Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.
Gastbeitrag von Thomas Kunst Schriftsteller, Dichter,Kleist-Preiträger
„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.
Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.
Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.
„…Bei der Klinke. In der Schublade. Mit einem Taschentuch in der Hand. In der Hand. Im Zimmer die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger neben dem Bett. Neben dem Bett. Im Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett. Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer In dem Bett…“
Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6
Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“
Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.
Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.
Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher.
„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)
Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).
Wie fragil die Welt eines Vierzehnjährigen ist, wie leicht sie kippen kann und wie sehr Bindungen in dieser Zeit lebensentscheidend sind, davon erzählt Michael Köhlmeier in seinem Buch, das vielfach überrascht.
Frank lebt mit seiner Mutter ein gut eingerichetes Leben in Wien. Seine Mutter ist Schneiderin an der Wiener Volksoper, seit Frank grösser ist, auch einmal abends zur Arbeit weg, manchmal auch noch länger, weil sie das Danach mit der Truppe so mag und weil sie nicht fürchten muss, Frank würde darunter leiden. Sie sind gut eingespielt. Jeden Mittwoch kocht Frank. Nicht weil er muss, sondern weil er das Kochen mag. Und weil Mutter ihn dafür lobt. Sie loben sich gegenseitig. Keine der problematischen Beziehungen. Mehr Probleme hat Frank in der Schule.
Aber ein tatsächliches Problem taucht ganz am Ende der langen Ferien auf. Man informiert Frank und seine Mutter, dass Franks Grossvater nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und bis für diesen ein eigenes Zuhause gefunden werden kann, quartiert man ihn bei seiner Tochter, seinem Enkel ein. Frank weiss von seinem Grossvater. Als er noch klein war, hatte man ihn noch zu Besuchen im Gefängnis mitgenommen. Aber der Grossvater war immer im Gefängnis, bis zu dem Tag, als er sich in der Küche bei ihm und seiner Mutter einnistet und wieder nur sitzt, wartet, raucht und Nachrichten aus seinem kleinen Radio hört.
Michael Köhlmeier «Frankie», Hanser, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27618-5
Eine kleine Welt bricht aus den Fugen. Da hilft auch das „Frankie“ nicht, mit dem der plötzlich anwesende Grossvater den Schlüssel zu seinem Enkel sucht. So sehr der Grossvater zuvor nur eine stille Ahnung war, wird er mit einem Mal zu einem tatsächlich anwesenden Geist, der alles durchsetzt. Frank ist gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Verunsichert darum, weil sich dieser Mann in seinem Leben festkrallt, die Mutter verängstigt und ihre Leben auf den Kopf stellt. Fasziniert, weil da einer so ganz anders zu ticken scheint, als der Rest der Welt.
Das Erstaunliche an dem Roman ist, dass er sich nicht um die Gründe schert, warum der alte Mann, der nicht Opa genannt werden will, von dem Frank erst jetzt seinen Vornamen erfährt, insgesamt mehr als ein Viertel Jahrhundert in Gefängnissen sass, was die Gründe waren für seine letzten 18 Jahre Haft. Michael Köhlmeier interessiert sich für das, was zwischen dem Alten und dem Jungen passiert. Man sucht sich seine Eltern und Grosseltern nicht aus. Familien sind Schicksalsgemeinschaften, denen man in Wahrheit nicht entfliehen kann. Es sind zwei Gestirne, die umeinander kreisen.
Michael Köhlmeier erzählt aus der Perspektive des Vierzehnjährigen, von einem, der glaubt, das Leben doch schon recht gut im Griff zu haben, auch wenn sich sein kleines Glück in Tat und Wahrheit bloss in der kleinen Wohnung zusammen mit seiner Mutter abspielt. Da taucht einer auf, der sich nicht um Regeln kümmert, einer, der nichts mehr zu verlieren hat, aber vielleicht jemanden, der ein Stück von ihm weiterträgt. So wie Frank ganz am Anfang seiner Selbstständigkeit steht, so ahne ich als Leser, dass dieser alte Mann an seinem Ende steht, keine Lust mehr verspürt, sich durch irgendetwas oder irgendjemanden einsperren, eingrenzen, fesseln zu lassen.
