literaturblatt.ch fragt Ariela Sarbacher zu ihrem Debüt «Der Sommer im Garten meiner Mutter»

Ariela Sarbacher, kürzlich Gast im Literaturhaus Thurgau, beantwortet Fragen, die ich ihr gerne gestellt hätte.

Dein Buch beginnt mit einer Frage und einer Antwort:
„Mamma, was passiert, wenn man tot ist?“ „Dann wird plötzlich alles dunkel.“ Dein Buch endet mit dem selbstbestimmten Tod der Mutter. Dazwischen liegt alles. Vom Licht, das ausgelöscht wird, bis zum Drang, das Licht selber auslöschen zu wollen. Hat sich dein Verhältnis zu Sterben und Tod durchs Schreiben verändert?
In der Auseinandersetzung um den Entschluss der Mutter lernt Francesca diesen zu respektieren und sie aus der Verantwortung der Mutterrolle zu entlassen. Dadurch ändert sich Francescas Verhältnis zu ihrem Leben. Ihr wird bewusst was es heisst, ganz auf eigenen Füssen zu stehen und für sich selbst weiter zu gehen. Ich selbst habe noch kein Verhältnis zum Tod, ausser, dass ich noch lange hier bleiben möchte.

Du hast in der Ich-Perspektive geschrieben und dabei viel Nähe zugelassen. Warum nicht eine Perspektive aus der dritten Person?
Ich wollte eine eindringliche Erzählperspektive einnehmen, in der sich die Figur der Tochter durch verschiedene Lebensalter hindurch in unterschiedlicher Tonalität mit der der Mutter konfrontiert. Die Unmittelbarkeit war mir wichtig, durch die die Leser sich der Perspektive der Tochter nicht entziehen können und an ihr reiben müssen. Die dritte Person hätte Distanz zwischen den Lesern und dem Text geschaffen.

© Lea Frei/ Literaturhaus Thurgau

Dein Buch erzählt nicht chronologisch, sondern springt in der Zeit, fügt Stücke zusammen. Es gibt ganz lange Einstellungen und ganz kurze. Eigentlich so, wie wirkliches Erzählen passiert. Als sässe man vor einer ungeordneten Schachtel mit Fotografien. Kannst du etwas über die Entstehung deines Buches erzählen, wie sich die Geschichten zusammenfügten?
… ja, so wie wirkliches Erzählen passiert und so wie man auch lebt: mal bin ich ganz gegenwärtig, dann lasse ich mich von der Vergangenheit einholen und vielleicht auch bestimmen, dann träume ich mich vorwärts in eine unbekannte Zukunft, bin wieder hier … Die Stimme der «Kleinen» brachte den Stein ins Rollen. Die Zeitsprünge entstehen jedoch innerhalb einer Chronologie und einer genauen Dramaturgie.

Dein Roman ist durchsetzt mit Gedichten. Du bist Schauspielerin. Die Protagonistin Francesca auch, aufgewachsen in Sprache, in verschiedenen Sprachen. Was bedeutet Sprache im Leben von Ariela Sarbacher?
Knappe Sätze, die in ihrer Aussage verdichtet sind, liegen mir mehr, als das Weitschweifige. In den Gedichten finde ich Ausgleich und Freiheit, komplizierte Sachverhalte in Rhythmus und Klang zu verwandeln, ohne sie ihrer Komplexität zu berauben. Das Gedicht lässt keine Erklärung zu, es spricht für sich. Sprache bedeutet für mich persönlicher Ausdruck – sowohl beim Sprechen als auch beim Schreiben – und, wenn es gelingt, Kommunikation mit anderen. Ich könnte mir nie für mich vorstellen ein Schweigeseminar zu besuchen, das wäre die Hölle! Rückzug ist mir wichtig, aber immer mit der Möglichkeit nach aussen zu kommunizieren. Sprache bedeutet auch Identität.

Keine Angst, dass das in einer zukünftigen Welt immer mehr schwindet oder sich bis zur Unkenntlichkeit verändert?
Ich frage mich manchmal, was die verkürzte schnelle Art der schriftlichen Kommunikation mit uns macht. Kommunikation findet auch auf der nonverbalen Ebene statt. Sprache geht durch den Körper. Deswegen ist es wichtig, den ganzen Menschen gegenüber zu haben. Darin sehe ich eine Gefahr, in dieser zunehmend digitalisierten Welt. Ich fürchte mich vor einer körperlosen Welt, in der man vor allem schaut, tippt und auf dem Bildschirm nur noch den Ausschnitt von sich wahrnimmt, den man wahrhaben will.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter in deinem Roman ist ein schwieriges, weit entfernt von der stets stark idealisierten Kind-Mutter-Bindung. Schon früh macht die Mutter der Tochter klar, dass sie nicht zur Mutter taugt, dass es besser gewesen wäre, es wäre gar nicht soweit gekommen. Schon alleine das wäre Stoff genug für ein Trauma. Aber die Mutter ist ehrlich. Hat Ehrlichkeit Schmerzgrenzen?
Die Mutter ist authentisch und handelt aus Überzeugung, ohne sich darum zu kümmern, wie die anderen damit zurechtkommen. Es ist nicht so, dass sie zur Rolle der Mutter nicht taugt, sie geht in der Rolle nicht auf.

