Julia Weber «Die Vermengung», Limmat

Vielleicht hat Julia Weber mit ihrem zweiten Roman „Die Vermengung“ etwas erschaffen, was einmalig ist. Der Titel ihres Romans ist nicht nur Überschrift, sondern Programm. „Die Vermengung“ vermengt biografisches mit fiktionalem Schreiben, die Sicht nach Innen mit jener nach Aussen, ist Roman über Frausein, Menschsein, Muttersein und Schriftstellerinnensein.

Julia Webers Roman ist keine Nabelschau. Solche mag ich nicht. Und doch schreibt Julia Weber über eine Julia, verheiratet mit H (Heinz Helle). Beide sind Schriftsteller und Eltern von B, einem Mädchen, das bereits in die Schule geht. Julia schreibt, H schreibt. Julia ist Mutter, H ist Vater. Sie wohnen zusammen in einer nicht übergrossen Wohnung mitten in Zürich. Sie schreibt in „freien“ Zeiten zuhause, er in seiner kleinen Kammer, die er irgendwo in der Nähe gemietet haben. Sie haben sich eingerichtet, das Leben als Paar, Eltern und Schreibende. Bis klar ist, dass Julia ein zweites Kind mit sich trägt. Bis klar ist, dass nach der Geburt alles anders ist und es mehr braucht als bloss eine Umgewöhnungsphase. Wird sie weiter schreiben können? Wird sie das eine zugunsten des andern „abbrechen“ müssen, so wie es in der Geschichte des Frauseins über Jahrhunderte passierte? Reicht es, einen fürsorglichen und einfühlsamen Mann an ihrer Seite zu wissen, um all dem gerecht zu werden, was sich mit bei kleinen Kindern intensivieren wird? Julia fühlt sich bedrängt, in die Enge getrieben. Eine Mischung aus Verzweiflung, Mutlosigkeit und Ängsten zieht sie in tiefe Trauer, in einen Kampf, der ihre Existenz gleich mehrfach bedroht.

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat, 2022, 352 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-041-6

Julia Weber bleibt aber nicht eindimensional. Sie verknüpft ihre Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, der Geschichte, mit der sie sich während und nach der Schwangerschaft auseinandersetzt, mit den Figuren dieser fiktiven Geschichte, Ruth, Linda und Karl machen in ihrer Fiktion Ähnliches durch; Schwangerschaft, Zukunftsängste, Stürme in ihren Beziehungen. Aber die reale Julia kommuniziert mit ihren Romanfiguren. Sie schreiben sich, beschwören einander, mischen sich ein. Die reale Familienkonstellation spiegelt sich in der fiktiven und umgekehrt. Dabei ist Julia Webers Schreiben über das Schreiben weit mehr als das Protokollieren einer „Buchwerdung“. Die Geschichte, an der die Autorin schreibt, ist das Spielfeld eine Wahrscheinlichkeit. Die Personen in ihrer Geschichte treten aus der Fiktion heraus und mischen im Realen mit.

«In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.»

In einer weiter Ebene mischen sich auch noch weitere Beziehungen in „Die Vermengung“ ein; eine Freundin, die ihre Eizellen einfrieren lässt, weil ihr Wunsch, Mutter zu werden, den Vater noch nicht gefunden hat. Oder die Mutter, die ihr mitteilt, man habe einen Krebs in ihrer Brust gefunden. Julia Weber vermengt all die „Bedrohungen“ einer Frau in einem Roman, der mich bei der Lektüre schwindlig macht. Keineswegs, weil er unübersichtlich geschrieben oder nur schwer lesbar wäre. Julia Webers Roman ist in einer Sprache geschrieben, die sich mühelos ebenso klar wie verspielt zeigt. „Die Vermengung“ ist ein Roman, den man mit Bleistift hinter dem Ohr liest, der mit tiefer Sehnsucht geschrieben wurde, nicht nur den Moment, sondern die Welt zu verstehen, Ordnung in Gefühle zu bringen, die einem in ihrer Heftigkeit bedrohen können. Julia Webers fiktionale Figuren in ihrem Roman eskalieren stellvertretend. Die Briefe zwischen Ihr und ihrem Mann zeugen von jener Ernsthaftigkeit, die ich einer Gegenwart, die sich verliert, nur wünsche. 

Julia Webers Experiment der Vermengung hätte leicht scheitern können. Aber weil die Autorin die Vielstimmigkeit ihres Stimmenorchesters so virtuos dirigiert, gelingt ihr ein grosses symphonisches Werk, das getragen wird von Grossherzigkeit, Mut und der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.

Julia Weber wird 1983 in Moshi (Tansania) geboren und zieht 1985 mit ihrer Familie nach Zürich. Nach der Schule macht sie eine Lehre als Fotofachangestellte und absolviert die gestalterische Berufsmaturität. Von 2009 bis 2012 studiert Julia Weber literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erscheint ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich. «Immer ist alles schön» wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 steht der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Regina Dürig «Risse», Plattform Gegenzauber

Track 1: Mitlaut

Die Konsonanten
tropfen aus unseren
Sätzen kondensieren
an den Wänden
und sammeln sich
letzten Endes in
den Fliesenbrüchen
dort reiben kratzen raspeln
sie weiter nicht aus
bösem Willen sondern
aus ihrer Natur denn
ihre Kanten sind
unerbittlich wie
Diamantenglanz
sie schmirgeln sie
murmeln da kann
selbst der Hausbesitzer
nichts machen der
Hausbesitzer besitzt
derart viele Häuser dass
er sich beim besten
Willen nicht um jeden
Mitlaut kümmern kann
der irgendwo hervortropft
der auf Unfug aus ist auf
Krawall er steht auf
der Hausbesitzer
besteht darauf dass wir
wussten als wir
den Vertrag unterschrieben
haben an einem übermässig
wackeligen Tisch dass
nichts mehr zu machen ist
dass alles schon immer
desolat war zerfasert
brach

wir versuchen auf
eigene Kosten zu kitten
spachteln grosszügig 
Konjunktionen und
Dehnungslaute in die
Fugen aber sobald sie
zu trocknen beginnen 
wölben die Konsonanten die Masse
von innen her auf

es bleibt
uns nicht anderes 
übrig als zusätzlich zum
weichen Gehen auch
weich zu sprechen und
möglichst
selbstlautreiche Gerichte
zu kochen leider
mögen wir beide kein
Ei

 

TRACK 2: Schwerkraft und Zündholz und Brot

Der Puls des Nachbarn
dringt durch das Netz aus
undicht gewordenem
Bodenmaterial zu uns
hinauf in unsere
Gedanken unsere Herzen
unsere Haut

der Nachbar ist
so langsam und froh wie
ein Leguan er nickt uns zu
wenn wir ihn auf der Strasse
sehen wenn er uns im
Laden Wein oder 
Knoblauch verkauft 
der Nachbar
lässt seinen Wagemut in
Wolkenfetzen verdampfen
deswegen ist sein Puls
meist ruhig aber stetig er
ist Geheimnissen aus diesem
Grund abgeneigt Überraschungen
Zwischenfällen Zweifeln der Nachbar
hat alles was er zum Leben
braucht die Schwerkraft und
Zündholz und Brot
der Nachbar fühlt sich nie
allein nicht nur wegen der
Risse die ihn mit uns verbinden
sondern in einem absoluten
Sinn

denn er weiss dass er einer
Spezies angehört die sich über
eine unendlich lange Zeit aus
einer anderen Spezies und 
diese wiederum vor unendlich längerer Zeit aus
winzig kleinen Zellen ohne
Körperform und feste Absicht 
entwickelt hat

dieses
Wissen beruhigt den Nachbarn
wie nichts anderes
wenn er isst 
wenn er schläft 
wenn er wacht

 

Track 4: Gedanken aus Glas

Die Fliesen springen
im stillen Schwungtanz
des anhaltenden Verfalls
sodass sie an
manchen Stellen mehr 
aus Rissen bestehen als 
aus etwas

der Rest klimpert
hell wie Taschengeld
wie Gedanken aus Glas

wir treten vorsichtig wenn
wir zum Schüttstein gehen zum
Tisch zum Herd wir 
sind auf der Hut
nicht in den Abgrund zu geraten
der sich auftut
an den Bruchstellen des
hundertjährigen Zements

manchmal jedoch bleiben wir
mit dem Stuhl oder dem
Strumpf hängen wir verschütten
Suppe oder Wasser und
Argumente und Tee denn die Küche
ist der Ort an dem wir beide
Recht haben wollen in
keinem anderen
Zimmer ist dieser
Umstand ähnlich akut
in keinem anderen Zimmer diese
Klippen steil abfallend von
der Wolkendecke 
klingengerade hinunter zum Strand

es hat sich der Sohn
eines berühmten Sängers
von diesem Höhenunterschied gestürzt
damals Anfang der Neunziger und
trotzdem wohnt der
berühmte Sänger noch immer im
gleichen Haus im gleichen Ort

wir fragen uns was er denkt
wenn er die Klippen sieht ob es
Unglaube ist oder ob er sich
wünscht er hätte unten gestanden
aus irgendeinem Zufall hätte
so starke Arme gehabt wie früher
als sein Sohn noch sehr klein war
ein Nestling und hätte ihn auffangen
können zusammengekugelt 
hätte ihn an sich nehmen
können die Luft anhalten | du sagst
aber es gibt keine Unumkehrbarkeit
ohne Nostalgie und
nicht mal Gefühl kann aufgehalten
werden mit starkem Arm das weiss
jeder weisst du weiss auch der
berühmte Sänger besonders der
denn irgendwie war der doch 
schon immer so
wissentlich finster schon bevor
das mit dem Sohn bevor es
den Sohn überhaupt | und 
wahrscheinlich bleibt er ganz einfach
deshalb weil er es sowieso nicht vergessen
kann nichts vergessen machen warum dann
noch den Bäcker die Bushaltestelle den
Pub verlieren wenn schon der
Sinn weg das Leicht

und ich denke 
dass das auf keinen Fall stimmen
kann aber die Klippen nicken 
gleissend in der Mittagssonne und
weil mir mein Knochengeflecht
innendrin lieb ist
heute nicke ich sicherheitshalber
still mit
dir mit

