Interaktionen zwischen Wort und Klang stehen im Zentrum des ersten Programmes von NŒISE

Sieben Radioapparate stehen in den Bücherregalen und murmeln vor sich hin. Ein Kauderwelsch aus Wortneuschöpfungen in sieben Sprachen; russisch, chinesisch, englisch, albanisch, thurgauisch, ungarisch. Als ob Bücher sprechen würden. Fremd und doch irgendwie vertraut.

Die sieben Sprachmaterialien werden in Musik und Gesang übersetzt. Die sieben Spuren aus Wort und Ton und Lied bilden ein Stück. Die Apparate sind jedoch zu weit entfernt voneinander platziert und zu leise eingestellt, als dass sich ein Gesamteindruck vermittelte. Das Sprachmusikstück ‹Ungefähre› entschlüpft permanent, bleibt Fragment aus Wortfetzen und kleinen Klangskulpturen. Zu bestimmten Uhrzeiten trifft der Trompeter einen sprechenden und singenden Radioapparat, es kommt zum flüchtigen Duett. Ein Übereinander, Miteinander, Nacheinander; geschwätzig, dünnfädig oder schweigend.

Am Abend wird das Konzert für Radioorchester und Trompete aufgeführt. Dazu installiert Blablabor 42 Kofferradios, die leise rauschen. Christoph Luchsinger hört ab Kopfhörer gesprochene und gesungene Wörter. Diese übersetzt er auf sein Instrument. Währenddessen bringt Blablabor nach und nach die sieben in der Bibliothek verstreuten UKW-Sender und Kofferradios zum Konzert. Mit jedem eintreffenden UKW-Sender stimmt eine Gruppe von Kofferradios in das Konzert ein. Die Trompete schwatzt ungerührt weiter.

NŒISE findet nicht im Konzertsaal statt, sondern dort, wo das Publikum bereits ist: Die Kunst kommt zum Publikum. Die Konzerte, Performances oder Installationen finden im öffentlichen Raum, in Fachgeschäften, bei Detailhändlern, in Werkstätten, Cafés oder Bars statt. Alles ist möglich: Fabrik, Buchhandlung, Konditorei, Durchgangszentrum, Friseursalon, Gärtnerei, Metzgerei, Velogeschäft, Weingut oder im Zug. Der Aufführungsort steht idealerweise mit dem Konzept des Programms im Kontext.

Interdisziplinarität bedeutet bei NŒISE die Verbindung von Musik mit weiteren Kunstformen. In der ersten Konzertsaison gastieren Künstler*innen aus den Sparten Bewegung, Wort und Geschmack. Als Initiant des Projektes setzt sich Christoph Luchsinger dafür ein, Neue Musik einem breiten Publikum an besonderen Orten im Kanton Thurgau zugänglich zu machen.

Die interdisziplinäre Konzertreihe NŒISE feiert 2022 in Form von drei Interaktionen ihr Debut. Interaktionen #1 im Januar 2022 findet an fünf Tagen in Bibliotheken statt und vereint die Disziplinen Wort und Klang; mittels einer Installation und eines Konzertes für Radioorchester und Trompete. Eine Performance aus Tanz und Trompete in Schaufenstern bildet Interaktionen #2 an drei Tagen Ende April und Anfang Mai. Interaktionen #3 schafft ein multisensorisches Erlebnis zwischen Geschmack und Klang in einem Weingut, einem Wein- und einem Naturmuseum an fünf Tagen im Juni 2022.

Christoph Luchsinger arbeitet seit etwa 25 Jahren als Musiklehrer im Kanton, gründete und leitete während fast 20 Jahren die Liberty Brass Band Junior, welche zu den besten Jugendformationen der Schweiz gehört, und ist als freischaffender Trompeter in verschiedenen Ensembles und Orchestern sowie als Solist tätig. Während seiner Studienzeit wurde seine Neugierde nach neuen Klängen, seine Experimentierfreudigkeit und die Bereitschaft, sich auf Fremdes und Unbekanntes einzulassen und das Interesse an Aktueller Musik geweckt.
Im Kanton Thurgau ist das Angebot eher klein. Zeitgenössische Musik passiert oft in den Zentren und findet selten den Weg aufs Land. Hängt dies mit der mangelnden Bereitschaft der Bevölkerung zusammen, sich auf ungewohnte Klänge einzulassen? Oder gibt es kein Publikum, weil der Kontakt oder die Konfrontation mit Zeitgenössischer Musik oft fehlt?

Videobeitrag über NŒISE

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Thomas Kunst im Literaturhaus Thurgau: „Es war ein Fest bei euch!“

„Um aus Zandschow herauszukommen, bleibt er in Zandschow“, steht im Roman „Zandschower Klinken“ von Thomas Kunst, einem Roman, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises für Furore sorgte und selbst auf dieser Liste von gewissen KritikerInnen nicht ernst genommen werden wollte.

Man kann diesen Satz vielfältig verstehen. Vielleicht auch in den verschiedensten Lesarten eines Buches, in den vielfältigen Möglichkeiten mit Sprache Leben zu gestalten. Wer nur das eine sieht, wem von vorneweg klar ist, wie Literatur sein muss, wer sich in fixen Kategorien bewegt, wer eine Geschichte erzählt haben will mit klarem Schnittmuster und einem kunstvollen Plott, der ist mit Thomas Kunsts Prosa schlecht bedient. Da schreibt einer fernab von allen Paradigmen, denen sich der Literaturbetrieb im Gravitationsfeld der verschiedensten Interessen angepasst hat.

Thomas Kunst macht in einem Interview sehr deutlich, was er mit seinem Schreiben will und nicht will: „Mich interessiert keine Linarität, keine Nacherzählbarkeit. Mein Erzählen ist ein chaotischer Klumpen aus Einzeleinfällen, die ich irgendwie zusammenfüge.“ Was aus diesem angekündigten Chaos entsteht, ist aber alles andere als ein wirrer Haufen Sätze. Thomas Kunst lässt sich treiben, sowohl im Geschehen, wie in seiner Sprache. Sein Roman mäandert zwischen den verschiedensten Erzählweisen; manchmal wie ein Bericht, ein Brief, ein Gebet, ein Gedicht, eine Stimmung. Er mäandert auch in seinen Perspektiven, mal ganz nahe, mal von weit weg. Thomas Kunst liebt seine Figuren, die Gegend, die Sonderlinge, die Gestrandeten, die Erfolglosen, Gescheiterten, Aufrechtgebiebenen. Thomas Kunst erklärt nicht die Welt, schon gar nicht das idealisierte, verklärte Landleben, das in Magazinen bis zur Unkenntlichkeit entfremdet wird.