Gibt es eine Beziehung, der man mehr Nähe zutraut, als einer Mutter-Tochter-Beziehung? Warum habe ich den Eindruck, dass die Nähe zu einem Vater nie von dieser Nähe sein kann?
Die Tatsache, dass ein Wesen im Körper einer anderen Person entsteht und neun Monate lang darin heranreift, ist nicht zu unterschätzen.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Francesca wird schon als kleines Kind klar, dass ihre Mamma anders ist, nicht nur in ihrer Art zu gehen, die von einer langen Krankheit in der Jugend der Mutter begründet liegt. Aber Francesca liebt ihre Mutter. Sie verteidigt ihre Mutter, so wie das alle Kinder bis zu einem gewissen Alter tun. So wie alle Kinder ihre Mütter lieben. Aber diese Liebe bleibt ambivalent. Wann wird eine solche Ambivalenz schwierig?
Nicht die Liebe ist ambivalent, sondern das Verhältnis zwischen den beiden.

Irgendwo in der Mitte des Buches steht: „Seit ich zurückdenken kann, bin ich traurig. Die Trauer ist flach. Ich werde sie nicht los.“ Das sind Sätze, die sich eingraben. Und trotzdem ist dein Roman nicht selbstzerfleischend. War das alles Plan oder war das Schreiben intuitiv? Wie erreicht man es, dass der Ton nicht weinerlich wird?
Es freut mich, dass Du diesen Satz erwähnst. Es war der Versuch, der Geschichte auf den Grund zu gehen, da hätte Weinen keinen Platz gehabt, ich wollte die Geschichte ja begreifen, so habe ich sie Stück für Stück fortgeschrieben.

Beitragsbild © Lea Frei / Literaturhaus Thurgau, 

Von Nähe und unsäglicher Distanz; Andreas Neeser im Literaturhaus Thurgau

Nachdem ich im Frühsommer 2014 Andreas Neesers Roman „Zwischen zwei Wassern“ unmittelbar nach einem Buch von Haruki Murakami gelesen hatte, musste ich den Autor unbedingt kennenlernen. So sehr mich der Erzählband Murakamis enttäuschte, so sehr faszinierte mich der Roman des 1964 geborenen Aargauers. Ich reiste von Amriswil nach Rothrist, an eine Lesung in der Bibliothek des Ortes. Eine denkwürdige Begegnung, denn seither begleitet mich das Schreiben und Wirken des Autors in seiner ganzen Vielfalt.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Andreas Neeser ist Erzähler, Romancier, Lyriker, Performer und vieles mehr in einem. Vor allem ist er ein Schriftsteller, der sich unglaublich nahe an seine Personen schreibt. Ein Autor, der die Musik in der Sprache liebt, ihren Klang, ihren Sound. Vielleicht ist dies eine Erklärung, dass Andreas Neeser sich in den letzten Jahren auch immer wieder der Mundart widmete. Und dabei nehme ich das Wort Mund-Art ganz wörtlich.

Ausgerechnet in diesem Frühjahr erschienen nun gleich zwei Romane; bei Haymon das Buch „Wie wir gehen“ und beim Zytglogge-Verlag der Mundart-Roman „Alpefisch“. Ausgerechnet in einer Zeit, in der keine Lesungen stattfanden, keine Festivals. In einer Zeit, in der die Buchverkäufe in den Keller rutschten und SchriftstellerInnen und Verlage in Existenznöte gerieten, Nöte, die noch längst nicht ausgestanden sind.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Wie wir gehen», Haymon Verlag Innsbruck: Was geschieht, wenn man es versäumt, eine gemeinsame Sprache zu finden? Wenn man sich trotz aller Liebe fremd bleibt? Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangenen Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden. 

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht. So wird ein Diktiergerät die Tür zu einem verschütteten Leben, zu mehreren verschütteten Leben, jenem des Vaters, der Tochter, des einstigen Mannes und der Geschichte von Mona selbst.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Alpefisch», ein Mundart-Roman, Zytglogge Basel: Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser lotet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Sommerfest im Literaturhaus Thurgau mit Ariela Sarbacher und «Stories»

Ariela Sarbacher mit ihrem Roman «Der Sommer im Garten meiner Mutter», die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler, die Illustratorin Lea Frei waren die Gäste und Akteure des Sommerfests, dem ersten Programmpunkt in der neuen Saison des Literaturhauses Thurgau.

Vielleicht ist es der Hunger nach Kultur in einer Zeit mit vielfältigen Mangelerscheinungen. Vielleicht ist es die Freude darüber, dass Ariela Sarbacher ihren Roman nun doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren konnte. Vielleicht aber, wie mit dem Sommerfest, wo so viele Formen des Genusses aufeinandertreffen: Literatur, Musik, Bildkunst, freundschaftliches Zusammensein und etwas für den Gaumen. Aber vielleicht auch, weil mit jeder neuen Programmleitung in einem Literaturhaus der Wind ein bisschen dreht.

«Stories» Christian Berger und Dominic Doppler

Ariela Sarbacher brachte ihren Debütroman „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ mit, der im Frühling dieses Jahres beim Bilger-Verlag in Zürich erschien. Ein beeindruckender Roman, der eine breite und begeisterte Leserschaft fand. Ein Buch, von dem ein Kritiker schrieb: „Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt.“

Nach einem lauschigen Vorabend im Garten des Literaturhauses wurden die Gäste Zeugen eines Experiments. Die Schriftstellerin Ariela Sarbacher und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler sahen sich an diesem Abend zum ersten Mal. Das einzige, was in den Wochen zuvor geschah; Ariela Sarbacher verriet den Musikern, welche Textstellen sie lesen, bzw. vortragen wird. Christian Berger und Dominic Doppler sind ein seit vielen Jahren eingespieltes Team. Sie lasen das Buch, spürten sich in den Text hinein. Vor ausverkauften Rängen schwang sich der Text unter dem Dach des Literaturhauses in ganz neue Sphären.

Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter. 

Jens Steiner, Schriftsteller, Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau, Gast im Literaturhaus Thurgau

Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.

Lea Frei zeichnet.

Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Webseite Literaturhaus Thurgau (Wird bald erneuert!)

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau 

Sandra Hughes «Tessiner Verwicklungen», Kampa Krimi

Eine junge Tote in einer Pastafabrik. An einem Ort im pittoresken Tessin, der sonst nur mit Idylle verbunden wird. Emma Tschopps Einstieg als Ermittlerin in der Welt von JägerInnen und Gejagten! Ein Verbrechen im Schatten einer steinernen Familiengeschichte? Ein Verbrechen aus der Vergangenheit? Sandra Hughes überzeugt mit ihrem ersten Krimi, schält ganz langsam, ganz genüsslich bis an den „Kern einer faulenden Zwiebel“.


Wenn es in Krimis darum geht, Ordnung zu machen, einen Fall zu lösen, dann mag ich dieses Genre nicht. Selbst wenn die Handlung, die Verstrickungen noch so verwirrlich sind und Autorin oder Autor sich bemüht, mir die Hauptperson nahe zu bringen – es bleibt ein schales Gefühl. Eben dieses schale Gefühl einer vorgegaukelten Ordnung, einer Ordnung, die es nicht gibt, einer Gerechtigkeit, die es nicht gibt. Denn selbst wenn eine Täterin oder ein Täter überführt, verurteilt und hinter Gittern ist, bleibt die Wunde offen. Verbrechen bleiben, Verletzungen bleiben, selbst wenn sie unsichtbar sind, selbst wenn sie vernarben, selbst wenn sie bezeugt sind.

In Sandra Hughes erstem Krimi sagt die Vermittlerin Emma Tschopp ganz am Schluss: „Mein ganzes Arbeitsleben lang kämpfe ich schon für die Gerechtigkeit. Aber es gibt keine.“ Darüber liesse sich abendfüllend diskutieren. Vielleicht gibt es eine Gerechtigkeit für die Gesellschaft. Aber mit Sicherheit keine für Opfer und TäterInnen. Opfer bleiben Opfer, erst recht, wenn ein Mensch sterben musste. Noch viel mehr, wenn das Opfer wie im Krimi von Sandra Hughes ein mehr oder weniger zufälliges ist. Auch für TäterInnen, denn selbst dann, wenn Haftstrafen nach ihrer Dauer und Geldstrafen in ihrer Höhe messbar sind, ist es für Aussenstehende sehr oft nicht nachvollziehbar, das die einen für Jahrzehnte weggeschlossen werden und andere auf Bewährung frei bleiben.

Sandra Hughes «Tessiner Verwicklungen», Kampa Krimi, 2020, 224 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-311-12013-1

Emma Tschopp, einundfünfzig, alleinstehend und kinderlos, Kriminalpolizistin bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft versucht mit ihrem Labrador Rubio und ihrem gelben Campingbus an einem Waldrand ein paar Kilometer von Meride, einem Tessiner Bilderbuchdorf, Ferien zu machen. Jene dreiundzwanzig Tage Ferienguthaben, die ihr zustehen und die entfallen, wenn sie nicht in diesem Jahr eingelöst werden. Aber weil eine Kriminalbeamtin auch in den Ferien Kriminalbeamtin bleibt, wird sie von ihren Tessiner Kollegen um Unterstützung gebeten, weil das Opfer wie Emma Tschopp aus dem Umland von Basel stammt.

Und das Opfer? Stefanie Schwendener war wenig über zwanzig. Eine junge Kindergärtnerin, die alle mochten, die im Tessin einen unbezahlten Urlaub machte, nachdem sie von einem Aufenthalt zuvor schon hingerissen war von einer neuen Welt, einer neuen Aufgabe. Sie bewohnte eine kleine Wohnung in Meride und bot Führungen an in der Pastamanufaktur der Familie Savelli im Ort. Eine kleine Fabrik mit langer Tradition, eine Perle im Ort am Fusse des Monte San Giorgio, Weltkulturerbe und weit herum bekannt für seine prähistorischen Fossilienfunde. Stefanie Schwendener wird eines Morgens vom alten Patron der Pastamanufaktur tot im Kühlraum der kleinen Fabrik gefunden. Eine Katastrophe für die Familien, jene des Opfers, die der Manufaktur und für das Dorf, das sich in Schockstarre befindet. Ein Fall, bei dem nichts zu greifen scheint und die Polizei unter dem Tessiner Commissario Bianchi an ihre Grenzen kommt. Ein Fall, an dem sich auch Emma Tschopp anfänglich die Zähne ausbeisst, weil wie immer alles in die Irre führt, was offensichtlich scheint.

Sandra Hughes sticht mitten hinein. Seien es verkrustete Familienverhältnisse, Geheimnisse, die nie an die Oberfläche kamen, aber über Jahrzehnte ihren Modergeruch verbreiteten. Hinein in Fassaden, hinter denen sich Abgründe auftun, nicht nur in Familien, sondern in Strukturen, die nach Aussen nur Gutes propagieren. So wie die barmherzigen Schwestern von Ballenmoos, die ein Kinderheim führen und über Jahrzehnte mit mehr als fragwürdigen Methoden das Leben von Kindern brachen. Eine Geschichte, die im Roman fiktionalisiert ist, aber im vergangenen Jahrhundert nicht bloss einmal Realität und Skandal war.

