Ein Abend mit Lisa Elsässer im Literaturhaus Thurgau am 4. Mai!

2023 erhielt die Urner Schriftstellerin Lisa Elsässer das «Urner Werkjahr». Die Auszeichnung ist mit 20’000 Franken dotiert und damit die höchste Auszeichnung, welche die Kunst- und Kulturstiftung des Kantons Uri vergeben kann. Grund genug, die vielseitige Schriftstellerin und Dichterin von der Innerschweiz an den Seerhein nach Gottlieben einzuladen.

«Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Kleist hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet!» Lisa Elsässer

Nach einer Ausbildung zur Pflegefachfrau wurde Lisa Elsässer auf dem zweiten Bildungsweg Buchhändlerin und Bibliothekarin. Inmitten von Büchern entdeckte sie die Begeisterung für das eigene Schreiben und studierte schliesslich von 2005 bis 2008 am Literaturinstitut in Leipzig. Zu Beginn ihres literarischen Schaffens publizierte Elsässer vor allem Lyrik. 2011 erschien ihr erstes Prosawerk «Die Finten der Liebe». Für ihr Schaffen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, 2018 etwa den Hauptpreis der Zentralschweizer Literaturförderung. Lisa Elsässer lebt und arbeitet heute in Walenstadt im Kanton St. Gallen. Zuletzt erschien bei Wolfbach der Gedichtband «Schnee Relief» (2019) und der Roman «Im Tal» bei der Edition Bücherlese (2022).

Eleonore Frey «Cristina», Engeler

Dass Eleonore Frey mit ihrer Erzählung „Cristina“ an die Solothurner Literaturtage eingeladen wurde, ist ein erster Schritt. Eigentlich würde der Autorin nichts weniger als einer der grossen Literaturpreise zustehen, sei es für ihre neuste Erzählung „Cristina“ oder für ihr Gesamtwerk, mit dem die Dichterin seit über dreissig Jahren für Eingeweihte zum Fixstern am deutschsprachigen Literaturhimmel gehört.

Woran es liegt, dass sich nur ein einziges Buch, das Eleonore Frey je schrieb, Roman nennt, mag ein Geheimnis sein. Vielleicht ist es aber auch nur Teil genau jener Bescheidenheit, die diese Autorin ausmacht, sei es in der Art und Weise ihres Auftritts oder in den Themen, aus denen Eleonore Frey Literatur macht. Ihr Schreiben ist ein Veredelungsprozess. Die ehemalige Professorin für Neuere Deutsche Literatur verwendet ihr Instrumentarium unspektakulär, nie explizit, sondern immer im Dienst des Kunstwerks. Klar ist da eine Geschichte, die erzählt werden will, aber Eleonore Frey durchsetzt ihren Stoff mit feinen Linien, denen sie mit aller Konsequenz folgt, ohne jede Vorhersehbarkeit. Sie umkreist ihren Stoff in verschiedenen Perspektiven, leuchtet ihn nie aus, sondern spürt der Wirkung nach, die Sprache und Inhalt entwickeln. So bescheiden sich ihre Erzählung „Cristina“ auf Verkaufstischen gibt, so dicht, überraschend und überzeugend ist „Cristina“. Was Eleonore Frey kann, ist selten genug – Sprache, die funkelt!

Eleonore Frey «Cristina», Engeler, 2022, 168 Seiten, CHF 18.00, ISBN 978-3-907369-06-7

Cristina ist eine noch junge Frau, die mit Hilfe ihres Mannes auf eine Vergangenheit zurückschaut, die ihr beinahe alles genommen hat. Ein Kind, ein selbst bestimmtes Leben, eine Zukunft und die Hoffnung. Cristine war schon immer ein Kind, das Grenzen auslotete, dass schon früh spüren musste, dass ein Mädchen- oder Frauenleben im Portugal des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht viel zählt. Frauen hatten zu dienen, zu funktionieren. Und als sie nach einer wilden Bekanntschaft mit dem Matrosen Fernando mit siebzehn schwanger wird, ist die Katastrophe besiegelt. Nicht so sehr jene der jungen Frau, als die der Familie, der Mutter, des Vaters, einer ganzen Stadt. Und weil die Schande verborgen werden muss, schickt Cristinas Mutter die junge Schwangere gegen ihren Willen zu einer Tante weit weg aus Land. Die Tante ist Hebamme und mit der wachsenden Freundschaft der beiden Frauen wächst auch die Hoffnung auf eine Zukunft zusammen mit dem werdenden Kind. Aber Cristinas Mutter erweist sich bei der Geburt des Kindes als böser Engel. Zusammen mit einem Pfarrer lässt sie den neugeborenen Jungen von Cristina ungesehen wegbringen, behauptet er sei tot und gibt ihn zur Adoption frei. Der Schmerz für die junge Mutter ist unsäglich. Noch bleibt sie bei der Tante, beginnt eine Ausbildung als Hebamme, aber ihr Entschluss, ihr Kind zu finden, wird zur Manie. Jeden Jungen, der im Alter ihres Sohnes sein könnte, spricht sie an, stets in der Hoffnung, dieser würde ihre Stimme erkennen.

Jahre später trifft Cristina ein letztes Mal ihre Mutter und stellt all die Fragen, die sich nie beantworten liessen. Aber ihre Mutter antwortet nur: Ein Kind? Du hast nie ein Kind gehabt. Das hast du geträumt. Für Cristina ist ihre Mutter gestorben, Jahre vor ihrem eigentlichen Tod.

Wie viel Schmerz kann man ertragen? Gibt es Wunden, die sich nie verschliessen? Eleonore Freys Erzählung spiegelt die Unverträglichkeiten in den Leben vieler Frauen damals, Leben die sich bis in die Gegenwart spiegeln. Geschichten, die offenbaren, dass nicht das Leben selbst wichtig ist, sondern bloss dessen Wirkung. Wie leicht wirft man drohender Schande gegenüber alles in einen Topf! „Cristina“ ist ein mit aller Zartheit nacherzähltes Stück Frauenschicksal, eine Erzählung, die einem in die Knochen fährt, über die Mechanismen einer Zeit, die weder geografisch noch zeitlich weit von der unseren entfernt ist. „Cristina“ ist eine starke Erzählung über eine starke junge Frau, der Familie und Kirche das Rückgrat brechen wollten – und es nicht schafften.

