Arja Lobsiger „Jonas bleibt“, Orte Verlag

Als Finn starb, wurde alles anders. Etna, seine Schwester, hüllt sich in Schwarz, so wie Jonas sein Vater sich in sein Schweigen. Und Alice, Finns Mutter, zieht sich zurück, zuerst in ihr Innerstes, dann auf eine Vulkaninsel im Meer. So nah wie möglich an die Erinnerung und so weit weg wie möglich von der Gegenwart.

Eine Familienkatastrophe: Etna spaziert im Winter zusammen mit ihrem kleinen Bruder Finn am Fluss. Das Wasser ist gefroren. Spuren ziehen sich über das Eis. Und während sich Etna schon über die Böschung weg vom Fluss bewegt, traut sich Finn doch auf die glatte Schicht. Etna hört nichts, nicht das Knacken, nicht den Schrei, das Rufen. Nur weil er ihr nicht folgt, geht sie zurück und sieht nur das Loch im Eis. Finn taucht nicht wieder auf. Das Loch bleibt. Das Loch in der Familie. Etna ringt mit Schuldgefühlen, Finns Mutter mit unendlicher Trauer und Depression und Jonas, der Vater, nicht nur mit dem Tod seines Sohnes, sondern mit dem Zerbrechen seiner Familie. Was geschieht, wenn ein Kind stirbt? Was muss geschehen, wenn ein Kind stirbt? Arja Lobsigers Erstling ist ein feinfühliger Roman über den Einschlag eines Kometen, wenn nichts mehr dort ist, wo es einmal war, wenn Schäden irreparabel sind, wenn das, was zurückbleibt, ein Trümmerfeld bleibt. Arja Lobsiger hat sich für ihren ersten Roman einen schweren Stoff ausgesucht. Einen Stoff, an dem man leicht scheitern könnte. Dann, wenn sie darin ertrunken wäre, wenn sie die nötige Distanz nicht gefunden hätte. Aber Arja Lobsiger gelingt ein eindringlicher Roman über den Verlust. Nicht nur vom Verlust eines Lebens, eines Kindes, sondern vom Verlust einer Liebe, vom Verlust von Nähe und vom Verlust von Eltern. Denn so wie Alice und Jonas ihren Jüngsten verlieren, verliert Etna ihren Bruder und ihre Eltern. Jonas verliert Alice und Alice den Boden unter den Füssen.

Arja Lobsiger erzählt in zwei Strängen. Jonas sitzt im leer gewordenen Haus. Es soll abgerissen werden. Jonas ist längst aus dem Leben gerutscht. Er wartet auf den Tag, an dem er aus seinem Haus verschwinden soll, die Bagger die Mauern niederreissen werden. Das Haus, in dem alles geblieben ist, auch wenn die meisten Zimmer leergeräumt sind. Einziger Begleiter ist ein Fuchs in seinem über und über verwilderten Garten. Ein Fuchs, den er zu füttern beginnt, während er zu essen vergisst.

„In der Dunkelheit, die sie umgab, hatte Alice gespürt, wie die Lava an der Oberfläche abkühlte und erstarrte.“

Auf der andern Seite Alice, die es eines Tages an der Seite ihres Mannes nicht mehr aushielt und aus dem Haus, aus ihrem Zimmer mit den violetten (liturgische Farbe für „Übergang“ und „Verwandlung“) Vorhängen schlich. Ohne Nachricht, nicht einmal an ihre Tochter Etna, setzt sie sich ab auf eine italienische Vulkaninsel. Jene Insel, auf der sie einst als Familie zusammen mit ihren Eltern die glücklichsten Ferien verbrachte. Es ist kein Neubeginn. Alice wünscht sich auf dem Rücken des Vulkans den Ausbruch, der sich nicht einstellen will. Ein Kind in ihren leeren Bauch. Einen Sinn zurück in ihr Leben.

Ich mag dieses Buch und seine Autorin für den Mut. Nicht nur weil sie sich ohne Rührseeligkeit an dieses schwere Thema wagte, sondern weil die Sprache und der Erzählton dem Geschehen Bedeutsamkeit geben. Weil Arja Lobsiger nicht alles ausleuchtet, Interpretationsspielraum lässt. Weil die Ränder offen bleiben, ihr Personal im Buch neben Alice und Jonas wie nachts vorbeifahrende Autos in einen „Spielraum“ leuchten.

Ein Interview mit Arja Lobsiger:

Eine ganze Familie wird durch einen Strudel in ein Loch gezogen. Es gibt kein Zurück. War während des Schreibens von Anfang an klar, dass es für niemanden eine Rettung geben konnte?
Die Figuren wurden während dem Schreibprozess vom Strudel erfasst. Welche Auswirkungen der Tod eines Familienmitglieds haben kann, war mir jedoch bewusst. Für mich gibt es aber durchaus eine Rettung. Aus der Familiendynamik auszubrechen ist manchmal traurigerweise die einzige Lösung.

„Jonas bleibt“ in einem Haus, das abgebrochen wird. Er lebt weiter im Wissen, dass er gehen müsste, lebt aber in Wahrheit so, als gäbe es diesen einen Termin nicht. Ein starkes Bild. Auch ein Bild für den Zustand der Welt?
Ja, auf jeden Fall. Dem Ohnmachtsgefühl wird oft mit Ignoranz begegnet oder eben lieber nicht begegnet. Das erlebe ich als Lehrerin immer wieder im vergleichbar kleinen Kosmos Familie und im Grossen bei den Themen Umweltverschmutzung oder Flüchtlinge.

Alice, Finns Mutter, reisst sich aus ihrem dunkeln Zimmer und fährt auf eine Vulkaninsel im Mittelmeer. Auf der einen Seite eine Flucht, auf der andern Seite eine Ankunft an einem Sehnsuchtsort. Es brodelt im Inselgrund viel mehr als im kalt gewordenen Bauch Alices. Jonas bleibt auch auf seiner Insel. Finn ist im Wasser untergegangen. Muss man sich retten? Niemand stellt sich!
Jede Figur versucht auf ihre Art, den Tod zu verarbeiten und sich dem zu stellen, was ist. Für Alice ist ein radikaler Schritt der einzige Weg, aus den erstarrten Strukturen des Systems und der dumpfen Trauer auszubrechen. Auf Konfrontation versucht Etna zu gehen. Zu bleiben scheint in dieser Geschichte keine Lösung zu sein, auch für Jonas nicht.

