Claudia Schreiber „Die Brautmutter“

​Sie führte die Friseurin zu dem Mädchen ins Badezimmer, schminken und den Schleier am Hinterkopf befestigen, für zehn Euro schwarz, da konnte man nicht meckern. Das Kleid hing auf einem Bügel, bodenlange Spitze aus Polyester, dazu Schmuck, Schuhe, Täschchen, Blumenstrauß, alles war bereit. Make-up bitte dezent, bestimmte sie. Allenfalls getönte Tagescreme mit etwas Puder, Gloss auf den Lippen, die Augen betont. Mehr nicht. Eine gesunde Röte stand einer Braut eh im Gesicht. Sie verließ den Raum. In einer Stunde würde ihre einzige Tochter verheiratet sein.

Es war ein warmer Maitag und sie schwitzte stark, wegen des Wetters, der bevorstehenden Ereignisse oder der Wechseljahre, sie wusste es nicht: Ihre Haare waren regelrecht nass, ihre Frisur zerzaust. Ihre Augen hatten dunkle Ränder. Seit Tagen schlief sie erst nach Mitternacht ein und wachte morgens viel zu früh auf, immer in Gedanken an die Dinge, die noch zu erledigen waren.
Draußen auf der Straße sammelten sich die ersten Gäste, Autos formierten sich zu einem Konvoi, angeführt vom Wagen für das Brautpaar mit einem Blumenbouquet auf der Motorhaube. Die anderen waren an den Außenspiegeln oder Antennen mit weißen Schleifen geschmückt, wie das so üblich war.
Sie atmete schwer, weil der neue Body-Shaper ihren Leib eine Konfektionsgröße kleiner quetschte. Sie musste es aushalten, öffnete das Flurfenster, schnappte erschöpft nach Luft.
Vor zwanzig Jahren waren sie von hier aus in dieselbe Kirche gefahren, auch damals Schleifen, Blumenschmuck, Konvoi. Sie seufzte. Wo war bloß die Zeit geblieben? Da war die Hochzeitsreise nach Tirol gewesen. Gut. Dann die Einschulung des Mädchens. Süß. Drei Jahre später der Lotteriegewinn, das Auto. Krass. Und sonst, so richtig selige Stunden? Sie warf einen Blick in Richtung des Mannes, dem sie ihr Jawort gegeben hatte. Er stand mit zusammengekniffenen Augen hastig rauchend bei den Blumenmädchen, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, als wollte er sie jeden Moment wegwerfen. Er zog an der Filterlosen, bis die Glut der Haut gefährlich nah kam. Schaute abwesend, als ginge ihn das alles nichts an. Griff zwischen seine Beine, er fühlte sich offenbar unbeobachtet, trotz der vielen Leute.
Sie schüttelte den Kopf. Für ihn hatte sie sich seinerzeit die Haare hochstecken lassen, in demselben Bad, Schleier am Hinterkopf. Sie durfte gar nicht dran denken!
Dieselben Rituale und Lieder, derselbe Vers aus dem 1. Korinther: „Die Liebe ist“ und so weiter, sogar derselbe Pfarrer. Aufmarsch in zwei Reihen, auch heute würden alle auf Blüten treten, von Kindern gestreut. Willst du, danke, willst du, bitte, bis dass der Tod euch scheidet. Für andere mochte das eine Floskel sein, wenn’s nicht lief, lief’s halt nicht, fertig, aus. Doch bei ihnen daheim nahm man noch ernst, was man in Kirchen versprach. Zum Schluss würde heute das Halleluja gesungen, in der Shrek-Version, Disneyfilm, vom Kinderchor. Hatte sich Mr. Pickel gewünscht. War das einzig feierliche Lied, das er kannte, ansonsten nur Gedröhne.

Ihrer stand damals auf Wolfgang Petry, der mit den Bändern am Handgelenk. Hölle! Hölle! Hölle! Im Bett benahm er sich, als müsste er den letzten Bus erreichen. Sie hätte gern einfach nur dagelegen, damit er sie streichelte. Fünf Minuten hatte er eben so ihre Haut gerieben, dann wurde es ihm zu langweilig. Nach der Geburt der Tochter lief es noch schlechter, die Entbindung war so fürchterlich gewesen, dass sie nie mehr schwanger werden wollte, aber Lust hatte sie doch. Hatte ihm Kotelett mit Bratkartoffeln gebraten und endlich schüchtern gefragt, ob er sie mal untenrum streicheln könnte, sie ist beinahe gestorben vor Scham, aber sie wünschte es sich so, mit der Zunge, wenn’s ging.
Er hatte sie groß angesehen: „Jetzt?“
Mehr links oder weiter unten bitte. Sie fürchtete, dass er es nie wieder versuchen würde. Er war nicht zärtlich genug. Mach es wie ein Schmetterling. Ein Schmetterling, der fliegt. Er mühte sich minutenlang, sie war ihm dankbar, so könnte es klappen! Ein Wohlgefühl schlich sich an, bald, nur ein ganz klein wenig länger. Sie wünschte sich, dass er es mochte, dass es ihm nichts ausmachte, es ihr zuliebe zu tun. Ein letzter Schmetterlingsschlag, dann! Da tauchte sein Kopf zwischen ihren Beinen auf, und er fragte kühl: „Wie lang dauert’s denn noch?“

Sie war in derselben Sekunde aufgesprungen, aus dem Schlafzimmer gerannt, hatte die Tür geknallt und laut geschrien, durchs ganze Haus. Das Kind war wach geworden. Sie hatte es in den Arm genommen, getröstet, seinen süßen Geruch eingeatmet und auf seinen Kopf geweint.
Seitdem war es vorbei mit der Liebe. Er fand eine andere, irgendwo. Hauptsache, die Leute bekamen es nicht mit. Das war Bedingung. Warum hatte eine Frau was mit dem? Ihr Herz war seitdem schwer. Im Hals ein Gefühl, als hätte sie mehrere Knödel verschluckt. Seit Jahren kein Mensch mehr in ihren Armen, bloß tausend Wünsche, die nie über ihre Lippen kamen.

Sie hat alles allein vorbereitet: Torte, Deko, DJ und Spiele. Auf dem Rasen vor dem Festsaal stand der Holzbock bereit, mit einem Stamm, den das Brautpaar gemeinsam zersägen musste. Die Freiwillige Feuerwehr stand Spalier, danach würden sie zum Dank einen Schnaps bekommen, bloß nicht die Flasche vergessen.
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Ihre Kopfhaut war inzwischen wieder trocken, sie drückte ihre Frisur mit beiden Händen in Form. Blieb am offenen Fenster stehen. Sie mochte frische Luft, und dennoch hätte sie jetzt gern eine geraucht. Hatte sie längst aufgegeben, der Gesundheit zuliebe, aber die Gier danach war geblieben.
Als ihre Schwiegereltern goldene Hochzeit feierten und die Gäste endlich aus dem Haus waren, saß sie mit der alten Dame im Wohnzimmer auf eine letzte Zigarette. Da sagte die, den goldenen Brautkranz noch im Haar: „Wenn es nach mir gegangen wär, ich hätte ihn schon vor vierzig Jahren verlassen.“
Was für ein Satz: vor vierzig Jahren! Warum war sie um Himmels Willen geblieben? Die Kinder, das Geld. Was würden die Leute sagen. Alle faselten dasselbe.

