Sommerfest im Literaturhaus Thurgau mit Ariela Sarbacher und «Stories»

Ariela Sarbacher mit ihrem Roman «Der Sommer im Garten meiner Mutter», die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler, die Illustratorin Lea Frei waren die Gäste und Akteure des Sommerfests, dem ersten Programmpunkt in der neuen Saison des Literaturhauses Thurgau.

Vielleicht ist es der Hunger nach Kultur in einer Zeit mit vielfältigen Mangelerscheinungen. Vielleicht ist es die Freude darüber, dass Ariela Sarbacher ihren Roman nun doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren konnte. Vielleicht aber, wie mit dem Sommerfest, wo so viele Formen des Genusses aufeinandertreffen: Literatur, Musik, Bildkunst, freundschaftliches Zusammensein und etwas für den Gaumen. Aber vielleicht auch, weil mit jeder neuen Programmleitung in einem Literaturhaus der Wind ein bisschen dreht.

«Stories» Christian Berger und Dominic Doppler

Ariela Sarbacher brachte ihren Debütroman „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ mit, der im Frühling dieses Jahres beim Bilger-Verlag in Zürich erschien. Ein beeindruckender Roman, der eine breite und begeisterte Leserschaft fand. Ein Buch, von dem ein Kritiker schrieb: „Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt.“

Nach einem lauschigen Vorabend im Garten des Literaturhauses wurden die Gäste Zeugen eines Experiments. Die Schriftstellerin Ariela Sarbacher und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler sahen sich an diesem Abend zum ersten Mal. Das einzige, was in den Wochen zuvor geschah; Ariela Sarbacher verriet den Musikern, welche Textstellen sie lesen, bzw. vortragen wird. Christian Berger und Dominic Doppler sind ein seit vielen Jahren eingespieltes Team. Sie lasen das Buch, spürten sich in den Text hinein. Vor ausverkauften Rängen schwang sich der Text unter dem Dach des Literaturhauses in ganz neue Sphären.

Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter. 

Jens Steiner, Schriftsteller, Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau, Gast im Literaturhaus Thurgau

Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.

Lea Frei zeichnet.

Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Webseite Literaturhaus Thurgau (Wird bald erneuert!)

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau 

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Igor Rems «Wallfahrten», ein Abend mit dem Dichter und Maler

Igor Rems, Dichter und Maler, in Montenegro und in Köln wohnhaft, verbrachte, kurz bevor die Pandemie das kulturelle Leben der Schweiz lahmlegte, einige Tage bei Freunden in Zürich. Gelegenheit genug, einen Mann kennenzulernen, der beide Ausdrucksformen mit grosser Leidenschaft betreibt, für die Leidenschaft lebt, sowohl sprachlich wie bildnerisch in zwei „Sprachen“ sein Publikum zu fesseln weiss.

ANYBODY  SEEN  MY  BABY

Незнам у ком ћу кругу
Срести Твоје смеђе увојке
Груди уздигнуте до месеца
Оставих звук песка потопљеном уху
Злато и ваздух грлу ужареном
Израњаш голим гласом
Попут бескраја
Спајаш море са тамом
Узимам прстен самоће
Пустиња сам
Где ни речи не расту 

A ANYBODY  SEEN  MY  BABY

Webb werde ich dich wohl wiedersehen
Deine braunen Locken
Deine Brüste zum Himmel erhoben

Der Klang des Sands bleibt im Ohr versinken
Luft und Gold in der kühlen Kehle

Du tauchst auf mit nackter Stimme
Verbindest Meer und Dunkel
Zum unendlichen Sein

Ich nehme den Ring der Einsamkeit

Wüste bin ich
Wo nicht einmal Worte wachsen

Es sind Liebesgedichte. Aber viele dieser Gedichte sprechen aus der Einsamkeit. Es heisst: „Ich nehmen den Ring der Einsamkeit.“ So wie man den Ring der Liebe nimmt. Ist die Einsamkeit der Boden der Sehnsucht?
Da, samoca moze, ali ne mora, da bude osnovna pokretacka snaga ali isto tako moze da bude i nesreca, euforija, sve zavisno u kakvom emocionalnom krugu se pesnik nalazi i na koji nacin spreman da to zabelezi.
Ja, Einsamkeit kann, muss aber nicht die Antriebskraft sein. Genauso kann es auch Unglück, Euphorie sein, immer abhängig davon, in welchem emotionalen Kreis sich der Poet befindet, und auf welche Art und Weise er bereit ist, es niederzuschreiben. 

So wie die Einsamkeit durch ihre Gedichte spricht, so ist es die Leidenschaft. Ist Leidenschaft nicht genau der Motor, der Kunst, sei es Literatur oder Malerei entstehen lässt? Leidenschaft als eine Form des ungestillten Hungers?
Moze se tako reci – gladi za ljubavlju, gladi za dodirom, duhovne gladi…
Man kann es so sagen – Hunger nach Liebe, Hunger nach Berührung, spiritueller Hunger…

Im Unterschied zu ihren Bildern, die sich an Gegenständlichkeit halten, sind ihre Wortbilder verschlüsselt, viel mehr dem zugewandt, was zwischen den Zeilen steht. Und trotzdem können Malerei und Lyrik, was das Gebot der Objektivität nie kann; das Rätsel stehen lassen, so wie in ihrem Gedicht mit dem Titel „Peter Handke“, in dem ein Leser wie ich viel zu schnell nach Zeichen sucht. Ist Lyrik eine Sprache in der Sprache?
Apsolutno, mislim da je poezija zaista „jezik“ u „jeziku“, narocito je to izrazeno kod hermeticnih pesnika koji su okrenuti ka metafizickom izkazu.
Absolut! Ich denke, dass Poesie tatsächlich Sprache in der Sprache ist. Insbesondere fällt es bei den hermetischen Poeten auf, die sich metaphysisch ausdrücken.