„Zu Beginn eines jeden Buches ist Wut und Zorn“, erklärt Thomas Kunst an der Lesung im Literaturhaus Thurgau. Eine Energie, eine Kraft, die der Autor in ausufernde Kreativität verwandeln kann. Das verlangt von mir als Leser einiges ab. „Ich habe grosse Lust, LeserInnen zur Weissglut zu bringen“, sagt Thomas Kunst in einem Interview. Seine Sprachkunst flötet nicht mit leisen Tönen, will mich nicht verzücken, schmeichelt mir nicht, schon gar nicht meinen eintrainierten Lesegewohnheiten, obwohl Thomas Kunsts Roman durchaus moralische Kraft hat, wenn er sich selbst ganz dezidiert als „politischer Autor“ bezeichnet. In “Zandschower Klinken“ steckt viel Kritik, viel Gesellschaftskritik, auch viel DDR, ohne dass der Roman ein Wenderoman oder ein DDR-Roman wäre. „Zandschower Klinken“ ist vielleicht eine Art Gegenentwurf zu all den „Dorfromanen“, die in der aktuellen Literaturszene Hochkonjunktur haben.

„Zandschower Klinken“ strotzt vor Potenz. Wer sich auf Kunst einlässt, wird belohnt, auch wenn einem der Autor nicht brav an der Hand nimmt.

Rezension von «Zandschower Klinken» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand

Michael Fehr ist ein Phänomen. Da sitzt einer gleich neben mir an einem kleinen Tischchen, ein Glas Wasser, ein kleines schwarzes Büchlein und ein Mobilphone mit einer Tastatur auf dem Display. Er stampft und klatscht, gibt den Rhythmus mit Luft, die durch die Lippen schiesst, singt und gibt den Bass, ein einziges vielfältiges Instrument von der Sohle bis zum Scheitel. Mensch gewordenes Lebensgefühl!

Besucht man die Webseite von Michael Fehr, springt einem der Schriftsteller und Dichter nicht gleich entgegen. Auf den ersten Blick könnte er auch ein Musiker sein. Vielleicht ein Saxophonist, einer, der mit seinem rauen Spiel die Szene aufmischt. Vielleicht ist dieser erste Eindruck ja auch gar nicht falsch. Vielleicht ist Michael Fehr einmal Musiker, einmal Dichter, ein Stimm- und Wortmusiker, oder alles in einer Person. Einer, der mit seiner eigenwilligen Kunst schwer einzuordnen ist, es tunlichst vermeidet, einer Schulbade zuzugehören. Michael Fehr ist Schriftsteller, Dichter, Performer, Sänger. Jedes seiner Bücher ist eine Überraschung, so wie man davon ausgehen kann, dass sein im Frühling erscheinendes Buch „Hotel der Zuversicht“ auch zu einem Sprach- und Leseexperiment wird. Vielleicht ist Michael Fehr so etwas wie der Tom Waits der Schweizer Literatur, ein bisschen «lonsome Cowboy».

Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand, 2021, 45 Seiten, CHF 15.00, direkt beim Verlag zu beziehen

Das sind für die Charakterisierung eines Künstlers vielleicht ein bisschen viele «Vielleicht“. Wer „super light“ auf der Bühne lauscht, den entführt Michael Fehr in eine ungefähre Zwischenwelt. Ein Vielleicht. Das mag mit der Entstehung seiner Texte zusammenhängen, da sie viel näher am Klang, am Sound, an der Akustik sind, als bei den meisten anderen Wortkünstlern, bei denen die noch stumme Schrift vorausgeht. Das mag an der Konzentration seiner Sprache liegen, an der Verdichtung der Bilder, einer Szenerie der Verknappung. Michael Fehr Erzählminiaturen öffnen Räume, erst recht, wenn er sie selber liest, noch viel mehr, wenn er sie in einen Rhythmus setzt, sein ganzer Körper mitgeht, wenn er singt, wenn er seine Augen schliesst und seine Arme in der Luft seinem Gesang Richtung geben.

Michael Fehr gab an diesem Abend sehr viel von sich, seinen Arbeiten, seinem Ringen um Sprache, seinem Denken und Nachdenken preis. Gedanken, die in seine Texte fliessen, von denen er durchdrungen ist, die durch seine Performance ein Ventil finden. Vielleicht auch, um sich angesichts der vielen Ungerechtigkeiten Luft zu machen.

Das Literaturhaus Thurgau dankt Michael Fehr und im Speziellen der Zeitschrift ERNST für die Zusammenarbeit!

Die Redaktion des Magazins ERNST, einem Schweizer Magazin, das sich sehr ambitioniert mit den verschiedensten Themen auseinandersetzt, nicht zuletzt literarisch, beabsichtigte schon lange eine Nummer zur Literatur, zum Buch. Nun wurde es gar eine Doppelnummer zum Thema „Manuskript“. Angefragt wurden Schreibende, sich zu ihren ganz verschiedenen Arten des Schreibens zu äussern. Darunter Gianna Molinari, Paul Nixon und Michael Fehr. Mehr Informationen zum ERNST.

Michael Fehr, geboren 1982, aufgewachsen in Muri bei Bern. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und am Y Institut der Hochschule der Künste Bern. 2014 gewann Fehr mit einem Auszug aus «Simeliberg» den Kelag-Preis und den Preis der Automatischen Literaturkritik in Klagenfurt.

superliecht auf YouTube

Beitragsbilder © Marc Doradzillo

Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp

Thomas Kunst ist ein Meister der skurrilen Poesie. Dass es sein neuster Roman „Zandschower Klinken“ in die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte, ehrt das Buch, den Schriftsteller, aber auch die Jury des Buchpreises, die ein Buch ins Scheinwerferlicht stellen wollte, das in vielem gängigen Mustern widerspricht. „Zandschower Klinken“ ist ganz und gar Kunst-Werk!

Das Wort „Klinke“ müsste man vielen in der Schweiz erklären. Das helvetische Pendant „Türfalle“ würde wohl nicht klingen wie Klinke, ergäbe aber in der Geschichte durchaus Sinn. Zandschow gibt es nicht, genauso wie seinen Nachbarort Höverlake. Aber Zandschov muss irgendwo in der flachen Pampas Norddeutschlands liegen. Ein Kaff, ein paar Häuser und ein Feuerwehrteich mit einer Schenke am Ufer und einer kleinen Insel mitten im kleinen Wasser.