Ihr war das Gerede nicht wichtig, sie hätte ihn so gern an ihrer Seite gewusst. Als das damals anfing mit seinen Geschichten, was hatte er da für einen Unsinn zusammengelogen! Er müsse ein Klassentreffen organisieren in einer Vorbereitungsgruppe, mittwochabends. Dann später, man plane nun gar gemeinsam eine Reise nach Wien. Die Schulkameraden wussten von nichts, sie hatte sich erkundigt. Ihrem Mann schließlich die Pistole auf die Brust gesetzt, da rückte er damit raus. Es gäbe da eine Arbeitskollegin. Mit ihr hat er gemacht, was sie selbst zu gern erlebt hätte: einen Ausflug an die Nordsee, eine Wanderung am Strand. Wie er es wohl mit ihr tat, auch so hastig? Ihre Schwiegermutter winkte ab: „Vergiss die Männer. Genieß den ungestörten Schlaf.“

Es wurde Zeit. Sie klopfte an die Badezimmertür.
„Wir müssen los.“
„Drei Minuten noch.“
„Was braucht ihr denn so lange?“
Sie lugte hinein. Das Kind war grell geschminkt, die Haare hochgetrimmt wie eine Puppe. Sie war schockiert: „Du siehst aus wie eine Nutte.“
Die Braut verscheuchte ihre Mutter mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Das ist meine Sache, raus.“

Sie stand im Flur, zitterte. Sie verlor ihre Tochter an allen Fronten. Wollte weinen, konnte nicht. Atmete flach. Nuttig war sie selbst gewesen. Damals, sie war im dritten Lehrjahr, hatte der Chef ihr angeboten, gutes Geld zu machen nach Feierabend. Ein lieber Mann, graue kurze Haare, schlank und hochgewachsen. Hatte sie oft angelächelt, ihre Schulter leicht berührt und auf Zuneigung gehofft. Zuletzt hatte er bitterlich in ihren Nacken geschluchzt, seine Frau sei krank und er sei doch auch nur ein Mann. Und weil sie so schäbig herumlief, hatte sie tröstend genickt und zehn Mark erbeten. Für jedes Mal.
Er war ein großer Küsser, Zunge minutenlang in den Hals, hin und her. Wollte, dass sie ihn in der Hand hielt, bis er kam, das war´s im Grunde. Als die Eltern ahnten, dass da was lief, war Schluss mit allem. Nicht mal die Lehre hat sie beenden können. Hat geheiratet, Ende Gelände.

Sie holte ihre seidene Stola, legte sie sich um die Schultern und betrat das verwaiste Kinderzimmer. Warmes Holz, natürlich die üblichen Poster und ein Schreibtisch mit Blick in den Garten. Einige Sachen hatte die Braut bereits ins neue Heim geschleppt, der Schrank fehlte, Lampe, Kommode.
Das Kind hatte eben erst ihr Abitur gemacht, beste Noten. Schon vor drei Jahren hatten alle gestaunt, dass sie so gut war in Chemie und so, in Bio und Physik auch. Für viele unverständlich, doch das Mädchen hatte seine wahre Freude dran. Ist zu Wettbewerben gefahren, bis zum Landesausscheid gekommen. Hat sich auch in Englisch gemacht. Beim Elternsprechtag meinte der Lehrer, sie könnte mit den Leistungen ohne Probleme ein Stipendium bekommen, ein Jahr Amerika. Danach wiederkommen, Abi machen und studieren. Naturwissenschaftlerinnen würden händeringend gesucht.
Sie waren stolz, die Oma hatte gestaunt, der Pfarrer genickt. Man hatte bereits Fotos von der amerikanischen Familie in Händen gehabt, wo sie leben würde. Anständige Leute, Jimmy und Susanna aus Milwaukee mit drei Töchtern. Doch plötzlich wollte sie nicht mehr weg.
„Ich hab mich verliebt!“
Und nun heiratete sie den, obwohl sie nicht mal schwanger war.

Draußen hupten die Fahrer, starteten ihre Motoren. Verdammt noch mal, was brauchte die so lange im Bad! Alle warteten auf das Fräulein.
Hat sich für diesen Tag partout runterhungern müssen auf Größe 34, so ein Irrsinn. Hat ihr für Amerika angespartes Geld in das Brautkleid gesteckt. Einmal Prinzessin sein im Leben, mit allem drum und dran.

Sie sah auf die Uhr, jetzt reichte es aber. Sie riss die Tür auf. Die Friseurin packte eben ihre Sachen zusammen, nickte dem Mädchen lächelnd zu und verließ den Raum.
Die Kolonne wartete draußen, hin zum Jawort. Da platzte der Brautmutter der Kragen. Die holte aus, und knallte ihrer Tochter eine links und eine rechts, dass es nur so klatschte. Ein Schrei, die Wangen rot, der Schleier schief, der Haarknoten aufgelöst. Tränen verschmierten das Mascara der Braut.

Claudia Schreiber, 1958 geboren, war Redakteurin, Reporterin und Moderatorin für den SWF und das ZDF, bevor sie Romane, Sach- und Kinderbücher schrieb. Ihre Texte wurden fürs Theater, TV und Kino adaptiert. 2004 erschien ihr Kinderbuchdebüt „Sultan und Kotzbrocken“ bei Hanser. 2014 folgte mit „Sultan und Kotzbrocken in einer Welt ohne Kissen“ die Fortsetzung der Geschichte. Ihr Bestseller-Roman „Emmas Glück“ wurde 2005 u. a. mit Jürgen Vogel und Jördis Triebel verfilmt. Gemeinsam mit Yayo Kawamura realisierte sie das Bilderbuchprojekt „Ich, Luisa, Königin der ganzen Welt“ (2015). 2016 folgte ihr Jugendbuch „Solo für Clara“. Claudia Schreiber wurde u. a. mit dem »Journalistenpreis Entwicklungspolitik« des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.

Foto: Tim Löbbert

Paolo Cognetti „Acht Berge“, DVA

Dass „Acht Berge“ so sehr begeistern kann, liegt mit Sicherheit auch darin, dass Paolo Cognetti Sehnsucht beschreibt. Sehnsucht nach Freundschaft und Verbundenheit. Nicht nur jene unter Menschen, sondern jene zu Tieren und ganz offensichtlich zum einfachen Leben in und mit den Bergen. Und doch ist „Acht Berge“ kein verklärender Berglerroman.

