Bettina Spoerri „An einer steilen Strasse“

Ein paar Cafétische stehen am Strassenrand. Hier sitzt sie und geniesst es, auf die hellen Tischplatten zu schauen, auf denen sich milchigmild die Sonne spiegelt. Es ist heiss. An den Gläsern schlägt sich Wasser nieder. Ein weisser Sonnenschirm und ein hellgrüner Baum werfen Schatten. Am Tisch neben ihr sitzt ein junges Paar. Die übrigens Tische sind leer. Von Zeit zu Zeit gleitet ein Auto vorüber.
Sie blickt die Strasse hinunter.
Ein dunkles Auto nähert sich. Ein Mann fährt es schnell nahe an die weissen Tische heran, hält, lässt das Motorengeräusch versickern, öffnet die Türe, steigt mit einer geübten Handbewegung aus und lässt hinter sich Metall in Metall schnappen: Er weiss sich beobachtet. Er hastet in das Hausinnere.
Sie sieht, wie das Auto durch das Türschlagen in eine sanft wiegende Bewegung versetzt worden ist, wie es langsam und zögernd beginnt, rückwärts zu rollen, lautlos gleitet es die steile Strasse hinunter, immer schneller.
Alles ist still. Sie sagt nichts. Sie ruft nicht. Sie sitzt bei ihrem Glas unter dem Schirm und lässt ihre Augen dem grossen dunklen Gegenstand folgen, der sich entfernt.
In dem Augenblick, da das Auto die erste Kurve nimmt und im Erdboden zu verschwinden scheint – nur das gewölbte Dach ist jetzt noch sichtbar -, kommt der Mann mit zielstrebigen Schritten aus dem Haus, schaut, zögert – rennt los, die Strasse hinunter, dem Auto nach. Seine eiligen Schritte auf dem Asphalt ein trockenes Geräusch: Kurze Schläge auf ein zum Platzen gespanntes Trommelfell.
Schliesslich ist alles wieder still, hell, weiss. Die Eiswürfel klappern leise, als sie das Glas hinstellt. Würde man sie beobachten, könnte man sie nun lächeln sehen. Denkt sie, dass das Auto in einen Baum fahren wird? Oder in eine Hauswand, eine weisse Hauswand – zertrümmert liegt es da. Vielleicht aber rollt es immer weiter die Strasse hinunter, hinter ihm mit langen Schritten der Mann; das Auto nimmt alle Kurven und wartet zuletzt irgendwo auf ihn.
Sie blickt die Strasse hinunter.
Da schiebt sich etwas in den Horizont, von oben nach unten taucht das Auto wieder auf und nähert sich. Etwas langsamer und zaghafter als das erste Mal. Der Mann steuert es auf dieselbe Stelle vor dem Café hin, stoppt, öffnet die Türe und steigt vorsichtig aus. Ein Bein ums andere erscheint. Dann schliesst der Mann die Türe behutsam hinter sich.
Und nun steht das schwarzlackierte Auto schon lange unter der hellen, heissen Sonne und glänzt.

Bettina Spoerri ist in Basel aufgewachsen, studierte in Zürich, Berlin und Paris Literaturwissenschaft, Philosophie und Musik­wissenschaft, arbeitete nach einem längeren Aufent­halt in Israel als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und promovierte zum Thema literarische Todesdarstellungen. Ihre Romane „Konzert für die Unerschrockenen“ (2013) und „Herzvirus“ erschienen bei Braumüller. Bettina Spoerri arbeitet heute als freie Autorin, Filmkritikerin, Kulturvermittlerin und leitet das Aargauer Literaturhaus. Ihr Romanprojekt „Im Wellental oder das Ende der Unschuld“ soll bald zum Buch werden.

Foto: Ayşe Yavaş

Susan Kreller „Pirasol“, Berlin Verlag

„Pirasol“ ist ein Haus, eine Fabrikantenvilla neben der Papierfabrik „Johann Suhr und Söhne“. „Pirasol“ ist Schauplatz vieler Kriege, einem Ehekrieg mit einseitiger Bewaffnung, einem Vater-Sohn-Krieg mit ungleichlangen Schwertern, dem Rachefeldzug einer Vertriebenen und einem Kampf einer Frau ein Leben lang mit sich selbst.

Gwendolin ist 84 Jahre alt und lebt mit Thea, die 15 Jahre jünger ist, in der Fabrikantenvilla „Pirasol“. Eigentlich hätte Gwendolin alles für ein sorgenfreies Leben; Reichtum als Alleinerbin eines Industriellen, eine Familie und jemanden, der sich um sie „kümmert“. Wenn da die Geschichte nicht wäre; eine apokalyptische Kindheit und Jugend ums Ende des letzten Weltkriegs, die Hölle einer Ehe, den Verlust eines Sohnes, zweier Familien und den Terror ihrer Mitbewohnerin Thea.

“Den Tod hat Gwendolin erkannt, der Tod beginnt sein Leben dann, wenn man vor die Gräber der anderen gerät. Dann geht das Sterben los, ein für alle Mal, und die Falten im Gesicht sind nichts als Friedhofswege, über die man geht.“

„Pirasol“ heisst die Villa, weil einst ein Verwandter aus Brasilien half, dass das Haus überhaupt fertig gebaut werden konnte. Ein Zeichen der Dankbarkeit, ein Schild an diesem Haus, in dem Dankbarkeit verloren ging.

Ein grosses, stattliches Haus, lange bewohnt vom Papierkönig Willem, Herrenhaus der Papierfabrik „Johann Suhr und Söhne“. Gwendolin mag dieses Haus, trotz allem, trotz der üblen Geister, die sich darin einnisteten. Allen voran eine Ehe lang Willem, der sie aus der grauen Kammer einer Haushälterinnenschule heiratete und Thea, die nach dem Tod des Despoten und Familienoberhaupts die Geschicke des Gemäuers an sich reissen will. Thea droht Gwendolin mit Gwendolins verlorenem Sohn, der nach Jahrzehnten in die Stadt zurückgekehrt sein soll, ein Krimineller, die Schande, der Grund, warum einst ein Teil der Fabrik einem gelegten Feuer zu  Opfer fiel. „Der Junge“, Gwendolins Sohn, von dem sie sich in ihrer unausgesprochenen Schuld nicht einmal traut, den Namen auszusprechen. Von seinem Vater mit Schlägen, Missachtung, allen Formen des Entzugs gestraft, von seiner Mutter schutzlos allein gelassen, weil er sie mit in den Abgrund gerissen hätte. Dorthin zurück, woher sie vor der Ehe mit Willem gekommen war: Traumatisiert vom Verschwinden ihrer Mutter während der Feuerstürme über Deutschland und ihres Vaters ins KZ Oranienburg bei Berlin. In den letzten Kriegstagen versteckte eine Nachbarin Gwendolin hinter einem Medizinschrank vor den einrückenden Russen. Danach irrte sie herum, bis ihr Vater auftaucht, ein Totgeglaubter, einst ein sprachgewaltiger Theaterkritiker. Ausgezehrt bis auf die Knochen vor ihrer Wohnungstür, nur noch ein Gespenst, ein stummes Überbleibsel dessen, was einst Familie war.

Gwendolin verliert ihre Familie noch ein zweites Mal durch die starke und unbeirrbare Hand ihres Ehemannes Willem. Dieser drangsaliert seinen aus seiner Sicht nichtsnutzigen Sohn so lange und grausam, dass dieser mit einem Seesack aus dem Haus flieht, Feuer in der Kantine der väterlichen Fabrik legt und verschwindet. Aus dem Haus verschwindet, aus der Familie, nie aber aus dem zu tiefst in Schuldgefühlen blutenden Herz seiner Mutter Gwendolin.

