Rückblick: Andri Beyeler eröffnete das 11. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen stand damals für den aussichtslosen Kampf der untergehenden Aristokratie des 17. Jahrhunderts gegen den «technischen Fortschritt». Kämpft ein Literaturfestival diesen Kampf im 21. Jahrhundert? Den Kampf gegen den blossen Konsum, gegen die Berieselung, das frühlingshafte Wetter, gegen die Übermacht all dessen, was in einer Stadt wie St. Gallen sonst noch läuft?

«Wörter können ihre Bedeutung verändern», sagte Christine Lötscher, freie Literaturkritikerin und Rednerin an der diesjährigen Eröffnungsfeier. Genau das macht Literatur aus, unterscheidet sich von Journalismus und Geschichtsschreibung, zumindest in ihrer ursprünglichen Idee. Aber von Geschichtsschreibung bis Geschichten schreiben sind es nur ein paar wenige Buchstaben. Literatur pflegt den Fake bis zur Vollkommenheit, aber Fake ist noch lange nicht Literatur. Literatur spielt mit Inhalt, Sprache, Text und Wort.

Ideales Beispiel dafür, wofür das Wortlaut steht, für die Verbindung von «klassischer» Literatur, Comic, Kabarett, Spoken Word und Illustration war der diesjährige Starter Andri Beyeler am 11. Literaturfestival. Ein Text wie ein Trommelfeuer, vorgetragen von einer Schauspielerin, illustriert vom Autor selbst, geschrieben wie ein Theater, Kleinstadtmythen, die sich in einem Gasthaus in existenzielle Intensitäten hinaufschaukeln. Andri Beyeler, der bisher vor allem für die Bühne schrieb und dessen Text sich auch als Buch erst dann entfaltet, wenn er laut und mit viel Dynamik gelesen wird, schuf mit «Mondscheiner» ein aussergewöhnliches Sprachkunstwerk.

Beyeler formuliert das, was sonst im Kopf ausgeblendet wird, gibt den Gedanken jene Spur, die neben dem reinen Erzählen sonst vergessen wird. Andri Beyeler erzählt nicht wie andere sonst, lässt aus, wiederholt, kommentiert, schwingt zu ganz eigener Komik auf, zu einer Sprache, die dem Leben, den Gedanken, nicht unbedingt dem Denken und schon gar nicht der Struktur huldigt, schwingt sich zu Witz auf, der in seiner Beyeler’schen Entfaltung ganz eigen ist und wirkt.

Andri Beyeler ist Theatermann, badet in seinem Text über drei Figuren in einem Kleinstadtkosmos, genauso in Sprache wie in Auslassungen, Wort- und Sprachspielen, feinen Kommentaren, durchaus gesellschaftskritisch, sehr oft beissend und entlarvend, spielt mit der Dramatik des Alltags, mit dem, was sich im Alltäglichen an Dramatischem abspielt, den Bildern «dazwischen», jenen Momenten, wo andere während des Sehens blinzeln.

Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem «Welti-Preis für das Drama» ausgezeichnet.

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Am Samstag Nachmittag war ich als Moderator engagiert. Hier einige Eindrücke:

Lesung im «Raum für Literatur» in der Hauptpost St. Gallen mit Anna Stern und ihrem bei Salis erschienenen Roman «Wild wie die Wellen des Meeres»,
mit der Lyrikerin und Essayisten Monika Rinck aus ihrem bei kookbooks erschienen Lyrikband «Alle Türen»
und mit Daniela Krien, die aus ihrem zweiten, bei Diogenes erschienenen Roman «Die Liebe im Ernstfall» las.

Claudia Schreiber las am «WortMenue», dem literarisch-kulinarischen Festival Bodensee

Zum 11. Mal lud das literarisch-kulinarische Festival am Bodensee mit Schriftstellernamen wie Franz Hohler, Claudia Schreiber, Karl-Heinz Ott oder Thomas Meyer in Überlingen und Umgebung zu Tisch. Ein Festivalkonzept, eine Genussmischung, die zu funktionieren scheint, denn die meisten der Veranstaltungen waren schon kurz nach Beginn des Vorverkaufs ausverkauft.

An der Rezeptur des „WortMenues“ hat sich in den zwanzig Jahren seines Bestehens so gut wie nichts geändert; „Die Verbindung von anspruchsvollen Inhalten renommierter Schriftsteller mit gepflegter Gastlichkeit und Kochkunst in kleineren, dafür atmosphärisch ansprechender Gaststätten.“ Und weil Festivalchef Peter Reifsteck vor 14 Jahren mit der der damals noch wenig bekannten Autorin Claudia Schreiber und ihrem eben erschienenen Roman „Emmas Glück“ ein Volltreffer gelang, lud er sie mit ihrem neusten Roman „Goldregenrausch“ wieder ans „Wortmenue“ nach Überlingen. Damals begann die Erfolgsgeschichte von Claudia Schreibers Roman „Emmas Glück“, der wenige Jahre später mit der ebenso erfolgreichen Verfilmung mit den Schauspielern Jürgen Vogel und Jördis Triebel 2016 ihren Höhepunkt feierte. Eine Produktion, bei der Claudia Schreiber auch beim Drehbuch mitwirkte und die bei Presse und Publikum viel Beachtung und grossen Erfolg erntete.