 

TRACK 5: Richtung Meer

Von Zeit zu Zeit
bricht eine Fliese in die
Form einer Stadtkarte mit
Ringautobahn und
sternförmigen Alleen
erläutert uns 
topographische
Zusammenhänge zwischen
Staaten Gewässern
und Grenzgebiet
verweist auf den historischen
Einfluss der Flüsse
die sich in Ackerland verlaufen
ins Ufer wuchern oder
ausdünnen Richtung Meer
zerstreut von
Inseln die
prekären Küsten 
vorgelagert sind
Landstriche auf
die niemand Anspruch erhebt
wo kein Wettrennen
der Entdeckergesten
je stattgefunden
haben wird
und wir sind froh denn was würden
wir ihnen servieren diesen
Vorboten der Währungen
sie würden
mit den Silberlöffeln 
ihrer jeweiligen Majestät die
vollen Teller vom Tischrand
stossen würden 
herabschauen würden
gestikulieren während wir
Kartoffeln braten oder
Kohl sie würden
über ihre Silberbärte streichen
und ihre Silberbäuche halten
während sie mit
Silberzähnen unsere
Vorräte verschmähten
wir wüssten dass sie bald
schneeblind verhungert
oder sonstwie 
an Überheblichkeit 
verendet sein werden wie 
all die andern zuvor wir würden ihnen
Stiefel schenken Hunde
Fell und zusehen
wie sie die Segel setzten wie
sie die Maschinen anliessen
wie sie zu schneeweissen 
Punkten würden 
zu Salzkristallen
zu Staub

 

«Risse» ist im April 2022 als CD bei Deszpot und digital auf Bandcamp erschienen. Das kurze Album (eigentlich also eher eine EP) ist eine Momentaufnahme unseres langsam zerfallenden Küchenbodens – hundertjährige Zementfliesen, original wie beim Bau des Hauses, abgesunken und eingebrochen im Lauf der Zeit. Frottagen, die Regina von den Rissen gemacht hat, dienten Christian als grafische Notation für fünf elektronische Kompositionen. Für vier dieser Stücke hat Regina Texte geschrieben, in denen sich Klippen auftürmen, in denen der Fortschritt klafft und Konsonanten zerrieseln.

Butterland (Das neue Butterland-Album!)

Regina Dürig «Federn lassen», Droschl, 2021, 104 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-99059-071-3

Regina Dürig ist Autorin, Performerin, Artistic Researcher und Dozentin/Mentorin für Literarisches/Kreatives Schreiben an der Hochschule der Künste Bern, dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Volkshochschule Biel/Lyss. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern. Regina Dürig lebt in Biel.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anja Fonseka

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand

Sie wacht auf aus dem Kälteschlaf auf einem fremden, erdähnlichen Planeten. Sie ist die einzige. Alle andern, die auf dem Flugschiff auf einen Neustart auf einem weit entfernten Planeten hofften, kamen bei der Bruchlandung im Eis ums Leben. Michael Stavarič begleitet zwei Frauen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Eine Vergangenheit, in der die Zukunft beginnt, eine Zukunft, in die man sich zurückgeworfen fühlt.

Die Geschichte der Menschheit ist verwoben mit dem Entdeckergeist von (männlichen) Pionieren: Roald Amundsen, der als erster den Südpol erreichte, Magellan, dessen Schiff als erstes die Welt umsegelte oder Fridjof Nansen, der Grönland zu Fuss durchquerte, mit den Inuits lebte und gar den Friedensnobelpreis erhielt. 

Eliane Duval lebt im 24. Jahrhundert. Und nachdem man der Erde mit Lichtkriegen beinahe den Garaus gemacht hatte, besiegelte ein riesiger Komet das Schicksal des Planeten restlos, liess ihn zerbersten und alles auslöschen, was sich nicht auf das einzige Flug- und Fluchtschiff retten konnte. Mit dabei Eliane Duval, die, Wissenschaftlerin geworden, die Stammzellen vieler Tiere mit in den Orbit transportiert, um auf einem erdähnlichen Exoplaneten neu beginnen zu können. Es sollte eine zweite Chance werden, nachdem man die erste zunichte gemacht hatte. Kommandant des Schiffes ist Dallas, mit dem sie mehr als eine Freundschaft verbindet. Doch in dem Moment, in dem das Flugschiff seine lange Reise weit über die bisherigen Grenzen beginnt, die Reste der Erde verglühen, wird klar, dass die Mission des Rettungsschiffes unter keinem guten Stern steht. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schiff und viel zu wenige Kälteschlafboxen. Viele der Geretteten werden die lange Reise nicht überstehen. Das Floss der Medusa droht nach gegenseitiger Zerfleischung unterzugehen. Die lange Kette von Katastrophen nimmt kein Ende.

nunaulluq (ᓄᓇ ᐅᓪᓗᖅ), Land des Tages

Lange Zeit später wacht Eliane auf in den Trümmern des Flugschiffes. Im Eis eines fremden Planeten, dem sie den Namen Winterthur gibt, weil sie einst in den kalten Laboratorien eines Grosskonzerns im schweizerischen Winterthur arbeitete. Sie scheint die einzige Überlebende zu sein. Und weil sie als Kind viel bei ihrem Grossvater auf Grönland lebte und weiss, wie man in der Eiswüste überlebt, dass die Kälte nicht nur ein lebensbedrohender Feind sein muss, nimmt sie als Letzte den Kampf auf. 

Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand, 2020, 512 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87551-4

«Fremdes Licht» ist eine virtuose Mischung aus Dystopie, Science Fiction und Abenteuerroman, den Michael Stavarič nicht einfach linear erzählt, den Überlebenskampf einer starken Frau, sondern in Rückblenden von Geschichte(n), der Geschichte der Inuit, der Geschichte ihrer Familie, der Geschichte eines untergegangenen Planeten. Im zweiten Teil des Romans erzählt Michael Stavarič das Zusammentreffen einer jungen Inuit mit dem norwegischen Entdecker Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff Fram nicht bloss den geographischen Nordpol erkunden will, sondern die Lebensart eines ganzen Volkes, das in einer scheinbaren Wüste aus Eis und Schnee nicht nur zu überleben weiss, sondern eine eigene, friedfertige Kultur entwickelte. Uki, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, neugierig und vom Kapitän des mit lauter Sonderbarkeiten beladenen Schiffes fasziniert, geht mit Mannschaft und Schiff mit auf die Reise nach Süden. Zuerst in den Hafen New Yorks, später mit einem Begleiter an die Weltausstellung von 1893 in Chicago, bei der alle Errungenschaften der Elektrizität den Besuchern als Tor zu einer neuen Epoche präsentiert werden. Uki wird zur Entdeckerin, nur von einer andern Seite, aus anderer Perspektive. Beinahe geschluckt von einer Welt, die sich im Rausch des Fortschritts im Spiegel sonnt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Welt entfernt, in der die junge Uki aufgewachsen ist.

atsanik (ᐊᑦᓴᓂᒃ), Nordlicht

Beide Geschichten, jene der Wissenschaftlerin Eliane Duval im 24. Jahrhundert und jene von Uki im 19. Jahrhundert, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, verbinden sich am Ende des Romans. Eines Romans, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zog. Eine Geschichte, die Fiktion und Reales so gekonnt vermischt, dass man Lust bekommt, nachzulesen, über das Buch hinaus zu „forschen“. Sei es, wenn Michael Stavarič von der Sprache der Inuit erzählt, dem Leben auf der Fram, dem Schiff, mit dem man durch natürliche Eisdrift den Nordpol erreichen wollte, der Weltausstellung in Chicago, an der sich Tesla und Edison in ihrer Potenz duellierten oder vom Plan der Menschen irdisches Leben auf einer Art Arche auf einen anderen Planeten zu transportieren.