Als Willem stirbt, alle Zeit und alle Mittel dagewesen wären, um sich auf die Suche nach dem verlorenen Sohn zu machen, taucht Thea auf. Ein Racheengel aus der Vergangenheit, ein vielköpfiger Drache, der sich in Gwendolins Haus festkrallt. Es entflammt ein Krieg, bei dem sich Thea eine ganze Meute Verbündeter zulegt und Gwendolin auf scheinbar verlorenem Posten zum Rückzug gezwungen ist. Wenn da das Wort nicht wäre, die Bücher und ganz zum Schluss jener Mut, den es braucht, um die Kröte auszuspucken.

Es sind nicht nur zwei Frauen, die sich gegenüberstehen. Gwendolin kämpft gegen das Ertrinken in den Tsunamiwellen des Krieges, in einem Ehe- und Vater-Sohn-Krieg. „Pirasol“ ist ein „Zwiebelroman“. Während des Lesens stösst man Schicht für Schicht hin zum Zentrum der Geschichte. Überzeugend gebaut von einer Autorin, die Psychologie verbildlichen kann. Die Geschichte Gwendolins, die unfreiwillig von einer Front zur nächsten taumelt. Ein Roman, fein gesponnen, bis zu einem Finale, einem scheinbar kleinen Schritt mit grosser Wirkung. Ein Roman über Familie und die Sehnsucht nach einem wirklichen Zuhause.

Ein Interview mit Susan Kreller:

Väter und Mütter, die nicht da sind, wenn man sie braucht. Väter, die prügeln und ihre Kinder zu brechen versuchen. Mütter, deren Hände gebunden sind, die sich in Schuldgefühlen winden. Familien, die nichts von dem versprühen, was das Idealbild verspricht. Ihr Roman zeichnet ein düsteres Bild dessen, wonach sich fast jeder sehnt. Belügen wir uns mit dem Idealbild Familie?

Nun ja, der Roman zeichnet ja auch ein überaus helles Familienbild, nämlich immer dann, wenn es um Gwendolins Kindheit bis zur Inhaftierung des Vaters im Jahr 1943 geht. Gwendolin ist ein geliebtes Kind und hat Eltern, die über Gwendolin hinaus auch noch einander lieben. Heller geht es nicht, finde ich. Mein Buch suggeriert also durchaus, dass das Idealbild Familie nicht notwendig eine Lüge sein muss. Dass Gwendolins Kindheit und das heile Familienleben zerstört werden, ist rein äußerlichen Faktoren geschuldet. Das Glück dieser Kindheit lebt dennoch fort und beschützt Gwendolin ein Leben lang. Allen düsteren Familienszenen im Buch steht immer diese glückliche und geglückte Kindheit gegenüber.

Gwendolins Vater wird ins KZ Oranienburg weggesperrt. Ein Politischer. Ein Mann des Wortes. Aus dem Lager schreibt er nichtssagende Briefe, codierte Briefe, die nur die Tochter versteht und seiner Frau verschlossen bleiben. Briefe, die irgendwann ausbleiben und das Schlimmste vermuten lassen. Sprache ist immer codiert. Sprache ist ein Code. Was steckt hinter dem Code ihres Romans?

Man kann die Sprache des Buches auf denkbar viele Arten decodieren, einen einzigen, festgelegten Code kann es m.E. gar nicht geben. Eine Möglichkeit eines solchen Codes könnte sein, dass der Sprachduktus der personalen Erzählinstanz zwar ein sehr ernsthafter ist, aber die ganze Zeit von Lakonie und Ironie durchzogen ist – genau wie Gwendolins Leben, das auf den ersten Blick nur schwer wirkt, in dem aber immer wieder Leichtigkeit, Verschmitztheit und Hoffnung aufleuchten.

Gwendolin ist eine Erdulderin bis fast am Schluss ihres Romans. Wahrscheinlich ein Wesenszug der meisten Frauen ihrer Zeit, bevor Frauen sich das Recht nahmen, sich zu emanzipieren. Braucht es die Emanzipation der Geschlechter? Bräuchte es nicht vielmehr die Emanzipation all jener, die noch immer nur erdulden?

Für mich war „Pirasol“ nie nur die Emanzipationsgeschichte einer Frau, obwohl die spezifischen Geschlechterrollen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich eine große und für den Roman wesentliche Rolle spielen. Trotzdem geht es hier vor allem um die Emanzipation eines stillen Menschen, eines Menschen, der durch die unglücklichen Umstände seines Lebens nahezu verstummt ist und erst spät den eigenen Ton lauter dreht. Gwendolin befreit sich aus dem Gefängnis ihrer eigenen Stille. Und es geht auch um Tröstung. Der Roman zeigt einen Menschen, der zum ersten Mal im Leben getröstet ist und seine eigene Traurigkeit zwar nicht ablegt, aber endlich annimmt.

Nach mehreren Kinder- und Jugendromanen ist „Pirasol“ ihr erster Roman in der „Liga der Grossen“. Spürt man unter den Autoren eine Zweiklassengesellschaft? Und worin unterscheidet sich das Erzählen, wenn es denn verschiedene Ligen gibt?

Ich versuche es meist auszublenden, dass es im deutschsprachigen Raum eine strikte institutionelle Trennung zwischen der Kinder- und Jugendliteratur und der sogenannten Erwachsenenliteratur gibt. Für mich gibt es nur eine einzige Literatur, und ich gehe beim Schreiben für verschiedene Adressatenalter weitgehend gleich vor. Natürlich gibt es trotzdem Unterschiede, vor allem mit Blick auf die Erzählstruktur, auf das Alter der Protagonisten und auf die Perspektive, aus der ein Thema behandelt wird. Und ein wenig auch mit Blick auf die Sprache. Aber ich bleibe dabei: Für mich gibt es nur eine Literatur.

Eine der Schlüsselszenen in ihrem Roman ist der Moment, wo der Papierkönig Willem die kunstvoll gefalteten Papiertiere seines Sohnes, die er in den gemeinsamen Ferienwochen mit der Mutter gesammelt hatte, alle im offenen Kamin verbrennt. Willem tut alles, um seinen Sohn zu brechen. Aber er bricht ihn bloss auf. Väter und Mütter machen Fehler, immer wieder, die meisten ohne es zu wollen. Wo liegt der Unterschied zwischen Fehlern, die man verzeiht und solchen, die unheilbar verwunden?

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Das ist sicher eine der großen Lebensfragen, und ich weiß nicht, ob man sie überhaupt pauschal beantworten kann. Ob ein Fehler verziehen oder nicht verziehen wird, hängt ja nicht nur vom Fehler ab, sondern auch von dem Menschen, der den Fehler verzeihen soll. In meinem Buch geht es aber ohnehin nicht ums Verzeihen, sondern eher darum, dass man mit dem, was die Fehler anderer Menschen (und natürlich die eigenen Fehler) im Leben angerichtet haben, zu leben lernt.

Vielen Dank!

Susan Kreller, geboren 1977 in Plauen, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über englischsprachige Kinderlyrik. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie 2012 mit dem Jugendbuch »Elefanten sieht man nicht« bekannt. Sie erhielt unter anderem das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium, den Hansjörg-Martin-Preis (2013) und 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Schneeriese«. Sie arbeitet als Schriftstellerin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in Bielefeld. »Pirasol« ist ihr Roman-Debüt im Berlin Verlag.

Franzobel „Die Trinkersonne“, Burgart-Presse

Gute Gründe, seine Zeit in den sozialen Netzwerken zu vertrödeln, gibt es wenige. Aber wer lange genug im Mist kratzt, stösst auch mal auf ein Samenkorn, vielleicht ein Geldstück oder sogar einen Funkelstein. „Die Trinkersonne“ von Franzobel aus der Burgart-Presse ist ein Funkelstein! 

Franzobel, 2017 vielen bekannt geworden mit seinem preisgekrönten Roman „Das Floss der Medusa“ legt zusammen mit dem Illustrator Kay Voigtmann einen ganz besonderen Erzählband vor. „Die Trinkersonne“, vier Erzählungen nebst fünf Radierungen Kay Voigtmanns, handkolorierte Bilder, die genauso wie Franzobels Erzählungen dem Schrägen huldigen. Skurrile Illustrationen neben skurrilen Erzählungen – als wären die beiden Künstler Brüder.