Michael Köhlmeier konstruiert eine Geschichte, in der ich mit angehaltenem Atem zusehen muss, wie Frank im Strudel der Geschehnisse aus seiner empfänglichen Jugend in einen Sturm hineingerissen wird, in dem er sich selbst zu verlieren droht. „Frankie“ ist ein Roman, der viel mehr Fragen hinterlässt, als erzählte Antworten gibt. Das ist als Leser oder Leserin auszuhalten und führt vor, dass dieser Roman trotz seines jugendlichen Sounds alles andere als ein Jugendroman ist. Überhaupt gelingt es Michael Köhlmeier erstaunlich gut, den Ton eines etwas altklugen Jungen zu treffen, der sich in der Schwerelosigkeit der Adoleszenz zu orientieren versucht.
Fesselnd und vielfach überraschend!
Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Er hat Romane, Gedichte und Kinderbücher veröffentlicht. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis. Seit 1981 ist Michael Köhlmeier verheiratet mit der Schriftstellerin Monika Helfer.
Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von einem Stammgast im Literaturhaus Thurgau, „meinem Literaturhaus“. Vorauszuschicken ist, dass ich nur ganz selten schriftliche Reaktionen auf die von mir organisierten Lesungen erhalte. Unter den seltenen finden sich von grossem Zuspruch bis direkter, unverblümter Kritik alles. Das riskiere ich gerne, zumal ich nicht nur die grossen Namen einlade. Aber die Mail letzthin beschäftige mich doch etwas mehr: „Der Stoff … eine super Idee, geradezu kafkaesk, aber die Sprache sehr enttäuschend, auf Niveau Trivialliteratur, also wenig kunstvoll, wenig originell, wenig geistreich. Ist das wirklich gute (hohe) Literatur? Ich habe meine Zweifel.“
Bei den fünf Nominierten bin ich mir sicher, dass sie viel mehr sind als trivial. Auch wenn dahingestellt ist, dass „trivial“ ein schlechter Stempel sein muss. Was macht „hohe“ Literatur aus? Gibt es Anhaltspunkte, woran man gute Literatur erkennt? Ich habe alle Nominierten um ein kurzes Statement gefragt, was für sie „gute Literatur“ ist. Sarah Elena Müller, die Autorin von „Bild ohne Mädchen“, schrieb: „Gute Literatur ist für mich erweiterte Erfahrung, und Erfahrung ist dann wertvoll, wenn sie über das Gute und Schlechte hinausweist, in einen Raum führt, wo Sicherheit nicht durch Kategorien, sondern durch Verschränkung hergestellt wird.“ Ein erstaunliches Statement schon deshalb, weil es weit über formale und sprachliche Massstäbe hinausweist und bewusst macht, wieviel mehr Literatur sein kann und muss, als blosse Unterhaltung.
Sarah Elena Müllers Roman macht ihr Statement mehr als deutlich. Ich mag an diesem Buch die Provokation, sei sie thematisch, inhlatlich oder sprachlich. Der Text knirscht zwischen den Zähnen und will alles andere als flutschen. Aber natürlich gibt es viele Leserinnen und Leser, die sich mit ihrer Lektüre nicht in unsicheres Terrain wagen wollen. Ich erinnere mich an einen Freund, der meinte, er hätte in seiner Freizeit keine Lust, sich mit „fremden“ Problemen herumzuschlagen.
Liebe Grüsse und knirschende Lektüre!
Gallus
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Lieber Gallus
Apropos «Knirschen» in der Literatur: Dank deinem Besuch in unserer Buchhandlung letzte Woche war und bin ich gerade in grossartiger, sinnlicher und nicht knirschender Literatur unterwegs.