Mit „Goldregenrausch“ wollte Claudia Schreiber noch einmal „so richtig reinhauen“, von jenem Milieu erzählen, in dem sie aufgewachsen ist, einem Dorf, das nichts zu tun hat mit LandLiebe-Idylle, dem verkörperten Sehnsuchtsort all jener, die dem städtischen Dichtestress entfliehen wollen und  zwischen Obstbäumen und putzigen Fassaden das Glück vermuten. Claudia Schreiber erzählt in „Goldregenrausch“ das harte Aufwachsen eines Mädchens, das nicht besser oder liebloser gehalten wird, wie die Kälber und Ferkel im Stall. Ein Kind eben, mehr nicht. Claudia Schreiber wuchs auf dem Land auf, klaute als Kind unendlich viele Süsskirschen und besass als Studentin 700 Sauerkirschenbäume, die es zu bewirtschaften hiess, mit denen sie sich ihr Studium finanzierte. Sie weiss, dass Nahrungsmittel nicht aus dem Supermarkt kommen und Liebe nicht wie Sauerkirschen an Bäumen wächst. Claudia Schreibers Schlag gilt all jenen, die Dummheit, Stumpfheit und Borniertheit von Generation zu Generation mit Überzeugung weitergeben als wäre es ein Naturgesetz und widerspricht all jenen, die glauben, dass sich der Liebreiz einer Gegend automatisch in die Herzen ihrer Bewohner überträgt, weder damals noch heute.

Greta steckte die Zigarette an, sog gierig, inhalierte tief. Kam dem Mädchen nah, umschloss mit ihren Lippen dessen kleine Nase und pustete dem wimmernden Kind die tröstende Betäubung in keinen Schüben ein.

«Veritables Drama, in das ich als Leser so sehr einsteige, dass ich am liebsten Brandbeschleuniger hinzuschütten würde, um ein Schrecken ohne Ende abzuwehren.“

Resilienz beschreibt die Fähigkeit, allen Widrigkeiten zum Trotz ein „guter Mensch“ zu werden, trotz aller Lieblosigkeit und Kälte lieben zu lernen, nicht unterzugehen, jenen Kern nicht zu verlieren, der glühen soll. Das Interesse an der kleinen Marie ist schnell verloren, schon allein, weil sie von produktiver und gewinnbringender Tätigkeit auf dem Hof abhält. Die grossen Brüder helfen, haben sich längst eingefügt in das zweckgebundene Handeln auf einem Hof, der immer zu wenig helfende Hände hat. Wäre da nicht die Schwester des Bauern, die im Nebenhaus Wohnrecht auf Lebenszeiten „geniesst“, die sich unwiederbringlich mit ihrem Bruder verstritten hat, wäre Marie längst an Unterernährung, seelischer und körperlicher Kälte gestorben. Aber Marie gedeiht, den Umständen zum Trotz, erst recht.

Claudia Schreiber mag Konflikte, in ihren Protagonisten genauso wie zwischen Drama und Witz, zwischen scheinbarer Idylle und abgrundtiefer Finsternis, mag Szenerien, die ebenso erotisch wie komisch sein können. Sie taucht tief in eine Welt, die während des Lesens phasenweise fast unerträglich wird, weil sie „Dampf“ ablassen kann, ohne die Menschen dabei durch Klischees platt zu machen, weil sie flucht und wettert, weil sie die Verteilung aus dem Paradies bis in alle Details schildert, weil sie erzählt, wo andere längst rot werden und zu stottern beginnen, weil sie authentisch ist.

© Holger Kleinstück

Claudia Schreibers Freundin Dorothea Neukirchen las und Claudia Schreiber erzählte im Landgasthof Keller in Lippersreute. Eine überaus gelungene Mischung, die einen ganzen Saal zum Beben brachte.

Claudia Schreiber wurde 1958 in einem nordhessischen Dorf geboren, als viertes von fünf Kindern, die Eltern waren erst Obstbauern, später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin und Moderatorin beim ZDF. Seit 1992 ist sie Autorin mehrerer Romane und Kinderbücher. Besonders erfolgreich war sie mit «Emmas Glück», verfilmt mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen. Bei Kein & Aber erschien 2011 ihr ebenfalls erfolgreicher Roman «Süß wie Schattenmorellen», neu lieferbar als Kein & Aber Pocket. Seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.

Rezension zu «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

«Die Brautmutter» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

„Zeugnis ablegen“, ein Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu

Michael Kleeberg verbringt zwei Monate als Writer in Residenz im Literaturhaus Lenzburg. Eine einmalige Gelegenheit, um zwei schreibende Schwergewichten über ihre Arbeit sprechen zu hören. Der berlinkritische Hauptstädter, weit gereiste Michael Kleeberg und der aus Rumänien stammende, leidenschaftliche Geschichtenerzähler Catalin Dorian Florescu.

Zwei vor Publikum einzuladen, um herauszufinden, was so unterschiedlich Schreibende verbindet. Mich Literaturverliebten dabeizuwissen, wenn der Mann spricht, der mit „Der Garten im Norden“ vor 20 Jahren ein Buch schrieb, das in meiner Bibliothek so lange ich lebe einen Sonderstatus geniesst. „Der Garten im Norden“ strahlt noch immer aus, was er vor zwei Jahrzehnten an unvergesslichen Leseeindrücken hinterliess. So wie „Jakob beschliesst zu lieben“ 2011 von Catalin Dorian Florescu! Zwei Reliquien in meinen Bücherregalen.

Beide schrieben in ihrer Anfangszeit Theater, eine von vielen Parallelen in den Leben der beiden. Michael Kleeberg über den RAF-Terror, Catalin Dorian Florescu ein Stück in der Empörung über die Schreckenszeit im Ceaușescu-Rumänien. Aber weder das eine noch das andere wurden aufgeführt, schon gar nicht eine Komödie über den RAF-Terror in einer Zeit, als die Agitatoren in gewissen Kreisen Helden waren.

«Ein fantastisches und hartes Jahrhundert zwischen dem Schwarzen Meer und der amerikanischen Metropole New York. Ein Roman voller Tragik und Komik, eine literarische Reverenz an die Fähigkeit des Menschen, sein Glück zu suchen, zu überleben und allen Widrigkeiten zum Trotz zu lieben.»