Grana liegt am Fusse des Monte-Rosso-Massivs. Dort lernen sich die beiden Kinder Bruno und Pietro kennen. Bruno ist der letzte im Dorf, der Jüngste, Sohn einer stillen Mutter und eines groben Vaters. Pietro folgt seinen Eltern, die in Mailand leben, ihr Sehnsuchtsort aber die Berge sind. Pietros Vater schleppt seinen Sohn ruhelos auf all die Gipfel rund um Dorf, während Pietros Mutter aus dem Haus im Dorf ein vorübergehendes Zuhause zu machen versucht. Bruno und Pietro freunden sich an, auch wenn es nicht ausgetauschte Geheimnisse sind, die sie verbinden, als vielmehr die gemeinsam erlebten Geheimnisse, jede Sommer aufs Neue. Sie beide erkunden ein zum Teil entvölkertes Dorf und sein Tal, dringen ein in längst verlassene Häuser, entdecken Schauplätze, an denen einst Leben stattgefunden hatte. Zwischen den beiden beginnt eine Verbindung zu wachsen, die erst durch einen Faustschlag zwischen den beiden ungleichen Vätern unterbrochen wird. Bruno bleibt im Tal und Pietro versucht und sucht sein Glück als Dokumentarfilmer auf dem Dach der Welt. Eine Welt, die sich in vielem von der in den italienischen Alpen unterscheidet, die ihn aber gedanklich immer wieder zurückführt nach Grana. Irgendwann kehrt Pietro zurück. Bruno ist geblieben. Er kauft sich eine Alp, Kühe und das, was fürs Käsemachen nötig ist. Und weil sich irgendwann Lara, eine entflohene Städterin dazugesellt, scheint das Wagnis eines eigenen Alpunternehmens zu klappen. Während Bruno und Lara wirtschaften, richtet sich Pietro in einer Alphütte weit über den beiden ein und erzählt von den Schönheiten eines stillen Lebens in den Bergen.

“Mir war, als könnte ich das Leben der Berge in Abwesenheit des Menschen sehen. Ich mischte mich nicht ein und war ein gern gesehener Gast. Da wusste ich wieder, dass ich mich in ihrer Gegenwart niemals einsam fühlen würde.“

“Acht Berge“ ist ein Porträt einer ganzen Familie. Irgendwann in der Pubertät wird jede Vertraulichkeit zwischen Vätern und ihren Söhnen auf die Probe gestellt. Wenn es der Vater dann nicht schafft, seinem nicht nur äusserlich gross gewordenen Sohn auf Augenhöhe zu begegnen, so ist das genauso katastrophal und zerstörerisch wie die Unfähigkeit eines Sohnes, seinen Vater vorsichtig vom Thron zu heben. „Acht Berge“ ist ein Familienroman, über Familien, die zerbrechen, die genauso zugeschüttet werden, wie eine Alp, die man nicht jeden Frühling wieder herrichtet. „Acht Berge“ ist die Geschichte von Pietros Familie, einer Familie, die den Schmerz und tiefe Verletzungen über Generationen hinweg mit sich herumschleppt. Darüber dass in jeder Familie unendlich viel Sehnsucht steckt. Sehnsucht nach einem Fels, der bleibt.

Paolo Cognetti bedient die Sehnsucht nach Nähe und Unmittelbarkeit, nach Einfachheit und Reduktion. Er tut es ohne Sentimentalität, ohne Verklärung, lässt hoffen und scheitern. Ein beeindruckendes Buch in einer klaren und einfachen Sprache. Es sind die Bilder, die kantigen, holzschnittartigen Zeichnungen, die überzeugen. Paolo Cognetti weiss, wovon er schreibt. Er ist durchdrungen davon! Ein Buch, das man zufrieden beiseite legt und sich auf den nächsten Frühsommer freut, um bei Wanderungen etwas von dem zu finden, was in „Acht Berge“ beschrieben ist.

Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt die Sommermonate am liebsten in seiner Hütte im Aostatal auf 2000 Metern Höhe. Er hat Mathematik studiert, einen Abschluss an der Filmhochschule gemacht und Dokumentarfilme produziert, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Auf Italienisch sind von ihm schon Erzählbände und zwei Romane veröffentlicht worden. »Acht Berge« stand über Monate auf Platz 1 der Bestseller in Italien. Der Roman erhielt u.a. den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, und erscheint in über 35 Ländern.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Iris Wolff „So tun, als ob es regnet“, Otto Müller Verlag

Iris Wolffs Sprache schmeichelt einem. Sie mäandert, trägt ganz behutsam Schicht für Schicht ab. Iris Wolff will keine Geschichte zu Ende erzählen. Sie wirft einen Stein in die Geschichte einer Familie und es ziehen Wellen weg vom Zentrum des Geschehens, entschwinden aus Sichtweite, um sich mit anderen Wellen zu kreuzen. Ein schmaler Roman, der ein ganzes Jahrhundert birgt, in einer Sprache erzählt, die fasziniert und in höchstem Masse bezaubert.

«Roman in vier Erzählungen» ist dem Buch vorangestellt und jedem dieser vier Erzählungen, die ganz fein miteinander verbunden sind, durch die Linie einer Familie, diesem Band, wonach man sich sehnt, diesem Band, dass so leicht reissen kann, ein einzelner Satz aus der jeweiligen Erzählung. Ein Satz wie ein Thema. Ein Roman über fast hundert Jahre bis in die Gegenwart, verankert in vier Zeiten, in Momenten, Zwischenzeiten, ausgeleuchtet ein paar Seiten lang, um den Faden viel später wieder aufzunehmen, in ganz anderem Licht. Iris Wolff konzentriert Geschichte genauso wie Sprache. Sie schreibt so, wie Erinnerung geschieht, in Bildern, das eine ausleuchtend, das andere im Dunkeln lassend.

So wie ich mir bei manchen Büchern gewünscht hätte, man hätte sich auf das Wesentliche konzentriert, weniger wäre mehr gewesen, eine Stimme hätte zu Mässigung gemahnt, so gross war das Bedauern darüber, dass das Lesevergnügen nach 163 Seiten schon zu Ende war. Ich hätte der stillen Stimme der Autorin noch lange zugehört und bin mir sicher, dass da etwas Grosses zu wachsen begonnen hat!