Dein Tipp Maja Haderlap! Nach eurem Verlassen des Bücherladens hatte ich etwas Zeit und begann «Nachtfrauen» zu lesen, war sofort mit der Protagonistin Mira in Kärnten unterwegs und wurde durch eintretende Kunden arg aufgeschreckt! Was für eindringliche wortgewaltige Sätze! Diese Literatur macht süchtig! Gut, dass die Autorin nicht jedes Jahr ein Buch schreibt!
«Sie war auf einmal voll Schlaf, in dem verschwommen ihre Kindheit lag, verstellt von den Jahren, die sich dazwischen geschoben hatten. Mira war es, als glitte sie in einen Traum, den sie stets von neuem träumte, in der Hoffnung, dass er endlich aufhörte…. So schnell konnte sie gar nicht denken, wie sie von den Gerüchen und Schattierungen der Kindheitsgegend erfasst und mitgerissen wurde.»
Diese Sätze knirschen nicht, sie duften!
Was zeichnet gute Literatur aus? fragst du. Wie Sarah Müller dir geantwortet hat, geniesse auch ich es, beim Lesen in einen unbekannten Raum, in eine unbegrenzte Zeit geführt zu werden, wo mir Gewagtes, Unerwartetes, Einzigartiges, Schockierendes oder auch Trauriges begegnen. So entstehen eindrückliche Bilder in mir, anstelle von Farben mit Worten gemalt, menschliches Sein in seinen bunten Facetten.
Für mich darf es «Knirschen», wenn es zum Inhalt passt. Ich liebe besonderssinnliche, duftende, winddurchwehte Texte, Spiegelungen in Raum und Zeit.
Beispiele sind: «Die Welt, die es noch nicht gibt und die, die in der von Danijel erzählten Geschichte vor unseren Augen entstehen wird, ist von einer Stille vom Himmel zur Erde durchdrungen. In diese Welt kommt eine Geschichte, die auf so festen Fundamenten wie der Erinnerung und der Phantasie eines Kindes beruht.» («Als die Welt entstand» von Drago Jancar)
Und: «Als der Morgen über der Stadt erwachte, erwachte er tief in den Häusern, und nichts drang bislang heraus auf die Gassen und Plätze. Der Zug stürmte aus der Nacht herbei, und stürzte sich in den entstehenden Tag, rasch wird er den Mittag umfahren und sich in den Nachmittag neigen. Die Strecke zog sich teuflisch hin.» («Die Verweigerung der Wehmut» von Florjan Lipus)
Sprachlich und inhaltlich unterschiedlich ist das für mich Literatur von starker Ausdruckskraft und eigenständigem Charakter. Dies macht meines Erachtens ihre hohe Qualität aus. Sofort entsteht ein unvergleichlicher Raum, eine packende Atmosphäre. Dies setzt voraus, dass ich ein Buch nicht nur zur Entspannung lese, sondern mich offen auf die Reise zum Kern des Werkes aufmache.
Seit ich als Hausarzt pensioniert bin, kann ich neben der aktuellen Belletristikauch von mir noch nicht gelesene Klassiker wie «Der grüne Heinrich» (Gottfried Keller) oder «Der Jüngling» (Dostojewskij), um nur zwei Beispiele zu nennen besser geniessen, da ich auch tags lesen kann.
Nun sind wir vom Schweizer Buchpreis abgekommen, der Auftritt von Demian Lienhards «Mr.Goebbels Jazz Band» muss noch etwas warten, ich bin sehr gespannt, ob dieses Buch fetzt und grooved!
Ich freue mich auf unsere baldige Begegnung, wo Lyrik uns möglicherweise verwirren und anregen wird!
Wie jedes Jahr sucht literaturblatt.ch Advents- und Weihnachtsgeschichten. Die besten Einsendungen werden im Dezember auf literaturblatt.ch und gegenzauber.literaturblatt.ch veröffentlicht. literaturblatt.ch garantiert keine Veröffentlichung, gibt auch kein Feedback zum eingesandten Text.
Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.
„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert.
„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.
Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7
Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.
„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“
Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.
Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?
„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.
Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter.
… und schön, dass der kleine Traditionsverlag «Zytglogge» als Rennstall mit von der Partie ist!
Interview
„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern? An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum. Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives.
Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen? Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt. Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.
Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel? Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.
Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren? Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.
Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen? Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an. Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt.
Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe.
Jochen Kelters Dichtung, sein neustes Buch „Verwehtes Jahrhundert“, erschienen im Caracol Verlag, als Lyrik zu bezeichnen, wird dann seiner Dichtung nicht gerecht, wenn man unter Lyrik jenen weichgezeichneten, verklärten Blick eines Entrückten versteht.
Jochen Kelters Lyrik ist alles andere als verklärt und weltentrückt, sondern kämpferisch, manchmal scharf, sonnenklar und ganz und gar nicht altersmilde. Jochen Kelter ist kein Mann der leisen Töne, auch wenn in diesem Band Gedichte zu finden sind, die wie zarte Lieder einen liebenden Blick verraten. Gedichte, die man am liebsten mit Farben an die Wand schreiben würde, um sie beim Aufstehen in einen neuen Tag als erstes zu lesen. Gedichte, die mich beflügeln!
„Verwehtes Jahrhundert“ – einen stimmigeren Titel wird es für den neuen Gedichtband kaum geben können. In den bündig vorgetragenen Zeilen werden mindestens hundert Jahre sichtbar, und diese Zeiten wehen tatsächlich herbei. Manchmal blitzen sogar weit entfernte Vergangenheiten auf. Daneben zeigt sich überraschend die jüngste Gegenwart, zum Beispiel mit der Pandemie, die jedem noch in den Knochen sitzt, was derzeit mit einer erstaunlichen Emsigkeit gerne überspielt wird. Aber Kelter beleuchtet die irritierende Ruhe und Stille dieser Jahre. Er zeigt die beinahe stehengebliebene Zeit. Zsuzsanna Gahse
Wetterleuchten Am schwarzen Nachthimmel immer wieder das entfernte Leuchten des zuckenden gelben Lichts und dichte Vorhänge schweren Regens undurchdringliche Wände aus Wasser die strömen und strömen unsichtbar rauschen du bist noch immer nicht auf den Grund deiner Seele gelangt undurchschaubar fließendes Selbst das dir zuraunt die Nacht der Regen die Wasser sind nicht von Dauer sie vergehen wir sind noch lange nicht auf den Grund unserer Geschichte gekommen
Jochen Kelter kann wie kaum ein anderer poltern, den Finger in die Wunde legen. Er zeigt sich kämpferisch und widerborstig, streitlustig und unversöhnlich. Er wühlt im brutalen Geschehen der Gegenwart, erinnert an Vergangenheiten, von denen andere nur vergessen wollen, rüttelt an unserer Bewegungslosigkeit. Das reisst mitunter an der Seele und zeigt, dass der Dichter sich mit Vielem sprachlich anzulegen weiss und nicht zurückhält, wo andere nur die Stirn in Falten legen.
Jochen Kelter sieht keinen Frieden, wo sich das Grauen offenbart, sei es im Klaren oder im Verborgenen, im Kleinen oder im Grossen. Und doch geht es dem Dichter nicht darum, seinen Weltschmerz auszubreiten. Jochen Kelter ist grosser Stilist, jung und spritzig geblieben in der Art wie er nach der Musik in seiner Sprache sucht. Da ist nichts antiquiert oder verstaubt.
Jochen Kelter „Verwehtes Jahrhundert“, Caracol, 2023, 136 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-907296-27-1
Seine Gedichte sind Geschichten. Zsuzsanna Gahse, die den Abend freundschaftlich moderierte, bezeichnete viele seiner Gedichte als Romanminiaturen, Kurztexte, die ganze Geschichten erzählen, eingänglich, mit Schwung und dem untrüglichen Gefühl für die sprachliche Einheit.