Ich verneige mich tief vor einer grossen Erzählerin!

Eleonore Frey, geboren 1939 in Frauenfeld, lebt in Zürich. Von 1958 bis 1966 studierte sie Germanistik, Romanistik und Komparatistik an der Universität Zürich und der Sorbonne. 1966 promovierte sie mit einer Arbeit über Franz Grillparzer; 1972 erfolgte ihre Habilitation. Von 1982 bis 1997 wirkte sie als Titularprofessorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich.

Hansjörg Schertenleib «Im Schilf», Atlantis

Väter und Mütter sucht sich niemand aus. Was sie einem mitgeben, lässt sich sehr oft erst nach Jahren umschreiben. Manchmal bleibt Dankbarkeit, manchmal der Wunsch, es besser zu machen und viel zu oft vernarbte Verletzungen, verschorfte Seelen und die permanente Angst, es würde etwas aufbrechen, was nicht mehr zu schliessen wäre.

Zwischen Schilf, noch in den Morgenstunden im Ruderboot erhält Viktor einen behördlichen Anruf; sein Vater sei gestorben. Was bei anderen Trauer auslöst, ist für Viktor eine Befreiung. Auch wenn er sich von seinem Vater vor Jahrzehnten losgesagt hatte, war die Gleichzeitigkeit beider Leben ein permanenter Vorwurf. Mit vierzehn stellte ich mir zum ersten Mal vor, er sei tot, mit fünfzehn brachte ich ihn zum ersten Mal in Gedanken um, mit sechzehn zog ich von zu Hause aus. Aber weil man sich von Vätern und Müttern wohl lossagen kann, nie aber gänzlich befreien, bleibt der Alp und die Nachricht vom Tod seines Vaters Anlass genug, dass Erinnerungen aufploppen, denen sich Viktor nicht entziehen kann. Viktors Vater war nie der Vater, der er hätte sein sollen – und er nie der Sohn, den sich der Vater gewünscht hatte. Aus gegenseitigem Unverständnis, den Erwartungen, die ausgesprochen und unausgesprochen nie Wirklichkeiten wurden, entstand eine Mauer, deren Mörtel sich mit blankem Hass mischte.

Viktor erinnert sich an Max, den Vater seiner geschiedenen Frau. Von Max erbte er das kleine Angelhäuschen am See und das Boot. Und von Max bekam er damals das Gefühl, das es auch ganz anders hätte sein können. Zusammen mit Max erlebte er Tage und Stunden, die in väterlicher Freundschaft den Schmerz darüber nicht verkleinerten, was Familie hätte sein können. Viktor erinnert sich an den Anruf seiner Ex-Frau Charlotte, die ihm vor ein paar Jahren am Telefon mitteilte, er müsse sie ans Sterbebett ihres Vaters nach Irland begleiten. Max hätte keine Ahnung, dass sie beide kein Paar mehr seien. „Es wird dir leichtfallen, nur zu spielen, mit mir verheiratet zu sein.“

So fliegt man zusammen, arrangiert sich für dieses eine Mal, als wäre das Zusammensein vertraglich festgelegt, emotional distanziert und zeitlich befristet. Aber weil schnell klar ist, dass da Altes wieder aufgekocht wird, man alten Mustern nichts entgegenzusetzen weiss, wird die Reise ans Sterbebett des alten Mannes eine ungewisse Reise in zwei Leben, die sich längst verabschiedet hatten. Was wird, wenn sich zwei, die sich einst liebten und für immer brachen, in der Not zusammenfinden?

Hansjörg Schertenleib «Im Schilf», Atlantis, 2023, 176 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7152-5025-0

Während sich die beiden auf dieser Reise immer mehr dem einen Ziel nähern, die Zeit am Sterbebett von Max aber nur ganz kurz wird und man sich dort auch noch mit Renate herumschlagen muss, der Frau, mit der Max seine letzten Lebensjahre teilte, als man über die Art und Weise seiner Bestattung zu streiten beginnt, werden Viktors Bilder und Fragen immer drängender. Viktor erinnert sich. Und weil man in dem Gefüge, was seine Familie hätte sein sollen, nie erzählte, keine Fragen stellte und Nähe in keiner Form zuliess,  erinnert sich Viktor auch an eine Vergangeneheit, die hätte sein können. An einen Vater, den er sich herbeizeichnet, den er zu verstehen versucht, weil Viktor weiss, dass Erinnerungen zu Mühlsteinen werden, die ihn in Abgründe reissen können.

Hansjörg Schertenleibs Roman ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch eines Versehrten. Viktor macht sich auf. Das alleine beschreibt den Unterschied zu den meisten anderen, die die zerstörerische Wucht der Vergangenheit geschehen lassen. Da geht einer auf eine Reise, weil er weiss, dass es nur wenige Chancen gibt, die Dynamik der schmerzhaften Erinnerung zu brechen. „Im Schilf“ ist ein zärtliches Buch, weder Abrechnung noch Aufarbeitung, aber die Geschichte eines älter werdenenden Mannes, der die Richtung seiner letzten Jahre selbst bestimmen will. Die Geschichte eines Mannes, der sich stellt und in den Trümmern seiner Vergangenheit das sucht, was ihm seine Ruhe zurückgeben kann.

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind bislang erschienen: «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und «Offene Fenster, offene Türen» sowie die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel».