Und dann der Fuchs, der in Jonas verwilderten Garten lebt, den er mit jenen Fleischstücken füttert, die eigentlich für ihn gedacht sind. Der Fuchs wird in dem Mass zutraulich, wie Jonas immer schwächer wird. Ein Werden, das Sie fast nur mit Innenwelten beschreiben. Wann kam im Schreiben der Fuchs ins Spiel?
Der Fuchs tauchte relativ früh im Schreibprozess in Jonas Garten auf. Mir war damals jedoch noch nicht klar, welche Rolle er einnehmen wird. Eigentlich war er nur als einmaliger Besucher eingeplant. Dann hat er sich immer wieder in den Garten und somit in die Geschichte geschlichen.

Der Roman beginnt und endet mit einem Blick in die Ferne. Kennen Sie diese Sehnsucht nach einer Flucht hinaus oder ganz in sich hinein auch in Ihrer eigenen Welt?
Ja, ich kenne die Sehnsucht nach dem Entdecken von unbekannten Orten und liebe es, zu reisen. Man könnte sagen, es ist eine Flucht, für mich ist es aber eine Reise zu mir selbst. Nirgendwo werde ich so stark mit mir konfrontiert wie ausserhalb gewohnter Abläufe und Systeme. Der Blick von der Ferne auf die Heimat und das eigene Leben wird ein anderer.

Vielen Dank für die Antworten. Danke für Ihre spannenden Fragen, die mir in dieser Art noch nicht begegnet sind. Für mich ist es erstaunlich, wie Sie meinen Roman erfasst und verstanden haben, das zeugt von einem aussergewöhnlichen Gespür für Geschichten. Mich berührt das. Sie haben mir auch neue Perspektiven auf meinen Roman eröffnet.

Arja Lobsiger, geboren 1985, lebt in Nidau (Schweiz). Sie studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Literarisches Schreiben und schloss ihr Studium 2009 mit dem Bachelor of Arts in Creative Writing ab. Anschliessend absolvierte sie an der Pädagogischen Hochschule Bern die Ausbildung zur Sekundarlehrerin. Arja Lobsiger veröffentlichte Essays und Kurzgeschichten in Zeitschriften und schrieb für den Zürcher Tages-Anzeiger einen Literaturblog. Sie ist Gewinnerin von Literaturwettbewerben, unter anderem des Berner Kurzgeschichtenwettbewerbs.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

«Literatur am Tisch» mit Jens Steiner und seinem Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger»

Am Montag, 15. Januar 2018, liest und diskutiert Jens Steiner. Alle Interessierten sind zu dieser ganz «privaten» Runde eingeladen. Um 19 Uhr zu Wein, Brot und Käse am grossen Esstisch an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil TG! Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme: Sie sollten das Buch gelesen haben! Melden Sie sich an und seien Sie dabei. 30 CHF inkl. Konsumation. info@literaturblatt.ch.

Rezension auf literaturblatt.ch!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander. Kosten für Teilnehmende inkl. Nachtessen und Getränke mind. 30 Fr., Beginn 19 Uhr

«Literatur am Tisch» soll Leserinnen, Leser und Autorinnen und Autoren an einen Tisch bringen, die Möglichkeit bieten, sich in ein echtes Gespräch, einen für beide Seiten zum Gewinn werdenden Austausch einzulassen. Traditionelle Lesungen oder Gespräche lassen Lesende auf Distanz, bieten kaum die Gelegenheit, eigene Lesarten, Gedanken miteinzubringen.»

«Lesungen auf einer Bühne sind das eine. Im intimen Rahmen von Gallus› und Irmgards Literatur-am-Tisch-Abenden ist man der mitdiskutierenden Leserschaft ungleich ausgelieferter, da Künstlergarderobe als Rückzugsmöglichkeit, erhöhte Bühne als distanzschaffendes Element und blendende Scheinwerfer fehlen, welche die Fragestellenden anonymisieren. Im besten Fall – und so einer lag bei meinem Besuch vor – erlaubt so eine Konstellation ein vertieftes Eintauchen, eine angeregte, kritische Diskussion, bei der man als Autor gezwungen wird, sich wieder einmal ganz grundsätzliche Fragen zum eigenen Werk zu stellen. Besonders ergötzlich gestaltet sich so eine Auseinandersetzung bei gutem Essen und feinem Wein am Tisch der Gastgeber in Amriswil.» Frédéric Zwicker

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen. Der Runde am 17. August war die bei vielen vorhandene jahrelange Erfahrung mit Diskussionen und Reflexion über Texte anzumerken. Mit Sorgfalt bitten die Gastgeber Gallus und Irmgard zu Tisch, und schon ganz bald ist man mitten in publizistischen und literarischen Fragen: Wer bestimmt das Cover eines Buches? Warum trägt es genau den Titel? Wie viel hatte die Autorin dazu zu sagen? Wie ist die Idee zum Text entstanden, wie erlebte ich die Schreibarbeit an einem Thema, das einem wohl nicht anders als unter die Haut gehen muss. Warum diese Erzählperspektive? Und wie spiegeln sich die Leser/innen im Text, den sie lesen? Diese und viele andere Fragen haben wir diskutiert. Dabei war es für mich immer wieder auch spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren. Danke!» Bettina Spoerri

Marion Poschmann «Die Kieferninseln», Suhrkamp

Gilbert Silvester nimmt seinen Traum ernst, sehr ernst. Ihm träumte, seine Frau Mathilde hätte ihn betrogen. Und weil ihre Vehemenz, die Aufgeregtheit, als er ihr ihre Untreue vorwirft, ihn nur bestärken, packt er seine Sachen, fährt zum Flughafen und besteigt eine Maschine nach Tokjo, möglichst weit weg.