Verwehter Traum Wie schnell wir vom Tonband auf CDs und USB-Sticks umgestiegen sind wir haben es nicht einmal bemerkt wie schnell die Menschheit von einem Krieg in den nächsten gestiegen ist wir haben es längst schon vergessen
In meinem Traum stehst du auf einer hellen Wiese mit offenem Haar weißhohem Blusenkragen die spitzen Schuhe ineinander auseinander gekehrt ich spüre du willst mir rückhaltlos gut wir sind eins aus ganzer Seele
Wie schnell wir von der Jugend ins Alter steigen du bleibst mir unendlich jung wie wir von Menschen und Kriegen überholt werden wie von einem Weltsystem zum nächsten Leichtsinn und Leid drehen sich ohne uns um
Und um wir aber bleiben jung und also verschwinden wir nach und nach vor uns selbst bleiben zurück als Schemen derer die wir einmal gewesen sind und also ratlos im Spiegel vor unserem eigenen Angesicht
Dass sich mit Zsuzsanna Gahse und Jochen Kelter zwei Schwergewichte über Dichtung und Wahrheit unterhielten, zwei, die mit diesem Haus ganz tief verbunden sind, garantierte einen vielstimmigen, spannenden Abend.
Postboten Lautlos rollen sie auf ihren Elektrorädern heran vollgepackt vor dem Lenker vollgepackt der Karren hinter ihnen manchmal sehe ich ihre Ankunft durchs Fenster Achmed stammt aus Bagdad am Tigris Karim ist aus dem steinigen Kabul Lejla kam aus dem bergigen Sarajevo ich öffne das Fenster und rufe was gibt’s Neues? Nichts Besonderes was macht das Wetter? Na ja so lala und wie geht es daheim? Ach wie immer – nichts Neues so erleben wir die Fremden der Welt und unsere Kriege vor der eigenen Türe
Jochen Kelter ist 1946 in Köln geboren. Studium der Romanistik und Germanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz. Lebt seit 50 Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees in Ermatingen (von 1993 bis 2014 zudem in Paris). Lyriker, Erzähler, Essayist. 1988 bis 2001 war er Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände, und von 2002 bis 2010 Präsident der Schweizer Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Jochen Kelter hat Lyrik aus dem Italienischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt.
Seltsam leicht der fledermausflug glücklich wer sie flattern sieht über die balkonkante durchs vogelhaus bricht dämmerung du bist ein stern geworden über dir himmel tinten blau buchstabiere die rätsel neu und die zeichen des grossen bärs
frozen yoghurt
ein herz wie gefrorenes yoghurt tapfer lächelt die vekäuferin ringt eine freundlichkeit nieder und sieht plötzlich alt aus im halben gesicht sie trägt plastik handschuhe gut signalisiert die zwei meter marken zum vorrücken mit korb oder einkaufswagen eine kundin drängelt jugendbonus im rock argwöhnischer blick wie gefrorenes yoghurt wer hat’s wer kriegt’s wen nimmt’s angst essen seelen auf
Postkarte
ich hatte lange geschlafen mit rilke unter dem kopfkissen doch als ich erwachte war er weg und grüsste mich aus dem wallis mit einer postkarte sei erde jetzt demütig sei schrieb er was ich mir gern zu herzen nahm dann wandte ich mich nach osten
Aufräumen
man räumt auf macht sauberen tisch etwas fällt darunter vielleicht man selbst man schliesst ab die alte Sache das konto rennt man führt name um name der vergessenheit zu bleibt auf der strecke gerät ins hintertreffen
da ein sauberer tisch voller spuren gekritzel magische zeichen eingekerbt
ameisenlaufen in den händen irgendwo lauert ein chaos
Hans Gysi «pocket songs», Edition 8, 144 Seiten, CHF ca. 20.00, ISBN 978-3-85990-168-1
Hans Gysi ist 1953 in Arosa geboren und aufgewachsen. Schulen und Ausbildung hat er in Arosa, Schiers und an der Uni Zürich gemacht. 1976 Sek.-Lehrer Phil I. Von 1982-85 Schauspielakademie Zürich. Seit 1985 zwei Jahre als Schauspieler tätig beim Kitz und später freischaffend als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge und Autor mit verschiedenen Theatergruppen (Theater Katerland; Theater Zwei- Ge, Bilitz). Hat den Förderpreis des Kantons Thurgau erhalten, einen Werkpreis der Pro Helvetia und einen Förderpreis des Kuratoriums Aargau. Den Rilkepreis für das Buch «pocket songs» im Verlag edition 8. Lebt in Kreuzlingen Thurgau. Verheiratet. Vater von drei Kindern. Seit Januar 04 leitet er das theaterbureau, das kleinste Theater im Kanton Thurgau in Märstetten.