Kleeberg übersetzt vom Französischen und Englischen ins Deutsche, reist viel und gerne, was sich auch in seinem letzten Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ niederschlug, ein Roman, der niemanden geringeren als „der Idiot“ von Dostojewski zum Paten hat.
In Catalin Dorian Florescus Romanen dreht sich alles um Sehnsucht nach Freiheit. Im Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ treffen sich zwei nach den Terroranschlägen von 9/11 in New York und erzählen sich im Schutz eines Theaters ihre Geschichten. Florescu ist durch und durch Geschichtenerzähler. Ein Mann, der zu sprudeln beginnt, sobald ihm Zuhörer ihre Aufmerksamkeit schenken. Etwas, was man Florescu gerne entgegenbringt, denn er „rauscht“, stichelt, schwärmt und legt ein Panorama aus, ufert zuweilen aus, selbst dann, wenn man ihn zu mässigen versucht. Er schwelgt in seinen Bildern und Geschichten, die er mit sich herumträgt, wie kein anderer in der CH-Literatur.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg verarbeitete in seinem Roman „Der Idiot des 21. Jahrhundert“ 15 Jahre Erfahrungen mit dem Mittleren Osten. Seinen Ursprung nahm der Roman, als Michael Kleeberg vor vielen Jahren im Iran am Grab des iranischen Nationaldichters Hafis (1315 – 1390) stand, bei seinem Mausoleum, zusammen mit Tausenden Menschen mit ihm. Lauter Menschen, die dort die Verse des Dichters aus dem 14. Jahrhundert rezitierten, eines Mannes, der in jenem Land noch viel höher angesehen ist als Goethe in Deutschland oder Shakespeare in England. Gedichte, die damals in vollendeter Poesie Widerstand aussprachen. Worte, die heute fassen, was sich im Iran wegen fehlender Opposition niemand offen auszusprechen traut. Worte, die mit Hafis einen unantastbaren Paten haben. Eine Stimme für die sonst Stummen. Angetan von der Lektüre Goethes „Der fernöstliche Diwan“ schrieb Michael Kleeberg mit „Der Idiot des 21. Jahrhunderts ein Panorama durch das Ost-West-Verhältnis, durch die Zeit. Seine Erfahrungen, die untrennbar mit dem Mittleren Osten verzahnt sind, über die Geschehnisse dort, die sich mit Europa verbeissen und darüber wie das über Jahrhunderte labile Verhältnis zwischen den beiden Polen gerade jetzt geprägt ist von maximaler Distanz angesichts grösstmöglicher Nähe durch Internet und soziale Medien.

Sowohl Kleeberg wie Florescu sind Schriftsteller, die, bevor sie mit dem eigentlichen Erzählen und Schreiben beginnen, tief in ihre Themen hineintauchen, umfangreich recherchieren, um Wahrhaftigkeit zu generieren. Noch viel mehr aber, um das Erzählen glaubhaft, das Erzählen auf der Wahrheit abstützen zu können. Erfindung muss legitim sein, ihr Erzählen damit ein Recht bekommen. Recherche bilde den Boden, mehr als nur Kulisse. Sie prägt das Geschehen, den Weg einer Geschichte und nicht zuletzt eine Arbeitsethik. Literatur ist mehr als Behauptung. „Ein gut sitzender Anzug“, so Florescu, in dem man sich sicher schreibend bewegen kann. Recherche ist Suchen und Vergessen zugleich. Was von der Suche bleibt, wirkt durch die physische Anstrengung des Schreibens in den Text. Aus Wissen wird Intuition. Recherche ist der Erhalt der Würde jener Personen, von denen erzählt wird, selbst wenn sie „erfunden“ sind.

Ein Roman ist immer Findungsprozess, das Resultat unzähliger Spuren, die mit Hilfe der Recherche und Sprache eine literarische Spur durch die Zeit geben. „Ich will Zeugnis ablegen“, meinten beide, Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

© Lothar Köthe

 

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde  er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

© Martin Walker

Rezension von «Der Nabel der Welt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Freiheit ist möglich» auf literaturblatt.ch

 

Der Illustrationskiosk: Eine interaktive Maschine am Wortlaut Literaturfestival

Vier junge Studentinnen und Studenten der Hochschule Luzern Fachrichtung Illustration nahmen im Wortlaut Literaturfestivalzentrum in der Focacceria in der Webergasse St. Gallen Zitat, Sätze und Romantitel entgegen, um sie innert kürzester Zeit in eine Illustration zu verwandeln.

Jana Siegmund, Julia Trachsel, Lea Frei und Alain Schwerzmann zeichneten während mehr als sechs Stunden was das Zeug hielt. Geworden sind eine Vielzahl kleiner Kunstwerke und ebenso viele glückliche Besitzerinnen und Besitzer. Hier eine winzig kleine Auswahl:

«Der fünfundzwanzigste Januar hatte eine Welle ausgelöst, die auch uns erfasste und vier Tage später nach Hause aufbrechen liess.» Erster Satz von Laura Vogts Roman «So einfach war es also zu gehen», gezeichnet von Lea Frei
«Schandbriefe» Roman von Andrea Gerster, gezeichnet von Alain Schwerzmann
«Lesen hilft immer.» gezeichnet von Alain Schwerzmann
«Wir weben den Teppich den Teppich des Lebens, fliessen ineinander. Alles ist miteinander verbunden.» gezeichnet von Jana Siegmund
«Ich machte vieles richtig, weil ich meiner Freude folgte, dem, was mich begeisterte.» (Daniela Egger), gezeichnet von Julia Trachsel
«Elefantenscharen, alte Kriegslöwen! Finstre Fische aus den Meerestiefen» (Valèrie Novarina) gezeichnet von Lea Frei

«Poesie – eine Spielart der Ketzerei» Ursula Krechel

Ursula Krechel, der am 16. Internationalen Lyrikfestival in Basel der eigentliche Eröffnungsabend zur Bühne wurde, zeigte, was sie ist; eine souveräne, stilvolle Grande Dame der Literatur, eine Dichterin, die sich nur schwer einordnen lässt, nicht einmal durch Deutungen eines Literaturprofessors. Eine Ikone, eine Lichtgestalt und doch stets nah an den «Dingen» und Menschen geblieben.