„Im glücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, die du liebst. Im unglücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, kurz vor deinem Tod, die dir egal sind.“

Thomas Kunst «Zandschower Klinken», Suhrkamp, 254 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1

Bengt Claasen ist mit seinem Auto aus seinem alten Leben weggefahren, mit der Absicht, nicht zurückzukehren und dort zu bleiben, wo das Hundehalsband, das er auf das Armaturenbrett unter der Frontscheibe gelegt hat, runterrutscht. Folglich fährt Claasen langsam, langsam und sehr lange. Ungeachtet dessen, dass sich andere Autos hinter dem seinigen stauen und hupen. Bis das Hundehalsband wirklich rutscht und er seinen Wagen an den Strassenrand stellt, nicht weit von Zandschow, dem kleinen Ort im Nirgendwo. Kulturelles und gesellschaftliches Zentrum dort ist die Schenke am Feuerlöschteich; „Getränke-Wolf“. Dort gibt es alles, was es zum Existieren braucht. Und wenn nicht, dann hilft Getränke Wolf auch mal bei den Etiketten nach, um die Bedürfnisse seiner Gäste zu stillen. Zandschow folgt einem strikten Wochenplan. Am Montag übt man im ausrangierten Bauwagen das U-Bahn-Fahren, dienstags die Handhabung eines wiederbelebten Geldautomaten zwischen den Bäumen am Feuerlöschteich. Mittwochs dann die Europakonferenz mit Diskussionen über soziale Gerechtigkeit, Altersdemut und Selbstverteidigung. Am Donnerstag werden Plastikschwäne ausgesetzt, an den Freitagen soll jeder im Ort demonstrieren, wie der Weltuntergang manipulativ aufzuhalten sei und die Wochenenden sind zur Naherholung an der Küste. Der Teich ist Zandschows Indischer Ozean und Getränke Wolfs Sansibar. Im hintern Teil des Ladens steht eine Sonnenbank mit Lichtanimationen im Innenraum. Auch Wolf ist einer, der hätte gehen können, aber geblieben ist. Und wenn man nicht in die Welt draussen zieht, dann holt man die Welt zu sich, Sansibar an den Feuerlöschteich, feiert jedes Jahr das Darajani-Fest mit Hängematten und Freibier.

„Wolf besass alles, um aus Zandschow herauszukommen. Um aus Zandschow herauszukommen, blieb er in Zandschow.“

Claasen ist nicht der einzig Gestrandete in Zandschow. Da gibt es auch noch den Kleinen Grabosch, der vor Jahren mit einem Handwagen, allerlei Zeugs und einem übergrossen Kronleuchter in Zandschow ankam. Grabosch auf der Suche nach einem Ort, einer Decke, einem Raum für seine Leuchte.

Zandschow ist ernstzunehmen. Zandschow ist der Gegenentwurf zur Rationalität. Claasen hat sein Leben zurückgelassen. Zum Wenigen, das er mitnahm, gehört das Hundehalsband ohne Hund und seine Erinnerungen. Erinnerungen an seine Familie, einen fehlenden Vater, eine strenge Mutter und sein Reh, seine Schwester.

Es geht nicht darum, die Geschichte zu verstehen. So wenig, wie es dem Autor darum geht, eine Geschichte zu erzählen. „Zandschower Klinken“ ist eine literarische Symphonie mit Themen, die immer wieder auftauchen, Wiederholungen, Verdopplungen. Man spürt die Musikalität des Textes. Zugegeben, die Komposition ist eigenwillig und, zumindest für mich, nicht immer nachvollziehbar. Aber eben genauso wie das Leben selbst, dass nie einem Plan folgt, das eigenwillig bleibt, voller Wiederholungen und Zusammenhängen, die sich nie erschliessen. Thomas Kunst Roman hat etwas Fellinisches, einen ganz eigenen Zauber.

Thomas Kunst, geb. 1965, studierte zunächst Pädagogik. Er schreibt Lyrik und Prosa und befasst sich mit musikalischer Improvisation (Gitarre und Violine). Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch «Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung». Seitdem sind seine Texte in 16 Einzeltiteln sowie in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Internet veröffentlicht worden. Thomas Kunst ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, lebt und arbeitet in Cuba.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Michael Fehr «Und ich dachte, Schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen…»


«…In einer gewissen Über­heblichkeit hatte ich
nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei.
Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben»

Text: Anita Zulauf

Da war mal einer. Ein Kleiner. Schmaler. Sechs Jahre alt, vielleicht. Er sitzt am Schlagzeug. In der Bibliothek einer feudalen, alten Villa, in Muri bei Bern. Es ist ein Sommer in den Achzigern. Die Sonne wirft Strahlen, warm, in diesen Raum, durch zwei Jahrhunderte alte, blind gewordene Fensterscheiben. Staubpartikel tanzen. Er sieht sie nicht. Sitzt an diesem Schlagzeug. Und spielt.

Der Schlagzeuglehrer hat ihn angewiesen, zu üben. Bis er wiederkommt. Wohin er ist? Irgendwohin. Aufs Klo? Nach draussen, rauchen? Der Junge schlägt die Stöcke auf die ­Becken. Bald in einer Art Trance. Den Fuss, rhythmisch auf das Pedal.

Und dann passiert es. 

«Auf einmal war da dieses Gefühl. Ich spürte, da ist was. Etwas, das tief in mir Zuhause ist. In mir angelegt. Etwas, das mich nie mehr loslassen wird.» Und er spielt. Und spielt. Und jetzt kann er nicht mehr aufhören. Und will auch nicht mehr aufhören. Er muss pinkeln, aber dafür ist keine Zeit. Er spürt, wie ihm der Urin die Beine runterläuft, er hört das leise Plätschern, vermutet, dass sich nun alles über das Pedal ergiesst. Er spielt weiter.

33 Jahre später. Michael Fehr. Autor.

«Als der Schlagzeuglehrer zurückkam, war es mir uh peinlich, und er fand es natürlich nicht grad lustig. Mit ­Papiertüchern tupfte er den Urin so gut wies eben ging vom Pedal.» Diese Geschichte erzählt mir Michael Fehr an einem Nachmittag im vergangenen August, an einem der wenigen warmen Sonnensommertage. Wir treffen uns im Seebistro Luz in Luzern. Die Holzterrasse des Restaurants ragt über den See, unter uns plätschern leise leichte Wellen an die Ufermauern.

Michael Fehr lebt in Bern. Er ist stark sehbehindert. Juvenile Makuladegeneration lautete die Diagnose, mit der er 1982 zur Welt kam. Seinen Mund umspielt ein Lächeln, spitzbübisch irgendwie, leicht ironisch, so, als wäre er amüsiert, über all die Wichtigkeiten und die sich zu wichtig Nehmenden. Er trägt einen Anzug, ein Hemd, elegant. Und trotzdem wirkt es irgendwie so, als hätte er sie in jenem Sommer in den Achtzigern in dieser Bibliothek schon getragen. Und sie wären einfach zusammen gross geworden. 

Obwohl fast blind, hält Michael Fehr mehrheitlich Blickkontakt. Kannst du mich sehen? Frage ich. Er versucht zu erklären, ich zu verstehen: «Ich erkenne Schemen, Farben, Ahnungen.» Und dann: «Wenn wir beide vom Sehen sprechen, sprechen wir nicht vom Gleichen. Ich habe ja nie ­gesehen wie du. Insofern kommt auf diese Frage keine Antwort.»