Betragsbild © leafrei.com

Lisa Elsässer «ich hab dir nichts versprochen» und «Tango», Plattform Gegenzauber

ich hab dir nichts versprochen

nur ein paar schritte
durchs fegefeuer
kalt hatten wir nie

nur eine hand voll 
schnee im licht
wir tranken das wasser

nur eine amsel
gesang vom baum
wir entwurzelten ihn

das feuer brannte
fegte über die worte
funken streunten durch die asche

unsere augen tränten im rauch

 

Tango

Das Ende liegt jetzt näher. Wenn man nach dem Durchschnitt geht, bin ich über die Mitte hinaus. Wenn ich morgen sterben müsste, wäre ich länger schon, ohne es zu wissen, über sie hinaus gewesen. Dann wäre ich also in der Mitte des Lebens schon an dessen Ende gewesen. Aber wer spricht denn jetzt vom Sterben!

Jetzt denke ich manchmal daran. Es wird ein Gefühl, in dem die Freude am Leben und die Gewissheit über das andere miteinander tanzen. Ich stehe daneben und schaue ihnen zu. Sie finden keinen gemeinsamen Takt, sie bewegen sich wie völlig unmusikalische Wesen. Beide haben noch nicht erkannt, dass eines sich dem andern überlassen müsste, damit von einem Tango gesprochen werden könnte. Wer führt wen!

Ich führe ein stinknormales Leben. Ich stehe am Morgen auf und am Abend lege ich mich wieder hin, und nachts träume ich von einer Ameisenstrasse. Wenn ich nicht schlafen kann, träume ich von Schlaf oder ich stehe mitten in der Nacht auf und spreche mit dem Mond. Das ist ganz neu! Die Nachtkerze erwähnt die Hormone, die sie besitzt, und ich zeige ihr die Haare, die am falschen Ort wachsen. Du schöne Blüterin, sage ich, ich blute nicht mehr. Ich höre den wilden Schrei eines Katers. Ich will nicht sterben, vor allem nicht morgen.

Morgen habe ich nämlich einen Termin bei einem Gehörspezialisten. Seit ich meinen Mann verstehe, höre ich nicht mehr so genau, was er sagt. Als ich ihn noch gut hören konnte, stellte ich mich manchmal taub. Unsere Liebe wächst mit zunehmender Entfernung von der Lebensmitte. Ich versuche, ihm vom Mund abzulesen. Das ist die einzige Perspektive, falls es mich übermorgen noch gibt. Dieser schöne Mund ist noch da. Wir hängen die Liebesbriefe magnetisch bestückt an den Backofen oder an den Kühlschrank. Vergiss nicht, steht darauf, mein, steht auch da: Vergiss nicht, mein Hemd zu bügeln. Ich lege den Brief ins Gefrierfach. Ich küsse ihn dann auf den kahlgewordenen Schädel, wenn er, was immer öfters vorkommt, sagt, dass Altwerden ein Skandal sei. Wenn ich frage, woher er denn das habe, sagt er, er wisse das auch nicht mehr und ich sage, dann lass diesen Spruch. Manchmal sitzen wir bei heiterem Wetter abends vor dem Haus, in dem er geboren wurde, in dem ich hinzukam, in dem wir uns nie schlüssig waren, ob das Haus überhaupt ein Dach hatte. Auf jeden Fall hatte es einen Keller.

Er benutzt die stets herumliegende Schiefertafel bloss für Zahlen, beim Jassen oder bei der Einteilung des AHV geschwächten Haushaltsbudgets. 

Ich schreibe zum Beispiel auf die Schiefertafel: Ich bin im Keller. Er weiss dann, dass ich am See sitze, um meine Gedanken, die wie etikettierte Einweckgläser daran erinnern, dass man von ihnen noch Gebrauch machen kann, zu ordnen, um sie berauschen zu lassen, als gelänge das nur noch mit der Kraft des Wassers, an dem man sitzt. Er kommt dann auch an den See und wir betten uns mit gegenseitiger Hilfe auf die Grasnarbe, die das Ende des Sandstrands oder der Anfang unserer Gemütlichkeit ist. Eine Flasche Wein steht zwischen uns. Zwei schöne Gläser, mit Olivenöl beträufelte Brotstücke, mit Pfeffer bestreuter Weichkäse, geviertelte Tomaten, der sinnvolle Gang der Uhr, das Ebenmass der luftigen Kräfte, das Wunderspiel dieses Raums und seiner Zeit. Wir haben uns einmal geschworen, dass wir nur und immer aus richtigen Gläsern trinken werden. Wenn wir sie zerschlagen, was nun auch immer öfters und nicht absichtlich wie früher geschieht, nehmen wir einfach zwei andere aus dem Schrank, die auch nicht mehr neu sind. Es ist fast erheiternd, wie die Gläserlinie im Schrank immer weiter nach hinten rückt, als wäre sie längst über ihre Mitte hinaus und als verschwände auch sie eines Tages einfach irgendwohin.

Ich zitiere ihm aus den Hymnen an die Nacht. Er verweist mich auf die Sonne, die gerade das Wasser belegt wie eine Silberschlaufe ein dunkel eingepacktes Geschenk und ein Schwan zerreisst gerade vor unseren Augen dieses Band, als hätte die verschwindende Göttin es ihm angetragen, in uns die Neugier dafür zu wecken, was sich unter diesem Dunkel der aalglatt gewordenen Fläche verbergen könnte.

Wir essen und trinken, beides sehr langsam und bedächtig. Wir können bleiben, könnten gehen. Der Tag kennt den Abend jetzt nur noch als Feststellung. Eine weitere, kleine Entfernung oder Annäherung und dass es die Momente gibt, wo ich das eine oder das andere vergesse.

Auf dem Nachttischchen liegen die künstlichen Tränen, in kleinen Plastikampullen. Das Auge damit zu treffen, ist eine wahre Kunst. Wenn es gelingt, fühlt es sich an wie früher, als sich der Kummer einen Überlauf erst in der Dunkelheit gestattete. Es ist das gleiche Brennen im Auge. Ich habe vergessen, worum es nicht ging. Ich habe nicht vergessen, worum es ging. Wahrscheinlich Komik, die zum Lachen und zum Weinen war, und jetzt, wo die echten Tränen fliessen könnten, gibt es nichts mehr zu Weinen. Das ist auch komisch.

