Nur ein Schritt bis zum Reptil: «Das Eidechsenkind» von Vincenzo Todisco

Was für ein Geschrei jedes Jahr um publikumswirksame Buchpreise. Dabei ist genau das die erklärte Absicht. Nur wenn Bücher ins Gespräch kommen, nur wenn über sie geschrieben, nachgedacht, gefeilscht und verhandelt wird, dann dient dem Buch sogar das Theater, der Beleidigte, der Verkannte, die Vergessene. Sei es der Schweizer, der Deutsche, der Österreichische Buchpreis, sie alle haben das Ziel, herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen.

Ein bedeutsamer Aussenseiter im Rennen um den Schweizer Buchpreis 2018 ist der Bündner Vincenzo Todisco mit seinem Roman «Das Echsenkind». (Rezension auf literaturblatt.ch vom 20. Juni 2018)

In den 70er Jahren gab es für einen «Gastarbeiter» in der Schweiz drei Möglichkeiten; Er arbeitete in der Fabrik, im Gastgewerbe oder auf dem Bau. «Gastarbeiter» ist und war eine reichlich unzutreffende Bezeichnung, hatte die arbeitenden Gäste doch kaum Rechte, verdienten weniger als ihre heimischen Kollegen und waren gesellschaftlichen und politischen Anfeindungen ausgesetzt. Vincenzo Todiscos Vater arbeitete u. a. im Hotel Palace in Luzern. Wenn der Vater abends müde nach Hause kam, erzählte er von den berühmten Gästen im Hotel, erinnert sich Vincenzo Todisco. Zum Beispiel von Herbert von Karajan – und davon, wie Vincenzo und seine Geschwister einmal in der Woche in den Badewannen des Luxushotels baden durften, selbstverständlich nur durch die Hintertür.

Vincenzo Todisco bezeichnet sich selbst als Musterbürger; vorbildlich integriert, alle vier Bündner Sprachen sprechend: italienisch, rätoromanisch, deutsch und Mundart. Deutsch lernte man damals ab der vierten Klasse mit einem Lehrmittel, das «Deutsch für Ausländer» hiess. Italienisch, jene Sprache, in der Vincenzo Todisco seine ersten vier Romane veröffentlichte («Das Krallenauge», «Wie im Western», «Der Bandoneonspieler» und «Rocco und Marittimo») bezeichnet der Autor als seine «Bauchsprache», die Sprache der Erinnerung. Deutsch ist «Kopfsprache», die Sprache der Rationalität. Irgendwann, so der Autor, war da das Bedürfnis, aus der Kopfsprache eine zweite Bauchsprache zu machen.

1961. In einer abgeschlossenen Wohnung im «Gastland» misst ein kleiner Junge in der Dunkelheit die Schritte durch die abgedunkelte Wohnung, während Mutter und Vater arbeiten. Bis 2002 galt in der Schweiz das «Saisonstatut», mit dem man ausländische Arbeitnehmer unter unwürdigen Umständen amtlich zur Unterschicht stempelte. Nicht zuletzt zwang man sie mit diesem Statut, ihre Kinder vor dem Auge der Öffentlichkeit und der Ämter zu verstecken. Die Geschichte der «versteckten Kinder» tauchte im Leben Vincenzo Todiscos immer wieder auf, bis er sich dazu entschloss, sich mit dem Abschluss einer eigentlichen Trilogie dem Thema literarisch auszusetzen.

Aus dem Es, dem kleinen Kind, wird ein Junge, ein junger Mann, ein Er. Eine Geschichte im Kosmos Haus, einer Wohnung, einem Zimmer, einem Schrank, im Dunkeln eines Verstecks. Die Chronik eines Hauses, in dem «nichts» geschieht, die Chronik eines «Stillstands», alles aus der Perspektive eines Kindes erzählt und doch nicht in der ersten Person. Ein Kind ohne Vergangenheit und Zukunft, eine Existenz im Schatten des Lebens.
Der Junge wird älter und beginnt im Verborgenen über die Wohnung seiner Eltern hinaus das Haus zu erkunden. Er schleicht sich in andere Wohnungen, lernt auf seinen Streifzügen Menschen kennen; den kalten Jungen, den Professor.

«Das Eidechsenkind» überzeugt durch seine Perspektiven, die Unmittelbarkeit, die detailgenauen Nahaufnahmen, durch starke Sprachbilder aus der Sicht eines Wesens, das eingesperrt ist in einem Haus und in sich selbst. Ein Kind, das sich geräuschlos zu bewegen lernt, wie eine Eidechse, die in Ritzen verschwindet, wenn Gefahr erscheint. Ein Bild, das an Anne Frank erinnert, wenn auch in einem ganz anderen Kontext.