Es ist sein Vater, der ihm beibringt, Augenkontakt zu halten. Von klein auf. «Er sagte, schau hinauf zu den Leuten, wenn sie mit dir reden.» Dieser Vater, der mit derselben Sehbehinderung zur Welt gekommen ist. Wie wiederum dessen ­Mutter. Der Vater, der daher aus Erfahrung weiss, worauf es ankommt, im sozialen Miteinander, was wichtig ist, gesellschaftlich verlangt. «Doch wenn du klein bist und fast nichts siehst, siehst du die Gesichter der Leute erst recht nicht. ­Zudem hat es mich absolut nicht interessiert, was da oben vor sich ging. Doch mein Vater hat darauf bestanden. Darum kann ich den Blick halten, wenn ich will. Das hat einen entscheidenden Vorteil im sozialen Alltag. Obwohl mir selbst das wenig bringt.»

Wie nennt er, Michael Fehr, es, was er hat? Handicap? Beeinträchtigung? «Ich habe eine Behinderung. Ich habe dem immer so gesagt, das war in unserer Familie kein Tabuthema. Es ist genau das, was es macht: es behindert mich.» Nur mit der Änderung des Sprachgebrauchs und dessen Repetition verändert sich nichts, sagt er. «Dieses Bemühen um politische Korrektheit ist Stumpfsinn, wahnsinnig intellektuell und das Privileg der Reichen. Das langweilt mich total. Du darfst also gerne Behinderung sagen.»

Aufgewachsen ist er in Gümligen bei Bern, ein Dorf, damals. In einer Blockwohnung, ohne Geschwister. «Meine Eltern hatten wenig Geld. Mir wäre das aber nie aufgefallen, mir hat nichts gefehlt.» Als kleines Kind fürchtet er sich vor den anderen Kindern, die unberechenbar, rabiat, wild und schnell sind. «Meine Eltern stellten mich regelmässig raus. Freiwillig wäre ich nicht gegangen. Sie sagten, das musst du jetzt aushalten, wir kommen in fünf Minuten. Ich weiss, dass das auch für sie nicht einfach war.» 

Die Teenagerzeiten waren dunkler

Jodler, Schlager, Marschmusik, das mag er, als Kind. Und da ist der Wunsch, Schlagzeugspielen zu lernen. Er trommelt auf Blech und Büchertürme. Die Eltern mieten ein Schlagzeug. Da ist er, wie gesagt, etwa sechs. Sie organisieren einen Übungsraum, im Luftschutzkeller, gleich neben dem Wohnhaus. Dort fürchtet er sich zwar, in diesem Keller, fürchtet sich vor Gespenstern. Darum singt er, laut, trommelt, um sie zu vertreiben. 

Das Singen und Trommeln im Luftschutzkeller. Zusammen mit den unzähligen Geschichten, die er als Kind der Achziger ab «Kassettli» in Endlosschlaufe hört. Geschichten, vollgepackt mit Abenteuern, die ihm nur gefallen, wenn sie dunkler sind als dunkel, heller als hell, in denen es kracht und alles explodiert. Und am Ende trotzdem alles gut kommt. Dies alles sammelt sich, schlummert in ihm, gärt, wächst, kumuliert. Bis es sich Jahre später allmählich ineinanderzufügen beginnt.

Trotz Sehbehinderung wollte er unbedingt in die Regelschule, und «meine Eltern unterstützen mich darin total». Damals, in den Achzigern, in denen noch wenig über Integration und Inklusion gesprochen wurde, war das eher neu. «Da gab es Lehrer, die mich total unterstützten und solche, die mich absichtlich schlecht behandelten.» Unter den Kindern war er immer akzeptiert. «Ich kam mit den meisten gut aus, ich konnte gut zeichnen, trommeln, ich hatte das Gefühl, ­gehört zu werden, die meisten waren gern mit mir.» Die Teenagerzeiten waren dunkler, «aber schon da war das Gefühl, da ist jemand in mir, der etwas will.» 

Hintertür zurück in die Kunst

Beim Wirtschafts- und Jura-Studium an der Uni in Bern greift seine bislang angewendete Methode, zuhören und auswendig lernen, nicht mehr. Nach vier Studienjahren gibt er überfordert auf. Es ist der Berufsberater der Uni, der ihn schliesslich auf das damals neue Literaturinstitut in Biel aufmerksam gemacht hat. «Da war ein Hintertürchen zurück in die Kunst, nachdem ich das Schlagzeugspielen mit zwanzig in einer grossen Frustration aufgegeben hatte, weil ich fand, ich sei zu schlecht, oder jedenfalls ungenügend. Und dann dachte ich, schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen. In einer gewissen Überheblichkeit hatte ich nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei. Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben.» Allerdings ist es dann gerade dieser fehlende Respekt, der es ihm ermöglicht, wieder frei und hemmungslos die Kunst in Angriff zu nehmen. Wie damals, am Schlagzeug, als Kind. «Ich dachte, jeder kann wie er will. Inklusive ich. Und das hab ich auch so praktiziert.» Womit er natürlich auch angeeckt ist. Weil ganz so einfach ist es dann halt doch nicht.

«Aber was ich bekommen habe, war Raum, frei arbeiten zu können und das Vertrauen der Leute, dass ich schon weiss, was ich tue.» Und ja, er war ein Arbeiter, hat es sehr ernst genommen. Es gab immer wieder einzelne Leute, die ihn dort unterstützt haben, indem sie sagten, lasst ihn machen. Der rennt jetzt dreihundertmal gegen die Wand, bis er es selbst rausfindet. «Eine Zeit lang bin ich nicht müde geworden, zu stänkern und zu provozieren.» Dass sie das ausgehalten haben, ihn toleriert, dafür ist er ihnen im Nachhinein dankbar. Sie hätten mich auch rausschmeissen können. Das haben sie nicht getan.» Und ja, da waren noch ein paar wenige, «wahnsinnig gescheite Leute», die er in Biel und später an der Hochschule der Künste in Bern kennen gelernt hat. «Wenn mir einleuchtet, dass es bei jemandem etwas zu lernen gibt, bin ich der Erste, der eifrig ist.»

«Ich will nicht eingeordnet werden»

Seit dem Erscheinen seines ersten Buches «Kurz vor der Erlösung» im Jahr 2013 wollen ihn Kulturkritiker einordnen, was er tut, dieser Fehr, der in so gar kein Genre passen will. Sie nennen es rhythmische Prosa. Oder Spoken Word. «Ich will nicht eingeordnet werden, ich will meine eigene Kunst machen. Zum Einen mache ich Songs, zum Anderen Geschichten. Die Geschichten sind etwas länger, die Songs kürzer. So einfach ist das.» 