Vom Moment des Elfmeters im vollen Stadion, wenn nicht nur die Uhren langsamer ticken, sondern Menschen. Vom Tierpfleger im Zoo und den Geheimnisse in der Nacht, wenn alle Besucher für ein paar Stunden ausgeschlossen sind. Von einer höllischen Gondelfahrt, bei der man trotz Bergfahrt fällt und fällt. Und von der Müllsacksammlerin, dem letzten Menschen, der so etwas wie ein ganzheitliches Welterklärungsmodell besass. Wundersame Geschichten knapp an der Wirklichkeit. Geschichten, die einem mit einem Schmunzeln stehen lassen und man sich wie bei einem intensiven Traum wundert, was alles geblieben ist.

Zugegeben, wer das Buch kauft, muss tief in die Tasche greifen. Aber dieses Buch ist kein Gebrauchsgegenstand, kein Mitbringsel, niemals Altpapier. Es ist in dreifacher Hinsicht ein Kunstwerk; vier witzig, phantasievolle Geschichten, fünf kongeniale Radierungen, die eigentlich nie und nimmer ins Bücherregal gehören und ein Buch, dass sich in Buchkunst und Sorgfalt vom meisten, dass sich Buch nennt, deutlich abhebt. Ein Buch, ein Schatz.

Der Buchverlag burgart-presse wurde von Jens Henkel im Februar 1990 in Rudolstadt gegründet und ediert seither ausgesucht literarische und gestalterische Kostbarkeiten. Vorausgegangen waren seit 1985 einige bibliophile Bucheditionen für die Pirckheimer-Gesellschaft der DDR und für die Galerie Oben Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Heute ist die burgart-presse der einzige Verlag in Thüringen, der sich fast ausschließlich auf originalgrafische Künstlerbücher konzentriert.

Jens Henkel, Leiter der Burgart-Presse und Kustos der Heidecksburg Rudolstadt

Im Mittelpunkt des Verlagsprogramms, bisher sind über 110 Editionen entstanden, stehen Erstveröffentlichungen zeitgenössischer Autoren und Künstler. Die Einbeziehung von Originalgrafik und der Buchdruck im Handsatz lassen lediglich limitierte Editionen in einer Auflage von 50 bis 100 Exemplaren zu. Bücher und graphische Arbeiten für ausgesuchte Liebhaber. Für Bibliophile, die nicht nur einfach lesen wollen. Für Leidenschaftliche, denen Bücher durch die Hände mitten ins Herz gehen!

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, ist einer der populärsten und polarisierendsten österreichischen Schriftsteller. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas Born-Preis (2017). Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Krimis „Wiener Wunder“ (2014) und „Groschens Grab“ (2015) sowie 2017 sein Roman „Das Floss der Medusa“, für den er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und den Bayerischen Buchpreis erhielt.

Rezension zu „Das Floss der Medusa“ auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Umschlagentwurf des Künstlers Kay Voigtmann 

José Eduardo Agualusa „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, C. H. Beck

Ein Roman wie ein verschlungenes Wurzelwerk. Ein Roman, dessen Autor einem unweigerlich zum Freund wird, weil er mich verzückt, in Trance versetzt. Darf man überschwänglich sein? Ich bin es. Dieser Roman ist ein Meisterwerk. Er protzt nicht. Dafür ist er schlicht genial.

Es sind die ineinander verschlungenen Geschichten um Ludovica, ein lichtscheues Wesen. Perlenschnüre, die sich ranken und winden, jede einzelne ein Schmuckstück. Eine Art literarische Fuge, die aber derart natürlich gewachsen scheint, dass er für mich rätselhaft bleibt, wie ein Autor mit absolut unverkrampfter Leichtigkeit so schreiben kann. Ein Werk voller Überraschungen, bunter Charakteren. Ein Feuerwerk an Fantasie und sprachlicher Kreativität. Ein Buch, an dessen Ende man mit Verwunderung und Wehmut zurückblättert, überall noch einmal hineinliest, weil man erahnt, wie viel man der Spannung wegen überlesen hat oder sich erst erschliesst, wenn einem das grosse Ganze am Schluss der Lektüre bewusst wird. Ein Kunstwerk.

Angola in den Jahren des Umsturzes. Die Kolonialmacht Portugal zieht sich aus dem Land zurück und Chaos und Willkür bricht aus. In einem Hochhaus in der obersten Etage mitten in der Stadt wohnen Orlando und Odete. Kurz bevor die Unruhen ausbrechen, nehmen sie Lidovica, Odetes Schwester, bei sich auf. Nicht nur weil sie sich künftig um den Haushalt kümmern will, sondern weil Ludo seit dem „Unfall“ mit der Welt draussen nicht mehr zurechtkommt. Ein lichtscheues Wesen, der man den Panzer raubte.

Eines Abends, kurz bevor sich die drei ins Mutterland Portugal absetzen wollen, bleibt Ludo für einen Abend allein in der Wohnung zurück. Auch am Morgen danach. Orlando und Odete kehren nicht zurück, dafür die Panik in Ludos Leben. Nachdem Fremde am Telefon etwas zurückfordern, von dem Ludo keine Ahnung hat, findet sie beim verzweifelten Suchen in den Sachen ihres Schwagers einen Revolver. Ludo schiesst durch die geschlossene Tür, als drei schwarz gekleidete Männer durch die Türe rufen. Ludo schleppt den Toten hinauf auf die Dachterrasse, wo Orlando einen Garten anlegte, vergräbt die Leiche und mauert die Tür zur Wohnung zu, mit Backsteinen und Mörtel, aus dem ein Pool hätte werden sollen.

Ludo bleibt fast drei Jahrzehnte eingeschlossen in der Wohnung hoch über der Stadt. Zusammen mit Fantasma, einem Albino-Schäferhund, weggeschlossen von allem, mehrfach nahe am Hungertod.

Die Geschichte bleibt aber nicht hinter der zugemauerten Wohnungstür. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, nimmt Ludo Einfluss in das Geschehen in der Stadt. Revolutionäre, Folterer, Täter und Opfer kreuzen sich in einem Staat, der sich über die Jahrzehnte stets neu zu erfinden versucht. Ein Gewirr aus Geschichten und Handlungssträngen, das leicht leserlich bleibt und schlussendlich scheinbar spielend die Entwirrung findet.

Nach fast dreissig Jahren schlägt ein kleiner Junge mit einer Spitzhacke die Mauer von innen auf. Alles, war in der Wohnung aus Holz war, selbst der Parkettboden, ist weg. Und weil auch kein Papier mehr für Ludos Aufzeichnungen da war, sind alle Wände in der leeren Wohnung mit Kohle vollgeschrieben. „Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein.“

Diese 188 Seiten sind literarischer Hochgenuss. Ein Roman mit einem grossen Herz, viel Melancholie und dem tiefen Glauben, dass Liebe und Leidenschaft die grössten Geschichten schreiben. Eines der Bücher, die man auf die Insel mitnehmen will. Wie schade, kann man Ludovica nicht in die Arme nehmen. Aber lesen, lesen!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für «A General Theory of Oblivion».
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Michael Kegler, Übersetzer angolanischer, brasilianischer, mosambikanischer, portugiesischer und anderer portugiesischsprachiger Literatur. Herausgeber der Website www.novacultura.de über Literatur und Musik des portugiesischen Sprachraums. Mitglied der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Birgit Vanderbeke „Wer dann noch lachen kann“, Piper

Ich las Birgit Vanderbekes neuen Roman „Wer dann noch lachen kann“ mit angehaltenem Atem. Ein Buch, das zur Sprache bringt, worüber andere schweigen. Birgit Vanderbeke traut sich hinzuschauen, tut das, was ihr Herr Winkelmann damals im Flüchtlingslager, als sie selbst ein kleines Mädchen war, ans Herz legte. Er sagte: Immer ganz genau hinschauen, hörst du!