Wird die Schweiz schon als kleines Land mit grosser Vielfalt bezeichnet, so trifft dies noch mehr auf das im Vergleich nur halb so grosse Slowenien zu. Es treffen dort drei grosse Ökosysteme aufeinander: die Pannonische Tiefebene, die Alpen und das Mittelmeer, was zu grosser Vielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt führt … und auch bei der Kulinarik!
Die kleinen, aber feinen Literaturtage in Zofingen suchen sich jeweils jenes Land aus, das an der Frankfurter Buchmesse Gastland ist. Slowenien, mit rund zwei Millionen Einwohnern, ist nicht nur landschaftlich vielfältig, sondern auch in seiner Literaturlandschaft. Ein Land, das literarisch mit Sicherheit zu entdecken ist.
Zwar ist die Amtssprache Slowenisch, doch die Einflüsse der angrenzenden Länder mit romanischen, germanischen und finnougrischen Sprachen beeinflussen die Kommunikation stark, und so sind fast alle slowenischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller mehrsprachig. Da drängt sich die Frage auf, wie viel Europa man in Slowenien finden kann, und wir hoffen, dass uns Helmut Luther hierauf eine Antwort geben kann. Spannend ist auch, wie sich das lyrische Schaffen dieser beiden Länder zeigt. Antworten gibt der slowenisch-schweizerische Feldversuch mit Roger Perret und Aleš Šteger. Letzterer verzaubert uns zudem zusammen mit Jure Tori am Akkordeon am Samstagabend mit einer Lyrikperformance.
Auf die Zeiten des Umbruchs in Slowenien gehen wir in der Podiumsdiskussion «Geschichten vom Balkan» ein und der grosse Drago Jančar wird sich zum Abschluss des Festivals mit dem Slowenien der 50er-Jahre auseinandersetzen.
Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Ingeborg-Bachmannpreis, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, als hätten sich Gewalt und Kampf danach mit infernalem Grinsen gegen sie, ihr Volk, ihr Land, den Glauben an Menschlichkeit und die Kraft der Kunst gerichtet.
Dass die ukrainische Schriftstellerin die Einladung annahm, im Sommer 2023 das Wettlesen in Klagenfurt mit einer Rede zu eröffnen, ist ebenso mutig wie bewundernswert. Eine Veranstaltung zu eröffnen, die das eben Gesagte, das, was Tanja Maljartschuk nach Klagenfurt mitbrachte, postwendend wieder zu einer Nebensache macht, in der Texte und ihre ErschafferInnen ebenso im Rampenlicht stehen wie KritikerInnen, die sich zwischen Selbstinszenierung und Profilierung bewegen. Dass die Autorin angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sich in ihrem Land, in ihrem Freundeskreis, ihrer Familie abspielen, überhaupt noch Worte findet, treibt zumindest mir, der ich in meiner Bibliothek diesen Text schreibe und meine kleine Welt wohl geordnet sehe, Schamesröte in den Kopf.