Am Anfang versucht er, sich anzulehnen, sucht Schriftsteller, die er für grossartig hielt, versuchte, sie auf eine gewisse Art zu imitieren. «Aber sehr bald bin ich meinem eigenen Regelwerk verfallen, dem kompositorischen Verfahren verbunden mit dem Klingenden, mit Sound.» Jedes Wort musste er mindestens einmal wiederholen, dann entweder noch ein zweites Mal oder ein zweites Mal in einer Variation. Auf Silben-, Wort- und Phrasenebene, in bestimmten Rhythmen und Klang. «Dieses Verfahren habe ich erfunden und gesagt, so muss es sein. Und wenn man das schafft, und gleichzeitig auch noch, eine Narration darzubieten, dann ist man wirklich gut.» Er findet diese Technik immer noch äusserst interessant. «Aber heute, würde ich sagen, werde ich immer einfacher, unintellektueller und, wie ich finde, beseelter. Die Storys, die sind aber – und das ist geblieben – sehr absurd. Die gehen sehr weit in den logischen Zusammenhängen. Sind sehr strapaziös. Da darf man ruhig verblüfft sein. Oder sogar entgeistert.» 

Seine Texte zeichnet er mit einem Handy-Tonaufnahmeprogramm auf. «Ich bin nicht der pragmatische Schriftsteller, ich bin ein Kopfschreiber», sagt er. Es gehe ums Fassen von Gedanken, ein absolut innerlicher Prozess, tief hinein in jede einzelne Formulierung. «Wenn ich mit den Audio-Aufnahmen beginne, habe ich die Texte im Kopf, oder heute würde ich sogar sagen, in der Seele. Ich weiss ganz klar, was herauskommen wird. Ausgenommen das Abenteuer, wenn mir während des Sprechens auf einmal ganze Fragmente fehlen, ausgeschnitten, aus dem Sinn, und du weisst in dem Moment, die kommen nicht zurück. In diesem Moment passiert das Abenteuer, und du machst einen Ausflug, der nicht vorgesehen war. Das ist absolut spannend. Aber bis auf diese Hindernisse oder Abenteuer, die sowieso passieren, bin ich total vorbereitet.» So entstehen Audios, Bühnenprogramme, Texte werden transkribiert und als Bücher herausgegeben.

Ein Gefühl von Wind, vielleicht

Auf der Bühne wird er wieder zu diesem Jungen im Luftschutzkeller. Er spielt Schlagzeug, schreit, singt laut, leise, die Stimme überraschend rau, rauchig, der Nachklang, ein Hauch, eine Ahnung, nach Abenteuer, Schurkenschaft, ­Halunken auf Raubzug. Worte explodieren. «Wenn nichts herrscht ausser Puls, stampfen, klatschen, singen, dann bin ich zufrieden, das gibt mir unendliche Geborgenheit.» Mit Musikerkollege Rico Baumann steht er aktuell mit dem Programm «super light» auf der Bühne. «Ich spiele für Menschen, die Freude haben an Irritation und Verblüffendem. Vielleicht sind sie auch mal entsetzt. Sie fragen sich, was ist das genau? Was will er sagen mit dem? Das gefällt mir. Es gefällt mir, wenn die Menschen danach nach Hause gehen, mit dem Gefühl, dass eine Türe aufgegangen ist, also nicht, dass sie mit einer Befriedigung heimgehen, sondern mit ­einem Gefühl von Wind, vielleicht. Mit Überraschung, Inspiration vielleicht.» 

 «Auftreten», sagt er, «ist ein wesentlicher Teil von mir. Der Moment des Entfaltens, der Präsenz, dieses Sendebewusstsein, mag ich sehr. Das musste ich lernen, übers ­Machen, im Sinn von Mut. Es ist eine Art Blossstellung, ein Gefühl, das wir erst mal gelernt haben, zu verhindern. Man könnte scheitern, gesellschaftlich in Ungnade fallen, man wird angreifbar. Doch man kann lernen, es zu geniessen, diese Radikalität, sich blossstellen, nackt fühlen, für einen Moment, oder einen Abend. Und wenn ich dann der bin, der schon lange ausgezogen dasteht, im Gefühl von Nacktheit, haben nur die anderen was zu verlieren. Weil hinter dieser Blossstellung, hinter der Scham, ist die totale Befreiung.»

«Ich arbeite an meinem Durchbruch»

«Mit ‹Kurz vor der Erlösung› ist es richtig losgegangen. Obwohl dieses Buch zunächst niemand gelesen hat ausser jene aus dem Betrieb, diejenigen, die mir die Preise gegeben haben. Damit wurde ein Interesse geboren, das man andernfalls vielleicht nicht hätte forcieren können, weil ich zu ungewöhnlich und schräg in der Landschaft stehe.» Zwei Jahre später gewann er mit «Simeliberg» unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern, den Kelag-, und den Preis der automatischen Literaturkritik im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises. Auf einmal wollten ihn alle. Zeitungen, Fernsehen, Radio. Anfangs ist es schön, dieses Erfolgsgefühl. «Man will mehr davon, mehr, und noch mehr. Und das passiert auch, eine gewisse Zeit lang. Dann geht es wieder zurück, genauso wie es gekommen ist. Und du merkst, das sind Wellen, du bist so schnell weg, wie du da warst. Aber ich muss sagen, ich akzeptiere bis heute nicht, dass ich nur so eine Welle bin. Ich arbeite bis heute an meinem Durchbruch.» Allerdings, sagt er, ist er nicht bereit, dafür Kompromisse in seiner Kunst zu machen. «Auf diesem Weg zu bleiben, das ist das Schöne daran. Es ist das Gefühl, das dich vor dem Fall bewahrt.»

Er schreibt nicht, weil er das unbedingt will. Er tut es, weil er muss. «So simpel das tönt, ich habe einen Auftrag in meinem Leben. Ich muss den Blues wiederbeleben, den ein paar Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Willie Johnson, Gary Davis, Lemon Jefferson, alle sehr mangelhaft sehende oder blinde Musiker, mit denen ich mich sehr stark identifiziere.» Er erzählt, von dem Bedürfnis, diese ungestüme und radikale, im Moment präsente Narration von etwas, das ihn jetzt gerade scharf betrifft, wiederzubeleben. Etwas, das hundert Jahre lang verloren gegangen ist. «Ich bin hier, in dieser Zeit, um das wiederzubeleben. Das ist mein Auftrag. Auf Teufel komm raus. Den verspüre ich des Nachts sehr intensiv. Dieses Ding muss ich stemmen.» Optimistisch gedacht habe er dafür hundert Jahre Zeit. «Das ist einfach wahnsinnig kurz. Weil zuerst musst du aufwachsen, dann muss dir alles bewusst werden. Dann musst du deine Ahnen, dein geistiges Kontinuum wieder finden. Herausfinden, wo sie sind, diese anderen. Vielleicht bin ich schon mal gestorben und jetzt dafür wieder geboren. Wie gesagt, es gibt viel zu tun. Also muss ich mich konzentrieren.»