Ein junger österreichischer Soldat wird zusammen mit einem Offizier von der winterlichen Front weg in ein Karpatendorf abkommandiert. Weg von der eisigen Kälte, weg vom Tod und der dauernden Angst, hinein in ein Dorf, in eine Familie. Weg vom Grabenkrieg im weiten, waldigen Gebirge in eine warme Stube, ein weiches Bett, an einen reich gedeckten Tisch. Jacob, der Soldat, freundet sich mit der jüngsten Tochter an, erzählt ihr Geschichten, zuletzt auch jene seines Bruders, der weit weg seine Schuhe am Rand einer tiefen Schlucht auszog. Eine Geschichte später, Jahre dazwischen, treffen sich der Grossvater Elemér und seine Enkelin Henriette im Garten, beide schlaflos, von Unruhe gepackt in der «Gesellschaft der Schlaflosen». Eine Familie droht durch die Geschichte zerrissen zu werden und Herniette weiss, dass sie nicht ist, wie die anderen, nicht einmal wie ihre Schwestern. Noch einmal Jahre später, als der Mond durch Amstrong in Besitz genommen wird, Vicco an der Distanz zu seiner Mutter Henriette zu zerbrechen droht, Liane kennenlernt und mit ihr bis zum Schwarzen Meer im Trabi fährt. Und noch einmal Jahre später, Henriette ist als Grossmutter und ganz besondere Frau bloss noch Erinnerung, die junge Hedda auf einer Insel im Meer erfährt, dass ihr Vater Vicco an Krebs erkrankt ist. Hedda beobachtet ein Paar, das in einen Fischerkahn steigt. Ein Boot, das nie zurückkehrt. So wie die Wellen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.

Man möchte es laut hinausrufen; Hier glänzt Sprache auf, hier schreibt und erzählt jemand in einer Sprache, die poetisch funkelt. Hier ist ein Buch, das man nicht versäumen darf, das man nach der Lektüre für eine Weile an die Brust drückt, weil man es nicht loslassen will. Unbedingt lesen!

Iris Wolff liest aus ihrem Roman am 12. Januar im Bodman-Haus in Gottlieben TG, um 20 Uhr.
Moderiert wird die Lesung von Julia Knapp.

Iris Wolff geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman „Halber Stein“ erhielt den Ernst-Habermann-Preis 2014.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Peter Weibel „Der Schmetterling schläft“, Waldgut

Es sind 34 Fragmente über das Sterben und den Tod einer Ehefrau. Leas Leben als Schmetterlingsfrau war kein Schmetterlingsleben. Nichts von Leichtigkeit, nichts von farbiger Lebensfreude. Und ihr Mann, der Schreibende, ist verdammt zuzuschauen und sich all den Fragen zu stellen, die nicht zu beantworten sind.

Lea leidet unter der Hautkrankheit „Epidermolysis bullosa dystrophica“, der Schmetterlingskrankheit. Was fast lieblich klingt, ist eine unheilbare, langwierige und äusserst schmerzhafte Krankheit. Der Leidensweg einer Patientin für einen nicht Eingeweihten fast nicht nachvollziehbar. Ein Buch darüber lesen? Warum sollte ich mich dem aussetzen? Muss sich der Schmerz nicht unweigerlich in mir fortsetzen?

“Der Schmetterling schläft“ ist eine Liebesgeschichte. Ein Wehklagen eines Zurückgelassenen. Und weil Peter Weibel der Schöpfer dieser Fragmente ist, ist es alles andere als eine Krankengeschichte. Der Erzählende vermisst seine Frau Lea. Auch wenn die letzten Jahre ein langes Ringen im Schmerz waren. Ein Wechsel von absoluter Verzweiflung und inniger Liebe bis zu jenen Tagen, in denen Lea in einem Hospiz hinüberschläft, ihre kranke Haut genauso zurücklässt, wie einen hadernden Gatten. Auch lange nach dem Sterben erinnert alles an Lea, an die Liebe, die unsägliche Nähe trotz einer Krankheit, die körperliche Nähe fast unmöglich machte. In diesem Text brennt so viel Liebe, dass ich ihn ganz langsam zu lesen begonnen habe. Einzelne Fragmente wie Liebeserklärungen immer wieder. Man ist dem Autor und seinen Gedanken so nahe, dass man Nähe körperlich zu spüren scheint.

«Schmetterlingskind. Die Haut ist filigrandünn, zerreisslich wie die Flügelhaut des Schmetterlings. Nicht leuchtend wie die ausgespannten Flügel, nur schutzlos wie sie. Lea braucht das Wort nie, es ist ihr zu leicht, zu verheissungsvoll. Sie weiss, dass ihr Leben als Schmetterlingsfrau kein Schmetterlingsleben ist.»

Sicher, dieses Buch liest man nicht in der Badewanne, nicht im proppenvollen Zug und nicht so schnell schnell zwischen zwei Schmökern. „Der Schmetterling schläft“ ist wie ein verzweifeltes Zwiegespräch mit einem Gegenüber, das ewig stumm geworden ist, deren Gegenwart aber in allem bleibt. Ein literarisches Kleinod in wunderschöner Gestalt.

Das beim Waldgut Verlag in Frauenfeld erschienene Büchlein ist keine gewöhnliche Drucksache. Das spürte man gleich, wenn man das Kleinod in Händen hält. Fast alles ist von Hand gemacht; der Bleisatz, Handpressendruck, die Papier- und buchbinderische Arbeit. Eine Besonderheit in der Bücherwelt. Eine Tatsache, die grössten Respekt verdient!

Ebenfalls 2016 erschienen ist Peter Weibels Gedichtband „Nachricht an das Leben“:

Aus den Trümmern Worte bauen
aus den Worten Widerstand
aus dem Widerstand vielleicht den neuen Menschen
und vielleicht Hoffnung
und aus der Hoffnung wieder Häuser
.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

Informationen zum Verlag

Rezension zu Peter Weibels „Mensch Keun“, edition bücherlese auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Arja Lobsiger „Jonas bleibt“, Orte Verlag

Als Finn starb, wurde alles anders. Etna, seine Schwester, hüllt sich in Schwarz, so wie Jonas sein Vater sich in sein Schweigen. Und Alice, Finns Mutter, zieht sich zurück, zuerst in ihr Innerstes, dann auf eine Vulkaninsel im Meer. So nah wie möglich an die Erinnerung und so weit weg wie möglich von der Gegenwart.

Eine Familienkatastrophe: Etna spaziert im Winter zusammen mit ihrem kleinen Bruder Finn am Fluss. Das Wasser ist gefroren. Spuren ziehen sich über das Eis. Und während sich Etna schon über die Böschung weg vom Fluss bewegt, traut sich Finn doch auf die glatte Schicht. Etna hört nichts, nicht das Knacken, nicht den Schrei, das Rufen. Nur weil er ihr nicht folgt, geht sie zurück und sieht nur das Loch im Eis. Finn taucht nicht wieder auf. Das Loch bleibt. Das Loch in der Familie. Etna ringt mit Schuldgefühlen, Finns Mutter mit unendlicher Trauer und Depression und Jonas, der Vater, nicht nur mit dem Tod seines Sohnes, sondern mit dem Zerbrechen seiner Familie. Was geschieht, wenn ein Kind stirbt? Was muss geschehen, wenn ein Kind stirbt? Arja Lobsigers Erstling ist ein feinfühliger Roman über den Einschlag eines Kometen, wenn nichts mehr dort ist, wo es einmal war, wenn Schäden irreparabel sind, wenn das, was zurückbleibt, ein Trümmerfeld bleibt. Arja Lobsiger hat sich für ihren ersten Roman einen schweren Stoff ausgesucht. Einen Stoff, an dem man leicht scheitern könnte. Dann, wenn sie darin ertrunken wäre, wenn sie die nötige Distanz nicht gefunden hätte. Aber Arja Lobsiger gelingt ein eindringlicher Roman über den Verlust. Nicht nur vom Verlust eines Lebens, eines Kindes, sondern vom Verlust einer Liebe, vom Verlust von Nähe und vom Verlust von Eltern. Denn so wie Alice und Jonas ihren Jüngsten verlieren, verliert Etna ihren Bruder und ihre Eltern. Jonas verliert Alice und Alice den Boden unter den Füssen.