Emma trifft sich im Tessin manchmal mit Karin, auch einer, die sich im Kanton auf der anderen Seite der Berge ein Stück Paradies zu bauen scheint. Emma hilft Karin beim Erstellen eines Mosaiks vor dem Eingang zu ihrem Grotto. Ein Labyrinth, das von innen nach aussen gelegt wird, in entgegengesetzter Richtung zum eigentlichen Weg durch ein Labyrinth. Sandra Hughes bedient sich noch anderer starker Bilder; wenn die Tote dort gefunden wird, wo Hartweizengries und Wasser zu einer klebrigen Masse verrührt werden, einem Teig, der sich zu einem Genussmittel verwandelt.

Sandra Hughes erster Krimi ist ein gelungenes Stück Literatur, das weit mehr ist als Strandfutter oder buchgewordener Fastfood. Hintergründig und faszinierend konstruiert mit einer Ermittlerin, die für einmal nicht den gängigen Klischees entspricht, die KimiautorInnen gerne anzapfen, wenn es darum geht, einen neuen „Schnüffler“ zu kreieren.

Die Lesung von Sandra Hughes anlässlich der 2. Kulturnacht Amriswil entstand in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Thurgau.

© Sven Schnyder

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Bisher schrieb sie Romane für Erwachsene und eine Geschichte für Kinder: «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009, Limmat Verlag), «Zimmer 307» (2012, Dörlemann Verlag) und «Fallen» (2016, Dörlemann Verlag), «Das Dach» (2019, SJW). 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.

Sandra Hughes «Das Dach», sjw, 2019, 34 Seiten, ISBN 978-3-7269-0206-3

PS: «Das Dach» von Sandra Hughes ist ein wunderbares SJW-Heft für Kinder, die schon gut lesen können und Erwachsene, die gerne mit der Fantasie einer Schriftstellerin durchbrennen. Paul ist 11 und wohnt ganz oben im 8. Stock. Durch Zufall zeigt ihm der Fahrstuhl im Haus, dass es einen Weg aufs Dach gibt, in eine Welt, die den Erwachsenen verborgen bleibt!

direkt beziehen bei sjw.ch

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche

Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Dem kleinen Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht.

Wer bei «Literatur am Tisch» mit Jens Steiner bereits um 18 Uhr dabei sein will, sollte das Buch gelesen haben und sich unter sekretariat@bodmanhaus.ch anmelden. Die Platzzahl ist beschränkt!

Ob es die Autoposer sind in Hamburg oder Rorschach; vielleicht manifestiert sich auch in ihrem Verhalten die Lust nach Allmacht, nach unbegrenzter Kraft. Vielleicht auch ein bisschen bei all jenen, die sich eine Drohne anschaffen und irgendwo am Stadtrand mit zaghaften Flugversuchen beginnen; Verborgenes sehen, grenzenlosen Ein- und Durchblick. Bei all jenen, die sich ihr Brenn- und Vergrösserungsglas mit YouTube zu Nutze machen, denen man nichts mehr zu erklären braucht, weil sie die Allmacht ihres Wissens wie einen schwarzen Sack über die Welt stülpen.

Toni Manfredi wohnt in der 18. Etage in einem Hochhaus in Bethlehem. Dieses Bethlehem liegt nicht im Westjordanland, sondern im Westen Berns, eine Beton gewordene Ausgeburt der Nachkriegszeit. Toni lebt allein, seit seine Mutter gestorben ist. Und obwohl er schon eine ganze Weile in Rente ist und seine Mutter nicht mehr da, ist alles so geblieben, auch wenn das eine oder andere liegen bleiben darf. So wie die Holzspäne seiner Schnitzereien. Wenn er sich ein weiteres Mal an die heilige Familie macht, mit Ochs und Esel begonnen und final auf den Höhepunkt zusteuernd, wenn er sich an Maria mit dem Kindlein macht. Aufregen ist nicht seine Art. Aber er spürt sehr gut, dass sich da etwas zusammenbraut. Toni spürt das kommende Verderben. Auch wenn sein verkorktes Leben eines voller Fehltritte und Versäumnisse war. Ihm macht niemand mehr etwas vor. Nicht nach dem Banküberfall in Romanshorn, der Schiesserei in der Autobahnraststätte Würenlos und dem Verkehrschaos auf der Autobahn, nachdem bündelweise Banknoten auf die Fahrbahn flogen und der Verkehrsfluss zum Erliegen kam.

Auch Raffi spürt das, der Junge, der abhaut und den Weg der beiden kreuzt, die die Banknoten auf die Fahrbahn streuten. Er hat eine Mission. Er ist ein Abenteuerbeobachter, ein Nichtvergesser. Der Waldläufer und die Indianerin, bei denen er mit einem Mal auf der Rückbank des gestohlenen Autos sitzt, werden zu Figuren dessen, was ihm endlich die Welt erklären soll.
Regina taugt dazu nicht. Regina ist seine Mutter, eine, die nie Zeit hat, sich überall engagiert und nirgends richtig dabei ist. Nicht einmal als Mutter. Denn sie merkt erst nach zwei Tagen, dass der Inhalt des Kühlschranks unberührt bleibt und Raffis Bett kalt. Die Suche beginnt erst, als Raffi sich im Schweif des Waldläufers und der Indianerin eingerichtet hat. 