Was passiert, wenn ein Gedicht von seiner ursprünglichen Sprache in eine andere übersetzt wird, die man wohl versteht, in der man aber nicht kreativ schreibt. Entfernt sich das Gedicht?
Mislim da bih na to mogao da dam odgovor kada bih jos jedan jezik poznavao kao svoj maternji jer onda covek ima najbolji pregled.Znacenje nekih reci na jednom jeziku tesko se moze transponovati na drugom bar je tako sa srbskim i nemackim, tako da se sintaksa ne poklapa i verovatno se onaj lepi rafinirani sarm jednog jezika gubi prevodom.
Ich denke, dass ich darauf antworten könnte, wenn ich noch eine Sprache sprechen würde wie meine Muttersprache. Denn dann hätte man den besten Vergleich. Bedeutungen gewisser Worte kann man nur schwer in eine andere Sprache übersetzen. Im Serbischen und Deutschen ist nur schon die Syntax sehr unterschiedlich, und wahrscheinlich verliert sich der schöne, raffinierte Charme einer Sprache durch die Übersetzung… 

Шума се рађа у мојим очима од земље

Црни храст пробија теме -химну моје радости
Гране ударају у манастирско звоно
Нарасло од млека звезда од зрелог камења
Напуштам те да бих Ти се изнова вратио
Повезани попут корења враћаш ме праГласу
Завичајном водом опран силазим у огањ сећања
Не могу да Те волим иако си прогутала
Сву моју таму и црно моје семе  

Ich kann dich nicht lieben

Der Wald erwächst in meinen Erdaugen.
Die schwarze Eiche durchbricht den Scheitel,
Meiner Freude Hymne.
Die Äste schlagen gegen die Klosterglocke,

Entsprossen den milchweissen Sternen,
Dem reifen Gestein.
Ich verlasse dich, um erneut zurückzukehren,
Wie Wurzeln verbunden, gibst du mich
Der Urstimme wieder.
Gereinigt vom Heimatwasser steig’
Ich hinab ins Erinnerungsfeuer.
Ich kann dich nicht lieben,
Auch wenn du verschlangst
All mein Dunkel und meinen schwarzen Samen.

Sie erzählen auch von der Liebe zu ihrer Heimat, wie im Gedicht „Ich kann dich nicht lieben“, in dem diese eine Zeile im Titel und fast am Schluss des Gedichts zeigt, wie sehr Liebe mit Schmerz verbunden ist. Dort steht auch „Gereinigt vom Heimatwasser steig’ / Ich hinab ins Erinnerungsfeuer.“ Heimat verbunden mit den Elementen Wasser und Erde, an anderer Stelle mit Luft und Erde. Was bedeutet Heimat für Igor Rems?
Otadzbina je za meine sve: Drvo, Sekira, Stit!!!
Heimat ist für mich alles: Holz, Axt, Schild (Schutz)!!! 

ЋУТЊA

Ћутња је птица

Уздрхтала кугла перја
Лет
У зрачној свадби тренутка

Ћутња је мирисна свила осмеха
У тиха свитања
Када морска копрена
Обруби успомена жар

Ћутња је дрво
Секира
Штит

Ћутња је исликани зид
Пред којим покорно клечимо у молитви

Ћутња је разцветала трешња
У прегибу препона
Језива тама која отвара
Снажна мушка једра

Ћутња је покрет тела

У немом завеслају
Бездан звезда
У бескрајном воденом кругу

Ћутња је шутња
Близнакиња
Љубав

Ћутња је слобода избора

Schweigen

Schweigen ist ein Vogel
Zitterndes Federknäuel
Flug
In strahlende Hochzeit des Augenblicks

Schweigen ist duftende Seide des Lächelns
Im stillen Morgengrauen
Wenn dünne Meeresflut
Die Glut der Erinnerung hüllt

Schweigen ist Baum
Axt
Schutz

Schweigen ist die bemalte Wand,
Vor der wir gefügig knien im Gebet

Schweigen ist der Kirschbaum in Blüte
Die Scham in der Leiste
Unheimliches Dunkel
Das starke Manneskräfte weckt
Stummer Ruderschlag des Körpers
Sternenabgrund in endlos blauen Kreis

Schweigen ist Schweigen
Zwilling
Liebe

Schweigen ist die Freiheit der Wahl

In ihrem Gedicht „Schweigen“ besingen sie den Zwilling der Liebe. Dieses Gedicht ist auch eine Kampfansage gegen das Dröhnen der Gegenwart. In der letzten Zeile schreiben Sie „Schweigen ist die Freiheit der Wahl“. Und doch liebe Welten zwischen Schweigen und Verstummen. Wer verstummt, nimmt sich und verliert sie gleichzeitig – die Wahl. Im gleichen Gedicht heisst es „Schweigen ist Baum / Axt / Schutz“. Erklären Sie dieses Dreigespann?
U nasoj mitologiji Drvo ima posebno znacenje, narocito Hrast i Lipa kao i sekira, nasi preci su nazivani Narod pcele i sekire i tu se kriju znamenja, koja  kod neupucenog izaziva nedoumicu mozda i nemogucnost da do pesme dohodi da je vidi iznutra!
In unserer Mythologie hat Holz eine besondere Bedeutung, insbesondere Eiche und Linde, wie auch die Axt. Unsere Vorfahren wurden als Volk der Bienen und der Axt genannt. Darin sind Zeichen versteckt, die bei nicht informierten Leserschaft Verwirrung und Zweifel hervorrufen könnten, vielleicht auch die Unmöglichkeit sich dem Gedicht anzunähern, es von innen zu erfassen.

ПИСМО  МАЈЦИ
Мајко

Годинама пријањам за тле
Зрелошћу кротим осећања
Откривам неиспијени океан
Твоје љубави

 Јесен пева шумама моје главе

 Разумевање постаје дар ланене душе
У белим куполама рађа се слобода
Треба ми Твоја нежност да не изгубим
Најдрагоценије семење
Које си ми топлим уснама утиснула

 Испуњен земљом Средоземља
Мирисима ловора и нара
Отвореним ребрима вришти дечак
Израстао из краљевског детињства

 И не буди тужна мати
Кад ми због Тебе теку сузе
Данима седиш сама
И као старинска ура
Мериш време и невреме

Brief an die Mutter

Jahrelang hafte ich am Boden
Mit Reife bändige ich Gefühle
Enthülle den umausgetrunkenen Ozean
Deiner Liebe

Herbstgesang durchdringt meinen Kopf

Die Liebe steigt hinauf
Wie ein Gebet
Aus leuchtend weissen Wortkuppeln
Deiner Pupillen

Ich brauche deine Zärtlichkeit
Die schaumige Quelle
Die blüht aus kostbarem Samen
Eingedrückt mit warmen Lippen

Erfüllt von mediterraner Erde
Lorbeer- und Granatapfelduft
Mit offener Brust schreit der Junge
Entwachsen der Kindheit Königreich

Sei nicht traurig Mutter
Wenn ich deinetwegen weine
Tagelang sitzt du alleine
Und wie eine antike Uhr
Misst du die Zeit.

