oder gescheiterte Liebesgeschichte: Anne Weber stellt sich mit jedem Buch einer neuen Herausforderung. Kühn setzt sie ihre Position als Autorin aufs Spiel und lotet die Beziehung von Fiktion und Leben neu aus, wobei sie darauf bedacht ist, ihrem Lesepublikum eine Rolle der aktiven Teilnahme zu gewähren. Anne Weber wird für ein schriftstellerisches Werk von formaler und thematischer Vielseitigkeit und Experimentierfreude ausgezeichnet, das vom Essay über den Roman bis zum Epos reicht.»

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Anne Weber an den Solothurner Literaturtagen 2024

Rezension von «Kirio» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bruno Boudjelal

Barbara Rieger «Eskalationsstufen», Kremayr & Scheriau

Irgendwann scheint es kein Zurück mehr zu geben. Julia verliebt sich in einen Künstler, einen Mann, der sie vielfach fasziniert und in eine Welt mitnimmt, die Julia stets vor Augen hatte, sieht sie sich doch selbst als Künstlerin, will malen, zeichnen, sich ganz ihren Leidenschaften widmen. Aber aus dem Weg ins Glück wird ein Sog in eine Welt, die Julia mehr und mehr die Kehle schnürt.

Julia, eingeklemmt in Strukturen, die ihr die Hände ebenso wie den Kopf binden, sehnt sich nach Befreiung. Die Beziehung mit David, der nie da ist und mit dem alles in unverrückbaren Bahnen eingeschrieben ist, ihre Schwester, die auf dem elterlichen Hof lebt und arbeitet und wieder schwanger ist, der Grossvater, der sie das Sehen und Zeichnen lehrte, der der einzige war, der uneingeschränkt an ihre Fähigkeiten glaubte und immer mehr einsinkt in seine gesundheitlichen Unzulänglichkeiten. Ein Netz, in dem sie sich gefangen sieht.

Sie lernt Joe kennen, einen charismatischen Künstler, einen, der sie respektiert, der an ihre Fähigkeiten als Künstlerin glaubt, an dessen Seite sie hofft, jenen Raum zu bekommen, der ihr zusteht. Sie verliebt sich. Obwohl sie vom ersten Moment weg spürt, dass ein dunkler Schleier über dem Mann hängt. Joe scheint sie ganz zu verstehen. Und als er sie einlädt zu ihm zu ziehen, nachdem die Beziehung zu David eskalierte, scheint sich eine Tür zu öffnen, ein Weg, auch wenn sie die einzige ist, die ganz an diesen glaubt. Auch wenn Freundinnen und Cousine mehr als kritisch auf das reagieren, was seinen Lauf nimmt.

Joe macht ihr seine Türe auf und schliesst hinter ihr zu. Joe malt grossformatige Bilder toter Frauen, besessen, wie in einem grossen Rausch, eingenebelt in seinem eigenen Trauma. Aber statt dass Julia zu einer Mit- oder Gegenspielerin wird, soll sie seine Muse werden, sein Modell, Projektionsfläche seiner Leidenschaften – und seiner willkürlichen Ausbrüche. Immer mehr taucht Julia in Zwänge und Fesseln, immer noch in der Hoffnung, es würde sich wandeln, er würde ihr den versprochenen Platz zugestehen, sie endlich tun lassen, was sie sich in seinem Schatten erhoffte.

Barbara Rieger «Eskalationsstufen», Kremayr & Scheriau, 2024, 229 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-218-01422-9

Als der Gesundheitszustand ihres Grossvaters immer dramatischer wird und seine Verweigerung dazu führt, dass es Julia versäumt, rechtzeitig ans Sterbebett ihres Grossvaters zu fahren, als die Pandemie um sich greift und Joe in einen permanent panischen Zustand versetzt, wird die Schlinge um ihren Hals immer fester. Joe zwingt Julia zu einer Flucht in eine abgelegene Jagdhütte, weit weg von den Auswüchsen kollektiver Angst und Paranoia. Es bahnt sie jene Katastrophe an, die Julia über Wochen und Monate zu verleugnen versuchte.