„Die Gegenwart hat sich darauf spezialisiert, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Und wenn sie dann merkt, dass der Elefant alles zertrampelt, ist es längst zu spät.“

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche, 2020, 240 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7160-2790-5

Auch Jacques Rance spürt es, der alte Mann in seiner Villa über dem Genfersee, von den eigenen Kindern ebenso vergessen wie von der Geschichte. An den einen Tagen schafft er es noch von einem ins andere Zimmer, an anderen nicht einmal aus dem Bett. Einzig seine Haushälterin ist noch da. Die letzte in einer ganzen Reihe. Er hasst sie. So wie das Leben, das sich nicht mehr in Ordnung organisieren lässt. Trotz der Versuche, trotz seines Geldes, trotz aller Zahlungen. Er hat vor einer Weile einen Brief geschrieben. Aber weil ihn auch seine Erinnerung verlässt, weiss er nicht einmal mehr an wen und worum es ging. Er weiss einfach nur, dass es sein letzter Versuch war, Ordnung in sein Leben zu bringen.

So wie Martin versucht, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zum Beispiel mit einer Einkaufstour ins nahe Ausland. Nach Konstanz. Shoppen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Weg vom Chaos, das sich in seinem Leben auszubreiten beginnt. Bei der Arbeit, den Blicken auf den gespannten Stoff der Neuen im Büro. In der Familie, in der er seinen Sohn in einem ungewollten Moment in Frauenkleidern erwischt. In dem Moment, als sein Chef ein unerwartetes Mitarbeitergespräch einfordert. Und erst recht seit sich eine Blase in sein Gesichtsfeld drängt, ein undefinierbares Etwas, das ihm die Klarsicht raubt. Etwas ganz links, das immer zerspringt, wenn er danach sehen will.

Jens Steiner beginnt seinen Teppich von den Rändern her zu knüpfen. Vieles fügt sich erst mit fortschreitender Lektüre zusammen, Entscheidendes erst auf den letzten Seiten. Alles hängt mit allem zusammen. Zerrt man am einen Strang, wickelt sich die Schlaufe um einen andern. Und wie schon in seinen vorangegangenen Romanen webt Jens Steiner subtile Gesellschaftskritik und beissenden Witz in sein Erzählen. Ich liebe Jens Steiners Art zu erzählen. Er fordert mich heraus und nimmt mich gleichzeitig mit. Er spiegelt das Leben, aber spielt nicht mit mir als Leser. Und wenn er seinen Roman dann auch noch im meiner unmittelbaren Umgebung spielen lässt, von Romanshorn über Weinfelden in der Ostschweiz, am Würenloser Fressbalken und den Wohntempeln in Bethlehem vorbei bis in die nach Wohlstand stinkenden Hänge über dem Genfersee durch die ganze Schweiz zieht, bekommt die Lektüre noch eine Würze mehr.

Köstlich!

© privat

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im Arche Literatur Verlag erschien 2017 sein Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» sowie 2018 der Kurzgeschichtenband «Weihnachten könnte so schön sein».

«Das Gleichgewicht der Welt», Kurzgeschichte von Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Ariela Sarbacher «Der Sommer im Garten meiner Mutter», Bilger

Geheimnisse gibt es in jedem Leben, in jeder Familie. Geheimnisse, die unausgesprochen, verschwiegen oder scheinbar vergessen wie schwarze Locher ein Familiengefüge bedrohen können. Ariela Sarbacher erzählt von einer Frau, die durch ihre sterbenskranke Mutter und ihren Willen auch den letzten Schritt selbstbestimmt zu gehen, jenes Licht zurückbekommt, das jene Löcher ein Leben lang zu schlucken drohte.

Samstag, 22. August!

Ich kenne Ariela Sarbacher als Schauspielerin, als Stimme. In einem Sommer sass ich ihr und ihrem Mann im Zug schräg gegenüber auf der Fahrt nach Leukerbad im Wallis. Dort gaben die beiden ihre Stimmen jenen Autorinnen und Autoren, die ihre Texte in deutsch nicht lesen wollten oder konnten.
Und in diesem Frühling hat Ariela Sarbacher sich selbst eine Stimme gegeben. Eine Stimme, die wegen der Pandemie aber des öftern zurückgepfiffen werden musste. So auch im Literaturhaus Thurgau, wo die programmierte Lesung am 2. April dieses Jahres den strikten Massnahmen zum Opfer fiel. Eine Stimme, der sich nun glücklicherweise doch noch ein Fenster öffnet, denn die Autorin wird ihren Debütroman am 22. August doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren können. Eine Veranstaltung, die mit Musik, Speis und Trank zu einem kleinen Sommerfest werden soll, zum Start in eine neue Saison.

Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter. 

Ariela Sarbacher «Der Sommer im Garten meiner Mutter», Bilger, 2020, 155 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03762-083-0

Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.

Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.

So ist die Stärke des Buches auch ihre Achillesferse. Die erzählerische Nähe der Autorin zu ihren Protagonisten suggeriert unweigerlich, dass vieles im Roman autobiographisch sein muss. Dabei spielt das für Literatur eine völlig unwichtige Rolle. Diese Nähe macht den Text zerbrechlich, führt mich ganz nahe an starke Emotionen. Dabei passiert diese Auseinandersetzung im und um den Tod mit allen, die zurückgelassen werden. Mit dem kleinen, grossen Unterschied, dass es im Sterben dieser Mutter im Roman eine Alternative zu geben scheint.