Wer „Fremdes Licht“ liest, fröstelt manchmal, sei es in Grönland an der Küste oder auf dem Exoplaneten Winterthur. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!

Interview mit Michael Stavarič:

Zwei Frauen, zwischen denen ein halbes Jahrtausend liegt, beide in Schnee und Eis aufgewachsen. Sie beschreiben diese Leben, die Kälte, das Überleben auf das Wichtigste reduziert, als wären sie von einer langen Reise durch Grönland zurückgekehrt. Sie erzählen, als wären sie dem Volk der Inuit ganz nahe gekommen. Wie nahe?
Die Auseinandersetzung mit alten Kulturen interessiert mich seit je her, ich verorte im archaischen Wissen und Leben diverser Naturvölker so etwas wie „Wahrhaftigkeit“. Meine Auseinandersetzung mit dem Inuktitut (der Sprache der Inuit) und folglich auch mit dem kulturellen und sprachlichen Selbstverständnis dieser Völker erfolgte allerdings erst im Zuge der Romanrecherchen. Am Anfang stand die Faszination für die für mich futuristisch anmutenden Schriftzeichen, die Art und Weise der Metaphorik (Stichwort: das Wasser, das sich im Meer wie ein Fluss bewegt) – und diverse alte Reiseberichte.

itqujaq (ᐃᑦᖁᔭᖅ), lose im Meer umher irrende Schneeflocken, Quallen

Während man 1893 an der Weltausstellung in Chicago mit der „Weissen Stadt“ den endgültigen Sieg der Technik über das natürliche Leben feierte, die Elektrizität das Tor zu unbegrenztem Fortschritt sein sollte, schrammt ein halbes Jahrtausend später das, was von der Zivilisation übrig geblieben ist über das Eis eines fremden Planeten und zerschellt. Ist das eine Ikarus-Geschichte?
Man könnte das durchaus so interpretieren – zunächst schliesst sich ganz banal ein Kreislauf, wobei augenscheinlich ein neuer Zyklus beginnt (das vorangestellte Songzitat von Hooverphonic nimmt es vorweg: the end is always the start of a new episode). Der Fortschritt und die Zukunft bilden dabei stets den Widerpart zum archaischen, naturbelassenen Leben und der Vergangenheit. Was sich da genau aus dem Eis (nicht Asche) erhebt, darüber liesse sich jetzt wunderbar spekulieren. Es hat vor allem auch mit meinem allerersten Roman „stillborn“ zu tun, wo es eine Protagonistin namens Elisa gibt, die sich dem Element Feuer verschrieb und am Ende des Buches in einem Schneesturm verschwindet; jetzt muss man nur noch 1+1 zusammenzählen!

Sinnaliuqpuq (ᓯᓐᓇᓕᐅᖅᐳᖅ), versuch zu schla­fen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt

Elaine Duvals Kampf ist ein Kampf gegen die absolute Einsamkeit. Ein Zustand, dem man höchstens dem Schwerkriminellen in Einzelhaft zutraut. „Fremdes Licht“, zumindest der erste Teil des Romans, ist eine Robinsonade ohne Hoffnung. Wie weit können Sie sich der Einsamkeit aussetzen?
Das erinnert mich an ein altes Filmzitat, das da lautet: Hoffnung ist etwas Gutes, und das Gute stirbt nicht! Die Einsamkeit setzt uns Menschen eklatant zu, vor allem deshalb, weil wir uns selbst nur durch andere Individuen als menschliche Wesen betrachten können. Fehlt dieser Kontext, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit, gewiss auch im philosophischeren Sinne.

kiinarlutuq (ᑮᓇᕐᓗᑐᖅ), eine Frau, die ihr Trauergesicht wie ein Mahn­mal vor sich herträgt

Uki, die junge Inuitfrau, begegnet dem Forscher Fridtjof Nansen. Er nennt sie im Geheimen Elaine, nach seiner Frau, sie ihn Vogelmann, weil er ihrem Volk einen aufziehbaren Vogel präsentiert und der jungen Frau ein dickes Buch über die Welt der Vögel schenkt. Es verbindet sie eine scheue Liebe. Nansen ist Geschichte, Uki Fiktion. Ist ihr Roman die Liebesgeschichte von Geschichte und Fiktion?
Tatsächlich habe ich mich dafür entschieden, der historischen Figur von Fridtjof Nansen eine meiner Kreationen (Uki) vor die Nase zu setzen. Wobei mir auch sehr daran lag, mich ganz bewusst von der echten Historie zu lösen, man darf also bei weitem nicht alles für bare Münze nehmen, was ich Nansen hier als Wesenheit andichte. Wenn einander Genres innerhalb eines Werkes begegnen, so mag dies vielleicht manche überfordern – mich beflügelt dies. Da bin ich ganz bei den alten Universalgelehrten: Alles ist in allem, omnia in omnibus. Daher wohl auch das Enzyklopädische – pars pro toto – in diesem Buch.

An­ guta (ᐊᖑᑕᖅ), die Totensammlerin

Sie beschreiben eindrücklich, wie Uki langsam, in die von Zeit getaktete Welt der „Zivilisierten“ vordringt, bis an die Weltausstellung in Chicago, dem Tempel des Fortschritts. Uki als Entdeckerin, als Erobererin, die fast mit dem Leben bezahlt. „Fremdes Licht“ ist ein Roman über die Zeit, über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, über Perspektivenwechsel. Wäre es nicht die Aufgabe eines jeden, wenigstens den Versuch zu starten, die begrenzte Sicht von einem Innen ins Aussen aufzubrechen?
Für Uki ist die Weltausstellung mit ihren Errungenschaften ein fremder Planet, der zugleich, bei aller Faszination, das Leben ihres Volkes bedroht. Ihre Nachfahrin Elaine wird im Grunde ihres ganzen Fortschritts entledigt und knüpft dort an, wo Uki einst in Grönland stand. Beide Figuren sind zweifelsohne Entdeckerinnen, Bewahrerinnen, Reisende, Suchende und – ja doch – Lichtträgerinnen. Wenn wir zum Himmel schauen und die Sterne bewundern, blicken wir in die ferne Vergangenheit und betrachten Dinge, die vermutlich gar nicht mehr existieren. Das Licht ist, wenn man so will, die sichtbare Zeit! Ich behaupte jetzt mal, es ist unsere Pflicht, über Grenzen hinweg zu denken, den Blick über den Tellerrand zu wagen und uns auf eine Reise zu begeben. Wenn man diese Schritte wagt, steht einem vieles (auch im eigenen Kopf) offen, nicht zuletzt auch die Abkehr von diversen Ängsten. Ich hoffe, meine beiden Protagonistinnen beweisen dies …

© Yves Noir

Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.

Beitragsbild © Yves Noir

Heinz Helle «Wellen», Suhrkamp

In „Wellen“ will der Erzähler glücklich sein, nie gelangweilt und immerzu anwesend. Ein Mann, der eben zum zweiten Mal Vater geworden ist und sich zwischen Momenten des Glücks und Überforderungen zurecht finden will, als Vater, Ehemann, Schriftsteller und Beobachter einer Welt, die ihn prüft.

Dass man es als Vater zweier kleiner Kinder, nimmt man denn seine Rolle als Vater in einer Gegenwart, die die Abwesenheit eines solchen nicht mehr so einfach akzeptiert, schwer haben kann, einen Roman zu schreiben, versteht sich leicht. Umso erstaunlicher, dass es Heinz Helle als Vater zweier kleiner Kinder geschafft hat, sich nicht in Fiktionen aus dem Alltäglichen wegtragen zu lassen, sondern mit „Wellen“ ein Buch präsentiert, das sich in absoluter Unmittelbarkeit mit seiner eigenen Welt auseinandersetzt. „Wellen“ ist ein Buch übers Vater-, Mann- und Schriftstellersein. Nicht wirklich ein Roman, auch wenn das Buch als solcher angeschrieben ist. Viel mehr ein Tagebuch, ein Simultankommentar zu einem Leben mitten in der Familie, zwischen Windeln, Spielzeug, Volvo, Wäscheleinen und Milchfläschchen.

Am Abend fragst du mich, warum ich dich liebe, und ich sage: „Weil du so riechst, wie du riechst.“

Heinz Helle «Wellen», Suhrkamp, 2022, 284 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43077-4

Auch wenn man „Wellen“ als Nabelschau bezeichnen kann, eine Gattung Buch, die mich mit wenigen Ausnahmen nicht fasziniert, ist Heinz Helles neustes Buch weit mehr. Mit Sicherheit eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung an seine Frau, seine beiden Kinder, seine Familie, seine Aufgaben, sein Leben, jenen Lauf der Zeit, der mit zwei kleinen Kindern so sehr von Alltäglichkeiten dominiert wird, dass sich mein verklärter Blick in die Vergangenheit und Heinz Helles Blick in seine Gegenwart mitunter heftigst streiten. „Wellen“ schildert das Leben eines Mannes in der Brandung seiner Pflichten. Kein weinerliches Reflektieren eines Mühlsteinträgers, kein Suhlen in den Niederungen menschlicher Abgründe. Der Erzähler liebt seine Welt, auch wenn sie ihn zuweilen einengt, nicht loslässt. Der Erzähler liebt seine Kinder, auch wenn sie ihn nachts vom Schlafen abhalten und die Kleine erst in den Armen der Mutter zu schreien aufhört. Der Erzähler liebt seine Frau, die ihren Kopf noch immer an seine Brust legt, die ihn an der Hand nimmt. Und der Erzähler liebt sein Schreiben, sein schreibendes Nachdenken, auch wenn er in seinem kleinen Arbeitszimmer abseits seiner Wohnung manchmal einfach zuerst zur Ruhe kommen muss.