Bis zu ihrem Roman «Shanghai fern von wo», der aus einem Hörspiel entstand und sich zum ersten, grossen Verkaufserfolg der Autorin entwickelte, war Ursula Krechel einem eingeweihten Kreis bekannt als Lyrikerin, Theaterautorin und Essayisten. Der Roman von 2008 über Exilanten des NS-Regimes, die nach China flüchteten und im Shanghaier Ghetto überlebten, machte sie mit einem Mal einem viel breiteren Publikum zugänglich. So wie mir, der ich nun auch die Lyrik der Autorin zu lesen begann.

2012 folgte «Landgericht», ein Roman, eine Familiengeschichte um den jüdischen Richter Dr. Richard Kornitzer, der 1947 nach jahrelangem Exil in Havanna nach Deutschland zurückkehrt und in der Konfrontation mit Schrecken und Verlust im Nachkriegsdeutschland zerbricht. Im gleichen Jahr erhielt Ursula Krechel für diesen Roman den Deutschen Buchpreis 2012, ein Preis, der für einmal mehr als verdient war.

Ursula Krechel, die 2018 mit «Geisterbahn» den dritten Roman einer Trilogie veröffentlichte, ein Roman, den die Kritik mit Recht euphorisch beklatschte, war aber schon vor ihrem Wirken als Romanistin ein Eckpfeiler der deutschen Literatur. 1977 erschien ihr erster Lyrikband, damals noch bei Luchterhand, unter dem Titel «Nach Mainz!» über den sie schrieb: «Ich hatte mir eng begrenzte Experimentierfelder ausgesucht, vielleicht der Platte eines Tisches vergleichbar, und immer war im Persönlichen das Politische, in der schweifenden Form eine Festigkeit, der ich trauen lernte; in den Gedichten begriff ich, was ich in Begriffen nie begreifen wollte.»

Über die Perspektive

«Die Welt ist voller Unruhe, alles
drunter und drüber, und noch
weiss man nichts Gewisses!»
Öden von Horváth

Einige mächtige Männer
stehen am Horizont
verdecken die Sonne
und fragen:
Wo bleibt
eure Perspektive?

Wir sagen:
Je nachdem
wo man steht
sieht man
auf den Champs Elysées
einen Dame mit Hündchen
einen rotledernen Stiefel
den Absatz eines Stiefels
oder den Dreck daran.
Je nachdem wie man blickt
sieht man auch
Bäume von weitem.
Betrachtet
die mächtigen Äste.
Der Ast einer Kastanie
erschlug hier einen Dichter.

Geht uns aus der Sonne
dann reden wir weiter
über unsere Perspektiven.

(aus «Nach Mainz!» Gedichte. Darmstadt 1977. Ebenso in «Die da» Ausgewählte Gedichte, Jung und Jung, 2013)

 

Seither sind ein gutes Dutzend weitere Gedichtbände erschienen, reihte sich Preis an Preis. Dichtung um die Frage: Was ist Nähe? Was ist Distanz? Wo liegt der Zugang zur Welt? Unerträglich sei ihr die Distanzlosigkeit. Um zu erkennen, brauche es Distanz. Daher wohl auch ihr Bedürfnis, in Essays über das Schreiben und Dichten, die Begegnung mit Welt nachzudenken. Ursula Krechels Gedichte sind ein Nachspüren eingefangener Gedanken, Sätze, die sie nie loslassen, Einsichten aus dem eigenen Lesen. Lesen als Welterfahrung, ein Heranarbeiten an Innenwelten, aus dem wiederum Lyrik, Text entsteht.

«Stimmen aus dem harten Kern» (2005) ist ein Gedichtband, der sich mit expressiver Männlichkeit beschäftigt; mit Kriegern, Soldaten, einem kollektiven «Wir», das damals, als der Band erschien, mit dem Krieg im Irak verzahnt war. Bilder in Sprache. Bilder, die Fotographien niemals zu erzählen vermögen. Dabei mehr als deutlich die Kritik, was koloniale Macht angerichtet hat und noch immer anrichtet. Ursula Krechel nimmt kein Blatt vor den Mund. «Ich habe Angst, ich verstehe nicht wirklich.»
Sie verführt, analysiert, sie beschreibt und singt. Sie spielt, mal mit Anspielungen, mal mit Verspieltheit.

Wie sehr Ursula Krechel dabei die Form wichtig ist, lässt sich in «Stimmen aus dem harten Kern» errechnen: Alles dreht sich um die Zahl 12: 12 mal 12 mal 12 Verse.

Simulation Heimkehrumkehr

1

Wo früher die kugelsichere Weste ummantelte, klebt nun
Die Creditcard in der Brusttasche des verschwitzten Hemdes

Dazwischen ein Langstreckenflug und eine sanfte Landung
Wir sind Heldendarsteller, verabschiedet, schlüpfen in Anzüge

Von Bankangestellten. Summen, die früher die Toten zählten
Sind an Zinssätze gekoppelt, Kids lümmeln mit Plastikpistolen

Stellungskrieg des Normalen; Hausbaukredite im freien Fall
Rasende Kopfschmerzen nachts, wir träumen von Rinderherden

Mit Stricken aneinandergefesselte Tiere, die wir für Feinde hielten
Niedergemetzelt im Irrtum, sie griffen uns an, wie wir ihnen contra

Wenn Aias schrie am Morgen ai, ai, als wäre sein Name ein Schmerz
Sind wir Aias, Mörder: schuldig und ruhiggestellt durch Tranquilizer.