Birgit Vanderbekes Bühne ist die Familie. Keine Bühne mit Kulissen, sondern  wahrhaftiger Hintergrund. Sie erzählt von ihrer Kindheit, die man keinem Kind wünscht. „In dieser Sache hatte ich etwas Pech.“ Was lakonisch klingt, ist Programm des Romans. Birgit Vanderbeke malt nicht den Schmerz und die Verwundung. Sie zelebriert die Kraft, die sie daraus entwickelt. Eine Kraft, die sie zu Sprache macht.

Vater und Mutter sind da, wenn auch nicht so, wie es sich für das Idyll Kleinfamilie ziemt. Vater arbeitet sich in leitende Funktion hoch in der Chemie und Mutter versucht sich nach einem Arbeitstag als Lehrerin als Mutter und Hausfrau. Was nach Familie aussieht, birgt Höllenqualen. Schon ganz am Anfang des Romans setzt die Autorin dem Schicksal des Mädchens in ihrem Buch all die Schicksale Verfolgter, Geflohener, Heimatloser, Ertrunkener gegenüber. Solcher, die nicht „bloss“ Pech mit den Eltern, sondern Pech mit ihrer ganzen Welt, selbst mit ihrem eigenen Leben hatten und haben.

Mit der Familie geflohen aus dem Osten, vorübergehend in einem Flüchtlingslager und im Westen alles daran setzend, am Aufschwung teilzuhaben, ist das kleine Mädchen, das oft nicht will, wie man es gerne hätte, eine Last, ein Prüfstein, ein lästiger Klotz. Je länger die Kampfehe der Eltern dauert, je tiefer sich die Mutter in Abhängigkeiten von Ärzten und Medikamenten, von Beruhigungsmitteln und Diagnosen verliert, desto wichtiger wird abends die starke Hand des Vaters, die den Bengel ins Lot prügeln soll. „Das Mädchen braucht eine starke Hand.“ Und wenn das noch zu wenig ist, auch einmal eine Portion Valium aus dem Tablettensortiment der Mutter.

Das Mädchen hat nur sich selbst und die tiefe Stimme im Ohr, die sie liebevoll „Karline“ nennt. Und nachts tröstet sie der Mikrochinese, dem sie alles erzählen kann.

„Sie hören dir einfach nicht zu und denken, wenn sie dir nicht zuhören, hälst du irgendwann die Klappe, bist endlich still und isst deine grünen Bohnen.“

Die Misshandlungen an der Tochter werden zum Martyrium. Bei den Ausbrüchen des Vaters bleibt es nicht. Ebenso tief gehen die verbalen Verunglimpfungen der Mutter. Beschimpfungen und Verurteilungen, die mit Mutterliebe nichts gemein zu haben scheinen. Sie beschreiben höchstens den Grad der mütterlichen Verzweiflung. Ebenso schmerzhaft sind die nicht enden wollenden Gänge zu einer ganzen Kette von Ärzten – bis es mir als Leser beinahe den Magen umdreht.

Viel später lässt sich die mittlerweile junge Frau nach einem Verkehrsunfall überreden, einen Mikrokinesietherapeuten zu konsultieren. Er würde ihre dauernden Schmerzen im Gegensatz zur traditionellen Medizin behandeln können. Was dort geschieht, unter den Händen eines alten Mannes, dessen Wesen die Verkörperung des Mikrochinesen aus der Kindheit zu sein scheint, ist viel mehr als Schmerztherapie.

Birgit Vanderbekes Roman ist nicht einfach, weil ihre Sprache den Inhalt kontrastiert. In wenigen Sätzen steckt derart viel Katastrophe, ohne dass die Autorin diese ausmalt, dass einem beim Lesen klamm wird. Warum diesen Roman trotzdem lesen? Wer nicht bloss zur Erbauung und Unterhaltung liest, wer sich wie von Herrn Winkelmann damals im Flüchtlingslager aufgefordert fühlt, genau hinzuschauen, liest dieses Buch und staunt.

Fünf Fragen an Birgit Vanderbeke:

So wie Kinder in den Jahren des unbegrenzt scheinenden Aufschwungs oft sich selbst überlassen waren, so kontrolliert sind sie in der Gegenwart, nie mehr allein, ständig in digitaler Begleitung. Letzthin beklagte sich ein in die Jahre gekommener Pädagoge am Radio, er vermisse das Kindergeschrei draussen. So sehr aus übermässiger „Freiheit“ damals Einsamkeit werden konnte, scheinen sich Kinder und Jugendliche heute in der digitalen Vernetzung zu verfangen. Welchen Rat gäben Sie einer werdenden Familie?

Die digitale Kindheit ist eine Katastrophe.
Ich mag, was Edward Snowden dazu gesagt hat: „Ein heute geborenes Kind wird nicht mehr wissen, was Privatleben ist. Es wird nicht mehr wissen, was ein Moment Privatsphäre bedeutet, einen Gedanken zu haben, der weder aufgenommen wurde, noch analysiert. Das ist ein Problem, denn das Privatleben ist wichtig, das Privatleben hilft uns zu bestimmen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“
Und da allerdings fangen auch die kulturellen Unterschiede an. In Frankreich, wo ich lebe und wo mein vierjähriges Enkelkind lebt, sind
 die Bedingungen für eine Kindheit vermutlich etwas anders als in der Schweiz. Ganz sicher sind sie anders als in Deutschland. Hier in Frankreich werden die Kinder zunehmend nicht mehr geboren, sondern per Kaiserschnitt in die Welt befördert und sodann immer häufiger nicht gestillt, sondern mit künstlicher Nahrung gefüttert. Dies ist ein Trend in allen westlichen Ländern, der sich in naher Zukunft eher verstärken dürfte. Die Mütter in Frankreich geben – aus historischen Gründen und seit dem Ende des 2. Weltkriegs – ihre Kleinkinder sehr früh aus den Händen, oft schon im Alter von sechs Wochen, und lassen sie auswärtig betreuen. Die Folge ist in Frankreich ein, vorsichtig gesagt, kühles Verhältnis zu Kindern. Dazu paßt, dass junge Eltern schon mal den pädagogischen Rat bekommen, ihre Kinder während der ersten sechs Monate von elektronischen Medien möglichst fernzuhalten. Ab dann offenbar nicht mehr. Ich sehe im Sommer regelmäßig mengenweise Mütter, die in der Badeanstalt mit dem Display ihrer Apparate beschäftigt sind, während ihre Kinder gerade ihre ersten Kopfsprünge oder sonst irgendwas machen, für das sie sich sonderbarerweise Aufmerksamkeit, Beachtung oder sogar ein Lob gewünscht hätten, aber sie sind es nicht gewöhnt. In keinem Bereich ihres Kinderlebens. Selbst beim Essen.
Frankreich ist, was Kinder betrifft, vom ersten Lebenstag an eine weitgehend empathiefreie Zone. Entsprechend unbekümmert bedienen sich Eltern elektronischer Technologien, um sich ihre Kinder vom Leib zu halten, wobei „vom Leib halten“ ganz wörtlich zu nehmen ist: weg vom eigenen Körper. Auf Abstand. Von ganz klein an.
Umgekehrt ist es ebenfalls nicht ganz leicht: technologische und elektronische Abstinenz kann von einem bestimmten Alter an zum Handicap für ein Kind werden. Ich denke gerade jetzt oft darüber nach, weil im Augenblick unser Sohn und seine Frau der Auffassung sind, Louis sei noch nicht bereit dafür, den „kleinen Lord“ zu sehen, während ich der Auffassung bin, dass Louis besser demnächst den „kleinen Lord“ sehen sollte, als irgendwann mal bei einem Kindergeburtstag mit einem „ersten“ richtigen Film konfrontiert zu werden, den sich seine Eltern in diesem Fall nicht selbst aussuchen konnten. Nur am Rande: genau das ist im übrigen schon geschehen. Louis war mit seiner Schulklasse sogar schon zweimal im Kino, beide Male wurden Zeichentrickfilme gezeigt, die Eltern waren nicht dabei und wissen also nicht, was Louis gesehen hat. Einem solchen Kinobesuch hätte ich zum Beispiel nicht zugestimmt, während ich nichts dabei gefunden habe, mit meinem Sohn im selben Alter im Kino zuerst „Mary Poppins“, später „Sindbad der Seefahrer“ und im Alter von fünf Jahren zu Hause eine Kassette mit „Hatari“ anzuschauen, letztere Kassette übrigens so oft, dass er den Film bis heute auswendig kann. Fernsehen wiederum gab es nicht, und zwar weder für die Erwachsenen noch fürs Kind.
Das Spektrum reicht also von der kompletten Gleichgültigkeit, infolgedessen der elektronischen Verwahrlosung bis hin zu Zensurmaßnahmen im Dienste eines Kindeswohls, dessen Wahrnehmung oder auch Definition selbstverständlich im Rahmen des elterlichen Machtbereichs liegt, von dem man Eltern bitten möchte, ihn gelegentlich zu reflektieren, was aber sehr schwer ist, weil man als junge Mütter/Väter unaufhörlich mit grauenvollem pseudo-pädagogischen (wie auch pseudo-ernährungswissenschaftlichem) Zeug traktiert wird und das Kindeswohl ein heiß umkämpfter Markt mächtiger Protagonisten ist. Ich kann mich erinnern, dass ich „seinerzeit“ versucht habe, mich in der Beziehung zu unserem Sohn am liebsten überhaupt nicht pädagogisch, sondern nach Möglichkeit auf Augenhöhe zu verhalten, was ich im übrigen auch heute vertreten würde, weil ich es für ein Merkmal demokratischen Umgangs überhaupt halte.