Er liegt im Bett neben mir, er schläft. Sein Mund steht offen. Ich habe Lust, ihn am Gaumen zu kitzeln. Aber ich bin jetzt weit weg. Ich bin auf Sizilien.

Ich hielt den Fotoapparat in der Hand und erklärte dir, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Alles ganz weit weg, sagte ich zu dir. So neu und schon kaputt, futsch, sagte ich und schade. Ich steckte ihn in die Handtasche. Wir hatten uns auch gegenseitig aufgenommen. Eine wunderschöne Blumenwiese, die sich auf der Weiterfahrt auftat, schien es uns wert zu sein, aus dem Auto zu steigen und nochmals den Apparat auszupacken. Dann lachte ich so sehr und du lachtest mit. Später, wenn wieder einmal alles verkehrt und weit entfernt schien, was nahe hätte sein können, sagtest du, dass ich das jetzt nicht verkehrt herum aufnehmen solle, sondern geduldig ein paar Tage warten, um es wieder ganz nah zu sehen.

Es stimmt. Die Tage werden immer länger. Die Tage werden jetzt länger. Man muss abends wieder wartend vor dem Haus sitzen, weil es nichts mehr zu tun gibt ausser warten. Oft steht der Mond schon oben, wenn die Sonne noch nicht unten ist. Sie geht ja nicht unter, aber plötzlich oder langsam macht die Dunkelheit von ihrem Recht Gebrauch, so dunkel wie nur möglich zu sein. Dann zünde ich eine Kerze an und er meint: «Ist das nötig!» Aus Nachbars Garten dringen die Räucherschwaden und Schwaden von verbranntem Fleisch. Man hört Gläser klirren und Worte klappern, schlechterzogene Kinder lärmen und Hunde bellen, schlicht und einfach: ein unerträglich gewordenes Leben voller Leben. Er hat die Beine hochgelagert, damit seine eingebundene Zehe immer sichtbar bleibt, ein Grund, kleinere Dienstbotengänge in die Küche mir zu überlassen. Bis vor kurzem hatte ich einen Mann, der mir abends das Bett abdeckte. Der mir half, das künstliche Gebiss ins Wasserglas zu legen, oder meinte, das wäre sehr schön, wenn ich ihn zahnlos küsste und er keine Bisse eines falschen Gebisses fürchten müsste, der meine geschwollenen Beine mit einer schwungvollen Bewegung aufs Bett hievte und sagte: so das hätten wir. Und am Morgen tat er das alles jeweils in der umgekehrten Reihenfolge und meinte: Du, das wird ein schöner Tag mit uns. 

Einmal, vor langer Zeit, warteten wir in einer Kneipe aufeinander. Ich oben, du unten. Ich ass oben alleine, du unten alleine. Gleichzeitig. Als wir uns am Ausgang zufällig trafen, redeten wir uns sofort ins Wort und verbrachten die Nacht getrennt durch unsere Wand des Eigensinns. Du hinter der Wand, ich vor der Wand. Und einmal – das geht mir jetzt alles durch den Kopf und an deinem schlafenden, offenen Mund vorbei – hast du mir an Weihnachten eine Pfeffermühle geschenkt. Ich war auf Seidenunterwäsche eingestellt und hielt diese klobige Maschine in der Hand. Ich trug die Gans trotzdem auf, weil sie ja schon im Ofen war. Als ich beim Geschenk auspacken dachte, jetzt knistert dann gleich die Seide, war diese Gans schon mindestens eine Stunde im Ofen und zum Schluss konnte ich dann gleich die Mühle – teures Holz, sagtest du – in Gebrauch nehmen, was ja mit der Unterwäsche schlecht gegangen wäre. Nachts im Bett fragtest du mich, ob mir denn die Pfeffermühle gar nicht gefalle. Ich erinnere den Wortlaut meiner Antwort nicht mehr. Es kann sogar so gewesen sein, dass ich gar keine Antwort hatte. Ja – ich glaube, es war so!

Er hat seit einiger Zeit diese blaue Zehe und seit er sie hat, decke ich bei ihm das Bett auf, und ich tue auch alles andere, abends und morgens in umgekehrter Reihenfolge. Aber ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen: Du, das wird wieder ein schwieriger Tag! 

Das Blut ist damit beschäftigt, durch das zunehmend verkalkte System die kleinste Zehe noch zu erreichen oder die noch verbliebene Haarwurzel. Und wir sind uns jetzt die gegenseitigen Tröster. Wenn einer den Titel des Films nicht mehr weiss, deutet der andere auf die schlecht durchblutete, blaue Zehe und stellt die mögliche Amputation dem namenlos gewordenen Film gegenüber. Alles wird relativ, sogar der Titel eines Buchs. Wenn ich seine blaue Zehe anschaue, weiss ich beim besten Willen nicht, was eigentlich dazu geführt hat, dass er so viel schlechter durchblutet ist als ich.

Wir waren doch beide dem Rauchen und dem Trinken zugetan. Aber eine blaue Zehe blieb mir bis jetzt erspart.  Als Prävention schauen wir uns am besten keine Filme, keine Theater, keine Bücher mehr an, so müssen wir uns gegenseitig nicht trösten. Und in absehbarer Zeit werden wir eh zu Staub. 

Aber jetzt muss ich schlafen. Die Brote für morgen sind gestrichen. Die Möglichkeit besteht, sie besteht natürlich immer, aber jetzt steht sie uns mit wesentlich mehr Kraft gegenüber als wir ihr entgegenzusetzen vermögen. Es kann sein, dass morgen einer von uns alleine aufstehen, die Brote allein essen muss. Er muss dann sogar alleine leben!