(aus «Stimmen aus dem harten Kern» Jung und Jung, 2005)

 

Die Lücke, die Notwendigkeit auszusparen, so wie der Dialog in den Romanen der Autorin fast durchwegs ausgespart wird, braucht die Lyrikerin Ursula Krechel Sparsamkeit, die Lücke, die Auslassung das Weglassen. Ursula Krechel ist Dichterin, Verdichtern im eigentlichen Sinne. Aus dem All(es) der Sprache, dem Empfinden von Unendlichkeit bis zur Konzentration in einem Vers ist ihr Schreiben ein permanentes Suchen auf vielen Ebenen. Ursula Krechel filtert aus der Unendlichkeit sprachliche (Bau-)Prinzipien. Ihre Gedichte brechen auf.

Eintauchen!

Ursula Krechel, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays.

Ich danke dem Verlag Jung und Jung für die Erlaubnis, zwei Gedichte der Autorin in den Text einzufügen.

Beitragsbild © Gunter Glücklich

L111 erstmals im Scheinwerferlicht

Joseph Zoderer wird 85. Andere sind dann alt. Zumindest in seinem Schreiben, in seinem Dichten ist es Joseph Zoderer nicht. Seine Lyrik ist eine glühend heisse Stimme. Die Stimme eines Mannes, der Jahrringe wie Schmuck um sich trägt, Geschichte, Wissen, Erfahrungen, tiefes Empfinden darin verborgen.

Vor einigen Tagen stand ich in einer kleinen Bar zwischen meinen Musikerfreunden Christian Berger und Domonic Doppler, der eine mit seinen Gitarren, der andere hinter seinem Schlagzeug. Zu dritt gaben wir dem vierten eine Stimme, dem Dichter aus Bruneck im Südtirol, dem nie alten Mann, der im kommenden November an einem Sonntag die Stadt St. Gallen besuchen wird, uns und die Stadt mit seiner Dichtung zu beschenken.

Der Abend in der kleinen B-Post-St. Gallen-St. Georgen war die Stimmung da hinein, ein weiterer Schritt in einem Abenteuer, auf einem Tauchgang in Sprachtiefen.
Es begann vor mehr als einem Jahr, als ich wusste, ich würde einen Sommer in Südtirol, in Meran verbringen. Ich würde Zeit haben zu schreiben. Ich deckte mich zu mit Stoff, wenn aus mir nichts gedeihen würde, suchte nach Stimmen aus der Gegend rund um Meran und stiess auf den Dichter, der in einer alten Fabrikantenvilla in Bruneck den Fäden seiner Sprache nachspürt.
Ich las Romane, Erzählungen und irgendwann auch seine Gedichte, die mich trafen wie ein sanfter Blitz, dessen Leuchten blieb, sich der Nachglanz seiner Sprache im Alltag nie ganz verlor.
Ich las seine Gedichte immer wieder, las sie vor, meiner Frau, meinen Freunden und irgendwann den beiden Musikern, bei denen sofort klar war, dass sie der Musik mehr als offen stehen.

Liebesgedichte eines alten Mannes, als wäre alle Liebe in ihm geblieben, voller Sehnsucht und Leidenschaft. Nichts spürbar von abgeklärter Müdigkeit, von vergeistigter Distanz, von sprachlichem Snobismus. Seine Sprachbilder formen mit der Musik der beiden Musiker Räume, die über den Text hinauswachsen.

Joseph Zoderer wollte im kommenden November mit Ariane von Graffenried, Wolfgang Herrmann und Thilo Krause und zusammen mit den Musikern Christian Berger (Gitarren) und Dominic Doppler (Schlagzeug) St. Gallen besuchen. Internationale Tage für Musik und Poesie im Theater 111, an der Grossackerstrasse in St. Gallen. Vier Veranstaltungen, die Lyrik auf ganz besondere Weise performen, vier Stimmen, die sich mit Musik vermählen. Leider ist Joseph Zoderer aber erkrankt und kann die Reise nicht antreten.

Für Joseph Zoderer reist die junge Schweizerin Michelle Steinbeck mit ihrem Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr» von Hamburg nach St. Gallen. Seien sie sicher, an diesem Sonntag schlägt Lyrik ein!

Reservieren Sie:
Sonntag, 10. November, 11h: Wolfgang Hermann
Sonntag, 17. November, 11h: Michelle Steinbeck
Donnerstag, 21. November, 20h: Ariane von Graffenried
Sonntag, 24. November, 11h: Thilo Krause

Die Reise eines Buches beginnt. „Balg“ von Tabea Steiner, Edition Bücherlese

Sonst gibt es das eher, wenn alte Hasen ihre Bücher in die Welt entlassen. Dass sich Literaturprominenz im Foyer eines kleinen Theaters begrüsst, Wangen entgegenstreckt und den Rücken des Gegenüber tätschelt. Aber wenn eine ihr Buch zur Taufe freigibt, die schon lange auf verschiedenste Weise in der Szene mitmischt, dann sollt auch die Kollegin und der Kollege Respekt.

Tabea Steiner ist angekommen, die die schon lange schreibt, sechs lange Jahre an diesem, ihrem ersten Roman. Angekommen auf jener Seite, der sie meist als Moderatorin und Gesprächspartnerin gegenübersitzt. Noch vor ein paar Tagen sass sie bie dem von ihr gegründeten Literaturfestival „Literaare“ in Thun dem grossen Michael Köhlmeier gegenüber, einem ganz Grossen der Gegenwartsliteratur, einem Mann mit umfangreichen Werk, bei dem sich das Regalbrett langsam leicht nach unten wölbt. Nun sitzt sie auf der Seite der Grossen, mit Tischen, Mikrophon und Wasserglas, auch wenn es bei ihr noch ihr Erstling „Balg“ ist.