Aber wenn man „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ auf ein „Sterbe-Buch“ reduziert, wird man dem Roman nicht gerecht. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte von Francesca, ihrer Kindheit zwischen den Kulturen, zwischen Italien und der Schweiz. Francesca erfährt, was es bedeutet, hin- und hergerissen zu werden, nicht nur zwischen den Kulturen, auch zwischen Eltern, die sich irgendwann trennen, in den Gegensätzen dieser Welten. Francesca muss erfahren, dass es mit dem Sterbewunsch ihrer Mutter auch ein anderes Sterben gibt, als all jene Tode, die sich im Laufe ihres Lebens in die Erinnerung gruben. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte einer hellen Kindheit, wie sich der Wunsch, Schauspielerin zu werden, eingräbt, vom Kampf bis der Wunsch Realität wird. Von unsäglicher Fremdheit und schmerzhafter Nähe. Davon, dass aus jahrzehntelanger Distanz zwischen Mutter und Tochter nicht mit einem Mal Nähe entstehen kann, schon gar nicht unter dem Zwang einer lebensbedrohenden Krankheit. Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt. 

Ein ungeheuer bewegendes Buch.

Ariela Sarbacher wurde 1965 in Zürich geboren. An der Schauspiel-Akademie Zürich wurde sie als Schauspielerin ausgebildet. Ihre ersten Engagements führten sie ans Stadttheater Heidelberg und an die Bremer Shakespeare Company. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter liess sie sich zur Taiji-, Qi Gong- und Pilateslehrerin ausbilden. 2002 gründete sie ihre Schule »Einfluss«. Sie hat ein eigenes Präsenztraining entwickelt, mit dem sie Menschen für ihre Auftritte vor Publikum vorbereitet. Von 2017 – 2018 Ausbildung Literarisches Schreiben am EB Zürich. Heute arbeitet sie als Schauspielerin, Sprecherin, Schriftstellerin und Präsenztrainerin.

Webseite der Autorin

© Elke Hegemann

Das Sommerfest im Literaturhaus Thurgau wird musikalisch begleitet von «Stories»: Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula).

Webseite von Stories

«Das Literaturhaus Thurgau muss noch bekannter werden.»

Der Amriswiler Gallus Frei übernimmt ab dem Sommer die Programmleitung des Literaturhauses Thurgau für die kommenden drei Jahre. Er ist Literaturvermittler aus Leidenschaft und begeistert sich für neue Formate, die er auch in Gottlieben ausprobieren will.

Beitrag auf Thurgaukultur.ch
von Bettina Schnerr

Die berühmte Nacht hat er schon über die Anfrage der Bodman-Stiftung geschlafen, ob er die Programmleitung des Literaturhauses Thurgau übernehmen wolle. Doch die Zusage von Gallus Frei kam schnell, von Herzen und das spürt man, wenn man sich mit ihm darüber unterhält: „Nach meiner Zusage gingen mir sofort zahlreiche Ideen durch den Kopf, die ich alle realisieren wollte,“ erzählt er.

„Ich habe eine lange Liste von AutorInnen, die ich nach Gottlieben einladen will.“ Seine Begeisterung füllt das Programm des ersten Quartals gleich mit drei Veranstaltungen mehr als eigentlich vorgesehen. „Ich kann nichts dafür, dass ausnahmslos alle zusagten, die ich angefragt hatte,“ entschuldigt sich Frei augenzwinkernd.

„Es gibt viele Literaturbegeisterte, die nicht wissen, dass der Kanton ein eigenes Literaturhaus hat.“

Gallus Frei beginnt seine Arbeit für das Literaturhaus Thurgau mit derselben Energie und Verve, mit der er seit vielen Jahren für die Literaturvermittlung tätig ist. Bekannt ist er unter anderem als Blogger, der den Schweizer Buchpreis begleitet sowie als Rezensent, der dem Namen seines Blogs auf besondere Weise Leben einhaucht: Literaturblatt ist nicht nur das Zuhause seiner Buchbesprechungen, sondern auch der Begriff für seine handschriftlich verfassten und illustrierten Rezensionen, die er mehrmals jährlich an Abonnenten verschickt. Soeben versandte er mit dem 50. Literaturblatt eine Jubiläumsausgabe, wie immer verfasst mit kleiner, gleichmässiger Schrift und schwarzem Kugelschreiber.

Literaturvermittlung per Handschrift und gutem Essen

Diese Literaturblätter sind ein Markenzeichen des Amriswilers geworden, abonniert von mittlerweile mehr als 200 Personen aus Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz. Angefangen hatte er damit, weil die üblichen Computerausdrucke ziemlich lapidar zur Kenntnis genommen wurden. Er probierte eine handschriftliche Version mit grafischer Gestaltung aus und die Rückmeldungen waren, wie er sagt, „umwerfend“. Seither behält er die Technik bei und empfiehlt alle zwei Monate je vier ausgewählte Titel.

Über Jahre hinweg war sein Wohnzimmer auch das Zuhause von „Literatur am Tisch“, einem Format, bei dem er einen Autor oder eine Autorin nach Hause einlud und bei „Leckereien und Wein“ direkt mit seinen Leser:innen in Kontakt brachte. „Als Leser schätze ich die persönliche Begegnung mit einem Autor sehr,“ erzählt Frei. „Das verleiht dem Leseerleben immer eine zusätzliche Dimension.“

Dieses Format will Gallus Frei aus diesem Grund auch ins kommende Programm in Gottlieben aufnehmen. Nicht nur für die Leser:innen, sondern auch, weil seiner Erfahrung nach die Schreibenden diese Begegnungen geniessen: „Bei einer Lesung muss man das Buch nicht kennen und mitunter ist nur das moderierte Gespräch das, was die Zuhörer mit nach Hause nehmen. Doch wenn man mit den Künstlern an einem Tisch sitzt, ergeben sich vertiefte und neue Einblicke in das Werk,“ so sein Fazit.

