Franzobel «Das Floss der Medusa», Zsolnay

Es braucht Mut, um in den Schrecken des Romans «Das Floss der Medusa» einzutauchen. Franzobel schönt und schont nichts und niemanden. Wer den Roman liest, wird belohnt mit barocker Erzählkunst, spitzer Zunge, Humor «erst recht» und der Erkenntnis, dass die wahren Katastrophen der Menschheit im Verborgenen stattfinden.

Fast genau 27 Jahre nach der französischen Revolution, kaum ein Jahr nachdem Napoleon für 100 Tage zurück an die Macht kam und nach der verlorenen Schlacht bei Waterloo bis zu seinem Lebensende auf die Insel St. Helena verbannt wurde, läuft die Fregatte Medusa mit 400 Passagieren vor Westafrika auf eine Sandbank auf. Weil Bei- und Rettungsboote für die auf dem Meer Verlorenen nicht genug Platz bieten, baut man in aller Eile ein Floss, 20 Meter lang und 7 Meter breit. 149 Menschen, Männer, Frauen und Kinder drängen sich bis zu den Knien im Meerwasser stehend irgendwo, 120 Kilometer vor der mauretanischen Küste auf einer zusammengeflickten Insel. Während sich Kapitän und Passagiere auf den Booten an die Küste retten und danach tunlichst vermeiden, irgend jemandem von den Zurückgelassenen, hilflos auf dem Floss und dem Wrack der Medusa Verbliebenen zu erzählen, spielt sich in den zwei Wochen bis zur Rettung der Überlebenden auf dem Floss ein Drama ab, das in die allertiefsten Niederungen der menschlichen Spezies blicken lässt, eine Demontage der Krone der Schöpfung, ein Welttheater des Schreckens im Angesichts des sicheren Untergangs. Von den fast 150 Menschen, die auf dem Floss zurückbleiben, findet ein Schiff zwei Wochen später noch 15 Überlebende, alles Männer, Verrückte, Wahnsinnige und Ausgezehrte mit hohlen Augen und leerem Blick. 50 Stunden reichen, um aus Menschen Monster zu machen. Der Schrecken liegt nicht in der Tatsache, dass die Überlebenden in ihrer Verzweiflung irgendwann zu Kannibalen werden, viel mehr darin, dass wenige Tage genügen, um aus Menschen Bestien zu machen.
Einer der Überlebenden, der zweite Schiffsarzt Jean Baptist Henri Savigny, schrieb nach seiner Rettung einen Bericht, nach dessen Veröffentlichung ihn die Obrigkeit zwingen wollte zu dementieren, statt die Ehre der französischen Grand Nation mit derartigen Lügengeschichten in den Schmutz zu ziehen. Savigny tat es nicht. 1819 malte der französische Künstler Théodore Géricault ein grosses Gemälde dieses Martyriums, das im Pariser Salon aber als Affront gegen die französische Regierung gewertet wurde, den musentrunkenen Betrachter störte und somit zum Skandal wurde. Dabei hätte das Bild den Skandal von 1816 in Erinnerung rufen sollen.

Und nun, 100 Jahre später, machte sich die österreichische Landratte Franzoble daran, den Stoff, der brach lag und förmlich auf ihn zu warten schien, mit spitzer Zunge und dem Blick eines Betrachters aus dem 21. Jahrhundert möglichst objektiv und schonungslos nachzuerzählen. Dass er durch einen Freund auf den Stoff gekommen sei, sei «wie ein Blitzschlag, Liebe auf den ersten Blick, ein Geschenk» gewesen. Nicht nur, weil er über die Wucht des Stoffes staunte, sondern weil die Geschichte alles in sich hat, was hinter Moral, Erziehung und staatlicher Ordnung im Menschen normalweise verborgen bleibt.

«Das Floss der Medusa» ist die Geschichte einer nicht enden wollenden Katastrophe, die schon lange vor dem Auflaufen auf die Sandbank begann, selbst vor den Tagen in Rochefort-sur-Mer, wo die Medusa vor Anker lag und man ihren Bauch mit all den Errungenschaften der Zivilisation füllte, mit denen die zugestiegenen Siedler Schwarzafrika zu beglücken meinten. Kapitän war Hugues Duroy de Chaumareys, ein absolut untauglicher Emporkömmling, Speichellecker, gepuderter und geschminkter Egomane, der sich lieber mit Wein, Käse, Garderoben und Darmproblemen auseinandersetzte, als mit den permanenten Warnungen seiner Offiziere. Ein von Selbstzweifeln Zerfressener, der in Träumen und schrecklichen Vorahnungen genau weiss und spürt, dass er mit seinen eigenmächtigen und dilettantischen Entscheidungen die Katastrophe provoziert. Bis der schwerfällige Rumpf der Fregatte über den Rücken einer Sandbank schleift und unwiderruflich festsitzt. Das Martyrium der 149 Menschen auf dem Floss beginnt. Ein Martyrium, das an unmenschlicher Dramatik nicht zu überbieten ist. Erträglich macht die Geschichte, weil alles an ihr voller Metaphern ist. Sei es nun über den Zustand der Welt heute, die dilettantischen «Führer», die ihr Boot mit wehenden Fahnen auf den Abgrund zusteuern, die Arroganz der «ersten» Welt und was es bedeutet für Tage und Wochen auf einem Floss mitten im Meer nicht bloss Sonne, Wind und Wetter, sondern den menschlichen Untiefen ausgesetzt zu sein.

Franzobel gelang ein ganz besonderes Buch, eines, das ans Eingemachte geht. Franzobel wühlt mit Wonne und Lust in der Schlangengrube Mensch, scheut sich nie, den Schrecken beim Namen zu nennen, zwingt mich hinzuschauen, wo ich normalerweise nicht hinzuschauen brauche. Die Lektüre seines Romans macht demütig, lässt einen zweifeln. Vielleicht brauchte der Stoff eben diese Landratte Franzobel, der es schafft, angesichts des Grauens mit Humor und Sarkasmus das zu schildern, was sonst kaum in Worte zu fassen wäre. Zugegeben, Franzobel malt auf riesiger Leinwand, auf fast 600 Seiten, um einiges gnadenloser als der Romantiker Théodore Géricault, dessen 7 x 5 Meter grosses Bild «Floss der Medusa» im Louvre hängt. Was sich mir offenbart, ist die Potenzierung aller Dekadenz, ein schmierig, blutiges Puppentheater, ein Sittenbild des Schattens auf einer Bühne, die maximale Distanz erreicht von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», wonach ein paar Jahre zuvor eine ganze Nation geschrien hatte. Die Geschichte der Gier, der Unersättlichkeit.

Franzobel ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Ich verstehe seine Frau sehr gut, die heilfroh ist, dass ihr Mann endlich vom Floss gestiegen ist.

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, ist einer der populärsten und polarisierendsten österreichischen Schriftsteller. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1995 den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2002 den Arthur-Schnitzler-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Krimis » Wiener Wunder» (2014) und » Groschens Grab» (2015) sowie 2017 sein Roman » Das Floß der Medusa».

Franzobel liest am Buchfestival «Zürich liest» im kommenden Oktober!