Noch bei den vergangenen Literaturtagen in Solothurn las sie aus dem unveröffentlichten Manuskript vor Publikum und einer mehrköpfigen Kritikerrunde und setzte sich der kritischen Meinung ihres Gegenübers aus. An diesem Abend im Theater Sogar in Zürich wollte niemand mehr Fragen stellen. Der Abend gehörte ihr, der Autorin und dem Buch, der Feier ihrer Ankunft dort, wo sie mit ihrem Engagement schon lange erwartet hingehört.

Tabea Steiner schreibt in „Balg“ von einem Dorf, einem wie sie in der Ostschweiz aufgewachsen ist, das sie kennt und eine Kindheit lang ihr ganzes Leben bedeutete. Ein paar Häuser, ein Schulhaus, eine kleine Bibliothek darin. Bewohnt von Menschen, die alle Rollen haben, so wie das Personal in ihrem Roman. Die überforderte, alleinerziehende Mutter, der ungeratene Sohn, der Briefträger, der einmal Dorfschullehrer war, bis ihn ein Beben aus seiner Bahn katapultierte, Nachbarn, Kaninchen und eine Kulisse, die immer gleich erscheint.

Ganz am Anfang ihres Romans, in den ersten Texten, war es Valentin, der alt gewordenen Briefträger. Irgendwann genügte die Banalität eines Briefträgers nicht mehr. Es brauchte den ersten Bruch, die Katastrophe, die aus Valentin das macht, was er bis in die Gegenwart mit sich herumschleppt- Es dauerte sechs Jahre, bis die Geschichten zwischen Buchdeckeln zu einem Roman werden konnten, bis die Linien endeten.
Valentin, der Briefträger. Der alte Mann der vieles Weiss und sich den Rest zusammenzureimen weiss. Die erste Figur, die maximalen Abstand zur eigenen Figur, zur eigenen Geschichte haben musste. Er ist Teil des Dorfes, blieb, obwohl man ihn im Kollektiv zu strafen wusste, er, der im Gegensatz zu vielen im Dorf stets an das Gute glaubt, auch an das Gute im Jungen Timon, der überall und am meisten bei seiner Mutter anzuecken scheint. Briefträger scheinen bei „Jungschreibern“ ein beliebtes Motiv zu sein, nicht nur weil sie Geschichten ganz offensichtlich mit sich herumtragen, weil sie verkörperte Vernetzung eines Dorforganismus sind, sondern mit all der Post ein Maximum an Interpretation mit sich herumtragen.

Bald kamen andere Personen dazu: Timon, der Junge und Antonia, seine Mutter, die mit ihrem Sohn nicht zurecht kommt, die an ihrer Mutterrolle scheitert, sowohl vor sich selbst wie auch in den Augen aller um sie herum. Eine Frau, die negative Lesegefühle förmlich auf sich zieht, nur schon weil sie ihren Sohn einen kleinen Scheisser schimpft oder sein Fahrrad, das er von seinem Vater on ihr getrennten Ex bekommt verkauft, um sich den einen Mantel im Schaufenster leisten zu können.

gezeichnet von Lea Frei, leafrei.com

Stark an ihrem Roman ist das Gegenüber von Lücke und ausgemalter Szene, von Personen, die nur skizzenhaft bleiben, ohne Geschichte und Erklärung und jenem Personal, dass bis in die tiefsten Winkel ausgeleuchtet ist. Tabea Steiner erzählt und lässt doch offen, verfällt nie der Versuchung, den Leser mit überflüssigen Erklärungen zu gängeln. Einzelne Figuren und Schauplätze sind nur gezeichnet, längst nicht in all ihren Farbnuancen ausgemalt. In der Handlung wichtig, aber nicht um den Zentren der Geschichte das Gewicht abzuziehen.

Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser. Ein Anfang ist gemacht, denn Medien feiern das Buch und bei der Nabelschau der Schweizer Literatur, bei den Literaturtagen in Solothurn, ist sie hoffentlich eingeladen.

Rezension von «Balg» auf literaturblatt.ch

Weinfelder Buchtage 2019

Zsuzsa Bánk, Alex Capus, Walter Millns, Marius und die Jagdkapelle, Hans Platzgumer, Michael Theurillat und Verena Rossbacher waren bei der 3. Ausgabe der Weinfelder Buchtage die klingenden Namen, mit denen das Team rund um Katharina Alder Literaturinteressierte aus nah und fern zu locken wusste.

Nach seinem vielbeachteten Roman «Am Rand» erschien 2018 sein neuster: «Drei Sekunden Jetzt». Ein Roman über ein Findelkind auf der Suche nach seiner Herkunft, seiner Identität. Hans Platzgumer, der auch Musiker und Theaterkomponist ist, erzählte, dass er bei der Lektüre von Tschechows Theaterstück «Der Kirschgarten» zweimal fast auf die gleiche Textstelle stiess, die Ursprung seines Romans wurde: «Ich weiss nicht, wie alt ich bin, und ich habe immer das Gefühl, ich bin jung. Woher ich komme, wer ich bin, wer meine Eltern waren… Ich weiss nichts. (Charlotta Iwanowa in «Der Kirschgarten von Anton Tschechowa, 1903). Es sei die Mischung aus der Melancholie des Nichtwissens und der unendlichen Chance, aller offen stehenden Möglichkeiten, die ihn beim Schreiben angetrieben hätten. Hans Platzgumer wollte einen Roman schreiben über jemanden, dessen Ankerseil gekappt ist.