Darum kann und will er sich nicht aufhalten lassen, schon gar nicht von Kritiken und Kritikern. «Natürlich bin ich total geschmeichelt, wenn mir jemand Komplimente macht. Natürlich bin ich verärgert, wenn mich jemand ­kritisiert. Manchmal auch betroffen. Aber ich habe einfach keine Zeit, mich länger damit zu befassen, insofern bin ich nicht kontemporär businesstauglich. Ich weiss auch nicht, ob ich mich selbst lesen würde. Ich bin natürlich ultrakritisch, finde eigentlich alles schlecht, was ich gemacht habe.» Zwar war es zu diesem Zeitpunkt das Richtige, sagt er. Aber nicht gut genug. «Das Bedürfnis nach dem finalen Werk ist da. Aber bis jetzt habe ich es noch nicht erreicht.»

Was hat dir deine Behinderung genommen? «Den Zugriff auf die Welt. Ich stelle es mir wahnsinnig schön vor, vom Tisch aus der Kellnerin zuzurufen, welches Sandwich von der Auslage ich gerne hätte. Ein schneller Blick auf die Bahnhofuhr, oder kurz mit dem «Charre» irgendwo hinfahren, auf der Autobahnraststätte Essen holen, das hat für mich etwas wahnsinnig Romantisches. Dieses Zugreifende, ich nehme mir was ich will, und ich nehme es vor allem, bevor du es nehmen kannst. In meiner Vorstellung wäre ich zweimal so breit geworden, wie ich bin, dann wäre ich so ein Typ, der mit dem Segelboot in die See und in die Welt sticht, loszieht, ich würde alles kurz und klein schlagen, alles wäre ganz gefährlich, es gibt fast keinen Ausweg, aber am Schluss gewinnen die Guten und alles ist genau richtig. Dann kommt man vielleicht wieder nach Hause und vielleicht nie mehr.»

Hat sie dir auch was gegeben, deine Behinderung? «Sound! Ich höre überall Artikulationen, höre, was alles kreucht und fleucht, Alltagssound, Musik, ich habe ein ­intensives Gefühl von Sound und Rhythmus. Wenn man da immer unterbrochen würde von allem, was man auch noch sieht, wäre es wahrscheinlich nicht so intensiv… aber vielleicht ist das auch ein romantischer Gedanke. Ich weiss ja nicht, wie’s wäre.»

Michael Fehr, geboren 1982, ist ein Schweizer Schriftsteller aus Bern. Fehr studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Hochschule der Künste Bern. Er erhielt unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern und für seinen Roman Simeliberg den Kelag-Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises.

ERNST-Magazin

Webseite Michael Fehr

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Januar – Mai 2022 steht!

Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.

Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!

Sämtliche Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Regenbogenlicht – Lubna Abou Kheir und Ivna Žic im literarischen Gespräch

Lubna Abou Kheir kam 2016 aus Syrien in die Schweiz, zuerst eingeladen von hiesigen Theaterveranstaltern, später blieben sie, weil die politischen und kriegerischen Verhältnisse in ihrem Land nicht mehr auszuhalten waren. Zusammen mit ihrer «Künstlerschwester», der Theaterautorin und Regisseurin Ivna Žic lud das Literaturhaus Thurgau zu einem literarischen Gespräch ein.

weiterschreiben-schweiz.jetzt ist eine Plattform für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten. Seit Mai 2017 veröffentlichen monatlich 2 – 4 Autor:innen aus Syrien, dem Irak, dem Iran, dem Jemen, dem Sudan, Afghanistan sowie Angehörige der Roma und Sinti Kurzprosa, Gedichte und Erzählungen auf diesem Online-Portal und arbeiten mit bekannten deutschsprachigen Autor.innen im Tandem. Die Texte werden zudem von Künstler:innen aus Kriegs- und Krisengebieten illustriert. Im Rahmen von Literatur- und Musik-Veranstaltungen treten die Autor:innen mit ihren Tandem-Partner:innen auf.

Ziel dieses Projektes ist es, dass renommierte geflüchtete Autor:innen in der Schweiz weiterschreiben können, die literarischen Perspektiven der neuangekommenen Autor:innen im deutschsprachigen Diskurs sichtbarer zu machen, Türen zum hiesigen Literaturbetrieb zu öffnen und einen künstlerischen Austausch zu ermöglichen.

«Schreiben ist ein Versuch, die Freiheit in der Sprache zu entdecken.“ Ivna Žic

Lubna Abou Kheir ist in Damaskus geboren und aufgewachsen. Sie ist Autorin, Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin. Lubna Abou Kheir studierte und arbeitete in diversen Kontexten in Damaskus und Beirut. Seit 2016 lebt Lubna Abou Kheir in die Schweiz, lernt Deutsch und arbeitet als Freelance-Journalistin. Sie schreibt Theatertexte und ist in verschiedene Projekte u.a. am Schauspielhaus Zürich und an der Zürcher Hochschule der Künste involviert. Im August 2018 brachte sie ihr Kurzstück «Damaszener Café» in Zusammenarbeit mit Isabelle Menke und Barbara Peter im Theater Tuchlaube Aarau zur Premiere. Es folgten im September Aufführungen in der Kaserne Basel, Anfang Februar wurde es auf dem Festival «Moussem Cities» in Brüssel gezeigt. Am Theater Neumarkt kam 2019 ihr Stück «Gebrochenes Licht» in der Regie von Ivna Žic zur Uraufführung.

«Wer schreibt, ist in erster Linie Autor oder Autorin, egal, aus welchem Land er oder sie stammt. Die Herkunft eines Menschen darf kein Grund sein, dass ihm das Schreiben und das Publizieren verunmöglicht wird.» Peter Stamm

«Wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart– so hat sich der Abend gestern im Bodmanhaus angefühlt, gemeinsam durch Sprachen, Länder und Zeiten wandernd– du, lieber Gallus, mit Lubna und mir. Danke für deine genauen Frage und die schöne, intensive Atmospähre, die dadurch entstanden ist. Danke fürs Hinhören, Zuhören. Ja, vielleicht sind Arabisch und Deutsch wie Wasser und Öl im Glas. Aber sie können sich im gleichen Raum bewegen und sich gegenseitig in Bewegung bringen. Dafür danke ich Lubna und Weiterschreiben Schweiz.» Ivna Žic

 

«Weil Groll am Scheideweg schön ist», Lubna 2012–2021

Erster Brief an Ivna
4. Januar 2021, Montag,

5. Februar 2012, Sonntag,

Nein, einen Moment …

Immer wieder verrät mich die Erinnerung …

Damit das Bild genauer wird: Das ist passiert an allen Tagen und es ist los, und wird immer wieder passieren, vielleicht in anderen zehn Jahren Krieg, und es ist: ein Gefühl.

Ein Gefühl, das aus dem Darm kommt und durch den Magen geht,
übt Druck auf das Zwerchfell aus und bildet Kurzatmigkeit.

Der Brustkorb wird flach wie eine Plastiktüte ohne Luft (Vakuumbeutel).

Alles wird eng, auch das Feld der leichten leuchtenden Schmetterlinge (biolumineszierende Insekten) erstickt, das Feld, das Vergnügen ausstrahlt und in Liebessituationen den Magen kitzelt.