Aus den Wunden Ihrer Kindheit wurde später schöpferische Kraft. Auch wenn der Schmerz durchdringt, höre ich keinen Zorn und schon gar keine Verbitterung. War es der Rat von Herrn Winkelmann, genau hinzuschauen, der Sie vor der seelischen Verätzung bewahrte? Nicht nur genau nach aussen hinzuschauen, sondern auch nach innen?

Ich habe diesem Onkel Winkelmann sehr vieles zu verdanken (und seiner Frau Eka und ihrem Mann, Onkel Grewatsch, ebenfalls, allen dreien): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Beispiel. Güte. Geduld mit mir und anderen. Vielfältigkeit im Leben und Denken. Aber auch eine gewisse Unerbittlichkeit. Gründlichkeit. Mut.

Sie setzen das Unglück des Mädchens von Beginn weg in Relation zu all den schlimmen Kinderschicksalen der Gegenwart. Verbirgt sich darin eine Spur Scham? Ihr Roman ist alles andere als eine nach innen gerichtete Bauchnabelschau, das das eigene Schicksal über alle andere setzt. Wieviel Optimismus ist übrig geblieben?

Keineswegs schäme ich mich für Dinge, die mir zugefügt worden sind, allerdings habe ich lange über etwas nachgedacht, was im Augenblick eine gefährliche Wendung in den westlichen Zivilisationen nimmt. Ich denke, dass ein Opfer das Recht hat, auf eine Tat hinzuweisen, die an ihm begangen worden ist. Im Strafrecht nennt man das „eine Anklage erheben“. Das Opfer ist allerdings nicht zu einem Urteil befugt. Das ist allein ein Richter. In der kürzlich zur Hysterie getriebenen „Me-too“-Welle hat man sehr genau sehen können, dass da etwas Entscheidendes vor einiger Zeit eingeführt wurde und inzwischen sehr drastisch passiert, indem nämlich die selbsternannten Opfer in unseren Kulturen zu ebenfalls selbsternannten (und von Medien in ihrer Selbsternennung ermutigten) Richtern werden. Das ist außerordentlich gefährlich, es setzt unser Rechtssystem außer kraft, und zwar nicht nur das juristische, sondern ganz allgemein unseren Kompaß, der ohnehin schon sehr ungesund auf die beiden Pole „Gut“ gegen „Böse“ zusammengeschrumpft worden ist. Das, was dazwischen liegt, nämlich der überwiegende Teil dessen, was Leben ausmacht, wird in seiner gesamten „Artenvielfalt“ mal kurz verdampft. Was inzwischen der Form nach entstanden ist, könnte man so formulieren: Jemand glaubt, dass ihm jemand anderes etwas Unerlaubtes angetan hat. Unerlaubt ist inzwischen dank unserer jahrelangen Übung in «political correctness» ziemlich vieles, manche dieser Verbote kenne ich oder kennt der „Täter» vielleicht gar nicht jeder, aber so ist es. Aufgrund dessen, was also jemand glaubt, dass ihm an Unerlaubtem angetan ist von jemandem, der vielleicht zum Zeitpunkt der Tat gar nicht wußte, dass es nicht erlaubt ist oder war, wird dieser Täter mal kurzerhand von demjenigen, der glaubt, dass ihm das angetan worden ist und von dem inzwischen jedenfalls die Medien wissen, dass es verboten ist oder war, verurteilt, und zwar immer zur Höchststrafe, weshalb ja Kevin Spacey heute seinen Beruf so wenig mehr ausüben kann wie Sebastian Edathy und Jörg Kachelmann, an dessen „Fall“ man genau erkennen kann, worum dieses Opfer-Theater geht, denn Jörg Kachelmann kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, obwohl ein Gericht ihn freigesprochen hat, und auch in Spaceys und Edathys Fall hat es entweder gar keinen Prozeß oder gar keine Verurteilung seitens eines Gerichtes gegeben. Wir sind also im Begriff, die Exekutive in den westlichen Zivilisationen aus der Instanz zu entfernen, wo sie in demokratische Verfassungen zu liegen hat und in gesellschaftliche Hände zu verlagern, die nicht dazu ermächtigt sein sollten, Urteile zu fällen und Strafen zu verhängen.

Sie erzählen in Ihrem Roman nicht aus. Da bleiben viele Leerstellen, die sich während des Lesens aber unweigerlich mit Vorstellung füllen. Manchmal beinahe penetrant, vorschnell. Sie erzählen aus einer Innensicht, spitzen zu, was mir als Leser oft den Atem stocken liess, auch aus Angst, was alles noch passieren könnte. Ihre Sprache braucht Stimme. Viele Passagen las ich laut – und sie drangen tief ein. Sie reduzieren, verdichten. Sind sie eine Dichterin?

Dichten ist rhetorisch das „Verdichten“, das metaphorische Sprechen und Denken.
In diesem Sinn bin ich absolut keine Dichterin.
Was ich tue, ist genau das Gegenteil: ich versuche, Zusammenhänge aus der Metapher rauszuholen. Ich denke – wie die meisten Frauen – überwiegend metonymisch. Das setze ich ein, um scheinbar von Stöckchen auf Hölzchen zu kommen (oder umgekehrt), assoziative Schleifen, das Abschweifen, auch manchmal das Weglassen zu erlauben, mit den Erträgen, die ich beim Abschweifen und Weglassen gesammelt habe, wieder zurückzugehen und auf diese Weise Klarheit in Verhältnisse zu bringen, die ich als „verschwiemelt“ oder auch metaphorisch verfestigt oder verknotet empfinde. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen, weil ich glaube, dass Klarheit etwas Wunderbares und Erstrebenswertes ist.

Sie widmen Ihre Aufmerksamkeit nicht dem Schmerz, sondern der Kraft, der inneren Kraft, der Selbstheilung. Wo ist die Grenze? Wie schafft man es, aus Schmerz kreative Energie zu gewinnen?