„Und dann merke ich, dass ich darum so gerne darüber schreibe, wie ich lebe, weil ich Frieden finde in der Anordnung der Zeichen, mit denen ich versuche, nachzubilden.“

Heinz Helles Buch sind Aufzeichnungen eines Nachdenkens. Der Erzähler denkt vom Kleinen ins Grosse, vom Grossen ins Kleine. Er weiss genau, dass das, was er als Vater tut, wenn er nachts die verstopfte Nase seines neugeborenen Kindes tröpfchenweise zu befreien versucht, keine Nichtigkeiten sind, sondern die kleinen Schritte zum Grossen. Jenes Grosse, das man im Sog der Alltäglichkeiten leicht aus den Augen verliert. Jenes Grosse, das verloren gegangen ist, wenn man in den Medien von Eltern liest, die die Kontrolle verlieren. Der Erzähler ist einem Geheimnis auf der Spur. Dass der Erzähler oft und gerne philosophische Abschweifungen unternimmt und diese mit Alltäglichkeiten, Träumereien und Beobachtungen vermengt, macht das Buch auch für mich zu einem Quell vieler Überraschungen. Und dass die einzelnen Kleinkapitel fast immer mit „Und dann“, „Und als“ „Und dass“ beginnen, gibt dem Text eine Unmittelbarkeit, als würde der Erzähler sein Leben im O-Ton kommentieren.

Als ich 1985 zum ersten Mal und zehn Jahre später zum letzten Mal Vater wurde, waren viele Selbstverständlichkeiten mit denen von heute identisch. Und doch unterscheidet sich die Rolle eines Vaters, eines Mannes, eines Ehemannes in vielem diametral von der damals, auch wenn nur 40 Jahre dazwischenliegen. Vielleicht war das meine grösste Herausforderung bei der Lektüre; die Erkenntnis, wie gedankenlos ich damals meine Rolle lebte, auch wenn die Zeichen der Zeit damals Grund genug gegeben hätten, gewisse Selbstverständlichkeiten mit Schamröte aufzugeben.

Heinz Helle, geboren 1978, studierte Philosophie in München und New York und arbeitete als Texter in Werbeagenturen, bevor er Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen letzten Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», wurde er mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Er lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Julia Weber, und den beiden gemeinsamen Töchtern in Zürich.

Beitragsbild © Tobias Bohm/Suhrkamp Verlag

«Sprachsalz» – Internationale Literaturtage in Hall im Tirol

Benjamin Berton, Julia Deck, Doris Dörrie, Tomás González, Luke Haines, Christoph Höhtker, Barbara Hundegger, Kim Hye-jin, Boris Kerenski, Ana Marwan, Hanspeter Müller-Drossaart, Andreas Niedermann, Paul Renner, Edgar Selge, Lea Streisand, Paulina Stulin – und ein nach Literatur dürstendes Publikum.

Nach zwei Jahren, während derer man gezwungen war, die Veranstaltungen bloss digital durchzuführen, wurde die 20. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals „Sprachsalz“ zu einem Fest weit über das Jubiläum hinaus. Wer weiss denn schon, wie lange und wie befreit man solche Veranstaltungen geniessen kann, bevor sich wieder eine Welle der Angst über den Globus ergiesst.

„Sprachsalz“ ist ein Festival der Nähe. Es gibt keine Tische, an denen sich nur Eingeweihte, Eingeladene, LiteratInnen treffen und man sich als Besucher kaum in die Nähe traut, keine VIP-Zonen, obwohl grosse Namen neben Geheimtipps auftreten, nirgends Gehabe, auch wenn wie vor drei Jahren eine Nobelpreisträgerin an der Festivalbar sitzt und an einem Glas Wasser nippt (Herta Müller). „Sprachsalz“ ist ein Festival der Grosszügigkeit. Getragen von einem breiten Feld von Sponsoren ist der Eintritt frei, die Festivalleitung unkompliziert und ganz offensichtlich auch für die Eingeladenen eine „Bereicherung“.

Wer regelmässig solche Festivals besucht, ist neugierig auf Begegnungen, auch auf die Chance, ein Leseerlebnis mit einer realen Auseinandersetzung zu verbinden; einem Gesicht, einer Stimme, einem kurzen oder längeren Gespräch, Augenblicken, die sich einbrennen. Unvergessen bleiben werden mir jene mit der Slowenin Ana Marwan und mit dem Kolumbianer Tomás Gonzáles. Ich werde ihre Bücher nach Hause tragen, in meiner Bibliothek einordnen – und wenn meine Blicke in Zukunft auf ihren Buchrücken hängen bleiben, wird etwas von dem aufblitzen, was mich am „Sprachsalz“ in Verzückung brachte.

Als ich Ana Marwans Debüt „Der Kreis des Weberknechts“ im Herbst 2019 über den Sonderling Karl Lipitsch las, war die Lektüre eine Offenbarung, als hätte sich ganz unerwartet ein Tor zu einem grossen Geheimnis geöffnet. Ein Lesegefühl, das sich nur ganz selten einstellt. Da schrieb jemand ganz sanft, fein beobachtend, mit schneidendem Witz und höchster Präzision. Als Ana Marwan im Sommer 2022 am Bachmannpreislesen den mit 25000 Euro dotierten Hauptpreis gewann, war das mehr Bestätigung als Überraschung. „Die Autorin führt die deutsche Sprache, als hätte sie nie in einer anderen Sprache gelebt. Sie treibt das Deutsche vor sich her“, meinte Klaus Kastenberger, Jurymitglied, bei der in Klagenfurt gehaltenen Laudatio.

Sprachsalz 2022 © Yves Noir

Dass Ana Marwan mit ihrem zweiten Roman im März 2023 Gast, mein Gast im Literaturhaus Thurgau sein wird, freut mich nach der Begegnung in Hall noch viel mehr. Sie liest und diskutiert am Donnerstag, den 23. März im schmucken Literaturhaus in Gottlieben TG!

Ein zweites Highlight mit viel Vorfreude war die Begegnung mit Tomás Gonzáles. Einem Grossen, der trotz vieler Fürsprecher ein Geheimtipp geblieben ist. Ein Schriftsteller, der mit seinem Schreiben nicht in die „Kategorie“ Magischer Realismus verortet werden kann, denn seine Themen, sein Personal, seine Kulissen sind immer ganz nahe an der Realität, oft im Spannungsfeld zwischen Schmerz und Schönheit. Deshalb darf der Tiel seines aktuellen Erzählbandes „Die stachelige Schönheit der Welt“ durchaus als Programm seines Schreibens gesehen werden.

Ich lernte die Bücher des Autors 2012 schätzen, als ich ihn mit „Das spröde Licht“ zu lesen begann, einer Geschichte, mit der er das langsame Sterben seiner an MS erkrankten Frau literarisch verarbeitete. Doch Tomás Gonzáles rapportiert nicht einfach den Leidensweg seiner Frau, sondern transformiert sein Erleben in eine fiktive Familie, in der der älteste Sohn nach einem Unfall, der ihn vom Hals abwärts lähmt, in seinen Schmerzen eine ganze Familie, die Liebe an einen Abgrund reisst.

Sprachsalz 2022 © Yves Noir

„Glühwürmchen“, eine der dreizehn Erzählungen aus 30 Jahren in „Die stachelige Schönheit der Welt“, erzählt von Atilano und Jesús, einem Paar, zweier Männer, zweier Künstler, der eine weg, wegen eines Stipendiums in Florenz, der andere in Queens. Beide entfernen sich, Jesús nach Italien in die Fremde, eine andere Welt, Atilano in die Wut, den Schmerz, die Enttäuschung und Verzweiflung eines Zurückgelassenen. Die Sprache ist glasklar. Es sind keine Geschichtchen. So nah der Schriftsteller seinen Personen kommt, so fern ist ihm jegliches Moralisieren. 

Schreiben sei keine Schmerztherapie, sondern die Erschaffung von etwas Neuem, eine Umwandlung, die den Schmerz vielleicht leichter machen kann, meinte Tomás Gonzáles im Gespräch mit seinem Übersetzer und Mentor Peter Schultze-Kraft. Tomás Gonzáles lebte fast zwei Jahrzehnte im freiwilligen Exil in Florida und New York. Seine Sprache war damals das einzige, was er aus seiner Heimat mitnehmen konnte, aus jener Welt, die er zurücklassen musste. Schreiben wurde zu einer Art Wiedererschaffung seiner Heimat, ein Weg, seine Sehnsucht zu überwinden.