© Bettina Schnerr

„Ich möchte Bücher mit einer gewissen literarischen Relevanz im Programm haben. Das Buch muss etwas mit mir machen, in mir auslösen.“
Gallus Frei, Programmchef Literaturhaus Thurgau

Was er generell ins Programm holen wird, sind „Bücher mit einer gewissen literarischen Relevanz. Das Buch muss etwas mit mir machen, in mir auslösen,“ beschreibt er sein Auswahlkriterium. Im Genre legt er sich nicht allzusehr fest. Das kommt seiner Idee zugute, künftig bewährte Formate mit neuen Konzepten zu mischen und die beruhen vor allem darauf, dass er verschiedene Sparten miteinander verbinden möchte.

Mit der Übergabe des Staffelstabs von Marianne Sax an Gallus Frei setzt sich zudem ein wichtiges Element in der Literaturvermittlung im Kanton fort: Das Literaturhaus soll stärker im Bewusstsein verankert werden. Sax veranlasste dafür bereits eine klarere Namensgebung, Frei wird die Bestrebungen fortsetzen. „Es gibt viele Literaturbegeisterte, die nicht wissen, dass der Kanton ein eigenes Literaturhaus hat“, stellt Frei immer noch fest. „Dabei ist dieses Angebot schon etwas Besonderes. In der gesamten Schweiz gibt es überhaupt nur sechs Stück und in Gottlieben steht tatsächlich eines der ersten.“

Dass Gallus Frei just in jenem Jahr übernimmt, in dem das Literaturhaus sein zwanzigjähriges Bestehen feiert, ist Zufall. Doch es fügt sich ausgezeichnet, dass das diesjährige Programm ab dem Sommer — da es Corona-bedingt ohne Feierlichkeiten auskommen muss — mit neuen Formaten geschmückt wird.

Den Start im August macht ein Abend mit Kat Menschik. Sie arbeitet als Illustratorin und Bücher mit ihren Bildern haben bei vielen Leser:innen Sammlerstatus. „Der Literaturabend mit ihr verspricht einen anderen Blick auf Literatur und ihre Wirkung,“ sagt Frei. Ein anderes Format folgt im November, wenn er Lyrik mit Musik verknüpfen wird.

Ein Konzept auf Improvisationsbasis, das er in Basel entdeckte: „Die Lyrikerin und die Musikerin treffen sich erst am Tag der Aufführung persönlich und haben einen Tag Zeit, die Lesung zu gestalten. Das Format braucht keine Moderation, ist sehr offen und wegen seiner Spontaneität sehr beliebt.“ Auch die Fans der klassischen Lesungen werden bei Gallus Frei auf ihre Kosten kommen. Das Programm läuft derzeit durch die Druckerpresse und wird Anfang Juli auf der Website des Literaturhauses bekannt gegeben.

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa Gatsby

Hansjörg Schertenleib veröffentlichte seinen ersten Erzählband «Grip» 1982, mit 25 Jahren. Seither ist die «Bibliothek Schertenleib» auf eine stattliche Länge gewachsen, der Autor ein Eckpfeiler der CH-Literatur. Aber keines seiner Bücher ist ihm selbst so nah wie sein jüngstes, «Palast der Stille», eine Perle aus der Gatsby-Reihe des Kampa Verlags.

Mag sein, dass die Lektüre dieses Buches für all jene ein ganz anderer Genuss ist, die seine Bücher und den Autor kennen. Mag sein, dass es für die NeueinsteigerInnen in den schertenleibschen Kosmos ein Erinnerungsbuch eines in die Jahre gekommenen Schriftstellers ist, ein Begleitbuch durch einen eiskalten Wintertag in Maine USA, wo der Autor seit ein paar Jahren zusammen mit seiner Frau ein kleines Cottage direkt am Meer mit Sicht auf einen kleinen Hafen mit Lobsterbooten von Hummerfischern bewohnt. Ein Tag von vielen, ganz allein mit sich selbst, um sich der Stille hinzugeben, aus der das Schreiben erwachen soll. Dann ist dieses Buch ein Spaziergang durch das Leben des Autors, als wäre ich Zeuge davon, wie Bilder im Kopf des Autors aufploppen; Erinnerungen, Ideenfetzen, Gedanken, Erklärungen, manchmal ganz nach innen gerichtet, manchmal mit cineastischem Geschick an die grosse Leinwand gemalt.

Wer Hansjörg Schertenleib kennt, dem begegnet in diesem Buch der Autor unmittelbar, als würde er mich an der Hand nehmen. Als wolle er mir zeigen, wie es sich schreibt, irgendwo zwischen Realität und Ideal. In diesem kleinen Haus am Meer auf Spruce Head Island, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute und sein heute berühmtestes Werk «Walden. Oder das Leben in den Wäldern» zu schreiben begann. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer ein real gewordener Sehnsuchtsort. Vorläufiger Endpunkt einer langen Reise, die immer auch Flucht war, vom ersten Moment seines Schreibens weg. Keine Flucht vor sich selbst, aber stets eine aus der Enge heraus in die Sehnsucht noch Offenheit, Weite und Unabhängigkeit.