Ich sollte schlafen. Die Dunkelheit begeistert mich. Ich stelle mir vor, wie ich dann ganz allein die Brote esse, das heisst, dass ich mit dieser Vorstellung die Annahme verknüpfe, dass ich ihn, den Mann, mit dem ich lebte, lebe, überleben werde. Ich denke dabei überhaupt nicht an die Statistik, die würde mir zwar sogar Recht geben, nein, ich denke an die Hörgeräte, die auf mich warten, und die es mir wieder ermöglichen, ihm nicht immer alles vom Mund ablesen zu müssen.

Leben ist alles. Die Nacht wird kommen, himmlische Freiheit, selige Rückkehr  

Was für eine begeisternde Vorstellung!

(Erzählung aus «Erstaugust»/ Edition blau/ Rotpunktverlag Zürich / 2019)

Lisa Elsässer «An dich», Erzählung auf der Plattform Gegenzauber

Illustration © leafrei.com

Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin

Wolfgang Hermann stellt sich mit seiner neuen Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ die Frage: Was weiss ich von meiner Mutter? Ich habe Bilder, Erinnerungen, Fantasien. Und ich habe mein Nichtwissen: Aus diesem Nichtwissen will ich meine Kraft schöpfen. Ein Buch über viele Mütter!

Vater- und Mütterbücher scheinen in Mode zu sein. Das ist aber nur oberflächlich betrachtet so. Ein grosses Thema, nicht nur in der Literatur, ist die Herkunft. Letztlich beschäftigt sich auch die Geschichtsforschung mit nichts anderem als unserer Herkunft. Grosse Teile der Astronomie, der Naturwissenschaften überhaupt; Woher komme ich. Wer und was wir sind, ist in vielem Resultat. Wir alle haben Mütter und Väter, die einen als Geschenk, viele als lebenslange Hypothek. Man kann sich dieser Herkunft stellen. Man kann sein familiäres Erbe nicht ausschlagen. Wer in den Spiegel sieht, sieht all die Generationen zuvor, mit Sicherheit Mutter und Vater. Was und wie viel ist Teil meiner selbst? Wie sehr leitet mich, was Generationen vor mir mitverursachten?

Wolfgang Hermann schrieb eine Erzählung über seine Mutter, nicht über seinen Vater. Auch wenn dieser in seiner Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ auch eine Rolle hat, wenn nicht sogar eine eigentliche Hauptrolle, denn er war der Grund, warum es seiner Mutter nie gelang, die zu werden, die sie gerne hätte werden wollen; eine eigenständige, emanzipierte Frau, eine erfolgreiche Sängerin, eine Künstlerin, eine Mutter, die ihren Kindern nicht aus lauter Verzweiflung all ihre verfügbare Liebe gibt, sondern eine, die sich im Gefüge einer liebenden Familie allen zuwenden kann; milde, fürsorglich.

Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin, 2023, 120 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7076-0788-8

Aber Wolfgang Hermanns Mutter wurde ein solches Leben verweigert. Nicht nur von ihrem Ehemann, auch von der Zeit, der Geschichte, dem Leben in der Provinz, in den Fesseln von Konvention und Patriarchat. In einem Interview erklärte Wolfgang Hermann, er habe seiner Mutter mit dem Buch ein „kleines Denkmal“ setzen wollen. Die Erzählung ist sehr wohl ein Denkmal. Ein Denkmal für all die Frauen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten, die Pläne, Gaben, Talente mit sich herumtrugen, die Zeit es ihnen aber verweigerte, diese zu Gelebtem werden zu lassen.

Wolfgang Hermanns Mutter wächst in der Zwischenkriegszeit auf, ist die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes, der in Bregenz eine Sägerei betrieb. Zusammen mit ihren Geschwistern wuchs sie in einer Familie auf, in der es klar war, dass man die Kinder ihren Neigungen entsprechend unterstützte. Nicht zuletzt, weil das Geld vorhanden war. Sie nahm Gesangsstunden, träumte von einer Karriere als Sängerin. Aber weil man erst etwas Solides lernen sollte, begann sie in der Sägerein ihres Vaters, später im Bauunternehmen ihres Onkels zu arbeiten. Dass sie neben ihrer künstlerischen Ader auch eine für Zahlen und Bilanzen hatte, schien erst ein Fluch, später im Leben der Mutter die Rettung. Früh hatte sie ein eigenes Auto, schien genau zu wissen, was sie wollte, wie ihr Weg in eine selbstbestimmt Zukunft aussehen sollte. Aber weil sie stets alles zu kalkulieren versuchte, weil sie alles bestimmen wollte, nahm ihr das Schicksal schnell das Heft aus der Hand. Ihre wahre Liebe heiratete eine andere und der Mann, der sich erst mit Manieren von der besten Seite zeigte, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder wurde, entpuppte sich immer mehr zum Wüterich, zum unbeherrschten Patriarch, zum unkontrolliert um sich schlagenden Tyrannen. Nicht nur seiner Frau, auch seinen Kindern, auch dem kleinen Wolfgang gegenüber, der schon als kleiner Junge seine Mutter aus schierer Verzweiflung aufforderte, sich scheiden zu lassen. Ihr Mann, anfänglich glühender Kommunist, versucht sich mehr schlecht als recht als Architekt in einem bürgerlich konservativen Umfeld, dass es dem «Roten» alles andere als einfach macht. Trotz seines langsam wachsenden Erfolgs zwingt er seine Familie zu sparen, schickt seine Kinder in abgetragenen Kleidern zur Schule, gibt sich gegen alles und jeden misstrauisch, nimmt in keine Weise an jenem Leben teil, dass seiner Frau einst alles bedeutete.

Obwohl seine Mutter die ist, die die Familie durch die Wirren der Nachkriegszeit manövriert, die das brüchige Gefüge zusammenhält, die sich gegen die Ablehnung ihrer eigenen Familie stemmen muss, die nichts von dem erreicht, was einst ihr Herz bewegte, bleibt sie an der Seite des Tyrannen. Trennung ist keine Option. Einmal ja gesagt, ist ein Versprechen, das sich nicht erweichen lässt. Erst als ihr Mann stirbt, als reife Frau, nimmt sie in schriftlichen Aufzeichnung „das Heft in die Hand“ und rächt sich zumindest im geschriebenen Wort.