Igor Rems, 1957 in Bar/Montenegro geboren, studierte Philosophie und Sport an der Universität Belgrad. Er veröffentlichte Gedichtbände auch auf Deutsch wie «Am Tor des Himmels», «Wilder Fluss», «Städte» oder «Wallfahrten». 2000 erhielt Igor Rems den Literaturpreis Rastko-Petrovic und 2003 den internationalen Naji-Naaman-Preis in Libanon. Seit 1993 lebt Igor Rems auch in Köln.

Literatur am Tisch: Andreas Neeser

Ein grosser Tisch, darauf Leckereien und Wein, rundum Gäste, dazwischen Bücher. «Literatur am Tisch» hat Tradition; Angelika Waldis, Bettina Spoerri, Jens Steiner, Hansjörg Schertenleib, Patrick Tschan u. a. waren schon Gäste am Tisch in Amriswil. Andreas Neeser brachte seine beiden neuen Romane «Alpefisch» und «Wie wir gehen» mit an den Tisch.

Es gibt sie, die Menschen, die lesen. Jetzt in Zeiten einer Pandemie vielleicht immer mehr. Lesen kann aber weit mehr als blosse Unterhaltung sein, denn Bücher stellen Fragen. Bücher öffnen Türen. Bücher setzen einen Spiegel vor. Und wer nach der Lektüre sein Buch nicht einfach ins Regal schieben möchte, wer sich mit all dem, was hinter dem Papier verborgen ist, auseinandersetzen und gleichzeitig Gemeinschaft geniessen will, ist bei Literatur am Tisch genau richtig.

So richtig, dass ich in meiner Amtszeit als Programmleiter Literaturhaus Thurgau in Gottlieben am Seerhein dieses Format mit ins Programm des Literaturhauses bringen will. Nicht nur weil das Format eine einmalige Gelegenheit ist, einer Autorin oder einem Autor zu begegnen, sondern weil auch die Schreibenden das Format «geniessen». Nur selten bekommen SchriftstellerInnen wie Andreas Neeser die Rückmeldungen zum Buch so direkt, so emotional und ehrlich zu hören, wie bei Literatur am Tisch. Im Gegensatz zu einer Lesung sitzt man mit den Künstlern am Tisch, auf Augenhöhe, denn SchriftstellerInnen sind nichts ohne ihre LeserInnen.

«Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!» Andreas Neeser

Ich danke Andreas Neeser und der Runde um den Tisch für den unvergesslichen Abend!

Rezension zu «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

Eine Rezension zu «Alpefisch» folgt!

Fotos © Sandra Kottonau

Aufgebrochen! Das 17. Lyrikfestival Basel

Für jede Kunst ein Haus? Bildende Kunst in Museen und Galerien, Musik in Konzerthäusern und Clubs, Theater und Tanz auf Bühnen und Plätzen, Film in Kinos und zuhause, Literatur im Literaturhaus, im kleinen Lesekreis oder für sich, ganz allein. Was ganz zaghaft aufzubrechen beginnt, was viele Kunstschaffende längst auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Sparten aufzubrechen und miteinander zu verbinden und zu verweben, manifestiert sich in aller Deutlichkeit am Lyrikfestival Basel.

Ulrike Almut Sandig in der Late Night Varieté im Sommercasino Basel, © Samuel Bramley

Ulrike Almut Sandig, vielfach preisgekrönte Lyrikerin und Erzählerin, schon oft zusammen mit MusikerInnen aufgetreten, vertonte ihre Gedichte, ihre Texte zusammen mit der jungen Pamela Méndez, einer jungen, freischaffenden Songwriterin aus dem aargauischen Brugg, die bald ihr drittes Album veröffentlichen wird. Zusammen mit anderen Paarungen traten die beiden am Freitag spät im Sommercasino Basel auf, nachdem sie sich einen Nachmittag zusammen für diesen einen Auftritt vorbereitet hatten. So entstand ein vielschichtiges Klangkunstwerk, eine Performance aus Sound, Text, Stimme, Rhythmus und Gestus, öffnete sich ein weites Feld, dass den Text aus seiner Hülle riss, die Musik den Text dem Boden enthob und in neue Sphären katapultierte. Erfindungsreich und wagemutig, genauso wie politisch und gesellschaftskritisch. Ulrike Almut Sandig relativiert sowohl formal, inhaltlich und performativ die Grenzen traditioneller Lyrik.
Sie fügt sprachliche Netze zusammen, wirft sie aus, nicht um LeserInnen zu gewinnen, sondern in der Hoffnung, dass diese etwas von dem wiedererkennen, was an Verlinkungen in ihren Büchern ausgelegt ist, geheimnisvoll, zahlen- und symbolverliebt. Dichtung sei wohl die mutigste aller Kunstformen, meinte die Autorin, denn keine andere Kunstgattung strecke die Arme so weit auf, um andere Genres einzuladen und mitzunehmen.

Michael Fehr und Manuel Toller mit ihrem Programm «Im Schwarm», © Samuel Bramley

Ebenso beeindruckend der Auftritt von Michael Fehr und Manuel Toller, die das Literaturhaus Basel zu einem musikalischen Tollhaus werden liessen. Als hätte Michael Fehr seine Geschichten, Bilder und Texte wie wilde Hunde losgelassen, als hätten die beiden den kratzenden, wütenden Sound eines Tom Waits ins Land hineingelassen, um ihn in helvetischem Grove an den Steilhängen der vaterländischen Widrigkeiten hinaufzupeitschen. Die beiden waren ein wahrhaft hinreissendes Ereignis, so gar nicht das, was man sonst in einem Lyrikfestival vermuten würde.

Preisträgerin des diesjährigen Basler Lyrikpreises 2020 ist die junge Dichterin Eva Maria Leuenberger mit ihrem Debütband «dekarnation», herausgegeben bei Droschl. Alisha Stöcklin und Rudolf Bussmann, beides Mitglieder der Lyrikgruppe Basel, die Festival und Preisvergabe organisiert, priesen in ihrer gemeinsamen Laudatio einen Erstling, der nichts mit Anfängerglück gemein hat, lobten einen sprachlich raffinierten Naturlyrikzyklus über «tal – moor – schlucht – tal», der ebenso viel Reife wie unmittelbare Nähe zu Sprache und Motiv zeigt. Dekarnation als Form der Inkarnation. Dekarnation nicht als das Ende, den blossen Zerfall, sondern den Anfang von etwas Neuem, nicht Schluss, sondern Beginn, losgelöst von der Zeit, nicht eingegrenzt in ein Dasein, ein Leben, sondern kleiner Abschnitt eines Ganzen, eines Kreislaufes. Lyrik, die trotz der Erdigkeit durch Leichtigkeit überzeugt, das scheinbar Dunkle erhellt.