Sprachsalz 2022 © Denis Moergenthaler

Peter Stamm sagte über ihn: «González schreibt einen sehr trockenen, aber zugleich unglaublich atmosphärischen Stil. Die Geschichten sind dunkel, aber es ist, als leuchteten sie von innen.»
„Die stachelige Schönheit der Welt“ von Tomás Gonzáles ist ein wunderbares Tor in den Kosmos eines Grossen!

Rezension von «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

 

Jenny Hval «Perlenbrauerei», März Verlag

Aufgehoben im Sündenfall

Im Roman der norwegischen Musikerin Jenny Hval verschimmelt das Paradies. Inmitten vergammelter Früchte erblüht eine queere Liebesgeschichte, in der die Verführung zu Selbstermächtigung und sexuellem Erwachen führt.

Gastbeitrag von Céline Burget
Céline Burget studiert Deutsche Philologie und Englisch an der Universität Basel. Als begeisterte Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Lektorieren von Beiträgen und schätzt jede Gelegenheiten, selber Texte zu verfassen.

Der im vergangenen Jahr wieder auferstandene März-Verlag hat mit seinem antiautoritär und feministisch ausgerichteten Frühjahrsprogramm wieder auf sich aufmerksam gemacht. Barbara Kalender und der neu als Verleger eingesetzte Richard Stoiber haben sich passend zum 53. Jubiläum dazu entschieden, den legendären Verlag in alter Tradition fortzuführen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Neuauflage von Valerie Solanas’ «Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer», auch das Debüt von Jenny Hval ist mit seinen fiebertraumartigen, erotischen Szenen ein Höhepunkt des Programms. In «Perlenbrauerei» sind es allerdings nicht nur Männer, die vernichtet werden: Die Autorin nimmt sich den Sündenfall vor und lässt ganz Garten Eden verrotten.

Hval erzählt die Geschichte der norwegischen Austauschstudentin Johanna, die auf der Suche nach einer Unterkunft durch das fiktive Ayebourne irrt. Sie verliert sich in den engen Strassen der fremden Stadt, die ihr abgeriegelt wie eine Kiste ohne Deckel erscheint. Erleichtert entdeckt sie die Anzeige der etwas älteren Carral und entschliesst sich dazu, das freie Zimmer in einer ehemaligen Brauerei zu beziehen. Durch die Wände der renovierten Halle hört Jo sämtliche Geräusche ihrer Mitbewohnerin. So entstehen Szenen, in denen die Frauen sich beim Gang auf die Toilette belauschen. Und auch die Körpergerüche verbreiten sich in der ganzen Wohnung – die papierdünnen Spanplatten erlauben keine Privatsphäre.

Jenny Hval «Perlenbrauerei», aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau, und Anna Schiemangk, März Verlag, 166 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-7550-0003-7

Ein ähnlicher Eindruck entsteht beim Lesen dieser Schilderungen: Es wird einem, als ob sich der Gestank vom Papier löste und man ihn selber riechen könne. Solche Grenzüberschreitungen sind durchaus gewollt und werden von der Autorin durch alle Ebenen des Roman gezogen. Allmählich beginnt Jo die Bewegungen von Carral nachzuahmen, spürt ihren Schmerz und ihre Erregung, fühlt wie sich ihre Körper synchronisieren. Und während sich die zwei Frauen einander annähern, beginnt die Wohnung selber zu wuchern: Gras drängt sich zwischen den Bodenbrettern hindurch, Pilze und Moos wachsen an den Wänden. Da lässt sich immer weniger zwischen Realität und Traum unterscheiden – bis sich alles zu einem Geflecht verbindet.

 Mit Metaphern aus der Natur und biblischen Motiven evoziert Hval eine zunehmend beklemmende und mystische Stimmung. Neben Äpfeln und Schlangen ist es vor allem die ehemalige Brauerei, die an die Geschichte vom Sündenfall denken lässt. Auch Carral und Jo vergleichen die Wohnung spöttisch mit dem Garten Eden: Sieht das hier aus wie das Paradies, oder was? Tatsächlich stellt man sich das Paradies wohl eher anders vor. Die Wohnung ist kein Garten mit reifen Früchten und idyllischen Lichtungen: Es fühlte sich an, als ob die Brauerei in einen grossen, nassen Tank verwandelt worden war, der darauf wartete, dass Carral und ich zu verwesen begannen: Ein verfaulter und stinkender Garten Eden.

Eindringlich beschreibt die Autorin das Verrotten der Wohnung. Wie sich in dieser modrigen Umgebung eine Liebesgeschichte entspinnen soll, scheint zunächst schwer nachvollziehbar. Doch es ist eine Erotik der Verschmelzung, die Hval inmitten des Vergehens überzeugend ins Bild setzt. Jo und Carral verwachsen wie ein Netzwerk von Pilzen, durchdringen einander wie die Äste eines Baumes: Dann braust es durch mich hindurch, ihre Stiele und Finger und Adern breiten sich durch meinen ganzen Körper aus wie ein neues, weiches Skelett. Wenn die Frauen gemeinsam im Bett liegen und Carral dabei die Kontrolle über ihre Blase verliert und uriniert, legt Hval in ihre Beschreibung einen sinnlichen Unterton: Ein dünner, warmer Strahl rieselte von Carrals Körper gegen meinen Oberschenkel. Doch Jo ekelt sich nicht etwa vor den Körperflüssigkeiten von Carral; für sie sind sie Ausdruck von Nähe und Intimität.

Das von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk erstmals ins Deutsche übertragene Debüt unterläuft klug die Motive der verhängnisvollen weiblichen Verführung und der verbotenen Lust. Wir begegnen in einer der Programmperlen des wieder belebten März-Verlags zwei Menschen, die sich begehren, die sich gegenseitig probieren. Erst die Erfahrung der Verschmelzung, ob phantasiert oder wach erlebt, erlaubt es Jo, ihre Sexualität zu entdecken. Das Verderben schafft so die Grundlage für organisches Wachstum und Selbstermächtigung. Denn nur wenn die Lasten des Sündenfalls überwunden sind, kann wirklich Neues entstehen. Oder wie Jo sagt: Ich sah mich selbst nach dem Sündenfall aufräumen.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Jenny Hval, geboren 1980 in Oslo, hat Kreatives Schreiben und Performance in Melbourne, Australien studiert. 2006 ist ihre erste EP «Cigars» erschienen. Seither hat Jenny Hval fast ein Dutzend Platten aufgenommen, die mit allen wichtigen nordischen Musikpreisen ausgezeichnet wurden. «Perlenbrauerei» ist ihr erster Roman, der von der norwegischen und englischsprachigen Presse gleichermassen gefeiert wurde.

Rahel Schöppenthau, geboren 1989 in Berlin, studierte Skandinavistik an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als Schauspielerin und realisiert eigene Kunstprojekte.
Anna Schiemangk, geboren 1992 in Berlin, studierte Skandinavistik und Nordeuropastudien in Berlin, wo sie heute als Texterin arbeitet.

Webseite der Jenny Hval

Beitragsbild © Baard Henriksen

Pobry «Russland verstehen mit Tarkowski», BLOX, 2

Mit Tarkowskis Filmsprache lässt sich erfassen, was das russische Wesen zuinnerst ausmacht. Seine Filme lese ich in einem Stück, da gewisse Symbole in ihnen allen immer wiederkehren: Verkohlte Holzwände, vereiste Holzscheite, bemooste Treppenstufen. Aufgescheuchte Tiere, aufgescheuchte Menschen. Sie waten durch Morast, rennen hin und her ohne ersichtlichen Grund. Eine Aufnahme, die zeigt, wie die Rote Armee durch den Sywasch-See watet, der wohlgemerkt in der Ukraine liegt, soll den Regiesseur zu Tränen gerührt haben. Sehr oft treten Wasser und Feuer bei ihm gleichzeitig auf. Tarkowskis Filme erscheinen mir wie Ikonen in Bewegung: Ein Feuerspan leuchtet über einer Wasserschale, Pferde äsen Äpfel im Regen, Laub löst sich im Wind vom Morast wie Schuppen, eine Gaslampe geht aus, eine antike Fischfigur ruht unter fliessendem Wasser, Seepflanzen wiegen sich in der Strömung. Der Wind weht heran, als die junge Mutter die Rückkehr ihres Mannes von der Front erwartet. Auch die Tartaren schiessen in Wellen wie ein Sturm über die Hügel. Damit thematisiert Tarkowski ein Lebensgefühl, das Russland mit Europa gemein hat. Nämlich die Sorge, dass eine Volkshorde unerwartet aus der Ferne heranbricht und die Einheimischen überrollt. Wie eben jetzt russische Truppen in der Ukraine. Bei mehrmaliger Lektüre der Filme fallen schliesslich Situationen auf, in denen die Farbe Weiss vorherrscht: Tiere läppeln Milch. Ein Stilleben mit Milch und Kartoffeln, oder ein weisser Krug mit Goldrand, hindrapiert auf hellblauem Tuch. Von einer weissen Vase ist die Rede, mit blauen Blumen drauf. Eine Schranktür öffnet sich knarrend und legt ein grosses Glas mit Milch frei. Ein Kind mit weisser Taube. Ein Kind mit gläsernem Milchkrug. Kampfflieger peitschen über die Landschaft, die Menschen stieben durcheinander, hin und her, ein Glaskrug mit Milch schlägt am Boden auf. Eine Schwangere liegt in weissen Laken und Tüchern gebettet wie in einem Bad. Ein Kind sagt, es träumte unter dem Apfelbaum von einem weissen Krankenhaus. Milch fliesst aus einer Flasche am Boden. Ein weisser, netzartiger Schal liegt im Dreck. Eine weisse Gans fliegt kreischend auf, als Tartaren und Russen sich wie Ameisen im Kampf vermischen. Ein Kind mit übernatürlichen Fähigkeiten trägt einen goldenen Schal.