«Ich betrachte mich selbst als eine gebrochene Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – noch viel schlimmer – in die Sprache verloren hat.»Wenn das eine Schriftstellerin vor Publikum offenbart, eine Frau, die der Sprache ihr Glück, ihr Sein zu verdanken hat, ist ermesslich, was dieser Krieg mit all jenen anrichtet, die sehenden Auges miterleben müssen, dass ein Krieg nicht einfach ein Schauplatz irgendwo ist, dass Detonationen der Bomben, das Zischen der Kugeln, das Rasseln der Panzer mitten im eigenen Herz stattfindet mit dem Wissen, dass das eigene Leben niemals ausreichen wird, um die offenen Wunden vernarben zu lassen.
Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge, mit Linolschnitten von Valentyna Pelykh, 2023, 32 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-7084-0686-2
Tanja Maljartschuk erzählt, wie sie zu Beginn des russischen Vernichtungskriegs an einem Roman schrieb, einem Roman, der für immer unvollendet bleiben werde, so die Autorin. Ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust in der Ukraine. Verständlich! Wie soll man sich mit etwas final auseinandersetzen, das noch immer geschieht; eine Vernichtung. In jenem Dorf, in dem sie aufwuchs, geschah gegen Ende des Weltkriegs ein schauerliches Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Nichts und niemand schien sich mehr daran zu erinnern, auch ihre eigene Familie nicht. Und nun dieser Krieg gegen Zivilisten, gegen Mütter und ihre Kinder, alte Leute. Ein Krieg, der sich für viele Europäer nur in der Brieftasche und auf Bildschirmen abspielt. Ein Krieg, mit dem sich Betroffene nicht einfach auseinandersetzen können, als wäre es ein Objekt, das man schriebend umkreisen könnte.
Die Sprache ist alles, was Tanja Maljartschuk hat. Und der Krieg macht sie mehr und mehr sprachlos, hat ihr das Vertrauen in das Gute der Sprache vernichtet, nicht bloss genommen. Sie schreibt. Die Sprache ist ihre Stimme. Die genau gleiche Sprache, mit der andere Soldaten in den Krieg peitschen, mit der Politiker und Generäle lügen, mit der man Millionen Russinnen und Russen blendet und im verbalen Dauerfeuer zur gefügigen Masse macht. Die selbe Sprache, mit der man Gedichte schreibt.
Das schmale Büchlein mit den Linolschnitten von Valentyna Pelykh endet mit einem hoffnungsvollen Zitat von Ingeborg Bachmann, dass einst ein Tag komme, an dem die Hände der Menschen begabt sein werden für die Liebe und […] für die Güte – ein Tag der den Menschen verheisst sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter Wasser gehen, […] sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben.
Grafiken: Valentyna Pelykh, Gesichter von Ukrainern, die durch russische Raketen und Geschosse verletzt wurden, Linolschnitte, 2023. Die Schnitte basieren auf Fotos von Danil Pavlov aus dem Reporters-Projekt Patched Up Souls. https://reporters.media/en/patched-up-souls/
Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmässig Kolumnen und lebt in Wien.
Peter Höner, gerade eben höchst engagiert als Schauspieler mit dem Stück „Brennende Geduld“ auf dem Greuterhof, schreibt seit mehr als dreissig Jahren Theaterstücke, Hörspiele, Romane und Reportagen und betreibt mit seiner Frau Michèle Minelli, Schrifstellerin und zukünftige Kuratorin des Literaturhauses Thurgau, das Schreibwerk Ost, eine Schreibschule auf dem Iselisberg, hoch über dem Thurtal.