Keine Ahnung.
Ehrlich.
Aber ich denke darüber nach. Der dritte Band dieser Trilogie hat seit vergangener Woche einen Titel, den ich noch nicht verraten möchte. Bei mir selbst habe ich ein Wort für das, was im Augenblick ziemlich gelöscht wird und ziemlich weit auch schon ausgelöscht worden ist, und ich denke, da liegt ein Schlüssel: Es so etwas wie „Menschenwissen“.
Vielleicht kriege ich’s raus oder komme der Antwort näher. Ich weiß es noch nicht.

Frau Vanderbeke. Ich bin tief beeindruckt von der Offenheit, die Sie zeigen. Ich bedanke mich für die geschenkte Zeit und bin sicher, dass die Antworten längst nicht nur mich zum Nachdenken zwingen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.

Webseite der Autorin 

Besprechung ihres vorletzten Romans auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Jürg Halter „Mondkreisläufer“, Der gesunde Menschenversand

Jürg Halter dichtet nicht auf dem Standbein und trotzdem aus dem Stand heraus. Jürg Halter ist Dichter und bezeichnet sich zuweilen als Drifter. Ein driftender Dichter ist er sicher. Ein Vorspiegler wörtlicher Tatsachen. Einer, der listig und lustig behauptet, den Dingen aber nie den Ernst nimmt, denn Jürg ist nicht Ernst.

„Mondkreisläufer“ ist fast ein Gespräch, erinnert an den Fragenkatalog von Max Frisch. „Wie oft hast du in deinem Leben etwas getan, wozu du dich entschieden hast? Stehen Fühlen und Denken bei dir noch in einem Zusammenhang? Was für ein Verhältnis hast du zu deiner Machtlosigkeit? Wie lange beweist dich das Spieglein an der Wand noch?“ Jürg Halter fordert heraus. „Mondkreisläufer“ ist kein Roman, keine Erzählung, keine Geschichte. Ein Prosatext, der sich an mich wendet, der mich auffordert, mitzudenken, erst recht mit dem Denken anzufangen.

Als ich Jürg Halter zum letzten Mal zuhörte, war dies an der BuchBasel 2017 an der Greifengasse hinter einem Schaufenster. Er las drinnen als Teil einer Adventsdekoration und ich hörte draussen zu, in der Kälte, angeschupst von Vorbeieilenden. Er hörte mich nicht, ich ihn sehr gut durch einen Lautsprecher vor der Scheibe. „Mondkreisläufer“ ist genau so. Jürg Halter scheint mich zu sehen, aber nicht zu hören. Er scheint zu reagieren, auf mein Nicken, mein Kopfschütteln, mein Schulterzucken.

Die Lektüre flutscht nicht, sie beisst, kratzt und steht quer. In der Literaturlandschaft subversiv. Ein Monolog eines Wahn-sinnigen, der uns mitnimmt auf die Reise zu einer bergenden Mutter. Ein Text, der mich mitnimmt, mit Fragen und Aufforderungen:

Denken ist gefährlich, Denken hat Denken zur Folge, du wirst zum  Gedankenverfolgten, treiben sie dich in die Enge oder an den Rand des Abgrunds, können Gedanken tödlich sein.“

Ursprünglich war „Mondkreisläufer“ als Theaterstück geschrieben. Das Buch ist eine Weiterentwicklung des Theaterstücks in einen schillernden Prosatext, herausgegeben von einem Verlag, der sich wie der Autor Jürg Halter auf neues Terrain begibt.

Jürg Halter ist neben vielen anderen Gast am 3. Lyrikfestival NEONFISCHE 2018 im Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Am Wochenende vom 3. und 4. März lesen und performen neben Jürg Halter auch Joachim Sartorius, Robert Schindel, Kathrin Schmidt, Ernst Halter, Raphael Urweider, Frédéric Wandelère, Klaus Merz, Meret Gut, Cornelia Travnicek, Tim Holland sowie die Übersetzerinnen Elisabeth Edl und Marion Graf.

Bild: Corinne Futterlieb

Jürg Halter, geboren 1980 in Bern, lebt meistens in Bern, wo er Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern in studierte. Jürg Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zählt zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Auftritte in Europa, Afrika, den USA, Russland und Japan. Zuletzt erschienen: «Wir fürchten das Ende der Musik», Gedichte (Wallstein, 2014) und «Das 48-Stunden-Gedicht» mit Tanikawa Shuntarō (Wallstein, 2016).

Webseite des Autors

Ruth Loosli „Sonntag mit Klee und Sanne“, Gedichte

Allerheiligen

Falls die Toten
toter sind als
angenommen

schlagen die
Krähen lauter mit
ihren Flügeln

und krächzen
heiserer als
erlaubt ist.

 

Ein Mittwoch

Hier stand ein Zug
Und hier ein Haus

Hier wühlen ganz gewöhnliche
Gedanken.

Und da sticht die Forschung
in die Nervenstränge.

Hier stehen Bauarbeiter
mit ihren Helmen

Und begraben ihre eigene
Mahlzeit.

 

Beim Aufstehen im Restaurant

Nachschauen ob Zähne im Mund
Mantel auf Leib
Herz am rechten Fleck.

11.12.2017

 

Das Glück

ist ein gefräßiges Tier.
Es schlägt seine Krallen in meinen
Kopf und vergräbt sich lustvoll in den
Synapsen.
Dann liege ich lange wach und warte auf
den Morgen.

 

Sonntag mit Klee und Sanne

Ein ‚und‘ im Hund
damit er bellt
gefällt.

 

Sonntag mit Klee II

Es hat sich gelohnt
den Mond im Kalb
zu halbieren

und ihn um die Leber
zu drapieren.

 

Man könnte sich

man könnte sich
und den Hunger meiden
und auch das Wild
das sich so nah an die Häuser
traut

so nah an den Häusern
die Stimmen eines Hungers
man könnte sich
meinen mit dem Wild
im Bauch
das sich
so heftig
staut.

 

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg (Seeland), wo sie aufgewachsen ist. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Aktuell ist in derselben Reihe im Frühling 2016 der Lyrikband «Berge falten» erschienen.

Titelfoto: Anne Bürgisser

Jürgen Bauer „Ein guter Mensch“, Septime

Bereit für die Zukunft? Keine wie in „star wars“, keine mit einem satten Soundtrack im Hintergrund? Vielleicht wollen Sie sich dem Buch, dem Szenario gar nicht stellen. Der Roman verlangt einiges ab. Dafür belohnt mich das Buch mit einer Sprache, die wie die beschrieben Hitze flirrt und manchmal beim Atmen fast Schmerzen verursacht.

Marko und Norbert sind Brüder – Überlebende. Marko liefert zusammen mit seinem kaputten Kumpel Trinkwasser in einem alten Tanklaster. Norbert haust mehr schlecht als recht auf dem von allem verlassenen elterlichen Hof. Er ist krank, nur noch Haut und Knochen. Marko besucht ihn zwischendurch. Wenn Norbert Glück hat, fliesst Wasser durch die Rohre in der stinkenden Küche. Was die Vergangenheit zurückliess, ist ausgetrocknet, leer, knochendürr und ohne Hoffnung. Marko ist einer der letzten, dem der letzte Rest noch nicht genommen ist. Obwohl Grund genug da wäre, um allen Mut zu verlieren. Seine Frau verliess ihn, weil sie zurück zu ihren Eltern wollte. Seine Eltern verliessen ihn und seinen Bruder einst mit dem Versprechen zurückzukommen. Und Norbert, sein grosser Bruder, der ihn einst beschützte und den ganzen Hof zu erhalten versuchte, ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

“In Zeiten wie unseren hast du drei Möglichkeiten. Du kannst schreien, abhauen oder in die Hände spucken und mitanpacken.“

Die Erde brennt. Seit über einem Jahr kein Regen mehr. Wenn etwas vom Himmel fällt, dann der Ascheregen von den riesigen Bränden, die vor der fast verlassenen Stadt wüten. Es ist heiss. Es stinkt überall, nach Schweiss, Kloake, nach Kadavern. All die Gerüche aus der Vergangenheit gibt es nicht mehr. Sie verblassen wie die Erinnerung an die Zeit davor, an grüne, feucht Wiesen oder den Duft eines Parfüms.