Arja Lobsiger erzählt in zwei Strängen. Jonas sitzt im leer gewordenen Haus. Es soll abgerissen werden. Jonas ist längst aus dem Leben gerutscht. Er wartet auf den Tag, an dem er aus seinem Haus verschwinden soll, die Bagger die Mauern niederreissen werden. Das Haus, in dem alles geblieben ist, auch wenn die meisten Zimmer leergeräumt sind. Einziger Begleiter ist ein Fuchs in seinem über und über verwilderten Garten. Ein Fuchs, den er zu füttern beginnt, während er zu essen vergisst.

„In der Dunkelheit, die sie umgab, hatte Alice gespürt, wie die Lava an der Oberfläche abkühlte und erstarrte.“

Auf der andern Seite Alice, die es eines Tages an der Seite ihres Mannes nicht mehr aushielt und aus dem Haus, aus ihrem Zimmer mit den violetten (liturgische Farbe für „Übergang“ und „Verwandlung“) Vorhängen schlich. Ohne Nachricht, nicht einmal an ihre Tochter Etna, setzt sie sich ab auf eine italienische Vulkaninsel. Jene Insel, auf der sie einst als Familie zusammen mit ihren Eltern die glücklichsten Ferien verbrachte. Es ist kein Neubeginn. Alice wünscht sich auf dem Rücken des Vulkans den Ausbruch, der sich nicht einstellen will. Ein Kind in ihren leeren Bauch. Einen Sinn zurück in ihr Leben.

Ich mag dieses Buch und seine Autorin für den Mut. Nicht nur weil sie sich ohne Rührseeligkeit an dieses schwere Thema wagte, sondern weil die Sprache und der Erzählton dem Geschehen Bedeutsamkeit geben. Weil Arja Lobsiger nicht alles ausleuchtet, Interpretationsspielraum lässt. Weil die Ränder offen bleiben, ihr Personal im Buch neben Alice und Jonas wie nachts vorbeifahrende Autos in einen „Spielraum“ leuchten.

Ein Interview mit Arja Lobsiger:

Eine ganze Familie wird durch einen Strudel in ein Loch gezogen. Es gibt kein Zurück. War während des Schreibens von Anfang an klar, dass es für niemanden eine Rettung geben konnte?
Die Figuren wurden während dem Schreibprozess vom Strudel erfasst. Welche Auswirkungen der Tod eines Familienmitglieds haben kann, war mir jedoch bewusst. Für mich gibt es aber durchaus eine Rettung. Aus der Familiendynamik auszubrechen ist manchmal traurigerweise die einzige Lösung.

„Jonas bleibt“ in einem Haus, das abgebrochen wird. Er lebt weiter im Wissen, dass er gehen müsste, lebt aber in Wahrheit so, als gäbe es diesen einen Termin nicht. Ein starkes Bild. Auch ein Bild für den Zustand der Welt?
Ja, auf jeden Fall. Dem Ohnmachtsgefühl wird oft mit Ignoranz begegnet oder eben lieber nicht begegnet. Das erlebe ich als Lehrerin immer wieder im vergleichbar kleinen Kosmos Familie und im Grossen bei den Themen Umweltverschmutzung oder Flüchtlinge.

Alice, Finns Mutter, reisst sich aus ihrem dunkeln Zimmer und fährt auf eine Vulkaninsel im Mittelmeer. Auf der einen Seite eine Flucht, auf der andern Seite eine Ankunft an einem Sehnsuchtsort. Es brodelt im Inselgrund viel mehr als im kalt gewordenen Bauch Alices. Jonas bleibt auch auf seiner Insel. Finn ist im Wasser untergegangen. Muss man sich retten? Niemand stellt sich!
Jede Figur versucht auf ihre Art, den Tod zu verarbeiten und sich dem zu stellen, was ist. Für Alice ist ein radikaler Schritt der einzige Weg, aus den erstarrten Strukturen des Systems und der dumpfen Trauer auszubrechen. Auf Konfrontation versucht Etna zu gehen. Zu bleiben scheint in dieser Geschichte keine Lösung zu sein, auch für Jonas nicht.

Und dann der Fuchs, der in Jonas verwilderten Garten lebt, den er mit jenen Fleischstücken füttert, die eigentlich für ihn gedacht sind. Der Fuchs wird in dem Mass zutraulich, wie Jonas immer schwächer wird. Ein Werden, das Sie fast nur mit Innenwelten beschreiben. Wann kam im Schreiben der Fuchs ins Spiel?
Der Fuchs tauchte relativ früh im Schreibprozess in Jonas Garten auf. Mir war damals jedoch noch nicht klar, welche Rolle er einnehmen wird. Eigentlich war er nur als einmaliger Besucher eingeplant. Dann hat er sich immer wieder in den Garten und somit in die Geschichte geschlichen.

Der Roman beginnt und endet mit einem Blick in die Ferne. Kennen Sie diese Sehnsucht nach einer Flucht hinaus oder ganz in sich hinein auch in Ihrer eigenen Welt?
Ja, ich kenne die Sehnsucht nach dem Entdecken von unbekannten Orten und liebe es, zu reisen. Man könnte sagen, es ist eine Flucht, für mich ist es aber eine Reise zu mir selbst. Nirgendwo werde ich so stark mit mir konfrontiert wie ausserhalb gewohnter Abläufe und Systeme. Der Blick von der Ferne auf die Heimat und das eigene Leben wird ein anderer.

Vielen Dank für die Antworten. Danke für Ihre spannenden Fragen, die mir in dieser Art noch nicht begegnet sind. Für mich ist es erstaunlich, wie Sie meinen Roman erfasst und verstanden haben, das zeugt von einem aussergewöhnlichen Gespür für Geschichten. Mich berührt das. Sie haben mir auch neue Perspektiven auf meinen Roman eröffnet.