„Bildnis meiner Mutter“ ist ein Denkmal für all die Frauen, denen man(n) die Kraft absaugte, das zu tun, was ihnen gegeben war. Wolfgang Hermann zeichnet mit aller Liebe dieses Bildnis. Das Bildnis seiner Mutter, die auf Fotos zu lächeln versucht, die aber ein Leben lang beinahe erstickt an den Zwängen ihrer Zeit.

Interview

Auch wenn es ein Buch über Deine Mutter ist, ist es auch eines über Deinen Vater. Ein Vater, der seine Liebe verloren hatte. Nicht nur die Liebe zu Deiner Mutter, auch die Liebe zu seinen Kindern. Eine Tatsache, für die es kein Zurück mehr gab. Der Ehemann Deiner Mutter, Dein Vater war ein Gefangener seiner selbst. „Bildnis meiner Mutter“ ist eine Liebeserklärung an Deine Mutter – aber nicht auch ein leiser Beginn, jenen groben Vater verstehen zu wollen?
Familie ist ein Labyrinth an unterirdischen Verbindungen. Ich wollte meiner Mutter ein kleines Denkmal setzen. Sie hat viel mitgemacht mit meinem Vater. Keine mitteleuropäische Frau würde das heute mit sich machen lassen. Mein Vater kam aus einer kargen, harten Welt. Sozialistische Ideale, keine Menschlichkeit. Und Armut. Meine Mutter setzte dem ihre Operettenwelt entgegen.
In ihren letzten Lebensjahren fanden beide zu Frieden und beinahe Harmonie. Vielleicht war es auch nur Erschöpfung.

Du hast das Buch noch zu Lebzeiten Deiner Mutter zu schreiben begonnen, es aber erst lange nach ihrem Tod zu Ende geschrieben. Im Buch erklärst Du, warum Du es damals nicht hättest veröffentlichen können. Braucht es nicht auch eine gewisse Distanz, um sich beim Schreiben nicht von einem verzehrenden Feuer leiten zu lassen?
Ich schrieb einmal eine kleine Erzählung nach einer Episode aus dem Leben meiner Mutter, die sie mir erzählt hatte. Die Erzählung hiess „Die Eisenbahn“. Nach der Veröffentlichung meinte meine Mutter: „Ach, das war doch alles ganz anders! Das hast du falsch verstanden!“
So ist es wohl immer, wenn jemand anderes unsere Geschichte aufschreibt; es kann nie stimmen.

Dein „Bildnis meiner Mutter“ ist das Bildnis der Mehrzahl aller Frauen über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Meine Mutter beispielsweise wäre gerne länger zur Schule gegangen, hätte gerne ein Instrument erlernt. Aber ihre Eltern hatten dafür kein Ohr. Sie würde sowieso heiraten und hätte genug zu tun als Ehefrau, Mutter und Haushälterin. Zwänge sind auch heute Thema und werden es bleiben. Verschieben sie sich einfach? Was Du an Deiner Mutter exemplarisch zeigst, erleben Frauen auch noch heute millionenfach.
Ja, Frauen erleben in großen Teilen der Welt auch heute noch Unterdrückung und Unfreiheit. Meine Mutter stammte aus vergleichsweise privilegierten Verhältnissen, sie nahm Gesangsstunden, besuchte die Handelsschule. Eine Generation zuvor wäre das unmöglich gewesen. Austrofaschismus und Naziherrschaft warfen das Land für Jahrzehnte zurück. Meine Mutter, auf der Suche nach Selbstverwirklichung im Gesang, heiratete einen Mann, der dafür keinerlei Verständnis aufbrachte. Es ging um wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand, da blieb keine Zeit für die Kunst. Ausserdem wurde sie Mutter von fünf Kindern.

Das Leben Deiner Mutter war von „Verzicht“ dominiert. Eine durchaus katholisch geprägte Haltung, trug ihre Mutter noch während Jahren einen Kapuzinergürtel, ging zu Beichte. „Verzicht“ an sich ist nicht schlechtes. Vielleicht ist Verzicht sogar der einzige Weg, unsere Existenz auf diesem Planet auch in hundert Jahren noch zu ermöglichen. War ihr Verzicht eine reine Selbstgeisselung, die Überzeugung, dass ein Mensch grundsätzlich schlecht ist?
Meine Mutter wurde streng katholisch erzogen, aber sie war lebensfroh und gesellig. Sie hatte das Pech, in karge, düstere Zeiten geboren zu werden. Fleiss und Arbeit waren hohe Werte für sie, aber sie war gesellig und liebte Bälle und tanzen. Sie glaubte immer an das Gute, sah auch in jedem Menschen seine guten Qualitäten. Sie glaubte daran, daß es allen gut gehen sollte. Nein, sie war keine Asketin, sie war sehr dem Leben zugewandt.

Dein Vater war in seinen frühen Jahren ein glühender Kommunist. Doch eigentlich auch nur auf der Suche nach einer Gesellschaftsform, die allen ihr Recht geben soll. Wann und warum kippte die Suche in Gram, Wut und unsägliches Misstrauen?
Mein Vater wuchs in Armut im Austrofaschismus auf, er finanzierte sich das Geld fürs Gymnasium selbst durch Nachhilfestunden. Kaum aus der Schule heraus, steckte er in der Uniform der deutschen Wehrmacht und nahm am Polen-Feldzug teil. Durch eine Entzündung kam er ins Lazarett und war von da an b-tauglich, d.h. ihm blieb die Teilnahme am Überfall auf die Sowjetunion erspart. Die Lektion, die das Leben ihn lehrte war, dass alles Kampf und Überleben des Stärkeren ist. Also Disziplin und Entsagung, um nach oben zu kommen. Seine Mutter war eine sehr harte, kalte Frau aus Böhmen. Ich denke, sie lehrte ihn Sätze wie „Beim Geld hört die Freundschaft auf“ und auch, dass du hart und stark sein musst, wenn du da draussen in dieser Welt der Wölfe überleben möchtest. Als „Roter“ hatte er es im schwarzen Vorarlberg als Architekt nicht leicht.