Marko fährt Wasser dorthin, wo es gebraucht wird. Weil Wasser längst nicht mehr einfach aus Rohren rinnt. Weil nicht einmal die Feuerwehr mit Wasser die Brände zu löschen versucht. Weil an andern Orten der Welt die Menschen in den Fluten ertrinken und ganze Gegenden weggespült werden. Marko will für etwas nütze sein, will einer jener sein, die allen Widrigkeiten zum Trotz „in die Hände spucken und anpacken“. Was nicht einfach ist angesichts der Fatalitäten rundum.

“Ein guter Mensch“ ist mehr als eine Dystopie, sondern ein Roman über wahre Gefühle, über das, was als Bodensatz bleibt, über Familie und was einen hält. Über den Zusammenprall mit „der dritten Welle“, einer Bewegung, die alles in Frage stellen will. Stimmen, die schon heute argumentieren „Geht doch sowieso alles kaputt. Egal, was wir tun.“, gibt es schon jetzt genug. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir wohl auf der Kippe stehen, es uns aber in Europa so gut geht wie noch nie.

Ein Interview mit Jürgen Bauer:

Die Welt in ihrem Roman ist eine verbrannte, dem Sterben schutzlos ausgesetzte. Wer reich genug ist, setzt sich in jene Zonen ab, in denen es abgeschottet und abgeschlossen noch lebenswert erscheint. Wer bleiben muss, kämpft oder wird fatalistisch. Angesichts einer Gegenwart, in der vieles in eine solche Zukunft weist – darf man noch ein Vollbad nehmen, Nestlé-Mineralwasser trinken und den Rasen sprengen?

Man darf alles – ob man soll, muss jeder für sich selbst entscheiden. Was sicher nicht schadet: ein Abwägen der Konsequenzen, die die eigenen Handlungen haben. Allerdings glaube ich, dass der Hinweis: „Veränderung beginnt bei einem selber“ mittlerweile auch dazu dient, gröbere Verfehlungen zu verschleiern. Wir können alle unseren Wasserkonsum drosseln und auch sonst gute Bürger sein – es bräuchte jedoch eine gewaltige Anstrengung von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um den Karren (noch) aus dem Dreck zu ziehen. Genau das habe ich in meinem Roman ja auch versucht zu beschreiben: Es kann der einzelne noch so sehr ein „guter Mensch“ sein, wenn es größere Interesse gibt, die dem entgegenstehen, ist ein Scheitern unausweichlich.

Zog die Geschichte um Marko, der in ihrem Roman in einer kaputten Welt „ein guter Mensch“ zu sein versucht, Fäden bis in ihre Träume? Das Szenario ihres Romans jedenfalls hat alle Attribute, um sich in Träumen, in Alpträumen festzusetzen.

Nein, bis in die Träume hat mich die Geschichte nicht verfolgt. Zwar gräbt man sich beim Schreiben in sein Material ein, lebt mit den Figuren, aber neben der kreativen Arbeit ist das Verfassen eines Romans ja auch immer ein technischer Prozess, zumindest für mich. Ich denke parallel zu den Themen und Figuren auch immer an Dramaturgie, Aufbau, Stil. Und das sorgt für ein wenig Distanz. Sonst wäre mir bei den Themen sehr schnell sehr heiß geworden!

Warum gab und gibt es in Buch und Film so viele realistisch erscheinende Endzeitszenarien und gleichzeitig so viel bornierte Verweigerung, das Heft in die Hand zu nehmen? Ist ein Buch wie das ihre, eine Dystopie, eine Art des Schüttelns, des Aufrüttelns?

Das ist eine sehr schwierige Frage: Warum sind wir alle so lethargisch. Ich glaube tatsächlich, dass der Klimawandel, wie in meinem Roman beschrieben, (noch) sehr unbegreiflich ist. Bis auf Hitzeperioden und einige Wetterextreme leben wir noch sehr gut in Mitteleuropa. Das sieht in anderen Weltgegenden schon ganz anders aus. Ich bin überzeugt, dass die Menschen die schrecklichen Szenarien in der Theorie begriffen haben, aber in der Praxis noch zu wenig davon spüren, um tatsächlich Handlungen zu setzen. Allerdings geht es in dem Roman ja auch um eine größere Frage: Wie geht man überhaupt mit einer Welt um, in der den Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft abhandengekommen ist? Und das betrifft viele Aspekte des Lebens, nicht nur die Umwelt – auch Politik, Gesellschaft usw… Rebelliert man? Läuft man weg? Und ich glaube, viele Menschen sind von einer solchen Hoffnungslosigkeit auch gelähmt.

Marko ist ein Mann mit Prinzipien, ein Mann mit Moral, ein Mann, der den Optimismus nicht sterben lassen will, selbst angesichts von Chaos und Apokalypse. Liegt in Prinzipien die letzte Hoffnung, wenn Glaube fehlt?

Meine letzte Hoffnung ist immer Humor. Den muss man der Hoffnungslosigkeit entgegensetzen. Und es gibt ja auch im Roman einige Figuren, die das machen: Aleksander, Kali, sogar ein Ekel wie Kowalski. Ich wollte zeigen, dass es immer Auswege gibt. Dass der Optimismus nur funktionieren kann, wenn er nicht verbissen wird, sondern sich eine Freiheit bewahrt, einen Witz, der seine Feinde überwältigt.

„Die dritte Welle“ ist in ihrem Buch eine Bewegung, die mit permanentem Feiern und befremdenden Spass-Aktionen auf den unvermeidlichen Kollaps hinsteuert. Auch wenn es kein realen Pendant zu geben scheint, wie kamen Sie auf die Idee einer solchen „Bewegung“?

Es gibt durchaus reale Vorbilder, für mich waren etwa die Aktionen Christoph Schlingensiefs extrem wichtig. Die hatten genau den Witz, die Frechheit, die Doppeldeutigkeit, die ich bei der „Dritten Welle“ so schätze. Einmal etwa ging Schlingensief mit anderen Menschen im Wolfgangsee baden und wollte so das Urlaubsdomizil Helmut Kohls überfluten. Das war natürlich absolut surreal und größenwahnsinnig – aber auch sehr witzig. Und die „Dritte Welle“ versucht genau das. Wobei hier die Ziele gar nicht so klar sind. Auch die Figuren im Roman wissen ja nicht: Was will die „Dritte Welle“ eigentlich?! Und das macht die Attraktion der Gruppe aus, darum zieht sie aber auch so viel Hass auf sich.

Jürgen Bauer, vielen Dank für die aufschlussreichen Anworten.

Copyright: Barbara Pálffy

Jürgen Bauer, geboren 1981, lebt in Wien. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch „No Escape“. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky. Sein Debütroman „Das Fenster zur Welt“ erschien 2013 bei Septime. 2015 erschien sein zweiter Roman „Was wir fürchten“.

Webseite des Autors

Titelfoto: „Zeit“ © Philipp Frei

Patrick Deville „Viva“, Bilgerverlag

Auf Patrick Devilles grosser Reise „durch Raum und Zeit“ begegnet sich der 1940 ermordete Lew Dawidowitsch Bronstein, der sich in gefälschten Papieren nur noch Lew Trotzki nannte und der britischen Schriftsteller Malcom Lowry nicht wirklich. Aber Patrick Deville verwebt die zwei Geschichten; von einem, der Geschichte schreibt und einem, der eine Geschichte schreibt. 

