Jenny Hval «Perlenbrauerei», März Verlag

Aufgehoben im Sündenfall

Im Roman der norwegischen Musikerin Jenny Hval verschimmelt das Paradies. Inmitten vergammelter Früchte erblüht eine queere Liebesgeschichte, in der die Verführung zu Selbstermächtigung und sexuellem Erwachen führt.

Gastbeitrag von Céline Burget
Céline Burget studiert Deutsche Philologie und Englisch an der Universität Basel. Als begeisterte Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Lektorieren von Beiträgen und schätzt jede Gelegenheiten, selber Texte zu verfassen.

Der im vergangenen Jahr wieder auferstandene März-Verlag hat mit seinem antiautoritär und feministisch ausgerichteten Frühjahrsprogramm wieder auf sich aufmerksam gemacht. Barbara Kalender und der neu als Verleger eingesetzte Richard Stoiber haben sich passend zum 53. Jubiläum dazu entschieden, den legendären Verlag in alter Tradition fortzuführen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Neuauflage von Valerie Solanas’ «Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer», auch das Debüt von Jenny Hval ist mit seinen fiebertraumartigen, erotischen Szenen ein Höhepunkt des Programms. In «Perlenbrauerei» sind es allerdings nicht nur Männer, die vernichtet werden: Die Autorin nimmt sich den Sündenfall vor und lässt ganz Garten Eden verrotten.

Hval erzählt die Geschichte der norwegischen Austauschstudentin Johanna, die auf der Suche nach einer Unterkunft durch das fiktive Ayebourne irrt. Sie verliert sich in den engen Strassen der fremden Stadt, die ihr abgeriegelt wie eine Kiste ohne Deckel erscheint. Erleichtert entdeckt sie die Anzeige der etwas älteren Carral und entschliesst sich dazu, das freie Zimmer in einer ehemaligen Brauerei zu beziehen. Durch die Wände der renovierten Halle hört Jo sämtliche Geräusche ihrer Mitbewohnerin. So entstehen Szenen, in denen die Frauen sich beim Gang auf die Toilette belauschen. Und auch die Körpergerüche verbreiten sich in der ganzen Wohnung – die papierdünnen Spanplatten erlauben keine Privatsphäre.

Jenny Hval «Perlenbrauerei», aus dem Norwegischen von Rahel Schöppenthau, und Anna Schiemangk, März Verlag, 166 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-7550-0003-7

Ein ähnlicher Eindruck entsteht beim Lesen dieser Schilderungen: Es wird einem, als ob sich der Gestank vom Papier löste und man ihn selber riechen könne. Solche Grenzüberschreitungen sind durchaus gewollt und werden von der Autorin durch alle Ebenen des Roman gezogen. Allmählich beginnt Jo die Bewegungen von Carral nachzuahmen, spürt ihren Schmerz und ihre Erregung, fühlt wie sich ihre Körper synchronisieren. Und während sich die zwei Frauen einander annähern, beginnt die Wohnung selber zu wuchern: Gras drängt sich zwischen den Bodenbrettern hindurch, Pilze und Moos wachsen an den Wänden. Da lässt sich immer weniger zwischen Realität und Traum unterscheiden – bis sich alles zu einem Geflecht verbindet.

 Mit Metaphern aus der Natur und biblischen Motiven evoziert Hval eine zunehmend beklemmende und mystische Stimmung. Neben Äpfeln und Schlangen ist es vor allem die ehemalige Brauerei, die an die Geschichte vom Sündenfall denken lässt. Auch Carral und Jo vergleichen die Wohnung spöttisch mit dem Garten Eden: Sieht das hier aus wie das Paradies, oder was? Tatsächlich stellt man sich das Paradies wohl eher anders vor. Die Wohnung ist kein Garten mit reifen Früchten und idyllischen Lichtungen: Es fühlte sich an, als ob die Brauerei in einen grossen, nassen Tank verwandelt worden war, der darauf wartete, dass Carral und ich zu verwesen begannen: Ein verfaulter und stinkender Garten Eden.

Eindringlich beschreibt die Autorin das Verrotten der Wohnung. Wie sich in dieser modrigen Umgebung eine Liebesgeschichte entspinnen soll, scheint zunächst schwer nachvollziehbar. Doch es ist eine Erotik der Verschmelzung, die Hval inmitten des Vergehens überzeugend ins Bild setzt. Jo und Carral verwachsen wie ein Netzwerk von Pilzen, durchdringen einander wie die Äste eines Baumes: Dann braust es durch mich hindurch, ihre Stiele und Finger und Adern breiten sich durch meinen ganzen Körper aus wie ein neues, weiches Skelett. Wenn die Frauen gemeinsam im Bett liegen und Carral dabei die Kontrolle über ihre Blase verliert und uriniert, legt Hval in ihre Beschreibung einen sinnlichen Unterton: Ein dünner, warmer Strahl rieselte von Carrals Körper gegen meinen Oberschenkel. Doch Jo ekelt sich nicht etwa vor den Körperflüssigkeiten von Carral; für sie sind sie Ausdruck von Nähe und Intimität.

Das von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk erstmals ins Deutsche übertragene Debüt unterläuft klug die Motive der verhängnisvollen weiblichen Verführung und der verbotenen Lust. Wir begegnen in einer der Programmperlen des wieder belebten März-Verlags zwei Menschen, die sich begehren, die sich gegenseitig probieren. Erst die Erfahrung der Verschmelzung, ob phantasiert oder wach erlebt, erlaubt es Jo, ihre Sexualität zu entdecken. Das Verderben schafft so die Grundlage für organisches Wachstum und Selbstermächtigung. Denn nur wenn die Lasten des Sündenfalls überwunden sind, kann wirklich Neues entstehen. Oder wie Jo sagt: Ich sah mich selbst nach dem Sündenfall aufräumen.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Jenny Hval, geboren 1980 in Oslo, hat Kreatives Schreiben und Performance in Melbourne, Australien studiert. 2006 ist ihre erste EP «Cigars» erschienen. Seither hat Jenny Hval fast ein Dutzend Platten aufgenommen, die mit allen wichtigen nordischen Musikpreisen ausgezeichnet wurden. «Perlenbrauerei» ist ihr erster Roman, der von der norwegischen und englischsprachigen Presse gleichermassen gefeiert wurde.

Rahel Schöppenthau, geboren 1989 in Berlin, studierte Skandinavistik an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als Schauspielerin und realisiert eigene Kunstprojekte.
Anna Schiemangk, geboren 1992 in Berlin, studierte Skandinavistik und Nordeuropastudien in Berlin, wo sie heute als Texterin arbeitet.

Webseite der Jenny Hval

Beitragsbild © Baard Henriksen