“Als läge die Schuld plötzlich bei ihm. Sie ging zu weit. Das liess er nicht mit sich machen.“

Marion Poschmann schrieb mit viel Lust eine Parabel darüber, wodurch unsere Welt zugrunde geht. In keinem Moment der Menschheitsgeschichte waren wir weniger Herr über die Wahrheit wie in der absolut vernetzt scheinenden Gegenwart. Nie verschoben sich, verfransten Realität und Fiktion so sehr wie jetzt, wo man bei jeder Gelegenheit nachprüfen zu können glaubt. Die verschiedensten Seiten schwören uns auf ihre Wahrheit ein. Wahrheit als vielseitige Projektionsfläche. Und ausgerechnet der Traum, vom dem wir wissen, dass er gelesen werden muss, katapultiert den Wissenschaftler und Dozenten aus seiner Wirklichkeit. In ein Flugzeug, das ihn in ein Land trägt, das sich eigentlich in maximaler Distanz, weit entfernt und kaum lesbar von der seinigen zeigt. Er fühlt sich hintergangen, überzeugt, „aus dem Echten“ ausgesperrt zu sein. Nicht nur von seiner Frau Mathilde, der er sich nie ebenbürtig fühlte, sondern einer ganzen Welt, die ihn wegschiebt. Nicht zuletzt in seinen halbherzigen Studien zur „Wirkung von Bartdarstellungen im Film, Aspekte der Kulturwissenschaft, Gendertheorie und religiösen Ikonographie“. Er, der Experte für Bartfrisuren, ein bis ins Innerste Altbackener, fliegt in ein Land, wo Bärte allerhöchstens Zeichen mangelnder Hygiene sind oder wenn, dann schütter und spärlich bleiben. Er flieht in der Überzeugung, seine Frau sei verrückt geworden, sei sich „der fundamentalen Konstanten zwischenmenschlichen Umgangs“ nicht mehr im Klaren, zwinge ihn, auf grösstmögliche Distanz zu gehen.

Und ausgerechnet er, Gilbert Silvester, gabelt an einem japanischen Hochgeschwindigkeitsbahnhof einen zögerlichen Selbstmörder auf. Einen jungen Studenten, der in seiner Tasche ein Handbuch mit sich trägt, den „Complete Manual of Suicide“ (Den gibt es wirklich!). Den Sprung vor den fahrenden Zug verhindert, nimmt Gilbert den jungen Mann mit auf sein Hotelzimmer. Yosa ist Student, getrieben von seiner Angst des Scheiterns. Beide machen sich auf den Weg, Gilbert auf eine Pilgerreise auf den Spuren des klassischen Dichters Bashõ, Yosa mit seiner ganz anderen Reiselektüre von einem zum nächsten Selbsttötungshotspot. Eine Reise nach Erkenntnis, Erlösung und Erleuchtung. Wie einst japanische Wandermönche. Eine Reise nach ganz ungewöhnlichen Massstäben, an Orte der absoluten Gegensätze, nicht zuletzt europäischer und japanischer Lebensauffassung und Wahrnehmung. An Orte wie jenen Wald am Fusse des Fuji, den Aokigahara-Wald, den Wald der Erhängten. (Auch den gibt es!) Ein Wald, der mit Verbotstafeln warnt, voll mit Zurückgelassenem, Schuhen, Kleidern und Taschen, Hängengelassenem, abgeschnittenen Stricken und Überresten. Gilbert begleitet Yosa, hofft, dass der Schrecken, das Grauen sie beide vertreibt. Ausgerechnet hier geraten sie in eine Sackgasse, sie, die nichts anderes wollen, als das Ende ihrer Sackgassen. Sie verlieren sich im Wald, verirren sich auf dem Rückweg, müssen im Freien, ohne Licht im Wald der Erhängten übernachten. Zwei Verlorene, Verirrte, Vergessene. So wie die Kieferninseln an der Küste von Matsushima ein Ende einer Reise werden, ist das Buch voller Doppelbödigkeiten.

Gilbert Silvester ist vollkommen isoliert. Auch wenn er auf seiner Reise durch Japan seiner Frau eine Reihe Briefe schreibt. Keine Silbe steht da, mit der er auf die Gründe und Ursachen seiner Reise eingeht, kein Wort, das seine Frau anspricht, kein Satz, der über die eigenen Kopfverschlingungen hinausgeht. Briefe eines Immunen. Einer Gattung, von der es in der Gegenwart immer mehr zu geben scheint. Menschen, die nicht wirklich zu leben scheinen, selbst dann nicht, wenn sie mit dem Elementarsten konfrontiert sind.

So skurril die Handlung, so knirschend das Geräusch der kulturtektonischen Kontinentalplatten, die sich reiben und reissen, so poetisch das Buch. Dann, wenn Marion Poschmann ihren Silvester dichten lässt. Dann, wenn sie ihn die japanische Hochkultur suchen lässt. Dann, wenn die begnadete Schriftstellerin beschreibt, Bilder erzeugt, die genau wiedergeben, was Irrsinn zu erzeugen vermag. Grosse Literatur!

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.

Rolf Hermann „Üff nach Gondo“

Vam Donald Trump inschpiriärt, hätt där Büüunnärnämär und Präsidänt va där Helvetischu Vollpfoschtu Partii, där Franz Fondü usum Wallis, ä 10 Meetär hochi Müüru rund um d Schwiiz wällu büübu. Är hät 40 Tonnä Ziägilschteina und 20 Tonnä Beto uf schiinu Gamio gladu und hätt schi üffgmacht, Richtig Gondo. Will är abär ds Navigationsgrät uff dum Bürotisch värgässu hätt, hätt är wädär där Simplopass no Gondo, wädär Domodossola no Mailand gfunnu.

Är isch eifach immär wiitär gfaaru, bis nu schliässli ds Genua ä seer frindlichä, schwaarzä Haafuarbeitär aghaaltu hätt. Beidi hent änandär teif in d Oigä glüegt und hent värlägu glächlu. Dä sindsch gaa z Mittag ässu und hent bischlossu, fär immär zämu z bliibu. Und wasch am friäjiu Naamittag, Arm in Arm, wiidär Richtig Haafu schpaziärt sind, hätt där Franz Fondü gseit: Dass Gondo gaad äso grooss isch, hätti scho nit gideicht. Und där Makélélé Ruppu hätt lachändu gantwoortu: Oi miär isch Natärsch schoo immär ä biz z chlei gsi.

Auf nach Gondo

Von Donald Trump inspiriert, wollte der Bauunternehmer und Präsident der Helvetischen Vollpfosten Partei, der Walliser Franz Fondü, eine 10 Meter hohe Mauer rund um die Schweiz bauen. Er lud 40 Tonnen Ziegelsteine und 20 Tonnen Beton auf seinen Lastwagen und machte sich auf, Richtung Gondo. Weil er aber sein Navigationsgerät zuhause auf dem Bürotisch vergessen hatte, konnte er weder den Simplonpass noch Gondo, weder Domodossola noch Mailand finden.