Eva Maria Leuenberger liest aus ihrem preisgekrönten Band «dekarnation». © Samuel Bramley

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus „dekarnation“ von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Schlusspunkt in einem äusserst vielfältigen und abwechslungsreichen Programm war die Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher, die zusammen mit dem Musiker Hannes Buder erst recht die Grenzen zwischen Musik und Literatur, zwischen Lyrik und Lyrics verwischen will. Sie arbeitet an Schnittstellen, tummelt sich an Genregrenzen, bildende Kunst mit eingeschlossen. Angesprochen, ob den Musik nicht einfach nur untermale oder begleite, meinte Hannes Buder: «Im besten Falle höre ich gut zu.» So wie der Illustrator seine Arbeit längst nicht mehr nur als Bebilderung versteht, will Hannes Buder weder Textmusik noch Hintergrund. Text und Musik als ebenbürtige MitspielerInnen, Fragende und Antwortende.

Ein gelungenes Festivalspektakel trotz des grossen Abwesenden Lutz Seiler! Ein grosses Kompliment an den unermüdlichen Eifer der organisierenden Lyrikgruppe Basel unter ihrer Präsidentin Simone Lappert.

Alle Fotos © Samuel Bramley, Lyrikfestival Basel (Beitragsbild Pamela Méndez und Ulrike Almut Sandig)

Johanna Lier «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», die brotsuppe

Selmas Grossmutter, bei der sie aufwuchs, eine starke Frau mit einer Geschichte, über sie sie nie sprach, stirbt. Selmas Sohn verabschiedet sich zu seinem Vater, von dem Selma schon lange getrennt lebt und Selmas Liebe droht endgültig an die Seite einer anderen Frau abzudriften. Ein Leben gerät aus den Fugen und Selma will Antworten auf bohrende Fragen. Eine Reise beginnt.

Johanna las zum ersten Mal in jenem Kanton am Bodensee, in dem ein Teil ihres gross angelegten Romans spielt. Ein Epos über Generationen, ein gewichtiger Roman über das, was den Menschen ruhig werden lässt; über Liebe, Freundschaft, Familie und die Sehnsucht angekommen zu sein. Ein sprachgewaltiges Panorama von der Ukraine, von Israel, von Chile bis nach Donzhausen, einem kleinen Ort unweit des Bodensees.

Aber «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist auch die Geschichte von Flucht und der Suche nach Herkunft und eigener Geschichte. Selma, der Dreh- und Angelpunkt des Romans macht sich auf die Suche ihrer Herkunft, ihren jüdischen Wurzeln, die sich bis zum Tod ihrer Grossmutter Pauline versteckten und hinter einer Mauer des Schweigens verbargen. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Roman über den Versuch einer Assimilation, die nicht einmal mit dem Wechsel eines Namens, nicht einmal mit der Taufe gelingen kann, erst recht dann nicht, wenn sie von einer Obrigkeit oder der feindseeligen Umgebung eingefordert wird. Ein Roman über Hunger und Not in der Ukraine im beginnenden 19. Jahrhundert, über den Kanton Thurgau, der sich aus seinem eidgenössischen Untertanenstatus nach der napoleonischen Neuordnung wiederfinden musste und zwischen Fremdenfeindlichkeit, dem verzweifelten Machthunger einer Kirche und wellenartiger Hungers- und Wirtschaftsnöte zu behaupten hatte. Und es ist der Roman einer zwischen Kartoffelbauern entstehenden Teigwarendynastie, einer Lebensart, die sich nicht mehr so sehr abhängig machen will von der oft entfesselten Natur, von Überschwemmungen, Missernten und anderer Gewalten.

Johanna Lier taucht mit Selma tief in das Gewirr einer feindseligen Vergangenheit. Selma findet nach dem Tod ihrer Grossmutter eine ganze Kiste voller Dokumente, die ihr offenbart, wer ihre Grossmutter wirklich war, woher sie kam und was sie zu der werden liess, die sie bis zu ihrem Tod war; eine unbeugsame, selbstbestimmte, eigenwillige und energische Frau, deren Lebensplan sich wohl nicht so entwickelte, wie sie sich es einmal gewünscht hatte, die aber immer eine Kämpferin blieb. Auch wenn ihre absoluten Äusserungen Selmas Mutter gegenüber, ihrer Tochter, die sich wenige Jahre nach Selmas Geburt absetzte und die Erziehung ihrer Tochter der Grossmutter überliess, vernichtend und endgültig waren. Pauline, früh Witwe geworden, kämpfte, so wie ihre Vorfahrinnen vor ihrer Zeit. Selma erfährt, dass Pauline für  die Rechte von Arbeiterinnen kämpfte, eine Sozialversicherung schuf und als erste in der Schweiz eine Pensionskasse.

Selma begleitet ihre aus der Schweiz ausgewiesene Freundin nach Israel und forscht auch dort nach ihren Wurzeln, interviewt Juden aller Couleur, will wissen, welches Blut in ihren Adern fliesst. Sie fährt mit dem Zug in die Ukraine, besucht jene Orte, die damals der Anfang einer langen Flucht waren, einer Reise voller Strapazen und Anfeindungen, in die sich ein satter Mitteleuropäer kaum mehr hineinversetzen kann.
Aber der Roman ist auch das Protokoll eines verzweifelten Versuchs, Ordnung in ein Leben voller ungestillter Sehnsüchte zu bringen, als Tochter, Mutter, Liebende nicht zu scheitern.

Mit ihrem 500 Seiten Epos hat sich Johanna Lier viel vorgenommen und verlangt von mir als Leser auch einiges ab. Erst am Schluss des Buches heisst es mehrfach «Mehr will sie nicht». Solange Selma sucht, ist sie wie ein Schwamm für alles gewesene und werdende Unglück. Sie versucht Ordnung in ihre Sicht der Welt zu bekommen. Eine Hoffnung, die sich immer wieder in Ängsten und Zweifeln Selmas zerstäubt.

Dass der Verlag die Schriftstellerin als Dichterin bezeichnet, dass «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» bei weitem nicht die erste Veröffentlichung Johanna Liers ist, spürt man dem Text an. Johanna Lier lotet den Klang von Wörtern und Sätzen aus. Sie schreibt sich nicht nur in Szenen und Geschichten hinein, sondern tief in die Emotions- und Gefühlswelten der Protagonistin. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Tauchgang in die tiefsten Schichten des Lebens.