Barbara Riegers Roman ist beklemmend. Ein Protokoll dessen, was man „toxische Beziehung“ nennt. Man möchte während der Lektüre zwischen die Seiten schreien, weil es beim Lesen so geht wie all jenen, die Julia immer wieder zu warnen versuchen. Mit jeder Seite, die man liest, bestätigen sich Ahnungen, wird das Drohende immer unausweichlicher. Barbara Rieger zeichnet das Psychogramm einer Frau, die in ihrer Hoffnung und Sehnsucht ausblendet und sich immer tiefer in einen Tunnel hineinbegibt, aus dem kein Fluchtweg, nicht einmal eine Umkehr offensteht. Warum geht man offenen Auges in die Katastrophe? Wie schafft man es, alle Zeichen und Warnungen in den Wind zu schlagen? Wie kann man sich derart blenden lassen? Scheinbare Zeichen des Vertrauens werden zu Warnungen, nur ja keine Grenze zu überschreiten, Gebote nicht zu missachten.

„Eskalationsstufen“ ist ein klaustrophobischer Tripp in eine Hölle aus Obsession und Leidenschaft. Stark geschrieben!

Interview

Eigentlich eine Liebesgeschichte. Für Julia zuerst die Rettung aus einer Beziehung, die sich totgelaufen hatte. Warum kann uns die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit derart in einen Tunnel zwingen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Frauenhäuser sind voll mit Frauen, die sich einst verliebten, alle ihre Hoffnung in eine Beziehung, alles auf eine Karte setzten. Da war überall einmal Liebe, oder zumindest das, was man als solche verstand. Warum schafft es rationales Denken nicht? Warum können wir uns dem Sog falscher Hoffnungen nicht entziehen?

Eigentlich eine Liebesgeschichte, aber was ist das für eine Liebe?
Unsere Vorstellungen von Liebe wurden durch patriarchales Denken geprägt. Auch wenn wir nun vielleicht anders denken, fühlen wir vielleicht noch nicht anders. Das Narrativ beispielsweise des – in etwas Monströses – verwandelten Prinzen, der durch die Liebe einer besonderen Frau gerettet werden kann, ist, denke ich, noch immer vorherrschend.
Überspitzt formuliert: Jede will diese eine besondere Frau sein. Keine will alleine bleiben. Jede will den Prinzen. Den Prinzen zu bekommen ist doch das Größte im Leben einer Frau! 
Für mich steht hinter dem Roman eigentlich die Frage, ab wann Liebe, so wie wir sie kennen und denken, gewaltvoll wird und ob die Gewalt dieser Liebe nicht sogar innewohnt.

Julia malt Bäume, Joe malt tote Frauen. Grösser könnte der Gegensatz nicht sein. Nicht dass diese Tatsache allein schon Warnung genug sein könnte, hat sich die bildende Kunst ja längst von verklärtem Idyll befreit. Aber Julia verweigert sich den Zeichen konstant. Nicht nur in Beziehungen verweigern wir uns den Zeichen. Die Tatsache, dass sich Menschen offenen Auges ins Verderben, ins totale Abseits manövrieren können, sehen wir bis in die Politik. Dort nützt auch besonnenes Argumentieren nicht mehr. Müsste man nicht eigentlich resignieren?

Das Gefühl der Überforderung und Machtlosigkeit angesichts national- und weltpolitischer, gesellschaftlicher, ökologischer und sonstiger Zustände kommt auch bei mir immer wieder auf. Man könnte resignieren, ja. Oder eine Pause einlegen, sich abschotten, wenn man die Möglichkeit dazu hat und durchatmen. Oder wie wäre es mit einer Revolution?