Arja Lobsiger, geboren 1985, lebt in Nidau (Schweiz). Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Literarisches Schreiben und schloss ihr Studium 2009 mit dem Bachelor of Arts in Creative Writing ab. Anschliessend absolvierte sie an der Pädagogischen Hochschule Bern die Ausbildung zur Sekundarlehrerin. Arja Lobsiger veröffentlichte Essays und Kurzgeschichten in Zeitschriften und schrieb für den Zürcher Tages-Anzeiger einen Literaturblog. Sie ist Gewinnerin von Literaturwettbewerben, unter anderem des Berner Kurzgeschichtenwettbewerbs.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

«Literatur am Tisch» mit Jens Steiner und seinem Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger»

Am Montag, 15. Januar 2018, liest und diskutiert Jens Steiner. Alle Interessierten sind zu dieser ganz «privaten» Runde eingeladen. Um 19 Uhr zu Wein, Brot und Käse am grossen Esstisch an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil TG! Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme: Sie sollten das Buch gelesen haben! Melden Sie sich an und seien Sie dabei. 30 CHF inkl. Konsumation. info@literaturblatt.ch.

Rezension auf literaturblatt.ch!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander. Kosten für Teilnehmende inkl. Nachtessen und Getränke mind. 30 Fr., Beginn 19 Uhr

«Literatur am Tisch» soll Leserinnen, Leser und Autorinnen und Autoren an einen Tisch bringen, die Möglichkeit bieten, sich in ein echtes Gespräch, einen für beide Seiten zum Gewinn werdenden Austausch einzulassen. Traditionelle Lesungen oder Gespräche lassen Lesende auf Distanz, bieten kaum die Gelegenheit, eigene Lesarten, Gedanken miteinzubringen.»

«Lesungen auf einer Bühne sind das eine. Im intimen Rahmen von Gallus› und Irmgards Literatur-am-Tisch-Abenden ist man der mitdiskutierenden Leserschaft ungleich ausgelieferter, da Künstlergarderobe als Rückzugsmöglichkeit, erhöhte Bühne als distanzschaffendes Element und blendende Scheinwerfer fehlen, welche die Fragestellenden anonymisieren. Im besten Fall – und so einer lag bei meinem Besuch vor – erlaubt so eine Konstellation ein vertieftes Eintauchen, eine angeregte, kritische Diskussion, bei der man als Autor gezwungen wird, sich wieder einmal ganz grundsätzliche Fragen zum eigenen Werk zu stellen. Besonders ergötzlich gestaltet sich so eine Auseinandersetzung bei gutem Essen und feinem Wein am Tisch der Gastgeber in Amriswil.» Frédéric Zwicker

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen. Der Runde am 17. August war die bei vielen vorhandene jahrelange Erfahrung mit Diskussionen und Reflexion über Texte anzumerken. Mit Sorgfalt bitten die Gastgeber Gallus und Irmgard zu Tisch, und schon ganz bald ist man mitten in publizistischen und literarischen Fragen: Wer bestimmt das Cover eines Buches? Warum trägt es genau den Titel? Wie viel hatte die Autorin dazu zu sagen? Wie ist die Idee zum Text entstanden, wie erlebte ich die Schreibarbeit an einem Thema, das einem wohl nicht anders als unter die Haut gehen muss. Warum diese Erzählperspektive? Und wie spiegeln sich die Leser/innen im Text, den sie lesen? Diese und viele andere Fragen haben wir diskutiert. Dabei war es für mich immer wieder auch spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren. Danke!» Bettina Spoerri

Marion Poschmann «Die Kieferninseln», Suhrkamp

Gilbert Silvester nimmt seinen Traum ernst, sehr ernst. Ihm träumte, seine Frau Mathilde hätte ihn betrogen. Und weil ihre Vehemenz, die Aufgeregtheit, als er ihr ihre Untreue vorwirft, ihn nur bestärken, packt er seine Sachen, fährt zum Flughafen und besteigt eine Maschine nach Tokjo, möglichst weit weg.

“Als läge die Schuld plötzlich bei ihm. Sie ging zu weit. Das liess er nicht mit sich machen.“

Marion Poschmann schrieb mit viel Lust eine Parabel darüber, wodurch unsere Welt zugrunde geht. In keinem Moment der Menschheitsgeschichte waren wir weniger Herr über die Wahrheit wie in der absolut vernetzt scheinenden Gegenwart. Nie verschoben sich, verfransten Realität und Fiktion so sehr wie jetzt, wo man bei jeder Gelegenheit nachprüfen zu können glaubt. Die verschiedensten Seiten schwören uns auf ihre Wahrheit ein. Wahrheit als vielseitige Projektionsfläche. Und ausgerechnet der Traum, vom dem wir wissen, dass er gelesen werden muss, katapultiert den Wissenschaftler und Dozenten aus seiner Wirklichkeit. In ein Flugzeug, das ihn in ein Land trägt, das sich eigentlich in maximaler Distanz, weit entfernt und kaum lesbar von der seinigen zeigt. Er fühlt sich hintergangen, überzeugt, „aus dem Echten“ ausgesperrt zu sein. Nicht nur von seiner Frau Mathilde, der er sich nie ebenbürtig fühlte, sondern einer ganzen Welt, die ihn wegschiebt. Nicht zuletzt in seinen halbherzigen Studien zur „Wirkung von Bartdarstellungen im Film, Aspekte der Kulturwissenschaft, Gendertheorie und religiösen Ikonographie“. Er, der Experte für Bartfrisuren, ein bis ins Innerste Altbackener, fliegt in ein Land, wo Bärte allerhöchstens Zeichen mangelnder Hygiene sind oder wenn, dann schütter und spärlich bleiben. Er flieht in der Überzeugung, seine Frau sei verrückt geworden, sei sich „der fundamentalen Konstanten zwischenmenschlichen Umgangs“ nicht mehr im Klaren, zwinge ihn, auf grösstmögliche Distanz zu gehen.

Und ausgerechnet er, Gilbert Silvester, gabelt an einem japanischen Hochgeschwindigkeitsbahnhof einen zögerlichen Selbstmörder auf. Einen jungen Studenten, der in seiner Tasche ein Handbuch mit sich trägt, den „Complete Manual of Suicide“ (Den gibt es wirklich!). Den Sprung vor den fahrenden Zug verhindert, nimmt Gilbert den jungen Mann mit auf sein Hotelzimmer. Yosa ist Student, getrieben von seiner Angst des Scheiterns. Beide machen sich auf den Weg, Gilbert auf eine Pilgerreise auf den Spuren des klassischen Dichters Bashõ, Yosa mit seiner ganz anderen Reiselektüre von einem zum nächsten Selbsttötungshotspot. Eine Reise nach Erkenntnis, Erlösung und Erleuchtung. Wie einst japanische Wandermönche. Eine Reise nach ganz ungewöhnlichen Massstäben, an Orte der absoluten Gegensätze, nicht zuletzt europäischer und japanischer Lebensauffassung und Wahrnehmung. An Orte wie jenen Wald am Fusse des Fuji, den Aokigahara-Wald, den Wald der Erhängten. (Auch den gibt es!) Ein Wald, der mit Verbotstafeln warnt, voll mit Zurückgelassenem, Schuhen, Kleidern und Taschen, Hängengelassenem, abgeschnittenen Stricken und Überresten. Gilbert begleitet Yosa, hofft, dass der Schrecken, das Grauen sie beide vertreibt. Ausgerechnet hier geraten sie in eine Sackgasse, sie, die nichts anderes wollen, als das Ende ihrer Sackgassen. Sie verlieren sich im Wald, verirren sich auf dem Rückweg, müssen im Freien, ohne Licht im Wald der Erhängten übernachten. Zwei Verlorene, Verirrte, Vergessene. So wie die Kieferninseln an der Küste von Matsushima ein Ende einer Reise werden, ist das Buch voller Doppelbödigkeiten.

