Johanna Lier «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», die brotsuppe

Selmas Grossmutter, bei der sie aufwuchs, eine starke Frau mit einer Geschichte, über sie sie nie sprach, stirbt. Selmas Sohn verabschiedet sich zu seinem Vater, von dem Selma schon lange getrennt lebt und Selmas Liebe droht endgültig an die Seite einer anderen Frau abzudriften. Ein Leben gerät aus den Fugen und Selma will Antworten auf bohrende Fragen. Eine Reise beginnt.

Johanna las zum ersten Mal in jenem Kanton am Bodensee, in dem ein Teil ihres gross angelegten Romans spielt. Ein Epos über Generationen, ein gewichtiger Roman über das, was den Menschen ruhig werden lässt; über Liebe, Freundschaft, Familie und die Sehnsucht angekommen zu sein. Ein sprachgewaltiges Panorama von der Ukraine, von Israel, von Chile bis nach Donzhausen, einem kleinen Ort unweit des Bodensees.

Aber «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist auch die Geschichte von Flucht und der Suche nach Herkunft und eigener Geschichte. Selma, der Dreh- und Angelpunkt des Romans macht sich auf die Suche ihrer Herkunft, ihren jüdischen Wurzeln, die sich bis zum Tod ihrer Grossmutter Pauline versteckten und hinter einer Mauer des Schweigens verbargen. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Roman über den Versuch einer Assimilation, die nicht einmal mit dem Wechsel eines Namens, nicht einmal mit der Taufe gelingen kann, erst recht dann nicht, wenn sie von einer Obrigkeit oder der feindseeligen Umgebung eingefordert wird. Ein Roman über Hunger und Not in der Ukraine im beginnenden 19. Jahrhundert, über den Kanton Thurgau, der sich aus seinem eidgenössischen Untertanenstatus nach der napoleonischen Neuordnung wiederfinden musste und zwischen Fremdenfeindlichkeit, dem verzweifelten Machthunger einer Kirche und wellenartiger Hungers- und Wirtschaftsnöte zu behaupten hatte. Und es ist der Roman einer zwischen Kartoffelbauern entstehenden Teigwarendynastie, einer Lebensart, die sich nicht mehr so sehr abhängig machen will von der oft entfesselten Natur, von Überschwemmungen, Missernten und anderer Gewalten.

Johanna Lier taucht mit Selma tief in das Gewirr einer feindseligen Vergangenheit. Selma findet nach dem Tod ihrer Grossmutter eine ganze Kiste voller Dokumente, die ihr offenbart, wer ihre Grossmutter wirklich war, woher sie kam und was sie zu der werden liess, die sie bis zu ihrem Tod war; eine unbeugsame, selbstbestimmte, eigenwillige und energische Frau, deren Lebensplan sich wohl nicht so entwickelte, wie sie sich es einmal gewünscht hatte, die aber immer eine Kämpferin blieb. Auch wenn ihre absoluten Äusserungen Selmas Mutter gegenüber, ihrer Tochter, die sich wenige Jahre nach Selmas Geburt absetzte und die Erziehung ihrer Tochter der Grossmutter überliess, vernichtend und endgültig waren. Pauline, früh Witwe geworden, kämpfte, so wie ihre Vorfahrinnen vor ihrer Zeit. Selma erfährt, dass Pauline für  die Rechte von Arbeiterinnen kämpfte, eine Sozialversicherung schuf und als erste in der Schweiz eine Pensionskasse.

Selma begleitet ihre aus der Schweiz ausgewiesene Freundin nach Israel und forscht auch dort nach ihren Wurzeln, interviewt Juden aller Couleur, will wissen, welches Blut in ihren Adern fliesst. Sie fährt mit dem Zug in die Ukraine, besucht jene Orte, die damals der Anfang einer langen Flucht waren, einer Reise voller Strapazen und Anfeindungen, in die sich ein satter Mitteleuropäer kaum mehr hineinversetzen kann.
Aber der Roman ist auch das Protokoll eines verzweifelten Versuchs, Ordnung in ein Leben voller ungestillter Sehnsüchte zu bringen, als Tochter, Mutter, Liebende nicht zu scheitern.

Mit ihrem 500 Seiten Epos hat sich Johanna Lier viel vorgenommen und verlangt von mir als Leser auch einiges ab. Erst am Schluss des Buches heisst es mehrfach «Mehr will sie nicht». Solange Selma sucht, ist sie wie ein Schwamm für alles gewesene und werdende Unglück. Sie versucht Ordnung in ihre Sicht der Welt zu bekommen. Eine Hoffnung, die sich immer wieder in Ängsten und Zweifeln Selmas zerstäubt.

Dass der Verlag die Schriftstellerin als Dichterin bezeichnet, dass «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» bei weitem nicht die erste Veröffentlichung Johanna Liers ist, spürt man dem Text an. Johanna Lier lotet den Klang von Wörtern und Sätzen aus. Sie schreibt sich nicht nur in Szenen und Geschichten hinein, sondern tief in die Emotions- und Gefühlswelten der Protagonistin. «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist ein Tauchgang in die tiefsten Schichten des Lebens.