Zu erwägen ist, dass das Auftreten dieser Bilder auf Zufall beruhen könnte. Dann wäre diese Sammlung meiner persönlichen Aufmerksamkeit geschuldet und sagte nichts über den Regiesseuren aus. Diese Motive treten allerdings nicht beiläufig auf. Vielmehr nimmt die Kamera sie geduldig in ihren Brennpunkt und lässt Zeit verstreichen, wie so oft bei Tarkowski, auch wenn diese Motive keinerlei Einfluss auf die Handlung nehmen. Also kommt ihnen ohnedies eine tragende Bedeutung zu. Gegen Ende von «Rubilov» filmt Tarkowski Ikonen, die man während des Films nie sah. Dabei sucht die Kamera ein unscheinbares Symbol abseits der wichtigen Partien einer Ikone und bleibt darauf ruhen. Als ich das zum ersten Mal bewusst sah, kam es mir vor, als brächte dieses Motiv die gesamte Filmaussage Tarkowskis auf einen Punkt: Es ist ein kleiner Vogel in weissen Linien auf pechschwarzem Hintergrund gemalt, als wäre er darin eingefasst wie in ein alchemistisches Gefäss. Damit er golden wird als Sinnbild eines guten, geprüften Lebens. Das Weisse steht traditionsgemäss für die innerste natürliche Reinheit einer Kultur. Es ist die Seele in ihrem Bemühen um ein gutes Leben: Die Braut vor dem Altar, das Linnen an der Sonne, das Kind mit der Milch. Dieses unendlich Zarte, von dem wir im Westen keinen Begriff mehr haben, erklärt die rohe Brutalität nach aussen. Je feiner, je zarter das innere Gut erlebt wird, das es zu bewahren gilt, desto heftiger die Gewalt, die zu seinem Schutz in Anschlag gebracht wird.

Und spätestens hier sollte klar werden, dass es bei allen Beteiligten gerade in einem Krieg um eben dieses Innerstes geht: Mutter und Kind. Die Familie. Die Gesundheit der menschlichen Seele. Daher heisst es bei Tarkowski: «Russland, Russland. Wie viel musst du ertragen.» Das lässt sich handlich auf andere anwenden, nämlich so: Europa, Europa. Wie viel musst du ertragen? Oder: Ukraine, Ukraine ….

BLOX

Norbert Scheuer «Mutabor», C. H. Beck

Waren Sie schon einmal in der Eifel? Weil ich alle Bücher Norbert Scheuers gelesen habe und der Autor eine meiner Lieben ist, die mich niemals enttäuschte, war ich schon so oft in der Eifel, wenn auch noch nie physisch. Norbert Scheuer schafft etwas mit seinem Erzählen, was nur wenigen gelingt: Unmittelbarkeit.

„Mutabor“, heisst das Zauberwort, mit dem sich der Kalif Chasid und sein Grosswesir Mansor in Wilhelm Hauffs Märchen von Störchen zurück zu Menschen verwandeln können, wenn die beiden nicht lachen. Das lateinische „Mutabor“ heisst „Ich werde verwandelt werden“.

Norbert Scheuer «Mutabor», illustriert mit Zeichnungen von Erasmus Scheuer, C. H. Beck, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-406-78152-0

Nina lebt in Kall im Urftland, einem kleinen Ort in der Eifel. Nina möchte verwandelt werden, sucht nach dem Zauberwort Mutabor, das sie endlich dorthin bringt, wo sie sein möchte. Weg aus der Ungewissheit, woher sie kommt, wer ihr Vater ist, wo ihre Mutter geblieben ist, weg vom Geheimnis, das sie erahnt, über das sie aber niemand aufklärt. Weg vom Ausgesperrtsein, weg von Getuschel, weg vom Makel, weg von allem, was sie an Kall kettet. Weg nach Byzanz zum Palast der Störche, eine Reise, die sie mit ihrem Grossvater, als er noch lebte, unzählige Male mit seinem durchgerosteten hellblauen Opel Kapitän angetreten und nie über die Hügel des Urftlands gekommen war. Weg auf eine der vielen Inseln Griechenlands, von der Evros, der griechische Gastwirt im Ort, immer wieder erzählte, bei dem sie nach dem morgendlichen Zeitungsaustragen ihr Geld verdient.

Nina ist allein. Warum verlässt eine Mutter ihr Kind? Warum taucht eine Mutter plötzlich weg? Wie kann man ein Kind alleine zurücklassen? Als Ninas Mutter verschwand, war Nina noch nicht volljährig, wohnte zwar schon in einer winzigen Mansardenwohnung, stand aber stets unter der Kontrolle eines Vormunds. Ihr neuster, der „Krapfen“, eine Frau, die Nina zu viel mehr zwingt, als sie geben möchte und dabei ihren Hunger nach echter Liebe und Zuneigung nur noch potenziert, ist eine der vielen, die Nina mit jeder Geste zeigen, dass sie Aussenseiterin und Randständige ist und bleibt. Die einzige im Ort, bei der sie so etwas wie Geborgenheit, ein warmes Nest findet, ist die ehemalige Lehrerin Sophia Molitor, eine Frau, die als Witwe alleine in einem grossen Haus lebt und Nina jenes Tor zur Welt öffnet, weil sie das Mädchen das lehrt, was die Schule nicht vermochte. Aber auch bei „Tante“, wie Nina Sophia liebevoll nennt, sind Fragen nach der Mutter ungeliebt. Nina spürt, dass selbst Sophia nicht mit offenen Karten spielt, Geheimnisse unter Verschluss hält. So wie Tante Sophia von ihrem Mann Eugen heimgesucht wird, so ist es der Geist Ninas Mutter, der sie nie zur Ruhe kommen lässt.

«Jeden Moment verändert sich alles und alles verändert jeden Moment.»

Einzig Paul lässt Nina hoffen. Als Nina Mädchen war, hatte Paul kein Auge für sie. Aber nun, Paul kehrte als Versehrter aus einem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zurück, hofft Nina auf Paul. Sie spürt, dass sich da etwas öffnen kann, dass sie in und mit Paul etwas finden kann, was ihr bisher verwehrt blieb. Und tatsächlich kommt es zu einer zaghaften Annäherung und irgendwann zu jener einen Nacht, die die Tür aber auch gleich wieder verschliesst. Paul entzieht sich Nina. Und Nina weiss einmal mehr nicht, wie ihr geschieht, was die Gründe sind, warum sie wie eine Leprakranke gemieden wird.

Norbert Scheuer Roman ist ungemein facettenreich und von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Kann sein, dass man sich einschüchtern lässt von der Vielstimmigkeit des Personals, von der Veielstimmigkeit des Lesegefühls, einmal dunkel, einmal hell, von den mit kryptischen Texten beschriebenen Bierdeckeln in der Schublade des griechischen Wirts, die zusammen mit Ninas Traumzeichnungen den Roman illustrieren, von Traum- und Wahnbildern, die die Geschichte permanent kippen lassen. Aber wer sich gerne von wirklicher Schreib- und Erzählkunst, von Sprachmagie fesseln lassen will, ist mit dem neusten Roman aus der Feder Norbert Scheuer wunderbar bedient.

Norbert Scheuer erzählt zwar von der kleinen Welt in Kall im Urftland, aber eigentlich von den grossen Themen des Menschseins. Von Liebe und Tod, von der Sehnsucht nach Nähe und Ferne. Auf nicht einmal 200 Seiten macht Norbert Scheuer das Kleine zur grossen Bühne. Und wer in Norbert Scheuers Roman- und Erzählwelt zuhause ist, trifft sie alle wieder, die in seinen bisherigen Romanen grosse und kleine Auftritte hatten.

Nach der Lektüre schiebe ich „Mutabor“ zu all meinen Norbert-Scheuer-Schätzen in meinem Bücherregal, mit Wehmut darum, weil Norbert Scheuer so sehr mein Herz bewegte.