Gilbert Silvester ist vollkommen isoliert. Auch wenn er auf seiner Reise durch Japan seiner Frau eine Reihe Briefe schreibt. Keine Silbe steht da, mit der er auf die Gründe und Ursachen seiner Reise eingeht, kein Wort, das seine Frau anspricht, kein Satz, der über die eigenen Kopfverschlingungen hinausgeht. Briefe eines Immunen. Einer Gattung, von der es in der Gegenwart immer mehr zu geben scheint. Menschen, die nicht wirklich zu leben scheinen, selbst dann nicht, wenn sie mit dem Elementarsten konfrontiert sind.

So skurril die Handlung, so knirschend das Geräusch der kulturtektonischen Kontinentalplatten, die sich reiben und reissen, so poetisch das Buch. Dann, wenn Marion Poschmann ihren Silvester dichten lässt. Dann, wenn sie ihn die japanische Hochkultur suchen lässt. Dann, wenn die begnadete Schriftstellerin beschreibt, Bilder erzeugt, die genau wiedergeben, was Irrsinn zu erzeugen vermag. Grosse Literatur!

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.

Rolf Hermann „Üff nach Gondo“

Vam Donald Trump inschpiriärt, hätt där Büüunnärnämär und Präsidänt va där Helvetischu Vollpfoschtu Partii, där Franz Fondü usum Wallis, ä 10 Meetär hochi Müüru rund um d Schwiiz wällu büübu. Är hät 40 Tonnä Ziägilschteina und 20 Tonnä Beto uf schiinu Gamio gladu und hätt schi üffgmacht, Richtig Gondo. Will är abär ds Navigationsgrät uff dum Bürotisch värgässu hätt, hätt är wädär där Simplopass no Gondo, wädär Domodossola no Mailand gfunnu.

Är isch eifach immär wiitär gfaaru, bis nu schliässli ds Genua ä seer frindlichä, schwaarzä Haafuarbeitär aghaaltu hätt. Beidi hent änandär teif in d Oigä glüegt und hent värlägu glächlu. Dä sindsch gaa z Mittag ässu und hent bischlossu, fär immär zämu z bliibu. Und wasch am friäjiu Naamittag, Arm in Arm, wiidär Richtig Haafu schpaziärt sind, hätt där Franz Fondü gseit: Dass Gondo gaad äso grooss isch, hätti scho nit gideicht. Und där Makélélé Ruppu hätt lachändu gantwoortu: Oi miär isch Natärsch schoo immär ä biz z chlei gsi.

Auf nach Gondo

Von Donald Trump inspiriert, wollte der Bauunternehmer und Präsident der Helvetischen Vollpfosten Partei, der Walliser Franz Fondü, eine 10 Meter hohe Mauer rund um die Schweiz bauen. Er lud 40 Tonnen Ziegelsteine und 20 Tonnen Beton auf seinen Lastwagen und machte sich auf, Richtung Gondo. Weil er aber sein Navigationsgerät zuhause auf dem Bürotisch vergessen hatte, konnte er weder den Simplonpass noch Gondo, weder Domodossola noch Mailand finden.

Er fuhr einfach immer weiter, bis ihm schliesslich in Genua ein freundlicher, schwarzer Hafenarbeiter per Handzeichen bedeutete anzuhalten. Sie schauten einander tief in die Augen und lächelten verlegen. Dann gingen sie gemeinsam Mittagessen und beschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Als sie am frühen Nachmittag, Arm in Arm, wieder zurück zum Hafen spazierten, sagte Franz Fondü: Dass Gondo so gross ist, hätte ich nicht gedacht. Und Makélélé Ruppen fügte lachend hinzu: Auch mir war Naters schon immer etwas zu eng.

Vers Gondo

Inspiré par Donald Trump, l’entrepreneur de construction et président de l’Union Démagogique du Centre, le Valaisan François Fondue, voulait construire un mur de 10 mètres de hauteur autour de la Suisse. Il a mis 40 tonnes de briques et 20 tonnes de béton sur son camion pour partir vers Gondo. Parce qu’il avait oublié son GPS à la maison sur la table du bureau, il n’a pu trouver ni le col du Simplon, ni Gondo, ni Domodossola, ni Milan.

Il a simplement continué à rouler jusqu’à Gênes, où un Noir amical, en débardeur, lui a demandé, par signes, avec ses mains, de s’arrêter. Ils se sont regardés droit dans les yeux et se sont souris d’un air penaud. Ensuite, ils sont allés déjeuner et ont décidé de rester ensemble pour toujours. Quand, en début d’après-midi, ils sont retournés au port, bras dessus bras dessous, François Fondue a dit: Je ne pensais pas que Gondo était si grand. Et Makélélé Ruppen d’ajouter, en riant: Oui, pour moi aussi, Naters a toujours été un peu coincé.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo „Die Gebirgspoeten“. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015). Im Verlag „Der gesunde Menschenversand“ erschien 2017 „Das Leben ist ein Steilhang“, ein sprachlicher Hochgenuss voller Witz und Doppelbödigkeiten!

Catalin Dorian Florescu „Der Nabel der Welt“, C. H. Beck

Catalin Dorian Florescu, der 2011 mit „Jacob beschliesst zu lieben“ den Schweizer Buchpreis gewann, legt seinen ersten Erzählband mit Geschichten vor, die über einen Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind. Erstaunlich genug, dass der Band trotz allem den Eindruck eines Ganzen vermittelt. Ein Strauss an Fabulierkunst und Einsichten über Heimat und Fremdsein.

Wer Florescu als Erzähler noch nicht entdeckt hat, dem bietet sich hier die Chance. Und wer wie ich mit Hunger auf jeden neuen Florescu wartet, der wird mit mundgerechten Leckereien, zum Beispiel zum Vorlesen, nachts vor dem Einschlafen, belohnt. Aber keine süssen Geschichten, sondern Texte, die durchaus zu Träumen werden können. Und wer dann wie ich, einmal vom Florescu-Virus infiziert eine Lesung des Meistern besucht, wird staunen. Nicht nur über die Sprachkunst, die Vitalität des Autors oder die Präsenz auf der Bühne, die Nähe zum Publikum, sondern über das unerschöpflich scheinende Reservoir an Geschichten, das der Mann in sich birgt. Auch wenn man mit Recht behaupten kann, dass Catalin Dorian Florescu immer vom „Gleichen“ erzählt, seinem Thema; dem inneren und äusseren Konflikt zwischen Ost und West, dem Niedergang Rumäniens, der Flucht und der ewigen Suche nach einem Ankommen, dem Verlust von Heimat, dem Verlust von Familie.