Vom Arsch wird der Befehl erteilt, das Denken und die Logik vom Kopf zu nehmen, und alles wird zusammengedrückt und geschrumpft, so dass das Blut im Gehirn langsamer zirkuliert und der Körper zusammenbricht und auf die Erde prallt.

Der Strom der Tränen schliesst sich diesem Karneval des Schmerzes an und drückt seine Meinung darüber aus, was passiert und fliesst und fliesst.

Die Diagnose lautete: «Abwesenheit der Logik».

Also, liebe Ivna, der Groll am Scheideweg ist schön.

Die Liebe zum Aufbruch, die Anziehungskraft zum Bleiben

Zweiter Brief an Ivna

03.2020

Ich öffnete meinen roten Koffer, dreissig Kilo schwer. Er war voller Spielzeug und sehr kleiner Dinge. Es gab keine Bücher, keine Kleidung, nur Bilder und Details …
Ja, die Details … Wie oft am Tag sterben wir wegen der Details?

Details: Gerüche, Augenblicke, Staub auf den glänzenden Schuhen,

dunkle Flecken auf weissen Oberflächen folgen Löchern in den schönen, teuren Markensocken, und wir folgen rechten Winkeln und Dreiecken in den Badezimmerfliesen.

Diese Details gehören zu bestimmten Orten, Orten, die, wenn sie von ihren Details ausgeschlossen werden, fremd sind.

Am 03.03.2020 fing ich an, den Koffer auszupacken.

Er war voll mit kleinen Plastiksoldaten aus Russland. Mein Onkel brachte sie uns mit, als er dort war, und ich weiss nicht, was es bedeuten soll, uns Soldaten zu schenken.

Im Koffer gibt es eine Tasse, in die wir Buntstifte und Bleistifte gesteckt haben

Es gibt einen Glaskuh-Salzstreuer

Es gibt Notizbücher mit Gedichten voller vulgärer Liebe

Es gibt Seifenblasen

Es gibt Stühle und Holztische und Cafés

Es gibt Männer, die von der Liebe und der Religion zerstört wurden

Es gibt die Langeweile des Freitags

Er gibt und gibt und gibt.

Meine liebe Ivna, all diese Details haben ihren Platz in unserem Haus in Syrien. In meiner neuen Wohnung habe ich versucht, einen Platz für sie zu bauen, und bin gescheitert, der Platz hat sich nicht dem Wunsch der Erinnerungen gebeugt.
Also legte ich mich in den Koffer hinein und stülpte ihn wie eine schmutzige Socke um, deren Reinigung tausend Umdrehungen in der Waschmaschine erfordert.

Die Zerbrechlichkeit der Details beherrschte mich so, dass ich gehen wollte, aber die Schwerkraft zwingt mich, hier zu bleiben.

Liebe Ivna: Das Schreiben ist manchmal eine Alternative zur Psychotherapie.

Wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart

13. August 2021, Europa
Liebe Lubna,
kürzlich wurde ich gefragt, ob mein Name ein Tippfehler sei.

Namen sind Lose, las ich einst und schreibe es nach, schreibe es fort, in diese lose Lücke hinein. Begegnungen sind ebenfalls Lose, wenn sie bleiben, füllen sie etwas auf. Manchmal eine Lücke, von der wir davor nichts wussten, die wir nicht in uns ahnten. Doch ist der neue Mensch da, ist die Begegnung eine Kette, die bleibt, fragen wir uns nach dem Davor und wollen die fehlende Zeit, die nicht die gemeinsame war, so schnell es geht nachholen. Das ist Beziehung. Unerwartete Sehnsucht nach gemeinsamer Geschichte. Beziehung ist Erzählung.

Namen sind Lose, so auch der Ortsname unserer Geburtsstadt, der Grossmuttername, verdeckt durch die Heirat mit einem Mann, der Strassenname des Elternhauses, der Name des ersten Kusses, der Name der ersten Beleidigung, die wir erfahren – und schliesslich auch der Stadtname, der heute unseren Wohnort benennt und unsere Begegnung mitschreibt.

Liebe Lubna,
deine fünf Buchstaben und meine vier, rätselhaft verschlungen, freundschaftlich tanzen sie durch Gassen, die von ihnen davor nicht gehört haben. Wir verbinden uns mit Strassennamen, die uns nun auch umgeben, die ohne unsere Geschichten lange standen und nun in Erwartung dieser zuhören.
Liebe Lubna, wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart. Du und ich auch. Nicht gleich, eher anders, manchmal unerwartet ähnlich, nur manchmal, doch gegenwärtig zusammen. Findest Du das auch?
Unsere Geschichten schwingen und verästeln sich, umschlingen andere Buchstaben, Worte, die wir suchen, die wir finden.
Manchmal fragen sie uns: Ist das ein Tippfehler?
Und wir sagen, klar und ehrlich: Nein.
Nein, das ist unsere Sicht- und Hörweise, das ist unser Geschmack, unsere Mundbewegung in dieser Sprache, das ist unser Rhythmus, so tanzen wir in diesen Strassen – das ist unsere Verbindung, in der wir Gegenwart mit schaffen. In der wir Raum schaffen, ihn vergrössern, in dem wir alle leben. So hören und fühlen wir.
Und wir fragen euch: Kommt ihr dazu?
Und wir bitten euch, höflich, aber ebenso klar und ehrlich, uns neue Fragen zu stellen.
Herzliche Grüsse

Deine Ivna

Lubna Abou Kheir studierte dramatisches Schreiben an der Hochschule in Damaskus. Seit 2016 lebt sie als Autorin, Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin in Zürich. Als Theaterautorin debütierte sie in der Schweiz mit dem Stück «Damaszener Café» im Theater Tuchlaube in Aarau. Seitdem folgten weitere Engagements u. a. in der Kaserne Basel und am Theater Neumarkt in Zürich.

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman «Die Nachkommende» wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2020 erhielt sie den renommierten Anna Seghers-Preis. Žic lebt in Zürich und Wien.

Der Verein «Weiter Schreiben Schweiz» will Autor:innen, die aus Kriegs- und Krisengebieten in die Schweiz fliehen mussten und in ihren Heimatländern nicht mehr veröffentlichen können, das Weiterschreiben in der Schweiz ermöglichen, sie mit der Schweizer Literaturszene vernetzen und den öffentlichen Diskurs für diese Stimmen öffnen.

Das Projekt verbindet dafür Exil- und in der Schweiz etablierte Autor:innen in Tandems. Die Exil-Autor:innen veröffentlichen literarische Texte in der Originalsprache und auf Deutsch auf www.weiterschreiben-schweiz.jetzt und präsentieren ihr Werk auf Lesungen im ganzen Land. Das Projekt startete in der deutschsprachigen Schweiz, 2022 und 2023 folgen dann die französisch- und die italienischsprachige Schweiz.