Norbert Scheuer liest am Dienstag, den 20. September 2022 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neuen Roman «Mutabor», obwohl im gedruckten Programm der Roman «Winterbienen» angekündigt wird.

Illustration von Erasmus Scheuer aus dem Roman «Mutabor» von Norbert Scheuer – mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, «Am Grund des Universums» (2017) und «Winterbienen» (2019), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, zum Bestseller sowie ausserdem in viele Sprachen übersetzt wurde. Er erhielt dafür den Wilhelm-Raabe-Preis 2019 und den Evangelischen Buchpreis 2020.

Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis

„Erfüllung“ ist der beklemmende Roman einer Frau, die sich in ihren verzweifelten Lieben verliert. In der Liebe zu ihrem Sohn, der Liebe zu ihrem Mann, der Liebe zu einem Land. So sehr sie um die Liebe ihres Sohnes kämpft, so sehr verliert sie die Liebe zu sich selbst.

Algier Ende der 70er Jahre; Die Französin Michèle Akli lebt mit ihrem Mann Brahim und ihrem Sohn Erwan in der algerischen Hauptstadt. Sie ist eingesperrt in ihrem Leben. Die Liebe zu ihrem Mann ist ihr verloren gegangen. Sie ist auf der Suche nach einer neuen Aufgabe. Frankreich ist weit weg und Land und Leute in Algier zeigen ihr mehr als deutlich, dass sie keine der ihrigen ist, nie eine sein wird. In ihrer Flucht in sich selbst hat sie sich zurückgezogen in das grosse Haus mit Garten und ihre alles beherrschende Liebe zu ihrem zehnjährigen Sohn. Eine Liebe, die durch eine neue Freundschaft ihres Sohnes bedroht scheint, denn Erwan hat sich mit Bruce zusammengeschlossen, einem Mädchen, gleich alt wie er, androgyn, kumpelhaft und ihr gegenüber seltsam distanziert. Michèle beobachtet und interpretiert, ist längst gefesselt in einem Strudel eingebildeter Bedrohungen, dieses kleine Mädchen, dass sich im Leben ihres Sohnes festsetzt, würde sie ausschliessen, sie die Mutter.

„Die Haut ist ein Hafen für die, die keine Heimat mehr haben.“

Nina Bouraoui «Erfüllung», Elster & Salis, 2022, aus dem Französischen von Nathalie Rouanet, 232 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-906903-19-4

„Erfüllung“ sind sieben Hefte, die Michèle in den Jahren 1977 und 1978 schreibt, Tagebücher, denen sie anvertraut, was sie niemandem sonst anvertrauen kann, von dem sie spürt, dass es sie in ihrer Existenz bedroht. Stumme Hilfeschreie einer Frau, die sich nach nichts als Liebe sehnt, deren Reste sie an allen Fronten bedroht sieht. Was zwischen ihr und ihrem Mann geblieben ist, ist Trott und Alltag. Mit ihm zog sie in dieses Land, weil es Aufbruch und Zukunft versprach, sei es als Familie oder wirtschaftlich. Aber ihr Mann ist oft unterwegs. Ist er nicht da, wünscht sie sich in seine Arme, deren Wärme sie sich erinnert. Ist er da, fürchtet sie sich vor ihm, weil das, was geblieben ist nur noch eine brüchig gewordene Insel auf brodelndem Untergrund ist. 

„Sie hat meinen Sohn ausgewählt, ich kann nichts dagegen ausrichten.“

Michèle ist verzweifelt. Ihre Verzweiflung füllt diese Hefte, das Wissen, dass nichts so bleiben wird wie im Moment der Niederschrift, diese absoluten Momente der Zweisamkeit mit ihrem Sohn, diese Geborgenheit, diese Vertrautheit. Michèle lernt die Mutter von Bruce kennen, dem Mädchen, das sich mit ihrem Sohn im Zimmer zurückzieht, das all jene Nähe zu gewinnen scheint, die ihr als Mutter weggenommen wird. Ein Mann, der ihr fremd geworden ist, ein Land, das nie das ihrige geworden ist und ein Sohn, der ihr „genommen“ wird.

„Das Gewicht der algerischen Erde lastet auf den Schultern der französischen Frauen. Es ist ein Tunnel, in dem wir herumirren und vergeblich nach einem Ausweg suchen.“

„Erfüllung“ ist beklemmend. Der Roman ist nicht einfach die Summe vieler Tagebuchaufzeichnungen, ein verzweifeltes Wühlen in Emotionen, der Sturm einer enttäuschten, bedrohten Frau. Eigentlich liebt Michèle dieses Land, das ihr verwehrt bleibt, die raue Landschaft, das Meer, die Düfte, die Farben. Eigentlich liebt Michèle ihren Mann, die Erinnerung an all das Gemeinsame, die Sehnsucht nach jener Wärme, in der sie sich geborgen fühlte, jenes Abenteuer Algerien in Angriff nahm. Sie liebt ihr Haus, den opulenten Garten. Aber nicht nur die verzweifelte Liebe zu ihrem Sohn, auch die wollüstigen Gefühle zu Catherine, der Mutter von Bruce, der Freundin ihres Sohnes, bringt sie ins Straucheln. Es ist die Orientierungslosigkeit einer Existenz, der die letzte Aufgabe genommen wird, die sich immer mehr an den Rand gedrängt fühlt, die nicht weiss, wie ihr geschieht, die nicht weiss, woran sie sich halten soll.

„Erfüllung“ ist nicht das verzweifelte Tagebuch einer Losgelassenen. „Erfüllung“ ist ein Beispiel für all jene, die sich in den Wirren ihres Lebens nach Erfüllung sehnen, die nicht akzeptieren wollen, dass jenes Bild, dass sie sich von erfüllender Liebe machten, nur Schall und Rauch sein soll. „Erfüllung“ ist in irisierenden Farben geschrieben, von überwältigender Intensität mit Sätzen, die sich in die Haut einbrennen, atmosphärisch dicht, obsessiv, in siedender Hitze geschrieben. „Erfüllung“ ist ein Buch über eine Frau, die sich verloren hat, über enttäuschte Lieben.

Nina Bouraoui, geboren 1967, ist eine der führenden französischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Algerien, mit Zwischenstationen in Zürich und Abu Dhabi, und lebt seitdem in Paris. Sie ist Preisträgerin des Prix Renaudot, Prix du Livre Inter und Prix Emmanuel Roblès, und Commandeur de l’ordre des Arts et des Lettres. Ihre Romane sind weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt. «Geiseln» wurde mit dem Prix Anaïs Nin 2020 ausgezeichnet und für den Prix des Cinq Continents nominiert. Nina Bouraoui schrieb «Geiseln» bereits 2016 – noch vor der Bürgerbewegung der Gilets jaunes und vor #MeToo – «als Hommage an die wirtschaftlichen und emotionalen Geiseln, die wir alle sind».

Nathalie Rouanet, 1966 in Frankreich geboren. Lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul. Selbstständige Übersetzerin, Veröffentlichungen in französischen und österreichischen Zeitschriften.

Beitragsbild © Patrice Normand

2. Weinfelder Buchpreis: Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits fragt das Schwein»

Katharina Alder verlieh als Initiatorin, Organisatorin und Sprecherin der Jury des 2. Weinfelder Buchpreises den mit 4000 Franken dotierten Literaturpreis an die junge Schriftstellerin Noemi Somalvico. Eine mutige Entscheidung für eine mutige Schriftstellerin mit einem mutigen Debüt.

Die fabelhafte Welt der Noemi Somalvico – Laudatio an das Gewinnerbuch «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» 

Schwein, Dachs und Gott begeben sich in Noemi Somalvicos charmantem Romandebüt gemeinsam auf Sinnsuche. Sie reisen ins Jenseits, wo sie in einem Hotel am Meer verweilen. Dort macht Schwein einen Tanzkurs, Dachs spielt Tennis und Gott verbringt viel Zeit im Bett.

Klingt kurios, oder? So erscheint einem Somalvicos falbelhafte Welt zunächst auch. Eine Fabel ist ihr Erstling Ist hier das Jenseits, fragt Schwein jedoch nicht. Obwohl Tierfiguren mit ziemlich menschlichen Eigenschaften die Erzählung tragen. Und obwohl der formale Aufbau des Romans sich durchaus für die Vermittlung von Moral eignen würde: Das schmale Buch ist in kurze Kapitel geteilt, die man auf den ersten Blick für Lektionen halten könnte. In ihnen spielen das Dreiergespann Schwein, Dachs und Gott die Hauptrollen – und noch viele weitere Tiere haben einen Auftritt, darunter das Reh, ein Fisch und ein zwielichtiger Hase.

Aber Somalvico verfällt nicht einem moralisierenden Ton. Die Lebensweisheiten, die hie und da dennoch vorkommen, wirken daher nie belehrend, sondern unkompliziert erfrischend. Wie wenn da steht: «Dem Himmel ist heute keine Farbe gelungen. Wenn es in schwierigen Zeiten auf etwas ankommt, dann aufs Licht». Mit dieser Beobachtung zeigt Somalvico ihr Talent, einen kindlichen Blick auf die Welt zu wahren – nicht naiv, sondern neugierig, unverfroren und ehrlich.