François, der eigentlich nicht einmal weiss, wie sein richtiger Name einst war, wurde mit 13 Monaten «zur Hand» genommen, hineingeschoben in einen Supermarkt und stehengelassen, hinausgetrieben aus einer Familie, in der es mit ihm an machbarer Zukunft fehlte.
François weiss, dass es eine Mutter gibt, oder zumindest eine Frau, die sich dafür halten lässt. Auf einem Überwachungsvideo des Supermarktes festgehalten, eine Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, die den Kinderwagen in der Buchabteilung zwischen den Regalen stehen liess, vielleicht in der Hoffnung, dass sich da jemand dem Kind annimmt, jemand, der bildungsnah, belesen, intelligent und mit voller Brieftasche wäre.

Aber François genügt die neue Familie, in die er aufgenommen wird, nicht. Da bleibt dieser Schmerz, das Offene, diese Wunde, das Nicht-wissen. Kaum erwachsen haut François ab, landet in einem seltsamen Hotel am Löwengolf, westlich der Stadt Marseille. In einem heruntergekommenen, undurchsichtigen Hotel mit Namen «Le Richard», wo er ein Zimmer, eine Arbeit, einen Hafen am Meer der Möglichkeiten bekommt.

François ist Fatalist, der sein Leben durchaus in den Griff zu bekommen versucht, daran und am Leben selbst scheitert. In Marseille, der Stadt der grossen Ungewissheit, dem Schmelztiegel alles Fremden, einer Stadt, die Hans Platzgumer durch viele Aufenthalte bestens kennt; ein Tor zu Welt für Ankommende und Wegfahrende, jene Stadt, die neben Paris wie keine andere in Geschichte und Literatur bis in die Gegenwart zum bedeutenden Schauplatz wurde.

«Drei Sekunden Jetzt» sind die drei Sekunden Gegenwart, die man als solche wahrnimmt, dieses kleine Stück, das danach in die Vergangenheit rutscht, Stück für Stück, eine lange Kette. Die Gegenwart ist das einzige, worauf sich François verlassen kann. François, einmal und immer wieder alleine gelassen, macht sich auf die Suche dessen, was Erinnerung ist.

Hans Platzgumer liest neben dem kleinen Tischchen mit Lampe und Wasserflasche, den Requisiten, die man für ihn bereitgestellt hatte. Er ist Theatermann, versteckt sich nicht, auch wenn seine unruhigen Beine den Eindruck machen, als müsse die Stimme sich aus ihm herauswinden. Er liest wie ein Theatermann, den Blick oft im Publikum, seine Geschichte lebendig machend, manchmal Sätze lang auswendig.

Am Schluss der Lesung war die Bewunderung gleichmässig auf Autor und Veranstalterteam verteilt. Man weiss in Weinfelden, was man an der kleinen Truppe um die Buchhändlerin Katharina Alder hat. Die Gruppe schenkt der Stadt drei Tage lang Geschichten, einen Tisch voll lebendig gewordener Literatur; Begegnungen der besonderen Art.

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlichte in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays. Sein Roman «Am Rand» stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

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Beitragsbild © Dominik Anliker

Förderverein für den Verlag «Der gesunde Menschenversand»

Die Schweizer Literaturszene ist eine der kleinen Verlage. Wer als AutorIn seine Bücher international, im gesamten deutschsprachigen Gebiet verkaufen will, wer hofft, das grosse Geld zu verdienen, von seiner Schreibe leben zu können, sucht sich einen Platz in einem der grossen Verlage ausserhalb der Schweiz. Der einzige Verlag, der sich weit über die Landesgrenzen einen bedeutenden Namen schaffen konnte, ist der Diogenes Verlag. Umso wichtiger ist es, dass es mutige Menschen gibt, die sich auch innerhalb der Landesgrenzen trauen, Literatur herauszugeben.

Die Verlagslandschaft in der Schweiz ist vielfältig. Erstaunlich ist es, dass es immer wieder aufstrebende neue Verlagshäuser gibt, solche, die sich viel Anerkennung verschaffen, weit über die Schweiz hinaus. Aktuellstes Beispiel dafür ist der Kampa Verlag in Zürich, der sich mit einem ambitionierten Programm mit Pauken und Trompeten zu platzieren wusste.

Aber daneben existieren ganz viele kleine Verlage, die nur funktionieren und überleben, weil in ihnen Menschen mit überdurchschnittlichen Engagement, mit grosser Liebe zum Buch, mit nur schwer zu erschütterndem Idealismus wirken.

Einer dieser Verlage ist «Der gesunde Menschenversand», Verlag und Veranstalter für Spoken Word, 1998 von Matthias Burki und Yves Thomi (bis 2007) gegründet. Schon 2014 kürte man ihn zum Schweizer Verlag des Jahres 2014 (Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband). 2016 folgte der Weiterschreiben-Preis der Stadt Bern und 2018 der Preis der Landis & Gyr Stiftung an Verleger Matthias Burki.

Ein solcher Verlag lebt von den Akteuren, die Teil des Programms sind, von klingenden Namen wie Matto Kämpf, Guy Krneta, Pedro Lenz, Hazel Bruder oder Nora Gomringer und vielen anderen – und vom Förderverein des Verlags.

Man mag über Kulturförderung denken, was man will. Aber wenn ein kleiner, umtriebiger, innovativer Verlag von mittlerweile mehr als 200 Leserinnen und Lesern mit grösseren und kleineren Jahresbeiträgen unterstützt wird, ist das, so Verlagsleiter Matthias Bürki, substanziell und entscheidet darüber, ob besondere Bücher erscheinen oder nicht. Wie im aktuellen Programm zwei Bücher aus dem Nachlass von Aglaja Veteranyi (1962 – 2002) und Walter Vogt (1927 – 1988).

