Patrick Deville „Viva“, Bilgerverlag

Auf Patrick Devilles grosser Reise „durch Raum und Zeit“ begegnet sich der 1940 ermordete Lew Dawidowitsch Bronstein, der sich in gefälschten Papieren nur noch Lew Trotzki nannte und der britischen Schriftsteller Malcom Lowry nicht wirklich. Aber Patrick Deville verwebt die zwei Geschichten; von einem, der Geschichte schreibt und einem, der eine Geschichte schreibt. 

Malcom Lowry ist der Autor des Romans „Unter dem Vulkan“. Während Trotzki in Mexiko im Exil seine letzten Jahre verbringt, schreibt Lowry unweit von Trotzki an der ersten Fassung seines 1984 verfilmten Romans, der zu den grossen Romanen des 20. Jahrhunderts gehört. Patrick Deville verwebt in seinem kunstvollen Roman die zwei Biographien, zwei Leben zweier Getriebenen, minuziös recherchiert. Auch wenn die Geschichten in den Fakten manchmal fast zu ertrinken drohen, entwirft Patrick Deville ein faszinierendes Panorama über zwei Menschen und ihre Zeit. Ein Panorama, das die Fantasie abenteuerlicher nicht hätte erfinden können. Lew Trotzki, der Macher – und Malcom Lowry, der Zauderer. Und trotzdem spült es beide über die nördliche Hemisphäre, auf einer Riesenwelle, die die Welt in den Zweiten Weltkrieg spült. Ein aufschlussreiches Buch über Trotzki, der Legionen besiegt, von einem Eispickel besiegt. Von Lowry, von Zweifeln zerfressen, der sich selbst mit Tabletten vernichtet.

“Er dachte immer, es genüge, recht zu haben, und genau damit lag er falsch. Er glaubte, es genüge, mit gutem Beispiel voranzugehen, mit Taten, körperlichem Mut, Rechtschaffenheit, Vernunft. Er ist ein antiker Held, ein Mann Plutarchs“

Jahrelang fährt Trotzki mit seinem Gefolge in einem gepanzerten Zug durch ein Riesenreich im Umbruch. 1937, mit 57 Jahren steigt Trotzki wieder in einen Zug. Diesmal in Mexiko, zusammen mit seiner Frau, einem mexikanischen General und der noch jungen Künstlerin Frieda Kahlo. Ein mit Holz getäfeltes Abteil. Drei Jahre später stirbt Trotzki in seinem zu einer Festung umgebauten Haus im Süden von Mexiko-Stadt. Ein Sowjetagent, der sich als Sekretär tarnt, erschlägt den Revolutionär mit einem Eispickel, nachdem Trotzki schon einmal knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Gab es eine Liebesgeschichte zwischen der Malerin Frieda Kahlo und dem ewigen Revolutionären Trotzki? Ausgerechnet Frieda Kahlo, von der man sagt, sie hätte Josef Stalin, Trotzkis Erzfeind verehrt. Patrick Devilles Roman „Villa“, Teil eines grossen von 1860 bis in die Gegenwart angelegten Grossprojekts, versprüht den Geist des Aufbruchs zwischen den Weltkriegen, von unerbittlich Suchenden, von Schicksalen, die aus heutiger Sicht fremd und viel weiter weg erscheinen als 70 Jahre. Ein dichter Teppich von Bildern, Stimmungen, Fakten, Querverweisen, schwindelerregend, gegensätzlich, bunt, ineinander verzahnt und beeindruckend konstruiert.

Zugegeben, es braucht auch eine Portion Biss, ein echtes Interesse an Geschichte und, zumindest in meinem Fall, die Muse, langsam zu lesen, um zwischendurch Atem zu holen. Zeit, um nachzuschlagen, virtuell oder haptisch. Erstaunlich genug, dass Patrick Deville einen lesbaren Weg findet durch die schiere Menge an Recherchematerial. Ein Buch über jene Jahrzehnte, die die Welt in weiten Teilen komplett veränderte.

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.

Bilgerverlag? Der Verlag mit dem Finger mehr? 2001 wurde der Verlag von Ricco Bilger und Kurt Heimann gegründet. Urs Augsburger und Urs Mannhart wurden in dem kleinen Verlag gross. Ein erstaunliches Unternehmen, das Bücher in einem unverwechselbaren Kleid entstehen lässt. Buchkunst, die viel Leidenschaft, eben einen Finger mehr als alle andern zeigt! Ein Verlag mit ungebrochenem Mut und eigenständigem Gesicht!

Patrick Deville, geboren 1957, ist ein französischer Schriftsteller. Nach Studien und der vergleichenden Literatur und der Philosphie in Nantes hat Deville im Nahmen Osten, Algerien und in Nigeria gelebt. In den neunziger Jahren hielt er sich in Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern auf. Er publiziert seit den achtziger Jahren. Seine Romane «Pura Vida» und «Äquatoria» wurde ins Deutsche übersetzt. Sein Roman «Kampuchéa» wird im Jahr 2011 von der Zeitschrift Lire zum besten französischen Roman des Jahres ernennt. Sein vorletzter Roman «Peste et Choléra» aus dem Jahr 2012 handelt von dem Bakteriologen Alexandre Yersin.