Da ist das Ideal einer Liebe, einer Beziehung. Da ist die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach einem Nest, in dem man sich sicher fühlt, in dem man sich ganz so zeigen kann, wie man ist. Dort all die menschlichen Unzulänglichkeiten, das Versagen, die Eigendynamik einer sich anbahnenden Katastrophe. Ihr Roman ist schonungslos ehrlich. Einen Roman zu schreiben kostet Kraft. Aber ein solcher doch noch viel mehr!

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Stefanie Jaksch, der damaligen Verlagsleiterin von Kremayr und Scheriau. Diesen Roman hätte ich schon fertig im Kopf, ich würde ihn runterschreiben, sagte ich zu ihr. So war es – Überraschung! – nicht. Jeder Roman ist Arbeit, aber dieser war besonders hart. Die einfache Liebesgeschichte wurde komplexer als gedacht und meine Fiktion wurde ständig von der Realität überholt. Während der Arbeit an diesem Roman wurden in Österreich über hundert Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet. Es machte mir keinen Spaß, mich in die Situation einer Frau hineinzuversetzen, die sich in einen narzisstischen Psychopathen verliebt. Manchmal dachte ich auch, dass ich im Hinblick auf meine Gesundheit diesen Roman aufgeben sollte. Als Autorin wollte ich meine Protagonistin Julia da hineingehen lassen, aber als Mensch wollte ich sie retten.

Kann man während des Schreibens eines solchen Romans diesen so einfach zwischendurch mal weglegen? Oder verfolgte er dich nicht bis in deine Träume, dein Unterbewusstsein?

Ja, es ist möglich und auch wichtig für die psychische Gesundheit, denke ich. Das Hineingehen und wieder Herauskommen aus der Fiktion kostet aber viel Kraft. Beim Schreiben dieses Romans half es mir, aus meinem Zuhause auszusiedeln, um die Gefühlszustände, in die ich mich versetzen musste, möglichst weit weg von meiner Familie zu bringen. Wenn ich alleine bin und keine großen Verpflichtungen habe, kann ich zulassen, dass temporär alles verschwimmt und ich sehr tief eintauche. Und ich habe in den letzten Jahren nicht gut geschlafen, nein.  

Eine Geschichte hat Joe dorthin getrieben. Julia genauso. Wie weit sind wir nicht einfach „das Opfer“ unserer eigenen Geschichte, das Opfer vieler Geschichten, die sich unserer Macht vollständig entziehen? Ist es nicht Augenwischerei, dass der Mensch sich doch eigentlich einfach in die Hände spucken müsste, um sein Leben in die Hände zu nehmen? Ist es nicht ernüchternde Realität, dass das Leben mit Gerechtigkeit nichts zu tun hat?

Gerechtigkeit ist ein Konstrukt. Persönlich glaube ich aber nicht daran, dass alles vorherbestimmt ist, sondern dass wir sehr wohl Entscheidungen treffen und damit unser Leben beeinflussen können. Im Roman zwinge ich Julia, sich in Joe zu verlieben, aber in der Realität zwingt sie niemand! In der Realität kann sie sich entscheiden und ich hoffe, dass Julia sich gar nicht erst auf Joe einlässt (die Namen sind austauschbar). Ob Joe es schaffen könnte, sich zu verändern, weiß ich nicht. 

Lesung im Literaturhaus Liechtenstein in Schaan

Barbara Rieger, geboren 1982 in Graz, lebt und arbeitet als Autorin und Schreibpädagogin in Wien und im Almtal (OÖ). Gemeinsam mit Alain Barbero Herausgeberin des Foto- & Literaturblogs „cafe.entropy.at“ sowie mehrerer Anthologien. Zuletzt erschien der Roman „Friss oder stirb“ (Kremayr & Scheriau 2020). Für einen Auszug aus „Eskalationsstufen“ erhielt sie den Marianne von Willemer-Frauenliteraturpreis der Stadt Linz.

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Beitragsbild © Alain Barbero