© Mara Truog

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Bettina Schnerr (Lesung im Eisenwerk Frauenfeld)

15. Frauenfelder Lyriktage – 80 Jahre Beat Brechbühl

Auf dem Programm der 15. Frauenfelder Lyriktage standen Lesungen, Gespräche mit John Burnside, Zsuzsanna Gahse, Jürg Halter, Anja Kampmann, Sepp Mall, Marina Skalova und Christian Uetz und eine Performance von und mit Nicole Bachmann. Einer der Höhepunkte war eine Laudatio von Dichterfürst zu Dichterfürst: Christian Uetz über Beat Brechbühl:

«Warum finden die Frauenfelder Lyriktage statt? Elke Bergmann, wunderbare Mitinitiantin, du wirst es mir verzeihen, wenn ich hier sage: wegen Beat Brechbühl. Aber das ist nicht die Frage. Warum findet in Frauenfeld ein Lyrikfestival und das von internationalem Rang statt? Es gibt nur ganz wenig reine und gar mehrtägige Lyrikfestivals im Deutschsprachigen Raum, und in der Schweiz neben dem als Stadt zwar grösseren aber als Lyrikfestival kleineren Basel nur dieses hier. Warum also? Weil es den lyrischen Fels Beat Brechbühl von Oppligen im Kanton Bern mit 21 Jahren für drei Jahre nach Egnach in den Thurgau verschlagen hat. Und weil es ihm da so gut gefallen hat, dass dieser Riesen-Findling 1987 hierher zurückgekehrt ist und in Frauenfeld das Grossartige realisiert hat. Das Grossartige seines Schreibens und seines Verlags und seit 1991 der Frauenfelder Lyriktage.

Angesichts seiner jüngsten Veröffentlichung Flügel der Sehnsucht, mit Gedichten seit seinen Anfängen, stellt sich Beat die Frage, ob man die Gedichte 57 Jahre nach Entstehen noch lesen kann. O ja, man kann, und wie man kann, und man kommt nicht zu Ende in Begeisterung. Denn Beat ist von Anfang an ein Wahnsinniger gegen den Pragmatismus und die Abgeklärtheit und die Stumpfheit der Welt, gegen die es nur die Gegenwelt gibt und gegen diesen Menschen nur den Gegenmenschen und gegen dieses Leben nur das Gegenleben. So heisst es in Temperatursturz von 1984: Es gibt nur Gegenwelten, Gegenmenschen, Gegenleben. Brechbühl ist ein Querulant aus Prinzip, ein Rebell als Lebenshaltung, ein Aufständischer aus Instinkt, ein Berserker gegen Kleinlichkeit und Grosskotzigkeit, gegen Kleinkariertheit und Grossunternehmen, ein Fürsprecher für alles Schräge, Komische, Unangepasste, zugleich ein deftiger Grübler und Melancholiker. Und nicht zuletzt ein derber Erotiker. Seine Romane Kneuss und Nora und der Kümmerer sind regelrecht durchsetzt von Sexakten und Nacktfeiern der freien Liebe. Aber zuerst und zuletzt ist ein heftiger Verachter von allen, deren Geist Geld heisst statt Leidenschaft für das nutzlose Andere. Und Leidenschaft ist überhaupt das wichtigste Wort in einer Würdigung von Beat. Er ist ein Unikum der Leidenschaft für die Poesie sowohl im eigenen Schaffen als auch in der Veröffentlichung von anderen in seinem Waldgut Verlag und im Atelier Bodoni. Und wie seine Gedichte sind auch die Bodoni-Blätter einzelne, rare, handgefertigte, handgepresste Gewächse der Schönheit. Brechbühls ganzes Leben ist Liebe der Poesie, und seine Gedichte sind immer eine Art Liebesgedichte, zumindest die Liebe der Gedichte und deren innigster und äusserster Intensität. 

Brechbühl hat wohl schon tausend Gedichte geschrieben und es werden immer mehr. Schon die Titel seiner Gedichtbände schlagen ein:
Traumhämmer
Temperatursturz
Der geschlagene Hund pisst an die Säulen des Tempels
Gesunde Predigt eines Dorfbewohners
Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens
Spiele um Pan

Und viele mehr!

Aber auch seine Romane und seine Kinderbücher sind grossartig. Schnüff ist Kult. Und Kneuss in Kneuss und Quassel in Nora und der Kümmerer sind Hammercharakter und gleichen verdammt Beat Brechbühl selbst. Was ist der Hammer Brechbühl? Eben sein mutiger, den Arbeiter und den Nichtstuer preisender, hochsozialer Charakter, als Mensch wie im Werk. Und narrtürlich auch sein Humor, sein aberwitziger Schalk, und zuerst und zuletzt seine wilde Wut gegen alles Herzlose und Aufgeblasene und Dünkelhafte und Falsche.

Ich rezitiere Beat selbst aus dem Temperatursturz Seite 27:

Wenn doch alles so endgültig ist:
Die tausendjährigen Reiche,
die vergoldeten Exkremente der Diktatoren,
die gefängnismauerdicken Philosophien der Multis,
die schussbereiten Gewehre der Präsidenten,
die Unkenntnis oder die Not der Soldaten,
wenn doch alles so endgültig ist:
warum sterben die Gefolterten nicht immer an gebrochenem Herz,
warum geben viele Gefangene nicht auf,
warum benutzen wir Worte wie Psychopharmaka und Waffen,
warum bedeutet ein kranker Baum Hoffnung,
da – muss doch etwas sein,
angeboren, vererbt, es wächst wilder,
höher als die ganze Physik,
man hört es im Blut, es sprengt den Kopf,
es zerbricht Lügen und Horror,
irgendwann,
mit irgendwem,
irgendwo,
keiner weiss genau, was es ist,
es ist etwas wie Leben, wie Explosion.
Es ist jung, es ist grün.

(Dies Gedicht erschien 1984, als es noch kaum hellsehende Köpfe gab nicht nur für die militärische und heute auch digitale, sondern auch für die ökologische Selbstauslöschung der Menschheit.)

Und noch einmal Temperatursturz Seite 39:

Immer noch mild liegen die paar Hügel zwischen den Suchfingern der Bäche. Immer noch lau und begehrenswert wild reissen die Sommernächte an meiner unbestimmten Sehnsucht.
Immer noch pumpt mir mein Herz das Blut durch den Körper,
und immer noch helfen die Sonne mit und der Nebel und all deine Gerüche.

Immer noch bin ich in dieser Ecke Welt so frei, dass ich mir die Arbeit (zum Teil) und den täglichen Wahnsinn (zum Teil) selber einbrocken kann;
und ich wählte die Arbeit und den Wahnsinn.

In Die Bilder und ich erkennt sich Brechbühl im grossen Selbstbildnis Rembrands selbst. Seite 72:

Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten mit Erde geschrieben.
Mit schlechter Laune, Geldnöten, Frauen und Gläubigern.
Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten als grosse Reise bezeichnet,
als Weltumsegler, ständigen Aufbegehrer und Handwerker.

Und in Spitzwegs Alchimist. Seite 71:

In seiner Glaskugel betete er zur Materie,
schlief er in Träumen ausserhalb aller Bereiche,
liebte die Neugierde bis zur Erschöpfung –
in seiner Glaskugel am Rande der Zeit.
Er wollte mehr wissen, als es zu wissen gibt.
Er wollte mehr leben, als es zu sterben gibt.
Er wollte mehr lieben, als es zu verlieren gibt –
Der Mann dessen Himmelreiche unsterblich sind.

Temperatursturz Seite 96:

Silence intim.
Ich höre eines deiner Haare
auf den Teppich fallen.

Wie Beats Liebe zum Wein und die herrliche Möglichkeit, mit ihm Nächte durchzutrinken, in trautem Gespräch, gibt es noch etwas anderes hochgradig Ausserordentliches, was Beat betrifft, etwas kolossal Monströses, welches hier selbstverständlich auch genannt werden muss: es ist sein unendlicher Redefluss! Jeder und jede, der und die mit Beat Brechbühl spricht und ihm zuhört, gerät irgendwann in Not und denkt: Wie kann ich diesen Redefluss unterbrechen? Wie steige ich aus Beats Sprachfluss wieder aus? Wie komme ich da wieder weg? Wann macht Beat plötzlich doch einen kleinen Punkt, ein Komma, eine Pause? Und jeder und jede weiss: Man muss sich irgendwann mit Gewalt losreissen, es lässt nicht von selbst enden, denn Brechbühls Redefluss ist buchstäblich unendlich!  Aber was sagt uns Beat damit? Die Sprache ist unendlich, und sie hat Vorrang für uns, wir leben mehr von der Sprache und vom Erzählen als von der Realität und sie ist uns realer als alle Realität. Im Sprechen sind wir Menschen Gott und es ist uns in der Sprache alles möglich. Darum können wir so selbstverständlich lügen das ganze Leben lang, und wir können uns in der Sprache Fantastischeres und Grässlicheres und Anderes vormachen, als das was ist, und in der Sprache ist dann auch alles fantastischer und grässlicher und anders, als es ist. Im Sprechen sind wir Gott, und weil ich Uetz bin, sage ich: und im Schweigen auch. Und ich sage es gleich noch einmal: Im Poetischen oft schönster Weise und im Politischen meist monströser Weise und im Alltäglichen unendlich quasselnder Weise sind wir im Sprechen Gott, in der Tat aber nicht, und würden wir über alles nur sprechen miteinander, wären wir zumindest in quatschender Hinsicht vielleicht im Paradies. Es heisst mit Recht Taten statt Worte, aber auch das ist vor allem ein Wort, und eines, welches meistens nur gesagt wird, und es ist sonderbarerweise umgekehrt genauso wahr: Worte statt Taten, denn wenn wir über all den Horror, den wir Menschen begehen, nur reden würden, statt ihn auch zu tun, würden er gar nicht geschehen. Hättet ihr doch über die entsetzlichen Taten nur gesprochen statt sie auch zu tun! So viel ist gewiss: dass wir miteinander und zueinander sprechen können und ein Gespräch sein können, ist noch immer das Unfassbarste an uns, dass wir über alles reden können das ganze Leben, von morgens bis abends, Tag und Nacht, das ist noch immer ein so selbstverständlich gewordenes Wunder, dass es permanent vergessen wird. Beat Brechbühl aber ist auch in seiner unerschöpflichen Erzählfülle ein Wunder der Poesie, welches das Leben ist, wenn es zu Wort kommt, im Grässlichen wie im Wunderbaren.

Wenn Beat erzählt, dann wird das Leben lebendiger und die Gegenwart leuchtender und die Vergangenheit gegenwärtiger und die Zukunft offener. Und wenn ich hier schon als Würdiger für Beat fungiere, möchte ich es zum Schluss auch an unserem persönlichen Anfang und an unserer ersten Begegnung aufzeigen. Denn du Beat bist ja auch mein Entdecker, und ganz egal, ob es an mir überhaupt etwas Entdeckungswürdiges zu entdecken gibt, habe ich dir masslos viel zu verdanken und es ist mir tausendmal eine Ehre, für dich eine Rede zu halten. Nach meiner eigenen Erinnerung betrat ich im Februar 1993 deinen Verlag hier im Eisenwerk und sagte zu dir: Ich möchte mir den Verlag anschauen, und wenn er mir gefällt, lasse ich mein Manuskript mit Gedichten hier. Drei Wochen später kam ich wieder, und da hattest du mich gleich begeistert empfangen und gesagt: die Gedichte seien toll oder so ähnlich. Du erzählst die Geschichte immer in etwa so: Da trat kurz vor Feierband einer in den Verlag und sagte: Ich bin gut, lies jetzt sofort meine Gedichte. Du habest diesen Aufdringling spöttisch darauf hingewiesen, dass du noch anderes zu tun habest, er könne die Gedichte ja dalassen. Eine Woche später sei der schon wiedergekommen und hätte gefragt, ob du es jetzt gelesen habest, denn er sei gut. Und nachdem du ihn wieder subito weggeschickt, hättest du zum damaligen Mitarbeiter Martin Stiefenhofer gesagt: ich muss da jetzt mal reinschauen, sonst steht dieser Verrückte alle paar Tage hier. Und da hättest du das Manuskript zu lesen begonnern und schon bald gerufen: Die sind ja wirklich gut, verdammt gut! Und das Tollste ist jetzt, dass meine Erinnerung heute auch vor mir selber gar keine Chance mehr hat, und ich sehe mich jetzt schon selber, wie ich in den Verlag trete und sage: Ich bin gut, und so wie du es erzählst, ist es nicht nur poetischer, sondern auch wahrer und erfüllt Novalis: Poesie ist das echt absolut Reelle: je poetischer, desto wahrer.

© Caroline Minjolle

Vielleicht aber hast du meine Luren damals auch nur verlegt, weil ich aus Egnach komme, wo du drei Jahre gelebt und gearbeitet hast zur Zeit meiner Geburt, in der Druckerei von Noldi Schwitter und als Redaktor für die Zeitschrift Clou, und wo du deinen ersten Gedichtband Spiele um Pan geschrieben und gedruckt hast und wo es dir so gut gefallen hat, dass du auch heute noch von der Zeit in Egnach schwärmst. Wir aber schwärmen hier von dir Beat, und wir danken dir für das poetische Glück, womit du uns beschenkst, hier, in Frauenfeld, im Eisenwerk, an den Frauenfelder Lyriktagen.»

Von Frankreich bis nach Paris, eine Nachlese zu den 17. Sprachsalz Literaturtagen in Hall in Tirol

So sehr es für viele ein Traum bleibt, ein Künstlerleben zu führen, so sehr versteigt man sich in der Vorstellung darüber, was und wie ein solches sein kann in romantisierten Vorstellungen, die mit der Härte der Wirklichkeit nichts zu tun haben. So sehr Japan für viele ein Land der Kirschblüten und Traditionen voller Grazie ist, so sehr ist dieses Land eines der Tabus. Marie Modiano und Durian Sukegawa sind sprachmächtige Türöffner.

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Marie Modiano und Thomas Sarbacher © Yves Noir

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt. Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Der Blick Marie Modianis während der Lesung der deutschen Stimme Thomas Sarbachers in die Runde der ZuhörerInnen, etwas wie ein Kontrollblick, ob und wie man reagiert. Sie ist amüsiert, wenn der Schauspieler dramatisiert, was die hexenähnliche Apothekerin mit den Raubvogelaugen krächzt oder der Wirt raunzt, als die Protagonistin in der Saufhalle eintrifft, wo das alte Klavier steht, dem sie Melodien entlocken soll.

Durian Sukegawa © Yves Noir

Durian Sukegawa gehört in Japan zu den ganz grossen, ist Verfasser von über 40 Veröffentlichungen, darunter Romane, Übersetzungen, Essays, Sience Fictions. Er schreibt, ist Musiker, Schauspieler, war Clown und Radiomoderator. Während einer solchen Radiosendung stiess er auf das Schicksal japanischer Leprakranker, die, selbst als sie gesund waren, von der Gesellschaft stigmatisiert mundtot gemacht, durch ein Gesetz von 1931 bis in die Neuzeit weggesperrt wurden. Nicht bloss diskriminiert, sondern hinter Hecken und Mauern eingesperrt und vergessen. Ein Tabuthema, das durch den Roman «Kirschblüten und rote Bohnen» zaghaft in das Bewusstsein der japanischen Gesellschaft eindrang, so explosiv, dass sich der Stammverlag des Autors erst weigerte, den Roman zu veröffentlichen.

«Kirschblüten und rote Bohnen», 2015 äusserst erfolgreich von der japanischen Regisseurin Naomi Kawase verfilmt, erzählt die Geschichte einer zaghaften Freundschaft zwischen dem Pfannkuchenbäcker Sentaro, der alten Tokue, die bei ihm zu arbeiten beginnt und den dahinsiechenden Laden zu neuer Blüte bringt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, und dem Mädchen Wakana, das mehr als nur die Türen zu diesem Geheimnis öffnet.

Ich traf den japanischen Autor etwas abseits in der Hotellobby, in der das Festival stattfindet in sein Mobiltelefon vertieft. Aber als ich in bat, die beiden mitgebrachten Romane zu signieren, gehörte die dezidiert konzentrierte Aufmerksamkeit ganz mir, dem Leser, der seine Geschichten mag, die Melancholie, den nicht zu brechenden Glauben an das Gute im Menschen und das Wissen, dass wahre Grösse in den kleinen Gesten steckt. Zwei Stunden später ist der Pullover und die Jeans in Jacket und Bügelfalte getauscht, ein akkurat gefaltetes Stofftaschentuch neben dem Mikrofon platziert und die mehr als hundert Anwesenden lauschen den Geschichten um Kirschblüten und rote Bohnen. Unbedingt lesen (Buch) und schauen (Film).

Trailer zu «Kirschblüten und rote Bohnen»

Ich danke Heinz D. Heisl, Max Hafele, Magdalena Kauz, Urs Heinz Aerni, Ulrike Wörner, den Machern von Sprachsalz.

Beitragsbild: Ernst Molden © Denis Moergenthaler (Ernst Molden mit einem poetischen und musikalischen Blick auf seinen Wiener Kosmos, dem er zahlreiche Liebeserklärungen widmete.)

17. Internationale Literaturtage Sprachsalz in Hall in Tirol: «Der letzte Mensch»

Im Foyer schob sich die Menge immer näher an die Tür des grossen Saals. So still und leise die einen, so aufwühlend die anderen Lesungen, manchmal schon bevor sie beginnen. Wie jene der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die die Auswirkungen jener Ehrung in Stockholm wohl gerne ungeschehen machen würde, um etwas von dem zurückzugewinnen, was sie mit dem grossen Preis verlor.

So herausfordern und beglückend für den Veranstalter, so schwierig für die Erwartete. Namen wie Herta Müller mobilisieren BesucherInnen, die sonst kaum zu locken sind. Und ist die Lesung vorüber, zieht Ruhe und Beschaulichkeit ein. Dabei verbergen sich hinter den Namen jener, die ohne Spektakel die Bühne betreten, die grossen Namen von morgen.
So sollte man sich Philipp Weiss merken, der mit seinem fulminanten Debüt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» im vergangenen Jahr für einen aussergewöhnlichen literarischen Paukenschlag sorgte. Der Roman in 5 Bänden und 1064 Seiten, einer Enzyklopädie, einem Manga, einer Erzählung und einer Audiotranskription liegt wuchtig in Händen, entpuppt sich aber beim Blättern und Lesen als lustvolle Wort-, Satz und Geschichtenlandschaft, die auf keinen Fall von der ersten bis zur letzten Seite linear gelesen werden muss. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist ein ganzer Kosmos, in dem man fast überall ein- und wieder auftauchen kann, eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im „ewigen“ Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf Spurensuche  von Jona macht, dem von Chantal verlassenen Künstler, eine Reise nach Japan, in ein Land, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

Philipp Weiss © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Philipp Weiss schrieb sechs Jahre in aller Ruhe und Stille an seinem Monument. Am Festival in Hall las er auch aus seinem Theaterstück «Der letzte Mensch», das am 8. Oktober in Wien uraufgeführt wird. Ein Stück, das sich mit den grossen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt; Wie kam es dazu, dass sich über die ganze Menschheit eine hochtechnische Membran legte, aus der sich nicht einmal das Denken befreien kann? Was wird mit den Menschen passieren, die 2019 zur Welt kommen, in eine Welt geboren werden, die sich den Konsequenzen ihres Tuns verschlossen hat, die jeden technischen Fortschritt als Glückseligkeit verkauft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was dahinter folgt? Kann eine Zukunft auch anders gedacht werden als apokalyptisch? Reicht es, sich das Schlimmste vorzustellen, um für das gewappnet zu sein, was zu kommen droht? Gedanken darüber, warum der Mensch das einzige Wesen auf der Erde ist, das etwas produziert, was es nicht braucht – Müll. Darüber, dass das, was der Mensch durch sein Tun unausweichlich verändert, nicht das Leben wirklich meint, sondern bloss verändert, wenn auch letztlich nicht zu seinem Vorteil.

Philipp Weiss denkt schreibend über das Leben nach, das Menschsein, das, was bleibt. Blosses Erzählen ist nicht das seine. Er schafft Welt, stellt Fragen, konstruiert filigrane Szenerien über das nachparasitäre Zeitalter. Sein Theater «Der letzte Mensch» ist keine weitere Dystopie in einer langen Reihe. «Der letzte Mensch» ist die Aufforderung mitzudenken, mitzugestalten, mitzuentscheiden.

Ganz anders, diametral verschieden ist der neue Roman «Jahr ohne Winter» von Lorenz Langenegger. Der in Wien und Zürich lebende Romancier und Theaterautor erzählt die Geschichte(n) von Jakob Walter, einem Mann, der sich auf der Suche verliert. Nicht nur in Australien auf der Suche nach seiner Exfrau, die zu ihrer totkranken Mutter in einem Berner Spital zurückkehren sollte, auf der Suche nach jemandem, der eigentlich nicht gefunden werden will. Über den wilden Tripp eines Mannes, der sein fein säuberlich eingerichtetes und geordnetes Leben verlassen muss, um jemanden zu finden, die von ihm getrennt sein will.

Lorenz Langenegger © Yves Noir

Lorenz Langenegger las in einem Raum, knapp unter dem Terrain draussen, unter dem grossen Fenster, an dem Menschen vorbeigehen, denen die leichte Verwunderung dessen ins Geschieht geschrieben steht, was all die Mensch treibt, die dichtgedrängt dem Mann hinter dem Mikrophon lauschen. Wie ein Aquarium!
In «Jahr ohne Winter» ist ein Mann unterwegs, wörtlich. Die Biederkeit himself in Down Under. Eine Suche im Outback, einer Welt, die maximal anders ist, als jene, aus der er kommt. Bis er in einem zerbeulten Truck mit einem Aborigines sitzt, unterwegs ins Nirgendwo. Jakobs Ex-Schiegermutter Ursula ist krank, braucht dringend eine Stammzellenspende. Und Edith, seine Ex, mit der er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte, ist in Australien, in einer mehrwöchiger Schweigemeditation in der Abgeschiedenheit, in maximaler Entfernung von dem, was sonst ihr Leben ausmacht.
Lorenz Langeneggers Spezialität ist das Kleinräumige, selbst dann, wenn der Schauplatz Australien ist. Die Seele eines Mannes, mit dem es gegen seinen Willen geschieht. Jakob Walter ist ein liebenswerter, patschiger Antiheld, «Jahr ohne Winter» aber durchaus ernstzunehmende Literatur über ein entwurzeltes Individuum.

Sprachsalz ist das Salz in der Suppe!

Beitragsbild: Ulrike Woerner © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

20 Jahre Literaturhaus Zürich

Das Literaturhaus Zürich feiert sein 20jähriges Bestehen. Ich gratuliere. 1834 als Museums- und Lesegesellschaft gegründet, mit grossem Lesesaal und öffentlicher Bibliothek, wurde das ehrenwerte Haus am Limmatquai 1999 ein Literaturhaus, das in seinen 20 Jahren Dienst an der Literatur zu einem bedeutenden Dreh- und Angelpunkt nationaler und internationaler Wortkunst wurde.

Wem Literatur mehr als nur Unterhaltung ist, wenn Bücher zu Türen und Toren werden, wenn ich mich als Leser nicht mehr begnügen kann allein mit dem, was zwischen zwei Buchdeckeln gefangen ist, dann beginne ich mich für das zu interessieren, was dahinter steckt. Dann will ich wissen, wer sich hinter dem Namen auf dem Cover verbirgt, wer geschrieben hat und warum. Dann werden Lesungen zu Begegnungen mit einer anderen Welt, die verschlossen bleibt, wenn mich nur die Spur interessiert, die der Text im Buch zeichnet.

Lesungen sind Begegnungen, solche mit Autorinnen und Autoren, aber auch solche mit Leserinnen und Lesern. Das, was im Schreiben und Lesen meist zurückgezogen und in innerer Stille passiert, öffnet sich und wird zur Gemeinsamkeit, Lesungen das, was, was das Schreiben und Lesen selbst nicht bieten kann. Für den Schreibenden die Reaktion auf das, was er schreibt, für den Lesenden darauf, was andere fühlen, denken, auslösen.

Dabei sind mir etliche Lesungen, die ich in den vergangenen Jahren besuchte unauslöschlich in Erinnerung geblieben; jene mit Anne Weber, der ich zuvor schrieb und die mich überraschend in ein Gespräch verwickelte, jene mit José Eduardo Agualusa und seinem Übersetzer Michael Kegler, die sich beide freuten über ein von Hand geschriebenes und gezeichnetes Literaturblatt, jene mit Urs Faes, der mich mit Nähe adelte oder eine Gesprächsrunde im Oberschoss des Literaturhauses, bei der ich erlebte, wie viel Leidenschaft Ruth Schweikert entwickeln kann, wenn es um konstruktive Kritik an einem Text geht.

Auch wenn ich nicht in Zürich wohne und der Weg zum Literaturhaus ein weiter ist, bleibt dieses Haus auch in Zukunft ein wichtiges. Eines, das beispielhaft sein muss in einer Zeit, in der man merkt, dass digitaler Austausch kein Ersatz sein kann für das, was an Orten wie dem Literaturhaus Zürich geschieht. Ich danke dem Haus, dem Team, das es führt (und hoffe, dass sich das, was an anderen Orten zaghaft im Entstehen ist, an dem orientiert, was sich bewährt) und all den Institutionen, die ein solches Unternehmen möglich machen.

Urs Faes

Judith Keller

 

Christian Haller, Ruth Schweikert, Franz Hohler

Gesa Schneider

Alle Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)