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Bergisch teils farblos» Buchtaufe mit Zsuzsanna Gahse

Zusammen mit der Kulturstiftung Thurgau lud das Literaturhaus Thurgau die Grande Dame der Dichtkunst zur Buchtaufe ihres neuen Werk «Bergisch teil farblos» ein. Nicht zufällig brach die Nebeldecke auf und die Sonne schien ins Haus. Zsuzsanna Gahse brachte das warme Licht auch ins gut besuchte Haus der Literatur!

«Hauptsache, dass die Geschichten und Notizen nicht zu abgerundet sind. (467)»

40 Bücher würden im Regal stehen, hätte ich sie alle gelesen. Mein erstes war ein schmales, aber über alles hübsches Bändchen; «Nachtarbeit», mit rotem Faden geheftet, signiert am 19. September 1992. Seither begleite ich das Werk der Dichterin, immer wieder neu fasziniert, zum einen von der Konsequenz, zum andern von den Überraschungen, die jeder Band aus der Hand der Dichterin birgt. Eine grosse Schriftstellerin, die stets gefällt, ohne je gefällig zu sein. Eine grosse Dichterin, die schon so lange im Thurtal lebt, dass man sie getrost eine Thurgauerin nennen kann, auch wenn ihr Blick in ihrem neusten Werk in die Berge schweift.

mit Moderatorin Rebecca Höhner

Zsuzsanna Gahse nennt ihre Bücher «Buchkörper», zum einen weil nichts an einem ihrer Bücher dem Zufall überlassen sind, alle ein Konzept bergen, zuerst zeichnerisch skizziert, später handschriftlich festgehalten und schlussendlich in eine Endfassung getippt. Obwohl das Buch beim Durchblättern als durchnummerierte Sammlung von Textfragmenten erscheint, ist «Bergisch teil farblos» viel mehr. Ihre Bücher, vor allem jene, die bei der Edition Korrespondenzen erscheinen, sind haptisch greifbare Gesamtkunstwerke, die nach innen und aussen strahlen. Die, so Zsuzsanna Gahse, in der Form nur entstehen können, weil die Zusammenarbeit mit ihrem Verleger und Lektor Reto Ziegler ein Glücksfall nicht nur für die Dichterin selbst, sondern für alle Liebhaber der Dichtung ist.

«Wo ist der Witz in den Bergen? Fehlanzeige. (4)»

Zsuzsanna Gahse hat ihn gefunden, in mehr als 500 kurzen und kürzesten Prosatexten, die alle miteinander verbunden sind, die alle für sich Kostbarkeiten sind. Prosa mit Witz und Lakonie geschrieben. Texte, die mit Sprache und Wörtern spielen, mit Landschaften, den Bergen, vom Meer bis ins kantige Gebirge, von fast lieblichen Betrachtungen bis bissigen Feststellungen, schroff wie die Felsen selbst, dann wieder weich wie sanfte Hügel. Texte, die ernst zu nehmen sind, die politischen Zündstoff ebenso «bergen», wie Liebeserklärungen an das Leben und ihre Landschaften.

Tele Top Nachrichten

„In Gottlieben habe ich mein Literatur-Wohnhaus, heimisches Literaturhaus, im Laufe der Jahre mehr und mehr.“

Zsuzsanna Gahse erforscht mit ihrem Schreiben die Sprache, lotet aus, was ihr Instrument an Klangformen entwickeln kann. Sie schafft mit ihrem Schreiben, was nur ganz wenigen gelingt: Sie verdichtet sich in die Sprache hinein, Gedanken, Betrachtungen, Erinnerungen, die durchleuchten, ausleuchten und einleuchten.
Sie habe von einem Bekannten eine Karte bekommen. Darauf standen bloss zwei Nummern, die auf Texte in ihrem neuen Buch verwiesen. So werden zwei Nummern zu einem Code!
«Bergisch teils farblos» – Ein Ohrenschmaus!

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, seit vielen Jahren nun in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Gallus Frei

«Ein Körper von Erinnerungen», Lesung mit Annina Haab aus ihrem Debüt

Annina Haab las in Gottlieben aus ihrem Debüt «Bei den grossen Vögeln», einer eigentlichen Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und ihrer Grossmutter, von der sie nicht will, dass sie ihre Geschichte, ihre Geschichten mit in den Tod nimmt. Ein Buch über beiderseitiges Loslassen.

Seit 2019 präsentiert die Literaturvermittlerin Judith Zwick unterstützt durch das Kulturamt Konstanz, das Literaturhaus Thurgau, thurgaukultur.ch, die Buchhandlung Homburger und Hepp und den Fonds Neustart Kultur des Deutschen Literaturfonds die Reihe «Debüt. Der erste Roman.» Eine grenzüberschreitende Veranstaltungsreihe, die sich ausdrücklich jenen Autor:innen widmet, denen nicht schon ihr Ruhm vorauseilt.

In ihrem im Frühling erschienenen Roman «Bei den grossen Vögeln» sieht eine junge Frau ihre Grossmutter sterben. Sie will, dass Ali, so heisst sie ihre Grossmutter, weil sie keine Oma und auch keine Grossmutter ist, aus ihrem Leben erzählt. Ali wird sterben. Nur noch nicht jetzt. Sie ist fast 90 Jahre alt und liegt im Krankenhaus – Leberzirrhose. Sie entscheidet sich für das Altersheim. Weil sie es so will. Und der Familie zur Last fallen, das will sie nicht. Aber Ali will nicht erzählen, weil sie sich in ihrem langsamen Sterben viel lieber mit dem Gegenwärtigen beschäftigen will. Und weil sie sich dann doch zum Erzählen drängen lässt, erzählt sie dann eben doch, auch wenn ihr Erzählen manchmal vom Boden abhebt. 

«Was wir erinnern, erinnert an uns.»

Ein Roman, der stark dialogisch gestaltet ist, weder Biographie noch Erinnerungsbuch. «Bei den grossen Vögeln» ist eine Huldigung an das Erzählen. Eine Liebesgeschichte an eine unerschrockene, humorvolle, alte Frau. Eine Frau, die sich immer wieder ihrer scheinbaren Bestimmung verweigerte, wegging, wegfuhr.

Älter werden wir alle, Grossmütter haben wir alle, manchmal nicht lange, manchmal zu lange. Annina Haab erzählt über die Endlichkeit, all die grossen und kleinen Übergänge, die einem erst im Erzählen und damit auch im Lesen bewusst werden. «Bei den grossen Vögeln» ist auch ein Buch, das sich mit institutioneller Alterspflege auseinandersetzt. Kein Abschiedsbuch, aber ein Buch über das Loslassen.

«Zwischen den Balken unterm Dach sprachen wir über das Altern und das Sterben, das Zurückbleiben, während draussen im Novembernebel die Fastnachtsmusik für einen trefflichen Kontrast sorgte. Liebe Judith, lieber Gallus, danke für den schönen Abend und auf ein andermal.» Annina Haab

Rezension von «Bei den grossen Vögeln» auf literaturblatt.ch