Sein neuster Streich, eben erst bei Septime herausgekommen, ist der Roman „Monte Rocha“. Die Geschichte von Aurélio Fuertes, der im Hotel Rocha Monte hoch über dem Meer mit Sicht auf die Vulkaninsel seine Lebensstelle als Haustechniker bekommen zu haben glaubt. Ein Luxushotel. Aber das Haus tropft 220 Tage im Jahr im Nebel, während auf der Insel sonst die Sonne scheint. Nach nur einer Saison schliesst das Hotel und man verpflichtet den Haustechniker Aurélio Fuertes zusammen mit seinem Gehilfen José bis zur Übernahme durch einen neuen Besitzer, sich dem Haus anzunehmen. Aber aus der Übergangszeit werden Jahre, Jahrzehnte. Aurélio Fuertes bleibt, weil er es versprochen hat, nicht nur seinem damaligen Arbeitgeber gegenüber, sondern seiner Familie und nicht zuletzt sich selbst.
Da ist ein Haus, das langsam zerfällt, genauso wie eine Familie, Freundschaften, nicht aber eine Idee, Prinzipien. „Rocha Monte“ ist ein grossartiges Buch über einen stillen Helden. Ein Buch, dass einen ungeheuren Sog bei mir als Leser entwickelte, so wie ganz offensichtlich ein Ort, eine Figur bei Peter Höner als Schriftsteller.
Eigentlich war das Hotel schon in der Planung zum Scheitern verurteilt. Dieses Hotel erscheint wie der missratene Versuch einer Arche, hoch auf einem Berg. Nur bleibt dieser Noah allein. Die Arche sticht nie in See, bleibt für immer leer. Nur Aurélio Fuertes bleibt. Er bleibt Jahrzehnte und sinkt in Einsamkeit. Aurélio bleibt, während er fast alles verliert; seine Frau, seine Familie, seine Kinder, Freundschaften, seine Hoffnung. „Rocha Monte“ erzählt von einem Mann, der immer mehr verschwindet, mit Sicherheit auch von einem „lost place“. «Roche Monte» ist vieles, auch die Geschichte eines Robinsons.
Das Buch ist durchsetzt von Abbildungen aus den Aufzeichnungen, Protokollen von Aurélio Fuertes. Diese Fotos von Dokumenten geben der Geschichte einen scheinbar untrüglichen Bezug zur Realität. Aber im Gegensatz zu vielen Berichten im Internet über ein Hotel Palace auf den Azoren, Berichten über einen faszinierenden, verlassenen Ort, interessiert sich Peter Höner für die Person des Wächters.
Peter Höner schildert äusserst bildhaft. Die Bühne wird sehr deutlich. Da glaubt man, den Theatermann zu spüren. Eine Romanvorlage, die sich hervorragend verfilmen liesse.
Der Autor erzählt im ersten, langen Teil seines Romans die Geschichte Aurélios. Im zweiten, kürzeren Teil, lässt er die Nebenfiguren zu Wort kommen, seine geschiedene Frau Lucia, seinen Arbeitskollegen José, dessen Frau Pineda, die Kinder, die ihren Vater gar nie richtig kennenlernten, Nevio, einen seiner Söhne. Damit setzt Peter Höner Aurélio in ein feinmaschiges Netz, ein Netz, dass dieser leer zurücklässt.
Der Roman lässt sich durchaus als grosse Metapher sehen. Ohne Wächter zerfällt eine Welt.
«Ich habe den Abend sehr genossen, vor allem weil ich finde, dass Du das sehr gut gemacht hast und so die Einseitigkeit meiner Textauswahl wettgemacht hast. Aurélio ist ja nicht nur die störrische, pflichtversessene Figur eines Wahnkranken, dessen Unheilbarkeit mir nach der Lesung eine Zuhörerin erklären wollte. Ein anderer Besucher hat mir geschrieben (Zitat:) … freu michdeinen text dann ganz zu lesen … und nur auch um es jetzt schon auszusprechenund auszuwiegen: besonders wenn da ein so kluger hinweiser ist wie dein gesprächspartner, kann es leicht im hörer schon mal sein, dass in solchen halbdunklen endlosen notlicht-gängen auch schon mal ein geist aus prag hinter einer verschlossenen tür leben könnte …» Peter Höner