Auch nutzt sie ihre Tierfiguren nicht aus, um unsere menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen satirisch vorzuführen. Nein, die junge Schweizer Autorin begegnet ihnen stets auf Augenhöhe. Und hat dabei ein Gespür fürs Zwischenmenschliche.

Als zum Beispiel das Reh verlassen wird und sagt, dass es noch nie so traurig war, legt sich Schwein zu ihm und «sorgt dafür, dass stets ein Bein oder sein ganzer Rücken gegen Rehs Körper drückt. Reh soll wissen, dass Schwein sich nicht verschieben oder gar verschwinden wird». Und auch als Schwein lieber im Jenseits bleiben würde, obwohl es Gott dort nicht gut geht, bleibt Somalvicos Sprache feinfühlig. Dem Schwein ist halt «das Herz in den Kopf gestiegen». Aber dann stürzt es doch bei «knapp 30 Grad im Schatten» an Dachs vorbei in Gottes Hotelzimmer und weint «alle Tränen, die es in der glücklichen Jenseitswoche nicht geweint hat».

Somalvicos Werk ist also keine Fabel. Was aber nicht heisst, dass ihrer wunderlichen Welt die Moral abhanden gekommen ist. Es fällt auf, dass die Autorin ihren Figuren anerkennend und wertfrei begegnet – so bleibt zum Beispiel das Gender der Charakteren bis zum Schluss offen. Auch dem Publikum wird keine Lesart aufgezwungen. Das Büchlein lässt sich einfach geniessen, kann aber auch diskutiert werden. Etwa im Hinblick die ethische Verantwortung gegenüber anderen, Gottes Existenz oder, nun ja, Tiersymbolik.

Mit Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gelingt der Autorin also ein Balanceakt zwischen schlicht und wunderlich. Ihre literarische Welt kommt unbemüht vielschichtig, überraschend zauberhaft und doch altbekannt daher. Eine Lektüre lohnt sich für alle, die schon mal Fernweh hatten – und sich zugleich nach einem Zuhause sehnen.

Würdigung «Culturestress» von Sarah Elena Müller

Wenn man, um kurz ein Velo zu mieten, zuerst ein Abo abschliessen muss (aber zumindest noch einen Haselnussmilch-Latte dazu bekommt), wenn posttraumatische Verbitterungsstörungen in der «Post-Nüüt-Ära» überhand nehmen, wenn kleine Nager mit ihrer toxischen Mäuslichkeit hadern, oder wenn der Samichlaus vom Sonderkommando niedergerungen wird – ja spätestens dann ist man mitten im «Culturestress» angelangt. Sarah Elena Müllers Kolumnensammlung nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise durch die durchdigitalisierte, selbstoptimierte, spätkapitalistische Horrorshow, die wir unsere Gegenwart nennen. Die siebenunddreissig Kurztexte sind sprachlich treffsicher und mitreissend, es sind Kolumnen, die auch auf einer Poetry-Slam Bühne nicht fehl am Platz wären. Müllers Ton ist manchmal hässig, manchmal staunend, manchmal beissend, manchmal resigniert – immer gefühlt am Rand der Klippe, immer so lustig wie abgründig: «Du chasch no dis PhD mache, aber d Welt gaht unter. Du chasch no öppis publiziere, bi me Verlag, vilich chasch du das, aber d Welt gaht unter.» Wir freuen uns trotzdem auf ihren ersten Roman, der nächstes Jahr erscheinen wird.

Würdigung «Die Dinge beim Namen» von Rebekka Salm

Gleich im ersten Kapitel versucht sich ‘der Vollenweider’ als Autor. Endlich will er «die Wahrheit» über den unheilvollen Unterhaltungsabend im Jahr 1984 veröffentlichen – mit dem Ziel vor Augen, «die Dinge beim Namen zu nennen». Die Leerstelle in Rebekka Salms Romantitel Die Dinge beim Namen weist aber darauf hin, dass sich ihre Erzählweise deutlich von der ihrer Figur unterscheidet. Sie will in ihrem Roman nicht einfach be-nennen, von einer einzigen Wahrheit zu sprechen liegt dem Text fern. Stattdessen kommen die Figuren selbst zu Wort: Aus der Perspektive von zwölf Bewohner:innen wird die Geschichte eines Dorfes geschildert. Zusammengehalten werden diese unterschiedlichen Erzählstränge von jenem Abend im Jahr 1984, um den der Text kreist. Man erfährt von den allgegenwärtigen Träumen, der Beengung des Dorfes zu entkommen, von falschen Entscheidungen mitsamt deren Auswirkungen auf die Bewohner:innen und das Zusammenleben und vor allem von den Geschichten und den Gerüchten, die im Dorf die Runde machen. Mit seinem polyphonen Aufbau zeigt Rebekka Salms Roman, dass es eben doch nicht nur eine Geschichte ist, die sich über dieses Dorf, über den Unterhaltungsabend und über einen vermeintlichen Zuckerrübendiebstahl erzählen lässt, ganz im Gegenteil: Die verschiedenen Perspektiven ergänzen und korrigieren sich, sie widersprechen einander und ergeben zusammen doch ein kohärentes Bild. Nicht nur ist dies geschickt erzählt, sind die einzelnen Figurenperspektiven gelungen zusammengefügt, es macht auch Spass, diesen Text zu lesen.

Würdigung «Gegen Gewicht» von Andri Bänziger

Andri Bänzigers Erstling «Gegen Gewicht» besticht durch seine Leichtigkeit, mit der er sich durch schwere Themen manövriert. Den Brocken Depression, Psychose und Behinderung nimmt sich der Roman mit einer unaufgeregten, geschmeidigen Sprache und einer genauen Schilderung der Figuren an. Die viel gelesene Erzählung von Beziehung, Familie und sich später einschleichenden Problemen stellt er dabei auf den Kopf. Hier ist zuerst alles schwer und wird später leicht. Diese Umkehrung ist erfrischend, weil neu. Die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Tochter gestaltet sich zunächst schwierig. Da ist ein Kind, das purer «Rock» ist – keine Konvention kennt und nichts und niemandem gehorcht. Und da ist eine Frau, die eine zynisch-distanzierte Haltung hat, sogar wenn sie sieht, wie ihr Kind nicht in diese Welt passt. Als Lesende muss man dem beleidigenden, zuweilen aggressiven Verhalten der Tochter zuschauen, Wut und Fremdschämen inbegriffen. Dass man diese Gefühle nicht mit der Mutter teilt, ist umso befremdender. Sie sagt von sich, dass sie eine Mauer aufgebaut hatte, um ihre jahrelang angestauten Probleme zu verdrängen. Der Tochter gelingt es schliesslich, diese Mauer niederzureissen. Dass hinter einer gefallenen Mauer nicht nur Leichtes, sondern auch noch mehr Schweres zum Vorschein kommen kann, blendet der Roman aus. Nichtsdestotrotz birgt er auf vielen Ebenen – wie der der Figuren und der Sprache – Potenzial und wirft die Lesenden auf ihr eigenes Verstehen von (Ab-)Normalität zurück.

Würdigung „Vom Onkel“ Rebecca Gisler

In Rebecca Gislers Roman „Vom Onkel“ bestimmen die Marotten eines Onkels den Alltag: Am liebsten schaut er die blutrünstigsten Horrorfilme, verschlingt Berge an Wurstbroten und Keksen und leert kanisterweise Bier und Limonade. Der Blick der Autorin auf ihren Helden aber bleibt stets von einer faszinierenden und vorallem auch schillernden Präzision: Dieser Onkel ist naiv, kindlich, kindisch, komisch, tragisch, traurig, unberechenbar, auch animalisch, bedrohlich, erhaben und noch vieles mehr. So wie die Sprache an diesem Sonderling (oder Sonderding?) immer wieder abgleiten muss, so unangepasst ist der Onkel auch sozial. Unter der mitziehenden Komik des Skurrilen also verstecken sich durchaus auch neuralgische Punkte einer latenten Gesellschaftskritik. Man könnte sogar sagen, eine gnadenlos irdisch-materialistische Ökonomie prägt den Roman. Was nämlich in den Körper des Onkels eintritt, das sammelt sich in ihm an oder es wird ihn auch wieder verlassen müssen. Rebecca Gisler gelingt eine ausdrucksstarke, aufdeckende und somit treffende und aktuelle Groteske, die unser Bedürfnis nach Konformität und klinischem Oberflächenglanz herausfordert. Zum Lesen ist das unbedingt reizend – und zwar bewusst auch im Sinne einer lästigen Hautstelle, die weiterhin juckt, egal wie oft man sie noch kratzen wird. 

Rezension Preisträgerbuch von Aline Tettamanti 

Rezension Preisträgerbuch von Caterina John