Seine Erzählungen im Band „Der Nabel der Welt“, wie alle seine Romane, gründen im Schmerz drüber, eine Heimat verloren und nie wirklich einen Ersatz dafür gefunden zu haben. Im Schmerz darüber, dass das Leiden und die Trauer nicht weniger werden, selbst nach der Flucht ins vermeintliche Paradies. Im Schmerz darüber, dass die Sehnsucht bei all denen bleibt, die nicht gehen, nicht fliehen können oder wollen, die ausharren, längst desillusioniert nach immer wieder angekündigten Wendungen.

Florescu erzählt mit sprudelndem Witz, intelligent und gekonnt. Keine Spur von Bitterkeit, denn der Autor weiss, welch nie versiegende Quelle der Inspiration seinen beiden Seelen entspringt.

Im kommenden März erscheint im Residenz Verlag ein Essayband von Catalin Dorian Florescu: „Die Freiheit ist möglich“, über Verantwortung, Lebensinn und Glück in unserer Zeit – aus der Reihe „Unruhe bewahren“, in der schon Olga Flor und Illja Trojanow Beiträge veröffentlichten. „Wir leben in einer hysterischen Zeit, die zwar materiellen Wohlstand und unablässige Kommunikation gewährleistet, das Individuum aber mit seinen Gefühlen der Vereinzelung allein lässt. Doch nach dem Scheitern der grossen politischen Utopien sehnen wir uns umso mehr nach Glück, Verbundenheit und Nähe, sind aber in einem fragmentierten, beschleunigten Alltag gefangen.“ (aus der Vorschau des Residenz Verlags)

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Peter Höner „Kenia Leak“, Limmat

Ein kenianischer Clan, der bis nach Europa operiert, ein blinder, kenianischer Ermittler im Ruhestand mit einer brisanten CD, eine afrikanische Liebesgeschichte in der Schweiz, eine Freundschaft alter Männer, die an den Grenzen der Legalität zu zerschellen droht, ein Flüchtlingsheim, in dem die Hoffnung strandet und veritabler Fremdenhass.

Peter Höner ist Wiederholungstäter. „Kenia Leak“ ist der fünfte Teil einer Krimireihe um Jürg Mettler, ehemaliger Hotelier in Afrika, heute Dolmetscher im nahen Flüchtlingszentrum und Robinson Njoroge Tetu, einen kenianischen Ermittler im Ruhestand. Die beiden hatten sich nach ihrem letzten ermittlerischen Debakel aus den Augen verloren. Und nun, nach 20 Jahren, taucht Tetu zusammen mit seiner Enkelin auf, um sich mit Mettlers Hilfe von seinem Augenleiden zu befreien. So plötzlich, aus dem Nichts, obwohl Tetu genau dieses Angebot Jahrzehnte ablehnte. Die Ahnung Mettlers bestätigt sich bald. In Tetus Gepäck sind 4 CDs, die die schmutzigen Geschäfte eines der wichtigsten Clans in Kenia dokumentieren sollen. Daten, die in die Hände,der Richtigen kommen sollen, Daten, die den Clan des kenianischen Finanzministers Kimele endlich in die Knie zwingen sollen. Aber die Ungeduld der beiden alten Männer und die Tatsache, dass auf den Namenslisten in den Dateien auch Mettlers Name auftaucht, sähen Gift in die so schon fragile Altmännerfreundschaft – und rufen die langen Arme des Clans auf den Plan. Und als Naomi, Tetus Enkelin, mehr als nur ins Visier der Schergen des Clans gerät und Moody, Mettlers Enkel in Liebe entbrannt, die Fassung verliert, droht die Situation zur ausgewachsenen Katastrophe zu werden.

Endlich hob Mettler den Kopf und sagte: „Ich habe nichts damit zu tun.“ „Das ist immer die erste Antwort“, stöhnte Tetu. „‚Ich habe damit nichts zu tun‘ war schon immer der erste Schritt zum Geständnis.“

Bei der Buchpremière gefragt, warum es denn ein Krimi sein müsse, erzählte Peter Höner, er habe mit dem ersten seiner Krimis ein interkulturelles Ermittlerpaar erfinden wollen. Damals habe er als Begleitung seiner Frau, die Korrespondentin in Kenia war, in diesem Land gelebt und sah am Strand all die Touristen, die Krimis lasen, die mit dem Land und dem Sand, auf dem sie lagen, so gar nichts zu tun hatten. Genau das macht den Reiz dieses gut inszenierten Krimis aus. Peter Höner spielt mit den kulturellen Gegensätzen, mit zwei komplet verschiedenen Wahrnehmungen und Perspektiven. Tetu ist konservativ, straforientiert, Mettler viel eher der Psychologe. Tetu versteht die Welt in der Schweiz nicht, weder die Kamele, die durch die Weinberge schreiten noch das satte Grün links und rechts der Autobahnen und all das Brennholz für das sich niemand zu interessieren scheint. Aber er versteht auch seine Enkelin nicht, die in diesem Land innert Tagen zu vergessen scheint, woher sie kommt. Und er versteht die Menschen im Asylzentrum nicht, die den ganzen Tag warten und nicht sind, wo man sie brauchen könnte. Und Mettler versteht die Welt nicht mehr, die plötzlich Kopf steht und die Idylle im Haus über der Thur, zwischen Rebbergen und sanften Hügelzügen durcheinander bringt.

Peter Höners Krimi ist kein Buch, das Missstände aufdeckt oder Blut in Strömen fliessen lässt. Peter Höners Krimi lebt von der Psychologie, der Dramaturgie und den Dialogen, denen man sehr wohl anmerkt, dass der Autor über Jahrzehnte auf der Bühne agierte. Sympathisch werden die beiden alten Ermittler darum, weil ihnen der Fall schnell über den Kopf wächst, weil sämtliche Fälle in den fünf Krimis stets eine Nummer zu gross waren. Zu gross, um wirklich als Sieger aus einer Ermittlung aufzutauchen.

In Zeiten von Panama-Leak und den Paradise Papers aktueller denn je!

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen, ­aufgewachsen in Belgien und der Schweiz, Schauspielstudium in Hamburg und Schauspieler u. a. in Basel, Bremen und ­Berlin. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, 1986 – 1990 Afrikaaufenthalt. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern. Lebt und schreibt zusammen mit seiner Frau Michèle Minelli.

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Titelbild: Aus dem Manuskript des Autors