Er fuhr einfach immer weiter, bis ihm schliesslich in Genua ein freundlicher, schwarzer Hafenarbeiter per Handzeichen bedeutete anzuhalten. Sie schauten einander tief in die Augen und lächelten verlegen. Dann gingen sie gemeinsam Mittagessen und beschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Als sie am frühen Nachmittag, Arm in Arm, wieder zurück zum Hafen spazierten, sagte Franz Fondü: Dass Gondo so gross ist, hätte ich nicht gedacht. Und Makélélé Ruppen fügte lachend hinzu: Auch mir war Naters schon immer etwas zu eng.

Vers Gondo

Inspiré par Donald Trump, l’entrepreneur de construction et président de l’Union Démagogique du Centre, le Valaisan François Fondue, voulait construire un mur de 10 mètres de hauteur autour de la Suisse. Il a mis 40 tonnes de briques et 20 tonnes de béton sur son camion pour partir vers Gondo. Parce qu’il avait oublié son GPS à la maison sur la table du bureau, il n’a pu trouver ni le col du Simplon, ni Gondo, ni Domodossola, ni Milan.

Il a simplement continué à rouler jusqu’à Gênes, où un Noir amical, en débardeur, lui a demandé, par signes, avec ses mains, de s’arrêter. Ils se sont regardés droit dans les yeux et se sont souris d’un air penaud. Ensuite, ils sont allés déjeuner et ont décidé de rester ensemble pour toujours. Quand, en début d’après-midi, ils sont retournés au port, bras dessus bras dessous, François Fondue a dit: Je ne pensais pas que Gondo était si grand. Et Makélélé Ruppen d’ajouter, en riant: Oui, pour moi aussi, Naters a toujours été un peu coincé.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo „Die Gebirgspoeten“. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015). Im Verlag „Der gesunde Menschenversand“ erschien 2017 „Das Leben ist ein Steilhang“, ein sprachlicher Hochgenuss voller Witz und Doppelbödigkeiten!

Catalin Dorian Florescu „Der Nabel der Welt“, C. H. Beck

Catalin Dorian Florescu, der 2011 mit „Jacob beschliesst zu lieben“ den Schweizer Buchpreis gewann, legt seinen ersten Erzählband mit Geschichten vor, die über einen Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind. Erstaunlich genug, dass der Band trotz allem den Eindruck eines Ganzen vermittelt. Ein Strauss an Fabulierkunst und Einsichten über Heimat und Fremdsein.

Wer Florescu als Erzähler noch nicht entdeckt hat, dem bietet sich hier die Chance. Und wer wie ich mit Hunger auf jeden neuen Florescu wartet, der wird mit mundgerechten Leckereien, zum Beispiel zum Vorlesen, nachts vor dem Einschlafen, belohnt. Aber keine süssen Geschichten, sondern Texte, die durchaus zu Träumen werden können. Und wer dann wie ich, einmal vom Florescu-Virus infiziert eine Lesung des Meistern besucht, wird staunen. Nicht nur über die Sprachkunst, die Vitalität des Autors oder die Präsenz auf der Bühne, die Nähe zum Publikum, sondern über das unerschöpflich scheinende Reservoir an Geschichten, das der Mann in sich birgt. Auch wenn man mit Recht behaupten kann, dass Catalin Dorian Florescu immer vom „Gleichen“ erzählt, seinem Thema; dem inneren und äusseren Konflikt zwischen Ost und West, dem Niedergang Rumäniens, der Flucht und der ewigen Suche nach einem Ankommen, dem Verlust von Heimat, dem Verlust von Familie.

Seine Erzählungen im Band „Der Nabel der Welt“, wie alle seine Romane, gründen im Schmerz drüber, eine Heimat verloren und nie wirklich einen Ersatz dafür gefunden zu haben. Im Schmerz darüber, dass das Leiden und die Trauer nicht weniger werden, selbst nach der Flucht ins vermeintliche Paradies. Im Schmerz darüber, dass die Sehnsucht bei all denen bleibt, die nicht gehen, nicht fliehen können oder wollen, die ausharren, längst desillusioniert nach immer wieder angekündigten Wendungen.

Florescu erzählt mit sprudelndem Witz, intelligent und gekonnt. Keine Spur von Bitterkeit, denn der Autor weiss, welch nie versiegende Quelle der Inspiration seinen beiden Seelen entspringt.

Im kommenden März erscheint im Residenz Verlag ein Essayband von Catalin Dorian Florescu: „Die Freiheit ist möglich“, über Verantwortung, Lebensinn und Glück in unserer Zeit – aus der Reihe „Unruhe bewahren“, in der schon Olga Flor und Illja Trojanow Beiträge veröffentlichten. „Wir leben in einer hysterischen Zeit, die zwar materiellen Wohlstand und unablässige Kommunikation gewährleistet, das Individuum aber mit seinen Gefühlen der Vereinzelung allein lässt. Doch nach dem Scheitern der grossen politischen Utopien sehnen wir uns umso mehr nach Glück, Verbundenheit und Nähe, sind aber in einem fragmentierten, beschleunigten Alltag gefangen.“ (aus der Vorschau des Residenz Verlags)

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Peter Höner „Kenia Leak“, Limmat

Ein kenianischer Clan, der bis nach Europa operiert, ein blinder, kenianischer Ermittler im Ruhestand mit einer brisanten CD, eine afrikanische Liebesgeschichte in der Schweiz, eine Freundschaft alter Männer, die an den Grenzen der Legalität zu zerschellen droht, ein Flüchtlingsheim, in dem die Hoffnung strandet und veritabler Fremdenhass.

Peter Höner ist Wiederholungstäter. „Kenia Leak“ ist der fünfte Teil einer Krimireihe um Jürg Mettler, ehemaliger Hotelier in Afrika, heute Dolmetscher im nahen Flüchtlingszentrum und Robinson Njoroge Tetu, einen kenianischen Ermittler im Ruhestand. Die beiden hatten sich nach ihrem letzten ermittlerischen Debakel aus den Augen verloren. Und nun, nach 20 Jahren, taucht Tetu zusammen mit seiner Enkelin auf, um sich mit Mettlers Hilfe von seinem Augenleiden zu befreien. So plötzlich, aus dem Nichts, obwohl Tetu genau dieses Angebot Jahrzehnte ablehnte. Die Ahnung Mettlers bestätigt sich bald. In Tetus Gepäck sind 4 CDs, die die schmutzigen Geschäfte eines der wichtigsten Clans in Kenia dokumentieren sollen. Daten, die in die Hände,der Richtigen kommen sollen, Daten, die den Clan des kenianischen Finanzministers Kimele endlich in die Knie zwingen sollen. Aber die Ungeduld der beiden alten Männer und die Tatsache, dass auf den Namenslisten in den Dateien auch Mettlers Name auftaucht, sähen Gift in die so schon fragile Altmännerfreundschaft – und rufen die langen Arme des Clans auf den Plan. Und als Naomi, Tetus Enkelin, mehr als nur ins Visier der Schergen des Clans gerät und Moody, Mettlers Enkel in Liebe entbrannt, die Fassung verliert, droht die Situation zur ausgewachsenen Katastrophe zu werden.