Wolfgang Hermann, geboren in Bregenz, studierte Philosophie in Wien, anschliessend lange Aufenthalte in verschiedenen Ländern. 1996–1998 Universitätslektor in Tokio. Lebt in Wien. Zahlreiche Bücher, u. a. «Herr Faustini verreist», «Abschied ohne Ende», «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald«, «Das japanische Fährtenbuch», «Walter oder die ganze Welt«, «Der Lichtgeher», «Herr Faustini bekommt Besuch» und «Insel im Sommer«. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Volker Derlath

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta

Raphaela Edelbauer schrieb sich in einen Rausch. „Die Inkommensurablen“ ist eine flirrende Momentaufnahme in der Metropole Wien kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. Bestechend virtuos begleitet sie vier Leben, die in diesen Tagen schicksalshaft miteinander verschlungen werden, in einer Stadt, die in den Wirren der Zeit kocht.

Inkommensurable – eigentlich ein Begriff aus der Mathematik; nicht messbar, nicht vergleichbar.

Am 28. Juni 1914 starb bei einem Attentat das deutsch-österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo. Nachdem Russland eine Teilmobilmachung anordnete, Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte und wenig später Russland die Generalmobilmachung erliess, wuchs die Spannung in Europa bis zum Überlaufen. In Wien wartete man elektrisiert auf die unmittelbaren Auswirkungen der Spannungen zwischen den Grossmächten. 

In einer Stimmung aus Euphorie, Umbruch, Ausgelassenheit und Fatalismus steigt am Wiener Hauptbahnhof ein junger Mann aus dem Zug. Hans hat ein Inserat in der Zeitung gelesen. Das Inserat einer Psychoanalytikerin, einer Frau, von der er sich Klärung verspricht. Dass Hans, der im Tirol Pferdeknecht war, und mit seinem Verschwinden auf dem Hof eine Rückkehr unmöglich macht, in eben jenem Wien auftaucht, das zu kippen beginnt, ist Zufall. Hans, der ungewohnt belesen ist und durchaus weiss, was sich auf dem Kontinent abspielt, hat keine Ahnung, in was für eine Stadt er eintaucht. Er war noch nie in Wien. Er war überhaupt noch nie weg, nur immer bei seinen Pferden, von denen er sicher war, dass sie ihn besser verstehen als alle andern auf dem Hof.

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta, 2023, 352 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98647-1

Zielsicher, aber mit kaum mehr Geld in der Tasche, findet er das Haus der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, kann sie überreden, ihn kurz anzuhören und Hans erzählt. Hans ist davon überzeugt, dass er Dinge träumt, von denen andere danach erzählen, dass seine Gedanken mit deren anderer in unerklärlicher Verbindung sind – inkommensurabel, ein Begriff, von dem nicht nur Hans keine Ahnung hat. Nach seiner kurzen Audienz bei der Psychoanalytikerin trifft er Klara und Adam, von denen er förmlich mitgerissen, mitgespült wird. Klara und Adam sind PatientInnen von Helene Cheresch, Klara eine junge Mathematikerin und Adam Sprössling einer Offiziersfamilie. Klara ist kurz davor, ihr Studium in Mathematik zu beginnen als eine der ersten Frauen in Wien und Adam weiss, dass seine Familie mit aller Selbstverständlichkeit erwartet, dass er sich als Freiwilliger meldet, um mit der gleichen Selbstverständlichkeit in einem heldenhaften Einsatz zum schnellen Sieg zu helfen.

Zu dritt sind sie im Gewusel der brodelnden Grossstadt unterwegs, zuerst zu einem Diner in Adams Elternhaus, das wie erwartet im Desaster endet, später dorthin, wo Klara aufwuchs, in die Gosse, einem Ort, dem Hans mit der gleichen Abscheu begegnet wie das Adams Elternhaus. Hans als Knecht, der an Ordnung glaubt, Adams Eltern, die an eine gottgegebene Ordnung glauben, die ihnen sämtliche Privilegien zugesteht, die ihnen schon seit Generationen versprochen sind.

Ein Dreigespann in einer kochenden Menschensuppe. Hans, der Knecht, Klara, das Mädchen aus der Gosse und der Adlige Adam, durch „Zufall“ zu SchicksalsgenossInnen vereint. Ein ganzes Land, eine Stadt in einem fiebrigen Zustand, weil alles spürt, dass eine Zeitenwende alles verändern wird. Eine ganz ähnliche Situation wie in der Gegenwart, wo jeder, der nicht blind und abgeschottet lebt, genau spürt, dass diese fiebrigen Zustände an Intensität zunehmen.

Raphaela Edelbauer hat jene Tage im Sommer 1914 ausgesucht, eigentlich bloss 24 Stunden, in denen gleich mehrere Welten zu implodieren drohen. Ganz bestimmt das Resultat einer gross angelegten Recherche. Aber die Recherche dient nicht der blossen Staffage. In Raphaela Edelbauers Buch tauche ich in die Tiefen jener Zeit. Ihr Roman will jedoch kein Abbild sein, so wie der Maler, selbst wenn er „realistisch“ malt nie die Realität abbildet. „Die Inkommensurablen“ ist Destillat, im Brennglas betrachtet, schrill und doch glasklar. „Die Inkommensurablen“ ist ein Sprachkunstwerk mit Untiefen, Verzerrungen, Doppelböden und Verschränkungen mit Mathematik und Philosophie. Kein einfaches Lesevergnügen – aber selbst das orientiert sich an Zeiten wie damals und heute.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Apollonia Bitzan

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck

„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.

Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.

«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»

Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck, 2023, aus dem Französischen von Michaela Meßner, 265 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-406-79993-8

Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.

«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»

Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.

«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»

Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.

Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.

Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard

Anna Kim «Die Zähne», Plattform Gegenzauber

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com

Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat

Dafer Schiehan ist aus dem Irak geflohen und in der Schweiz angekommen. „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“, Usama Al Shahmanis dritter Roman, erzählt, was der Titel seines Buches meint, vom Dazwischen, vom Zweifel, dem Erkennen, von Ängsten und der Befreiung des Ankommens.

Usama Al Shahmani hat im vergangenen Herbst nicht nur seinen dritten Roman veröffentlich. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans “In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit seinen ausgedehnten Lesereisen, dem grossen Echo, der Tatsache, dass man ihn gerne einlädt und mit ihm einen emphatischen, leidenschaftlichen und kompetenten Gesprächspartner gewinnt, dass seine Anwesenheit auch in nationalen Medien bemerkbar ist, nicht zuletzt als fixes Mitglied in der KritikerInnenrunde beim SRF-Literaturclub, scheint Usama Al Shahmani unaufhaltsam ins kollektive „Kulturbewusstsein“ der Schweiz hineinzurutschen. Seine Romane überzeugen Leserinnen und Leser wegen ihrer orientalischen Erzählkunst, der Perspektive weit über persönliche Betroffenheit hinaus und der positiven Grundhaltung allen Widrigkeiten und Traumata zum Trotz. Vielleicht auch, weil Bücher und Person eine Einheit bilden, weil Usama Al Shahmani genau das repräsentiert, was er beschreibt; den Suchenden, den Wandernden, den Fragenden, den Dankbaren.

In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ schildert Usama Al Shahmani das Wegfliegen und Ankommen von Dafer Schiehan, der wegen eines regimekritischen Theaterstücks den Irak verlassen muss und trotz eines negativen Asylbescheids in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung erhält. Nach vielen Stationen, Zeiten in Durchgangsheimen, in Zimmern mit vielen anderen Flüchtlingen zusammen, bewohnt Dafer eine kleine Wohnung im thurgauischen Weinfelden. Der Sprachwissenschaftler hat Arbeit in einem Restaurant am Bodensee gefunden, als Tellerwäscher, weit weg von seiner Heimat, seiner Familie, weit weg von einer Gewissheit, in einem Dazwischen.

„Dafer fragte sich, ob er wirklich etwas verloren hat, als er seine Heimat verliess. Oder ist Heimat bloss eine grosse Lüge, die wir gerne glauben?“

Usama Al Shahmani «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», Limmat, 2022, 176 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-042-3

Dafer erzählt in Rückblenden von seiner Kindheit in einer kleinen Stadt, seiner Familie und seinen Verwandten, von seiner ledig gebliebenen Tante Aschuak, die eines Tages das Land für immer verliess und er als Kind nicht verstehen konnte. Von seiner Grossmutter, die ihm die Welt mit Geschichten erklärte. Von den Zeiten, als auf dem Teheraner Flughafen jener bärtige, alte Mann einem Flugzeug entstieg und in eine jubelnde Menge tauchte, das ganze Land in Aufruhr versetzte und mit einem Mal alles ganz anders war, Jungs nicht mehr in die Nähe von Mädchen kamen und man nur noch auf dem Boden sitzend ass. Von seinem Umzug nach Bagdad, seinem Studium, der gewonnenen Freiheit und den perfiden Bedrohungen eben dieser Freiheit. Wie er mit KommilitonInnen in die Welt des Theaters eintauchte, weil das Theater ein offenes Feld für Lebensentwürfe zu werden begann. Bis Saddams Sicherheitapparat dem Aufbruch im Kleinen ein abruptes Ende setzte und der Inhalt eines Theaters aus seiner Feder Henkersseil zu werden drohte. Dafer musste fliehen, alleine, einer Zukunft beraubt, voller Ängste, zuerst mit der Absicht, nach England zu gelangen, schlussendlich in der Schweiz gestrandet.

„Kultur war verdächtig, mit ihr wurde man für die Familie zur Last, zur Gefahr.“

In der Schweiz ist Dafer nicht nur die Sprache fremd. Aber er spürt, dass es die Sprache ist, die ihm die Tür zu Land und Menschen sein wird. Er beginnt zu lernen. Über die Sprache hinaus die Gebräuche der Einheimischen. Langsam entschlüsselt er die Rätsel der Einheimischen, selbst die überdeutlichen Signale von Fremdenfeindlichkeit und offensichtlicher Ablehnung.
Und als Saddam im Irak gestürzt wird und ein Besuch in seiner Heimat wieder möglich ist, muss er wie viele andere Geflüchtete erfahren, dass der Vogel an jenem Ort, den er verliess, fremd geworden ist. „Wärst du hier geblieben, so wären viele schlimme Dinge in dieser Familie nicht passiert“; sagt ihm seine Mutter.

„Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ ist der Roman eines Angekommenen. Vielleicht nach „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ und „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ so etwas wie der letzte Teil einer Trilogie. Dafers Blick auf das Land, in dem er angekommen ist, ist der eines Dankbaren – wenn auch mit einem ordentlichen Schuss entlarvender Erkenntnis. Drei Worte beschreiben die Schweiz: Zuverlässigkeit, Toleranz und Jammern; „Jammern gehört zu den erlesensten Genüssen ihres Lebens.“

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er übersetzt ins Arabische, ist seit 2021 Literaturkritiker beim «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens SRF. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt in Frauenfeld. 

Rezension zu «Im Fallen lernt die Feder fliegen» auf literaturblatt.ch

Essay „Wo die Diktatur beginnt, liegt die Kultur im Sterben – Eine Kindheit zwischen dem Krieg und dem bewaffneten Frieden“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Caroline Minjolle