Quersubvention, Vernetzung, eine Organisation von Leserinnen und Lesern, um bei der Verlagsarbeit nicht bloss auf die zu erwartenden Verkaufszahlen angewiesen zu sein. Erstaunlich genug, dass sich ein Verlag, der sich fast ausschliesslich der Mundart (Mund-Art) verschrieben hat, vorwiegend in der deutschsprachigen Schweiz wahrgenommen wird, ausser es verirrt sich ein Titel in die Feuilletons der grossen deutschen Tagespresse oder ins Studio eines TV-Bücherpapstes, den Sterbegesängen auf die anspruchsvolle Literatur widersetzt.

Es gibt sie, die unsterblich Scheinenden, die Überlebenskünstler, die unverwüstlich Unverzagten, die sich zweimal im Jahr trotz erdrückender Übermacht der Flaggschiffe im Geschwader der Verlage aufraffen, Bücher zu machen, solche, die nicht bloss unterhalten, sondern sich mitunter politisch und gesellschaftlich einmischen, Relevantes anprangern, den Humor mit einpacken, wo es eigentlich längst nichts mehr zu lachen gibt.

Darum lasen am vergangenen Sonntag Michael Fehr, Stefanie Grob, Guy Krneta und Pedro Lenz zusammen mit Michael Pfeuti am Bassetto ohne Gage im Bodman Literaturhaus in Gottlieben TG, dafür mit viel Esprit!

Angelika Waldis nimmt alle mit.

Alles scheint erzähltes Leben. Alles durchsetzt von der Weisheit einer Sehenden. Wer sich auf die Webseite der fast 80jährigen Schriftstellerin Angelika Waldis hineinliest, findet ein Mindestmass an Fakten und einen Brunnen voller Geschichten. Und genauso sind Begegnungen mit der Autorin. Angelika Waldis las in der Kellerbühne St. Gallen aus ihrem neuen Roman «Ich komme mit» und man kam mit auf einen Roadtrip an den Rand des Lebens.

Literatur soll und kann Grenzen überschreiten, dorthin führen, wo einem Angst, Beklemmung, Rücksicht, Schüchternheit und Feigheit den Zugang verwehren – vielleicht zum Glück, aber nur vielleicht. Angelika Waldis erzählt in ihrem neuen Roman die Geschichte einer ungleichen Schicksalsgemeinschaft. Der 21jährige Lazy (eigentlich Lazar, von Lazarus, jenem Mann, der im Neuen Testament von den Toten zurückgeholt wurde) ist Student, eigentlich glücklich und bis über beide Ohren verliebt. Bis die Diagnose Leukämie dem Leben eine nicht zu korrigierende Wendung gibt und alles in Frage stellt. Im gleichen Haus wohnt die Witwe Vita, die in den Jahren nach dem Tod ihres Mannes ihr Leben verwaltet, eine alt gewordene Frau.

«Ich komme mit» ist die Geschichte einer seltsamen, vergnüglichen und gleichermassen traurigen Freundschaft. Beide wollen nicht mehr, zumindest nicht das, was man ihnen zugedacht hat. Sie unternehmen eine letzte Reise gemeinsam. Während es Lazy immer schlechter geht, er sich langsam vom Leben entfernt, kommt Vita in ein Leben zurück, das sie vergessen hatte. Sie kocht für den jungen Mann, gibt ihm, als es ihm immer schlechter geht, eines der leeren Zimmer in ihrer Wohnung. Und als Lazy beschliesst, zur letzten Reise aufzubrechen, sagt Vita: «Ich komme mit.»

Ursprung der Geschichte sei eine Reportage gewesen über einen jungen Mann mit einem Tumor im Kopf. Die Krankheit sei das eine gewesen. Viel übermächtiger aber die Angst. Was würde sie tun, wäre ein Enkel in der gleichen Verfassung? Wäre sie bereit, mit dem Satz «Ich komme mit» mehr als nur zu trösten? Angelika Waldis Art zu erzählen, ihre Meisterschaft das Geschehen mit Witz, Galgenhumor, Schalk zu durchsetzen, ohne die Fährte zu verlieren, macht aus einem Stoff, der alle Untiefen von Kitsch in sich birgt, einen Roman voller Weisheit und Kraft. Voller Metaphern, die beinahe schmerzen. Nicht weil sie sich nicht vergreifen, sondern beissen, packen und nicht loslassen

Es ist der Witz, der Humor, die Fähigkeit, die Welt nicht tierisch ernst zu nehmen, selbst jene Themen, die ans wirklich Eingemachte gehen. Die Verschmitztheit und Weitsicht einer Weit-gegangenen. Angelika Waldis liest zwar hinter einem Tischchen mit künstlicher Patina. Aber an ihr und ihrem Schreiben ist weder Künstlichkeit noch Patina. Angelika Waldis sprüht vor Leben, genau wie es ihre Protagonisten tun, dem Leben trotzend.

Foto © Dominique Schütz

Sie sitze zuhause am Fenster, an einem Tisch, darauf ein Computer. Sätze und Geschichten flögen ihr zu. Sie brauche nur hinaus in den Garten zu sehen. Ich glaube der alten, weit gegangenen Dame, würde ihr fast alles glauben, denn was sie tut, tut sie ohne Aufhebens, authentisch. Man muss sie mögen, als Schriftstellerin mit ihren Büchern. Aber von Nahem noch viel mehr, wenn sie liest, erzählt und mit ihrer spritzig frischen Liebenswürdigkeit die Neugier der Zuhörenden stillt.

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen.

Rezension von E. Berger auf literaturblatt.ch von «Ich komme mit»

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