Endlich hob Mettler den Kopf und sagte: „Ich habe nichts damit zu tun.“ „Das ist immer die erste Antwort“, stöhnte Tetu. „‚Ich habe damit nichts zu tun‘ war schon immer der erste Schritt zum Geständnis.“

Bei der Buchpremière gefragt, warum es denn ein Krimi sein müsse, erzählte Peter Höner, er habe mit dem ersten seiner Krimis ein interkulturelles Ermittlerpaar erfinden wollen. Damals habe er als Begleitung seiner Frau, die Korrespondentin in Kenia war, in diesem Land gelebt und sah am Strand all die Touristen, die Krimis lasen, die mit dem Land und dem Sand, auf dem sie lagen, so gar nichts zu tun hatten. Genau das macht den Reiz dieses gut inszenierten Krimis aus. Peter Höner spielt mit den kulturellen Gegensätzen, mit zwei komplet verschiedenen Wahrnehmungen und Perspektiven. Tetu ist konservativ, straforientiert, Mettler viel eher der Psychologe. Tetu versteht die Welt in der Schweiz nicht, weder die Kamele, die durch die Weinberge schreiten noch das satte Grün links und rechts der Autobahnen und all das Brennholz für das sich niemand zu interessieren scheint. Aber er versteht auch seine Enkelin nicht, die in diesem Land innert Tagen zu vergessen scheint, woher sie kommt. Und er versteht die Menschen im Asylzentrum nicht, die den ganzen Tag warten und nicht sind, wo man sie brauchen könnte. Und Mettler versteht die Welt nicht mehr, die plötzlich Kopf steht und die Idylle im Haus über der Thur, zwischen Rebbergen und sanften Hügelzügen durcheinander bringt.

Peter Höners Krimi ist kein Buch, das Missstände aufdeckt oder Blut in Strömen fliessen lässt. Peter Höners Krimi lebt von der Psychologie, der Dramaturgie und den Dialogen, denen man sehr wohl anmerkt, dass der Autor über Jahrzehnte auf der Bühne agierte. Sympathisch werden die beiden alten Ermittler darum, weil ihnen der Fall schnell über den Kopf wächst, weil sämtliche Fälle in den fünf Krimis stets eine Nummer zu gross waren. Zu gross, um wirklich als Sieger aus einer Ermittlung aufzutauchen.

In Zeiten von Panama-Leak und den Paradise Papers aktueller denn je!

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen, ­aufgewachsen in Belgien und der Schweiz, Schauspielstudium in Hamburg und Schauspieler u. a. in Basel, Bremen und ­Berlin. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, 1986 – 1990 Afrikaaufenthalt. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern. Lebt und schreibt zusammen mit seiner Frau Michèle Minelli.

Webseite des Autors 

Titelbild: Aus dem Manuskript des Autors

Laura Freudenthaler „Die Königin schweigt“, Droschl

Fanny ist alt geworden. Nur ihre Enkelin und Hanna besuchen sie noch. Ihre Enkelin, weil sie erfahren möchte, was vor ihrer Zeit geschah und Hanna, weil sie von Fanny sagt, sie hätte ihr Leben gerettet. Ein sensibel geschriebener Roman über das Schweigen, über die verschiedenen Schichten von Wahrheit und die Angst vor drohendem Unglück.

“Die Königin schweigt“ ist eines jener Bücher, das mich reich belohnt. Ein Buch, das ein Versprechen einlöst. Eine mir bislang unbekannte Autorin, der ich von Herzen all die Kraft wünsche, die es braucht, um weiterzuschreiben. Eine Autorin, die es verdient hätte, zumindest in die Shortlist des Österreichischen Buchpreises aufgenommen zu werden.

“Was es bedeutet, dass einer tot war, verstand eigentlich niemand jemals.“

Fanny wohnt nach einem langen Leben zurückgezogen in ihrem Haus, das sie nach dem Tod ihres Mannes vor Jahrzehnten gebaut hatte. Ein Haus mit einem Sommerzimmer. Manchmal noch bekommt sie Besuch. Nicht nur von Hanna und ihrer Enkelin, sondern immer öfter auch von den Geistern ihrer Vergangenheit. Sie wuchs nicht weit von ihrem Haus in einem Dorf auf. Ihrer Eltern waren Bauern. Als Fannys Bruder Tony im grossen Krieg sein Leben liess, starb auch auf dem Hof ein grosses Stück Leben. Zwar tat Fanny danach alles, um den Eltern zu helfen, auch als sie den Dorflehrer geheiratet hatte und die Kinder nach der Schule mit Essen versorgte, selbst als sie selbst einen Sohn bekam, ihn wie ihren toten Bruder taufte.

Aber das Glück stellte sich nur halbherzig ein. Obwohl die Tochter den Eltern auf dem Hof nach Leibeskräften half, strafte der Vater sie mit offenherziger Verachtung für ihren Mann. Ihr Mann, der in Partei und Gesellschaft nach dem Krieg Karriere machte, abends öfters in Wirtshäusern als zuhause war und das Tanzen mit seiner Frau vergessen hatte, verwickelte sich in Spielschulden. Der Hof der Eltern in der Senke musste verkauft werden. Die Eltern hatten wohl noch das Wohnrecht auf „ihrem“ Hof. Die neuen Bauern allerdings taten alles, um dem Sterben Fannys Vaters Vorschub zu leisten. Aus dem einst so starken Vater war ein Geist geworden. Und dann, eines Morgens, nachdem ihr Mann nicht zurückgekommen war, tauchten im Schulhaus drei Männer auf, unter ihnen der Pfarrer. Ein Unfall mit Todesfolge. Fanny würde mit ihrem Sohn ausziehen müssen. Weg vom Dorf. Weg vom Hof ihrer Eltern. Weg vom Getratsche des Dorfes. Vielleicht auch weg vom Gefühl, für alles Unglück verantwortlich zu sein.

Doch das neue Leben stellte sich nicht mehr ein, trotz der neuen Bekanntschaft zu einem Oberförster. Trotz der Enkelin, Tonys Tochter, die zuerst nur in Begleitung ihres Vaters, später auch alleine im Haus ihrer Grossmutter auftauchte. Aber auch diese Besuche wurden seltener. Nicht weil die Enkelin undankbar gewesen wäre, sondern Fanny ihr Leben mit Schichten umsponnen hatte. Nur nichts mehr tun, was das lauernde Unglück provozieren könnte.

Beeindruckend, wie Laura Freudenthaler beschreibt, wie sie mit überzeugendem Einfühlungsvermögen in die Personen in ihrem Roman schlüpfen kann, wie nahe sie dem Geschehen kommt, wie absolut glaubhaft sie in die Haut einer alten Frau schlüpft, die immer weniger wird. Laura Freudenthaler erzählt von einem halben Jahrhundert auf dem Land, von Frauen, allein mit den Kindern zuhause, auf den Mann wartend, später auf den Sohn, den Morgen, eine Antwort, die Erlösung. Fanny ist gefangen von ihrem Unglück. Sie ergab sich der Erkenntnis, Unglück förmlich anzuziehen, obwohl sie sich stets mit Strenge davor zu schützen versuchte. So wie sich die Kälte in Fannys alt gewordenen Körper einnistete, ist da stets die Angst, etwas falsch zu machen. Die Urangst, was andere Laute denken könnten, zwängte sie ein. Nicht einmal die Versuche ihrer Enkelin, die Hüllen zu durchbrechen, glücken.

“Das Unglück war ein Wesen, das manchmal verschwunden zu sein schien, weit weg und nicht zu sehen, aber es verlor nie die Spur.“

Und doch ist es viel mehr als nur die Geschichte, die fasziniert. Laura Freudenthalers Sprache ist fein, von grosser Bildhaftigkeit und Musikalität. Kein Buch, das mich in den Keller zieht. Ein Buch, das mit ungeheurer Kraft beweist, was Sprache kann; ganz still und stilvoll bezaubern! Unbedingt lesen.

5 Fragen an Laura Freudenthaler:

Sie sind jung und es gelingt Ihnen mit bemerkenswerter Sicherheit ganz nahe an die alt gewordene Fanny und ihre Lebensgeschichte zu kommen, ebenso zart und vorsichtig wie beklemmend. Worin liegt der Schlüssel dazu?
Ähnliche Fragen kamen auch zum ersten Buch, obwohl darin kein alter Mensch als Protagonist auftritt: Woher wissen Sie all diese Dinge, Sie sind doch noch so jung. Wie könnte ich eine Antwort darauf haben? Es hat vielleicht mit meiner Wahrnehmung zu tun, die übergenau ist, sodass ich die Welt, Menschen auch, gewissermaßen in mich aufnehme. Das Schreiben ist die einzige Art, damit umzugehen, ich kann ja all das nicht behalten und muss es wieder heraus und in die Welt bringen.

Fanny nennt all jene, die noch einmal „zurückfahren“ wollen, sei dies nun im Kopf oder tat-sächlich abschätzig „Vergangenheitsfahrer“. Ist Fanny einer jener Nachkriegsmenschen, die gestraft durch eine kollektive Schuld nicht zu reflektieren trauen? Oder ist Fanny das Opfer ihrer selbst! Gefangen zwischen sich reibenden Wahrheitsschichten?
Mit Vergangenheitsfahrer bezeichnet Fanny ihren Sohn und die Enkeltochter, die dorthin zurückfahren, wo Fanny einen Teil ihrer Vergangenheit zurückgelassen hat, und die etwas herausfinden wollen über diese Vergangenheit. Für Fanny aber ist es ihre Lebensgeschichte – ich glaube, es geht hier um einen sozusagen narrativen Generationenkonflikt. Die ältere Generation beansprucht das Recht auf das eigene Leben und auch das Verschweigen für sich, die jüngere Generation verlangt zu wissen, um sich selbst, die eigene Herkunft besser zu verstehen. Diese Forderung der Jüngeren nach einer Vergangenheit, die sie selbst nur indirekt betrifft, hat etwas Übergriffiges (zugleich legitim, da die Vergangenheit ja auch auf sie übergreift, von einer Generation auf die nächste und übernächste und so fort). Auch meine Erzählung ist eine Anmassung.

Fannys Enkelin traut sich einiges. Einmal schenkt sie ihrer Grossmutter sogar ein Tagebuch, von dem sie hofft, dass die Grossmutter es mit all dem fülle, über das sie nicht reden will. Fanny schlägt fast alles aus. Muss man erlöst werden?
Es ist fraglich, ob Erzählen Erlösung bringen kann, ist doch Erlösung etwas Letztgültiges, ein Abschluss. Das Erzählen befreit nicht von dem Bösen, verurteilt es nicht einmal, sondern nimmt alles in sich auf. Das Erzählen dauert.

Fanny halst sich ein halbes Leben lang Schuldgefühle auf, die sie mehr und mehr in einen starren Kokon einwickeln. Heute therapiert ein Heer aus Psychologen und Psychiatern. Und social media lädt ein, das Innerste nach aussen zu kehren. Trotzdem scheint es nicht besser zu werden. Oder doch?
Es kann dann nicht besser werden, glaube ich, wenn Therapie und Selbstdarstellung im Sinne des „happy consciousness“ erfolgen, wenn, um auf den Begriff aus der vorigen Frage zurückzukommen, Erlösung und Glück Zweck und Ziel der Bemühungen sind und Therapieerfolg als Tauschwert des bezahlten Stundenhonorars erwartet wird.

Viele Episoden und Kleinstgeschichten in ihrem Roman wirken derart authentisch, als hätten sie sie selbst erlebt, als hätten sie sie über Jahrzehnte mitgetragen. Sicherlich die Leistung einer wirklich guten Schriftstellerin. Geschah das alles im Kopf?
Man kann wohl nichts schreiben, was man nicht in sich trägt. Auch Beobachtungen, auch Geschichten, die man gelesen oder von anderen erzählt bekommen hat oder die man sich vorstellt, trägt man in sich. Für mich war sehr erhellend, was Siri Hustvedt über diese Körper-Geist-Frage in Bezug auf das Schreiben sagt: sich zuerst einmal vor Augen zu führen, dass das Hirn ebenso Teil des Körpers ist wie die Niere oder der Magen. Das bedeutet auch, dass alles Gelesene, womit man sich „intellektuell“ auseinandersetzt, in das Unbewusste und den Körper eingeht. Und wie irrig ist die Vorstellung (der Schriftstellerin!), das Schreiben sei ein kontrollierter, intellektueller, bewusster Vorgang. Dies führt letztlich auch zu dem, worum es mir in diesem Roman ging: Alle Erfahrungen, Erinnerungen, alle Wahrnehmung, das Gesehene und auch das Geträumte sind im Körper aufbewahrt. Die Lebensgeschichte ist in den Körper eingeschrieben.