Malcom Lowry ist der Autor des Romans „Unter dem Vulkan“. Während Trotzki in Mexiko im Exil seine letzten Jahre verbringt, schreibt Lowry unweit von Trotzki an der ersten Fassung seines 1984 verfilmten Romans, der zu den grossen Romanen des 20. Jahrhunderts gehört. Patrick Deville verwebt in seinem kunstvollen Roman die zwei Biographien, zwei Leben zweier Getriebenen, minuziös recherchiert. Auch wenn die Geschichten in den Fakten manchmal fast zu ertrinken drohen, entwirft Patrick Deville ein faszinierendes Panorama über zwei Menschen und ihre Zeit. Ein Panorama, das die Fantasie abenteuerlicher nicht hätte erfinden können. Lew Trotzki, der Macher – und Malcom Lowry, der Zauderer. Und trotzdem spült es beide über die nördliche Hemisphäre, auf einer Riesenwelle, die die Welt in den Zweiten Weltkrieg spült. Ein aufschlussreiches Buch über Trotzki, der Legionen besiegt, von einem Eispickel besiegt. Von Lowry, von Zweifeln zerfressen, der sich selbst mit Tabletten vernichtet.

“Er dachte immer, es genüge, recht zu haben, und genau damit lag er falsch. Er glaubte, es genüge, mit gutem Beispiel voranzugehen, mit Taten, körperlichem Mut, Rechtschaffenheit, Vernunft. Er ist ein antiker Held, ein Mann Plutarchs“

Jahrelang fährt Trotzki mit seinem Gefolge in einem gepanzerten Zug durch ein Riesenreich im Umbruch. 1937, mit 57 Jahren steigt Trotzki wieder in einen Zug. Diesmal in Mexiko, zusammen mit seiner Frau, einem mexikanischen General und der noch jungen Künstlerin Frieda Kahlo. Ein mit Holz getäfeltes Abteil. Drei Jahre später stirbt Trotzki in seinem zu einer Festung umgebauten Haus im Süden von Mexiko-Stadt. Ein Sowjetagent, der sich als Sekretär tarnt, erschlägt den Revolutionär mit einem Eispickel, nachdem Trotzki schon einmal knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Gab es eine Liebesgeschichte zwischen der Malerin Frieda Kahlo und dem ewigen Revolutionären Trotzki? Ausgerechnet Frieda Kahlo, von der man sagt, sie hätte Josef Stalin, Trotzkis Erzfeind verehrt. Patrick Devilles Roman „Villa“, Teil eines grossen von 1860 bis in die Gegenwart angelegten Grossprojekts, versprüht den Geist des Aufbruchs zwischen den Weltkriegen, von unerbittlich Suchenden, von Schicksalen, die aus heutiger Sicht fremd und viel weiter weg erscheinen als 70 Jahre. Ein dichter Teppich von Bildern, Stimmungen, Fakten, Querverweisen, schwindelerregend, gegensätzlich, bunt, ineinander verzahnt und beeindruckend konstruiert.

Zugegeben, es braucht auch eine Portion Biss, ein echtes Interesse an Geschichte und, zumindest in meinem Fall, die Muse, langsam zu lesen, um zwischendurch Atem zu holen. Zeit, um nachzuschlagen, virtuell oder haptisch. Erstaunlich genug, dass Patrick Deville einen lesbaren Weg findet durch die schiere Menge an Recherchematerial. Ein Buch über jene Jahrzehnte, die die Welt in weiten Teilen komplett veränderte.

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.

Bilgerverlag? Der Verlag mit dem Finger mehr? 2001 wurde der Verlag von Ricco Bilger und Kurt Heimann gegründet. Urs Augsburger und Urs Mannhart wurden in dem kleinen Verlag gross. Ein erstaunliches Unternehmen, das Bücher in einem unverwechselbaren Kleid entstehen lässt. Buchkunst, die viel Leidenschaft, eben einen Finger mehr als alle andern zeigt! Ein Verlag mit ungebrochenem Mut und eigenständigem Gesicht!

Patrick Deville, geboren 1957, ist ein französischer Schriftsteller. Nach Studien und der vergleichenden Literatur und der Philosphie in Nantes hat Deville im Nahmen Osten, Algerien und in Nigeria gelebt. In den neunziger Jahren hielt er sich in Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern auf. Er publiziert seit den achtziger Jahren. Seine Romane «Pura Vida» und «Äquatoria» wurde ins Deutsche übersetzt. Sein Roman «Kampuchéa» wird im Jahr 2011 von der Zeitschrift Lire zum besten französischen Roman des Jahres ernennt. Sein vorletzter Roman «Peste et Choléra» aus dem Jahr 2012 handelt von dem Bakteriologen Alexandre Yersin.

Margrit Schriber „Glänzende Aussichten“, Nagel und Kimche

Pia gehört eine Tankstelle in der Nähe der Autobahn. Pia trägt Latzhose und manchmal den Hut ihres schon lange verstorbenen Vaters. Er war ihr Lehrer gewesen, hat ihr alles gezeigt. Pia weiss alles über Motoren, auch wenn sie es selber nie für nötig gefunden hat, einen Führerschein zu erwerben. Pia wäre glücklich, wenn sich die Erde im immer gleichen Tempo drehen würde und die Männer so nicht wären.

1980, irgendwo im schweizerischen Mittelland. Noch hat es Wiesen hinter der Tankstelle. Selbst Gigi, Pias Nachbar, glaubt in seinem Containerbüro, dass er eines Tages seinen Occasionsverkauf teuer verscherbeln und dann irgendwo seine Haut an der Sonne schmeicheln lassen wird. Pia weiss, dass das wenige Geld, das sie mit Benzin, Sonnenbrillen und Illustrierten verdient, auf die Dauer nicht reichen wird. Was ihr ihr Vater einst als Perle übergeben hatte, droht an der Moderne zu scheitern.

Da sind auch die Männer keine Hilfe. Nicht der windige Luc mit seinem schnittigen Amerikaner, seinen Schmeicheleien und Drohungen. Nicht Gigi, der Occasionskönig mit seinen gebräunten Muskeln. Nicht Bolt, der Regionalvertreter des Benzingrossisten. Nicht Holzer, der Immobilienmann und Liebhaber ihrer Freundin Luise und schon gar nicht Andy, der Arzt, der sie einmal zum Glühen bringt. Höchstens Waldi. Aber Waldi ist ein Plüschhund auf der Kasse im Laden und nickt, wenn die Kasse klingelt. Er hört ihr zu.

“Glänzende Aussichten“ spielt gekonnt mit Klischees. Während des Lesens spielen sich unweigerlich Bilder ein, die an Filme erinnern, nicht zuletzt an solche mit Josef Hader. Dass die grosse Könnerin mit fast 80 derart spitzen Witz und Spitzigkeit in ihren Roman bringt, erstaunt nicht. Margit Schriber unterhält gekonnt, zeichnet ihre Figuren mit viel Liebe fürs Detail. Alle sind sie auf ihre Art Verlierer und Versager. Und wer den Roman liest, staunt über den Wiedererkennungseffekt. Zum Beispiel bei Luc, einst Pias Liebe. Bis Pia merkt, dass Luc viel mehr in sich selbst und seinen Auftritt verliebt ist und er bloss Personal und Zuschauer braucht. Einer dieser Aufgeblähten mit unendlichem Glauben an sich selbst, nicht zu brechendem Selbstvertrauen und der festen Überzeugung, die Sonne im System zu sein.

“Was uns tief im Innern trifft, darüber reden wir nicht.“

Pia kämpft sich durch, durch alle Widrigkeiten, die sich ihr in einer langen Kette entgegenstellen. Auch nach ihrem Entschluss, auf ihrem Grund eine Waschanlage bauen zu lassen, reissen Rückschläge nicht ab. Die Geschichte spiegelt das Frauenbild der 80er Jahre. Und wenn auch die Protzbeutel weniger werden – solange die Sorte zu Präsidenten werden, hat sich eben doch nicht viel geändert.
Und die Geschichte ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Margrit Schriber weiss wovon sie schreibt. Sie kennt den Geruch von Benzin und Motorenöl, auch wenn ihre Kurzbiographie nicht danach aussieht.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Margrit Schriber bei ihrer Buchpremière in der Kantonsbibliothek Schwyz

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau