Von Frankreich bis nach Paris, eine Nachlese zu den 17. Sprachsalz Literaturtagen in Hall in Tirol

So sehr es für viele ein Traum bleibt, ein Künstlerleben zu führen, so sehr versteigt man sich in der Vorstellung darüber, was und wie ein solches sein kann in romantisierten Vorstellungen, die mit der Härte der Wirklichkeit nichts zu tun haben. So sehr Japan für viele ein Land der Kirschblüten und Traditionen voller Grazie ist, so sehr ist dieses Land eines der Tabus. Marie Modiano und Durian Sukegawa sind sprachmächtige Türöffner.

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Marie Modiano und Thomas Sarbacher © Yves Noir

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt. Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Der Blick Marie Modianis während der Lesung der deutschen Stimme Thomas Sarbachers in die Runde der ZuhörerInnen, etwas wie ein Kontrollblick, ob und wie man reagiert. Sie ist amüsiert, wenn der Schauspieler dramatisiert, was die hexenähnliche Apothekerin mit den Raubvogelaugen krächzt oder der Wirt raunzt, als die Protagonistin in der Saufhalle eintrifft, wo das alte Klavier steht, dem sie Melodien entlocken soll.

Durian Sukegawa © Yves Noir

Durian Sukegawa gehört in Japan zu den ganz grossen, ist Verfasser von über 40 Veröffentlichungen, darunter Romane, Übersetzungen, Essays, Sience Fictions. Er schreibt, ist Musiker, Schauspieler, war Clown und Radiomoderator. Während einer solchen Radiosendung stiess er auf das Schicksal japanischer Leprakranker, die, selbst als sie gesund waren, von der Gesellschaft stigmatisiert mundtot gemacht, durch ein Gesetz von 1931 bis in die Neuzeit weggesperrt wurden. Nicht bloss diskriminiert, sondern hinter Hecken und Mauern eingesperrt und vergessen. Ein Tabuthema, das durch den Roman «Kirschblüten und rote Bohnen» zaghaft in das Bewusstsein der japanischen Gesellschaft eindrang, so explosiv, dass sich der Stammverlag des Autors erst weigerte, den Roman zu veröffentlichen.

«Kirschblüten und rote Bohnen», 2015 äusserst erfolgreich von der japanischen Regisseurin Naomi Kawase verfilmt, erzählt die Geschichte einer zaghaften Freundschaft zwischen dem Pfannkuchenbäcker Sentaro, der alten Tokue, die bei ihm zu arbeiten beginnt und den dahinsiechenden Laden zu neuer Blüte bringt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, und dem Mädchen Wakana, das mehr als nur die Türen zu diesem Geheimnis öffnet.

Ich traf den japanischen Autor etwas abseits in der Hotellobby, in der das Festival stattfindet in sein Mobiltelefon vertieft. Aber als ich in bat, die beiden mitgebrachten Romane zu signieren, gehörte die dezidiert konzentrierte Aufmerksamkeit ganz mir, dem Leser, der seine Geschichten mag, die Melancholie, den nicht zu brechenden Glauben an das Gute im Menschen und das Wissen, dass wahre Grösse in den kleinen Gesten steckt. Zwei Stunden später ist der Pullover und die Jeans in Jacket und Bügelfalte getauscht, ein akkurat gefaltetes Stofftaschentuch neben dem Mikrofon platziert und die mehr als hundert Anwesenden lauschen den Geschichten um Kirschblüten und rote Bohnen. Unbedingt lesen (Buch) und schauen (Film).

Trailer zu «Kirschblüten und rote Bohnen»

Ich danke Heinz D. Heisl, Max Hafele, Magdalena Kauz, Urs Heinz Aerni, Ulrike Wörner, den Machern von Sprachsalz.

Beitragsbild: Ernst Molden © Denis Moergenthaler (Ernst Molden mit einem poetischen und musikalischen Blick auf seinen Wiener Kosmos, dem er zahlreiche Liebeserklärungen widmete.)

17. Internationale Literaturtage Sprachsalz in Hall in Tirol: «Der letzte Mensch»

Im Foyer schob sich die Menge immer näher an die Tür des grossen Saals. So still und leise die einen, so aufwühlend die anderen Lesungen, manchmal schon bevor sie beginnen. Wie jene der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die die Auswirkungen jener Ehrung in Stockholm wohl gerne ungeschehen machen würde, um etwas von dem zurückzugewinnen, was sie mit dem grossen Preis verlor.

So herausfordern und beglückend für den Veranstalter, so schwierig für die Erwartete. Namen wie Herta Müller mobilisieren BesucherInnen, die sonst kaum zu locken sind. Und ist die Lesung vorüber, zieht Ruhe und Beschaulichkeit ein. Dabei verbergen sich hinter den Namen jener, die ohne Spektakel die Bühne betreten, die grossen Namen von morgen.
So sollte man sich Philipp Weiss merken, der mit seinem fulminanten Debüt «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» im vergangenen Jahr für einen aussergewöhnlichen literarischen Paukenschlag sorgte. Der Roman in 5 Bänden und 1064 Seiten, einer Enzyklopädie, einem Manga, einer Erzählung und einer Audiotranskription liegt wuchtig in Händen, entpuppt sich aber beim Blättern und Lesen als lustvolle Wort-, Satz und Geschichtenlandschaft, die auf keinen Fall von der ersten bis zur letzten Seite linear gelesen werden muss. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist ein ganzer Kosmos, in dem man fast überall ein- und wieder auftauchen kann, eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im „ewigen“ Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf Spurensuche  von Jona macht, dem von Chantal verlassenen Künstler, eine Reise nach Japan, in ein Land, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

Philipp Weiss © Sprachsalz / Denis Moergenthalter

Philipp Weiss schrieb sechs Jahre in aller Ruhe und Stille an seinem Monument. Am Festival in Hall las er auch aus seinem Theaterstück «Der letzte Mensch», das am 8. Oktober in Wien uraufgeführt wird. Ein Stück, das sich mit den grossen Fragen der Gegenwart auseinandersetzt; Wie kam es dazu, dass sich über die ganze Menschheit eine hochtechnische Membran legte, aus der sich nicht einmal das Denken befreien kann? Was wird mit den Menschen passieren, die 2019 zur Welt kommen, in eine Welt geboren werden, die sich den Konsequenzen ihres Tuns verschlossen hat, die jeden technischen Fortschritt als Glückseligkeit verkauft, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was dahinter folgt? Kann eine Zukunft auch anders gedacht werden als apokalyptisch? Reicht es, sich das Schlimmste vorzustellen, um für das gewappnet zu sein, was zu kommen droht? Gedanken darüber, warum der Mensch das einzige Wesen auf der Erde ist, das etwas produziert, was es nicht braucht – Müll. Darüber, dass das, was der Mensch durch sein Tun unausweichlich verändert, nicht das Leben wirklich meint, sondern bloss verändert, wenn auch letztlich nicht zu seinem Vorteil.

Philipp Weiss denkt schreibend über das Leben nach, das Menschsein, das, was bleibt. Blosses Erzählen ist nicht das seine. Er schafft Welt, stellt Fragen, konstruiert filigrane Szenerien über das nachparasitäre Zeitalter. Sein Theater «Der letzte Mensch» ist keine weitere Dystopie in einer langen Reihe. «Der letzte Mensch» ist die Aufforderung mitzudenken, mitzugestalten, mitzuentscheiden.

Ganz anders, diametral verschieden ist der neue Roman «Jahr ohne Winter» von Lorenz Langenegger. Der in Wien und Zürich lebende Romancier und Theaterautor erzählt die Geschichte(n) von Jakob Walter, einem Mann, der sich auf der Suche verliert. Nicht nur in Australien auf der Suche nach seiner Exfrau, die zu ihrer totkranken Mutter in einem Berner Spital zurückkehren sollte, auf der Suche nach jemandem, der eigentlich nicht gefunden werden will. Über den wilden Tripp eines Mannes, der sein fein säuberlich eingerichtetes und geordnetes Leben verlassen muss, um jemanden zu finden, die von ihm getrennt sein will.

Lorenz Langenegger © Yves Noir

Lorenz Langenegger las in einem Raum, knapp unter dem Terrain draussen, unter dem grossen Fenster, an dem Menschen vorbeigehen, denen die leichte Verwunderung dessen ins Geschieht geschrieben steht, was all die Mensch treibt, die dichtgedrängt dem Mann hinter dem Mikrophon lauschen. Wie ein Aquarium!
In «Jahr ohne Winter» ist ein Mann unterwegs, wörtlich. Die Biederkeit himself in Down Under. Eine Suche im Outback, einer Welt, die maximal anders ist, als jene, aus der er kommt. Bis er in einem zerbeulten Truck mit einem Aborigines sitzt, unterwegs ins Nirgendwo. Jakobs Ex-Schiegermutter Ursula ist krank, braucht dringend eine Stammzellenspende. Und Edith, seine Ex, mit der er seit fünf Jahren kein Wort gewechselt hatte, ist in Australien, in einer mehrwöchiger Schweigemeditation in der Abgeschiedenheit, in maximaler Entfernung von dem, was sonst ihr Leben ausmacht.
Lorenz Langeneggers Spezialität ist das Kleinräumige, selbst dann, wenn der Schauplatz Australien ist. Die Seele eines Mannes, mit dem es gegen seinen Willen geschieht. Jakob Walter ist ein liebenswerter, patschiger Antiheld, «Jahr ohne Winter» aber durchaus ernstzunehmende Literatur über ein entwurzeltes Individuum.

Sprachsalz ist das Salz in der Suppe!

Beitragsbild: Ulrike Woerner © Sprachsalz / Denis Moergenthalter