Noch einmal meine Verneigung vor Ihrem Roman und Ihrer Leistung.
Ich werde Ihr erstes Buch auch noch lesen und hoffe, dass Sie irgendwann einmal in meiner Nähe zu hören sind.

Laura Freudenthaler, geboren 1984 in Salzburg. Studium der Germanistik, Philosophie und Gender Studies, lebt in Wien. Die Erzählungen „Der Schädel
von Madeleine. Paargeschichten“ erschienen 2014 beim Verlag müry salzmann in Salzburg.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Daniel de Roulet „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“, Limmat

Ein Roman über zehn mutige Frauen, die sich vor mehr als 150 Jahren trauten, ihrer Sehnsucht nach einem autonomen Leben zu folgen. Die auf der Basis historischer Dokumente nacherzählte Geschichte einer Suche nach Glück, einem Leben ohne Hierarchie, sei sie von Männern in der Gesellschaft oder in der Kirche inszeniert.

Die Geschichte ist mehr als abenteuerlich. Aus heutiger Sicht fast unglaublich, wie viel Leidensdruck es auf der einen und Sehnsucht auf der andern Seite geben musste, dass junge Frauen eine Reise ins Ungewisse wagten. Eine Reise, bei der es meist nur dann ein Zurück gab, wenn man(n) reich zurückkehren konnte.

Daniel de Roulet, dessen Romane sehr oft eine starke politische Komponente mittragen, lässt Valentine Grimm erzählen, die letzte der zehn Frauen. Valentine ist alt. Ihr „Wir-Gefühl“, das sie in der Vergangenheit zuerst nach Patagonien, später auf eine „Robinson-Insel“, dann nach Tahiti und schlussendlich nach Buenos Aires führte, ist so gross, das Valentine selbst als letzte ihrer zehn in der „Wir-Form“ erzählt. Die Geschichte von Colette, Juliette, Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde, Valentines ältere Schwester Blandine und Valentine selbst. Sie alle wuchsen in der Gegend um die jurassische Stadt St. Imier auf. Eine Stadt, in der damals die Uhrenindustrie erwachte, sonst aber unsichere Zeiten durchlebte, erst recht als im Jahr 1851 die Unzufriedenheit vieler gegen die Obrigkeit Waffengewalt provozierte, Unruhestifter gejagt wurden, Ortschaften wie St. Imier bevölkerungsmässig förmlich explodierten. Doch die Aufbruchstimmung setzte sich nicht bis in die Familien und Traditionen durch. Die Frauen trafen sich, lasen in Zeitschriften vom Paradies in Übersee und schmiedeten Pläne. Die beiden Ersten, Colette Colomb und Juliette Grosjean, wanderten jede mit einer Longine A20 als Kriegskasse aus. Sie wollten unbedingt fort, in der Hoffnung, dort ihre gegenseitige Liebe ausleben zu können. Doch wenige Monate nach ihrer Abreise erhielten die noch Zurückgebliebenen die Todesnachricht „erdrosselt“ und einen Koffer mit den Habseeligkeiten der beiden Verlorenen. Die beiden Longine A20 aber blieben verschwunden.

“Wir fassten die Emigration ins Auge, um uns ein neues Leben zu erfinden.“

Im Juni des Jahres 1873 machten sie sich auf, acht Frauen, Émelie schwanger, zur Südspitze Amerikas, an die Ufer der Magellanstrasse, jede eine Longine A20 als Talismann und Kriegskasse im Gepäck. In den Zwiebeln der Uhren liessen sie drei Geheimbuchstaben und eine Zahl von drei bis zehn eingravieren, denn die Eins und die Zwei gehörten den unglücklich Vorangegangenen. Im August 1873 besteigen sie in Brest die Fregatte La Virgine. Neben Passagieren und Besatzung sind auch fast 300 Strafgefangene an Bord, auch mutterlose Kinder, die ihre Väter begleiteten. Verurteilte Aufmüpfige, Abgeschobene, „Randale“. Schon auf dem Schiff beginnt der unablässige Kampf ums Überleben. Émelie und ihr auf dem Schiff Geborenes schaffen es nicht. Nur sieben steigen im chilenischen Punta Arenas aus. Ein Ort, der die sieben Frauen erst einmal mit Kälte und Nässe „empfängt“.

Die von Valentine Grimm erzählte Geschichte ihrer Truppe unerschrockener Frauen ist nicht nur eine Aneinanderkettung unglücklichen Leidens, Misserfolgs und ewigem Kampf. Die Sieben schaffen es, etablieren sich, leben ihr Leben und ihre Lieben, kriegen Kinder, gründen Geschäfte, leben vieles von dem, was in den engen Strukturen ihrer Heimat nie möglich gewesen wäre. Daniel de Roulet schrieb ein Denkmal all dieser Mutigen. Frauen, die nicht in erster Linie Politik machen wollten, aber in ihrer neuen Art des Zusammenlebens höchst politisch waren. Selbst die Art und Weise wie sie ihre Kinder erzogen, ist aus heutiger Sicht revolutionär. Daniel de Roulet schrieb mit diesem Roman über Frauen, die sich neu erfinden mussten, die herausgerissen waren aus scheinbar sozialer und gesellschaftlicher Sicherheit und in der Fremde, die nicht weniger frauenfeindlich war, nur als Gemeinschaft, als Kollektiv überleben konnten.

Ein beeindruckendes, ungeheuer spannendes, wichtiges Buch. Bei weitem nicht das erste Buch von Daniel de Roulet, das man gelesen haben sollte.


Daniel de Roulet, 1944 in Genf geboren, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Seit 1997 gewann er als Schriftsteller, Autor zahlreicher Romane und Essays viele Preise, vor allem in Frankreich. Er lebt in Genf. Im Limmat Verlag ist ein Grossteil seiner Werke auf Deutsch erschienen.