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa, 2020, 176 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-311-21013-9

Es schneit fast ununterbrochen und das Thermometer ist tief in den Minusgraden. In dem kleinen Haus mit Wohnküche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer knacken Birkenscheiter im Ofen. Die Katze schleicht um seine Füsse, er liest, sinniert, packt sich ein, um sich einen Weg zur Garage freizuschaufeln. Ich gehe mit, wenn ihn seine Gedanken in seine Kindheit am Fusse des Uetliberg in Zürich tragen, in die Enge seiner Familie, aus der er nur in seinen Streifzügen mit seinen Freunden ausbrechen konnte. Wie aus dem geselligen Jungen plötzlich ein Einzelgänger wird, der erst spät zu lesen beginnt, dann aber unheilbar von diesem Virus befallen wird. Wie er nach einer Schriftsetzerlehre im Rausch zu schreiben beginnt und von seinem Idol Urs Widmer ermuntert wird, wie ihn die Zürcher Unruhen 1980 aus Zürich vertreiben, später für vierzehn Jahre in ein altes Schulhaus in Irland, bis in seinen Palast der Stille, den Ort, der ihm alles gibt, was sein Schreiben und Leben braucht, in maximaler Distanz.

Er verrät mir die Geschichte seines kleinen Schreibtischs, jene seiner ersten Liebe, die Geschichten seines österreichischen Onkels, der den Weltkrieg nicht abzuschütteln vermochte. Er nimmt mich mit in sein Schreiben, das permanente Reflektieren eines Künstlers, den Kampf gegen die Rechtfertigung von Müssiggang und Distanzierung in einer Welt, die nach Effizienz und Aufmerksamkeit geifert. Er nimmt mich mit und ich bin stiller Gast in seinem Haus in Maine.

Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein müsse.

Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.

© David Clough, Kampa Verlag

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Romane wie der Bestseller «Das Regenorchester» wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Der Transport seiner Bibliothek und Plattensammlung über den Atlantik dauerte per Containerschiff mehrere Monate. Aber literarisch sass Schertenleib in seiner neuen Heimat dennoch nicht auf dem Trockenen: The Lobster Lane Book Shop mit schätzungsweise 100 000 Büchern liegt nur eine Meile von seinem Haus entfernt.¨

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Beitragsbild © Lea Frei

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge

Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser leuchtet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Brunner sitzt in seiner kleinen Wohnung in der Küche an einem Holztisch, den er einst aus einer Brockenstube mitgenommen hatte. Ein Tisch voller Spuren im Holz, tiefer Kerben und Ritzen. Das Geschirr in der kleinen Küche türmt sich, er trinkt Tunesier, der im längst sauer aufstösst, sitzt da und schaut aus dem Küchenfenster. Er zweifelt und verzweifelt am Hin und Her zu einer Frau, die er liebt, aber nicht lieben kann, vielleicht nicht einmal darf. Eine Liebe, die an einer inneren Hitze zu verglühen droht, je mehr man Nähe zulässt, je mehr man sich ihr hingibt. Es ist der Schmerz, der ihn einschliesst. Ein Schmerz, der ihn nicht einmal loslässt, wenn er durch den Schnee über den Nebel stapft und in die Weite schaut und dem Alpenfisch nachhängt, der vom Blau des Himmels ins Weisse des Nebels taucht, immer wieder hinein ins Undurchsichtige, um nur ganz kurz aufzutauchen, einen Moment, einen Augenblick.

Brunner weiss, dass Kathrin eine Geschichte mit sich herumschleppt. Eine Geschichte, aus der sie sich noch immer nicht herausgewunden hat, die noch nicht einmal Vergangenheit ist. Geschichten, die ihr die Fähigkeit nahmen, Nähe zuzulassen, die tausend Anfänge zu Nichte, Brunners Liebe unmöglich, zu blossem Drängen machen. Je mehr Brunner fordert, je mehr er sich hineingibt, desto stärker wird Kathrins Widerstand.

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge, 2020, 109 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7296-5035-0

Brunner wartet. Er wartet auf einen Anruf, eine SMS, Stunden auf ihr Erscheinen, ein Zeichen, einen Anfang, ein Ende. Kathrin ist ein Fisch, der sich nicht halten lässt. Sie wohnt noch immer zuhause bei ihrem Vater, einem schwerreichen Bauunternehmer, seit dem Tod ihrer Mutter die einzige Frau im grossen Haus. Aber wenn Brunner Kathrin ausführt, wenn sie alleine sind, dann ist da immer das Gespenst, das Kathrin schon zehn Jahre mit sich herumschleppt. Dieser Mann im Haus ihres Vaters, dieser Mann, der Tochter und Vater in die Ferien begleitet. Dieser Mann, der Kathrin auch in ihren Träumen nicht in Ruhe lässt. Dieser Mann, der der jungen Frau längst den Boden unter den Füssen weggerissen hat, der sie im unendlichen Dazwischen hängen lässt, wo auch Brunner nichts auszurichten hat.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin. Andreas Neeser beschreibt diesen Kampf in bestechender Unmittelbarkeit. Den Kampf gegen das Schweigen, den Kampf gegen das Verlieren, den Kampf gegen die Ohnmacht.

Dass dabei die Mundart die Unmittelbarkeit noch verstärkt, liegt in der Musik Neesers Sprache, in den Worten, die mir, der ich mich sonst nur selten von Mundartliteratur verführen lasse, Resonanzen erzeugen, die sonst nur selten mitschwingen, in seiner Wärme, selbst dann, wenn sie vor Heftigkeit strotzen. Resonanzen, die durch die melodiöse Nähe der Sprache ganz unerwartet in Schwingungen geraten, die mich mehr als nur berühren. «Alpefisch» ist ein Ereignis. Auch wenn einem das Ungewohnte der Sprache zu einem anderen, viel, viel langsameren Lesen zwingt. Kein Problem bei 107 Seiten feinster Prosa!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis. Neben seiner bei Zytglogge erscheinenden Mundartliteratur glänzt Andreas Neeser bei Haymon mit seinem neusten Roman «Wie wir gehen».

Rezension von «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Lea Frei