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. „Das Eidechsenkind“ ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

Vincenzo Todisco «Das Eidechsenkind», edition blau

1970 lebten eine Viertelmillion italienische Gastarbeiter in der Schweiz. Eine Einwanderungswelle, die damals wie heute die Schweiz spaltete. Eine Auseinandersetzung, die in der «Schwarzenbach-Initiative», die vom Schweizer Stimmvolk mit nur 54 % verworfen wurde, gipfelte. «Das Eidechsenkind» erzählt die Geschichte eines Kindes, das nicht hätte da sein dürfen.

Das Leben im Heimatland muss hart sein, dass man sich auf den Weg in den Norden macht, in ein Land, dessen Sprache und Menschen man nicht versteht, stets am Rande der Legalität, von Arbeitgebern ausgenützt, vom Heimweh geplagt, von der Familie getrennt. Vielleicht wird das Leiden ein bisschen kleiner, wenn man die Frau nachreisen lassen darf, wenn man endlich eine Wohnung gefunden hat, ein Loch, in das man sich zu zweit verkriechen kann. Aber die Not wird unsäglich, wenn man gezwungen ist, sein Kind mit in die Fremde zu nehmen, versteckt im Zug, in einem Koffer oder im Kofferraum eines Autos. Wenn niemand, schon gar nicht die Nachbarn im Haus erfahren dürfen, dass da ein Kind wohnt, weil man befürchtet, sofort ausgewiesen zu werden, die Stelle zu verlieren, alles, was man mit viel Arbeit und Verzicht herbeibeschwören, herbeizwingen wollte.

Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter putzt. Das Kind ist Stunden alleine zuhause, gewarnt von Vater und Mutter, sich nicht bemerkbar zu machen, nur auf vereinbarte Klopfzeichen die Tür zu öffnen und sich unsichtbar zu machen, wenn unverhofft Besuch kommt. Der Junge lernt sich zu verstecken, kriecht in jede Ritze, huscht weg wie eine Eidechse vor dem Haus seiner Grossmutter Assunta. Ein Eidechsenkind.

Solange Nonne Assunta noch lebt, wohnt der Junge in Ripa, rennt Bällen hinterher, jagt Wespen, ist Teil einer glücklichen Welt ohne Grenzen. Assunta liebt ihren Enkel, erzählt ihm Geschichten, singt ihm Lieder. Alles im und um das Haus hat einen Namen, alle Geheimnisse offenbaren sich.
Als die Nonna stirbt und Mutter und Vater gezwungen sind, ihren Jungen mit ins kalte, feuchte, neblige Nachbarland im Norden mitzunehmen, wird das Eidechsenkind selbst zum Geheimnis. Alleingelassen in einer Wohnung, in einer Welt, in der alles verschlossen bleibt, nichts einen Namen hat. Das Eidechsenkind bleibt allein in einer Wohnung, in der sich nicht einmal die Vorhänge bewegen dürfen.

Erst als es grösser wird, schleicht es sich aus der Wohnung, nachts im Dunkeln, zählt Schritte überall, vermisst die Welt mit Schritten, vom Keller bis unters Dach, schleicht sich in Nachbarwohnungen, hortet liegengelassene Schlüssel, bleibt bewegungslos verborgen, wenn sich jemand bemerkbar macht. Selbst abends, wenn die Eltern zuhause sind, und der Patrone zu Besuch kommt, versteckt sich das Eidechsenkind unter der Kredenz, darauf bedacht, keine Spuren in der Wohnung zu hinterlassen.

Und doch gibt es mehr und mehr Verbündete. Den dicken Nachbarjungen, der genau wie das Eidechsenkind den Zugang zur Welt nicht findet. Der Professor mit den vielen Büchern, die einsame Frau mit der Geige und Emmy, das Mädchen, das neu im dritten Stockwerk wohnt. Emmy wird zur Bannbrechern, auch wenn es Jahre dauert und unsicher bleibt, ob sich das Eidechsenkind zum Mann häutet.

Vincenzo Todisco schriebt scheinbar einfach, bewegt sich als stiller Begleiter ganz nah an seiner empfindsamen, in sich eingeschlossenen Hauptperson. Ich als Leser blicke tief in eine eingeschlossene, eingesperrte Seele. Vincenzo Todisco tut dies aber mit derart viel Vorsicht und Liebe für seine Protagonisten, ohne je eine psychologisierenden Interpretation zu verfallen, dass das Buch zu einer eigentlichen Liebeserklärung wird. Wunderschön!

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. «Das Eidechsenkind» ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.