Maria Hoffmann-Dartevelle, die Übersetzerin von „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist sie u.a. als freiberufliche Übersetzerin französischer, schweizer, spanischer und südamerikanischer Autoren tätig.

Webseite des Autors

Alain Claude Sulzer «Die Jugend ist ein fremdes Land», Galiani

Keine Autobiographie, kein Roman, eine Sammlung von Geschichten, die nicht seine Person ins Zentrum stellt, sondern die Zeit, die sich im Leben Alain Claude Sulzers spiegelt. Für jene wie mich, die das Werk des Autors kennen, aufschlussreich, obwohl sich Alain Claude Sulzer als Motiv erstaunlich zurückhält. Für jene, die Alain Claude Sulzer noch nicht entdeckt haben eine Sammlung von Perlen aus den 60ern und 70ern.

Alain Claude Sulzer schrieb die Texte über Jahrzehnte, viele davon für Zeitschriften. Er beschreibt eine Zeit, von der nicht viel übrig geblieben scheint, in der sich aber trotzdem viele wiedererkennen werden, ein Stück Schweiz der 60er und 70er; vom Landessender Beromünster, von der Sehnsucht eines Lebens als Bohemien in Paris, vom unzähmbaren Groll zwischen Eltern, dem eingeschlafenen Zorn seinen Lehrern gegenüber. Literarische Schaufenster in eine verbilchene Zeit, in der die Fernseher zu flimmern und die Reisedistanzen zu schrumpfen begannen. In eine Zeit, in die ein Junge, ein Jugendlicher seinen Fuss hineinsetzte, unspektakulär zu wachsen begann, um mich dann später mit seinen Büchern zu überzeugen. Unauslöschlich für mich bleibt das Leseerlebnis seines 1998 erschienen Romans «Urmein», ein Roman über ein halb verfallenes Schloss, bewohnt von einer ungewöhnlichen Gemeinschaft aus Künstlern, Abenteurern und Damen der Gesellschaft, 1911 oberhalb vom bündnerischen Thusis.
«Die Jugend ist ein fremdes Land» ist ein Lesereisebuch in eine vergangene Zeit mit orangen Vorhängen, schwarzen Spannteppichen, an der Grenze zwischen «les welsches» und dem deutschschweizer Spiessbürgertum im baslerischen Riehen. Im letzten Text des Buches mit dem Titel «Weder noch» schreibt Alain Claude Sulzer: «Dieses Buch beginnt an einem beliebigen Punkt … es gibt keine Chronologie. Die Erinnerung denkt nicht in klar bestimmten Zeitfolgen.» Lichtblitze aus der Vergangenheit, erzählt und aufgeschrieben von einem Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderen teilzuhaben.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« und »Aus den Fugen«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den «Prix Médicis étranger», den «Hermann-Hesse-Preis» und den Kulturpreis der Stadt Basel.

Webseite des Autors

Annette Pehnt „Lexikon der Liebe“, Piper

Nachdem vor ein paar Jahren bei Piper der erste Band «Lexikon der Angst» herauskam, leuchtet Annette Pehnt in ihrem neuen Erzählband «Lexikon der Liebe» die Spielarten der Liebe aus. Nie sentimental, ohne rosa Brille, dafür mit viel Empathie und einem klaren, scharfen Blick in die Tiefen der Psyche, gepaart mit traumwandlerischem, sprachlichem Können.

Annette Pehnt ist eine Beobachterin, jemand, der sich nicht von Fassaden blenden lässt. Eine Schriftstellerin, die sowohl in ihrem Beobachten und auch in ihrem Schreiben um die Feinheiten, die Zwischentöne, das Bild dahinter bemüht ist. Annette Pehnt muss eine fleissige Schreiberin sein. Was sich unter alphabetisch gesetzten Titeln im Band «Lexikon der Liebe» sammelte, sind Geschichten, Augenblicke, Szenen, in denen sich Aussicht und Weitsicht auftut. Kein Lexikon, das den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen soll. Annette Pehnt fühlt in all den Texten mit und nach, ohne dass es emotionale Fäden zieht. Sie braucht keine Brille. Sie erzeugt ungeheure Nähe. Ob sie blinde Nähe einer Mutter, stumme Leidenschaft in einem Hotelzimmer oder den Kult um einen Gegenstand beschreibt, es sind Sehnsüchte aller Art. Annette Pehnt schreibt, was den Menschen bewegt. Im ersten Band war es die Angst, im zweiten nun die Liebe. Keine Rührseeligkeit und Sentimentalität. Ich erkenne mich und die Welt in ihren Texten wieder. Sie lügen nicht, heucheln nicht, machen mir nichts vor. Sie widerspiegeln, auch wenn der Spiegel zuweilen beschlagen den unmittelbaren Blick zurückprallen lässt. Manche Texte brauchen Zeit. Ein Buch, aus dem man sich gerne vor dem Einschlafen vorliest.

Vor Wikizeiten muss es Menschen gegeben haben, die aus purer Neugier in einem Lexikon blätterteten und lasen, auf der Suche nach nichts. Unter trügerischen Stichworten wie «Geschenk», «Knospen» oder «Morgenlicht» verbergen sich Miniaturen grosser und kleiner Ängste, fremder und bekannter. Die Angst einer Frau vor den Berührungen ihres Mannes, die Angst vor dem eigenen Schatten, die Angst, unnütz zu sein. Dramatisches, Unabänderliches, Tragisches, jeder Text Stoff für einen Roman. Da schreibt jemand, der die Psyche kennt, nicht nur die eigenen Ängste freizügig ausbreitet. Manche Texte sind abgerundet und «fertig» erzählt. Andere zwingen mich, die Gedanken, die Szene weiterzuspinnen bis zur Selbstreflexion.

Annette Pehnt, geboren 1967 in Köln, studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie als Dozentin und freie Autorin mit ihrer Familie in Freiburg im Breisgau. 2001 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«, 2008 den Thaddäus-Troll-Preis sowie die Poetikdozentur der Fachhochschule Wiesbaden und 2009 den Italo Svevo-Preis. 2011 erschien ihr Roman »Chronik der Nähe«, im selben Jahr erhielt sie den Solothurner Literaturpreis sowie den Hermann Hesse Preis. 2013 erschien der Prosaband »Lexikon der Angst«, 2014 war sie Mitherausgeberin der Anthologie »Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher«. Darüber hinaus schrieb sie mehrere Kinderbücher, unter anderen »Der Bärbeiß«. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman »Briefe an Charley«.

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