© Mara Truog

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Bettina Schnerr (Lesung im Eisenwerk Frauenfeld)

Frauenfelder Buch- und Handpressen-Messe vom 2. bis 4. November

Die Frauenfelder Buch- und Handpressen-Messe ist eine einzigartige Werkschau von Büchern, Gestaltung, Drucken, Einbänden und Papieren. Veranstaltet wird sie alle zwei Jahre, 2018 bereits zum 14. Mal. Auf der Messe, die in zwei Hallen im historischen Eisenwerk in Frauenfeld stattfindet, präsentieren sich alte Handwerke im Bereich Druck und Papier und zeigen zeitgenössische, künstlerische Anwendungsmöglichkeiten von Bleisatz, Handpressendruck, Kupfertiefdruck, Handbuchbinderei, Holz- und Linolschnitt, Typografie, Papierschöpfen, Papierkunst, Druckkunst und Künstlerbuch.

Viele der Aussteller führen ihre Kunst sogar live am Stand vor, wozu zuvor mitunter tonnenschwere Maschinen in die Werkhalle manövriert werden. Die Besucher und Besucherinnen sind eingeladen, den Arbeiten zuzusehen, zu staunen, zu riechen, zu fühlen und mit den Künstlern ins Gespräch zu kommen. Und natürlich können sie alles, woran sie Gefallen finden, käuflich erwerben: alte und neue Bücher, Handpressendrucke, Einblattdrucke, Alben und Kassetten, Marmor- und Künstlerpapiere, hand- und maschinengeschöpftes Bütten, Kunst und Kleinkunst, Karten und Geschenke.
Die Austeller und Ausstellerinnen kommen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Irland, Liechtenstein und der Schweiz zur Messe nach Frauenfeld, und dies teilweise seit Jahren und Jahrzehnten. Andere junge Kollegen sind erstmalig mit dabei. Denn die «Schwarze Kunst» – so nennen die Handpressendrucker ihr Gewerk, inspiriert von der Farbe ihrer Fingerspitzen – findet beständig neue Adepten, die mit frischen Gestaltungs- und Anwendungsideen das alte Handwerk lebendig halten.

«Endlich ist er Ehrengast unserer HPM: Christian Ewald, am 30. November 1949 in Weimar geboren und dort aufgewachsen. Lehre als Schriftsetzer, später Studium der Grafik in Ost-Berlin. Lebt seitdem in Berlin-Köpenick. Da damals dem Jungdichter und -verleger politisch verboten wurde, Bücher zu drucken, hat er die Bücher von Hand geschrieben (er ist für mich immer noch der beste und förderlichste Kalligraf).

Zitat Verlagsgeschichte: Das erste Buch, das vom Verlag heraus-gegeben wurde, war zugleich das letzte Buch der DDR: Ostberliner Treppengespräche von Jan Silberschuh. Es wurde in 999 Ex. gedruckt und am 2. Oktober 1990 um 23.59 Uhr ausgeliefert; es wurde «eines der schönsten deutschen Bücher 1990» und erhielt den Preis der Stiftung Buchkunst in Frankfurt/Main.

Mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 endete die DDR. Seither werden in der Katzengraben-Presse jährlich zwei Werke (im Frühjahr und Herbst) in limitierter Auflage von 999 Exemplaren verlegt. Seit 2003 erscheinen Unikat-Editionen in einer einmaligen Auflage von 14 Exemplaren, der Hausnummer folgend: grafisch aufwendig hergestellte und handgeschriebene Buchausgaben. 2013 wurde der Verlag auf der Mainzer Minipressen-Messe für hervorragende Verdienste um das schöne Buch mit dem Victor-Otto-Stomps-Preis der Stadt Mainz ausgezeichnet.

Ich weiß nicht mehr, wann und wo wir uns kennengelernt haben. Für mich ist Christian Ewald in Sachen Bücher, Gestaltung und Präsentation seiner Werke einer der einfallsreichsten Menschen.

Vor 17 Jahren haben wir einander versprochen, in unseren Verlagen gegenseitig je ein Buch herauszugeben. Das Buch von Christian Ewald ist 2002 im Waldgut Verlag erschienen: Kann ein im Meer versenkter Traum an fremden Stränden leben? Fragen als Ansicht. Mit Collagen des Autors. Esther Menzi hat das Buch als Bodoni Druck 47 von Hand gesetzt, von Hand gedruckt. Die Collagen wurden in Berlin in Sepia auf Transparent-Papier gedruckt. Die Broschur wurde in Frau- enfeld von Hand gebunden.

Ich hoffe, dass ich mein Buch «Die japanische Bindung» für die Katzengraben-Presse bis zur HPM schaffe. Wenn Ja, gibts ein tüchtiges Fest mit dem Ehrengast. In jedem Fall macht Christian Ewald an der HPM «etwas mit blau angemalten Bäumen» und andere Überraschungen.» Beat Brechbühl, im Juni 2018