Gestern waren wir zur nachträglichen Geburtstagsfeier des Vaters der Gastgeberin eingeladen. Man hatte mit der Feier gewartet, bis die Delegation aus der Schweiz angereist war. Vor dem Haus hatte man in aller Frühe ein Vorzelt aufgebaut. Immer mehr Verwandte treffen ein. Man begrüsst sich und die Schweizer, lächelt uns an und wenn wir den Handschlag anzeigen, fasst man meine Rechte mit beiden Händen. Die meisten Frauen begeben sich in die Küche im hinteren Teil des Hauses mit einer Türe zum „Garten“, aber wie fast alle Räume in diesem Haus ohne Fenster. Die Männer sitzen um einen der runden Tische, rauchen, trinken Tee mit Eis, später dann Bier. Während es am Tisch staatsmännisch zu und her geht, geht in der Küche die Post ab. Man lacht, jauchzt, macht Witze und wenn der Schweizer in der Küche erscheint und mit Gesten seine Bewunderung für das bereits Zubereitete zeigt, kichern die Frauen. Bei den Männern zirkuliert ein Papier. Man erklärt, dies sei die Rede für den Jubilaren, aber der Redner weigere sich, das Geschriebene vorzutragen, weil zu viel „schöngeschrieben“ sei. Man diskutiert und streicht und schlussendlich trägt einer der vielen Brüder der Gastgeberin den Lobpreis vor. Anschliessend Fotoshootings mit dem Gefeierten, der auf seinem Schoss all die Flugpostumschläge mit Geld festhält.
Die Vorbereitungen dauern noch. Ein junger Mann wäscht mit Mineralwasser Pilze vor dem Haus. Wenn die Flaschen leer sind, wirft er sie ins mannshohe Grün gleich nebenan. Ich mache einen kleinen Spaziergang (Vietnamesen machen keine Spaziergänge). Von dem einstigen Paradies ist nicht viel übrig geblieben. Hier steht ein neueres Haus, dort gammelt ein verlassenes vor sich hin. Überall Abfall, viel Plastik und Sagex. Das Wasser in den ehemals angelegten Teichen ist braun. Man sieht keine Vögel, kaum Tiere, nur Hühner. Bauruinen und Strassen ins Nichts.
Vor dem eigentlichen Essen wird der vor vielen Jahren verstorbenen Mutter gedacht. Auf einem kleinen Tisch vor der Vitrine mit ihrem Bild tischt man auf und verbeugt sich mit einem Räucherstäbchen in der Hand mehrfach vor Tisch und Bild, verharrt einen Moment, die Andacht ist spürbar. Es scheint, als wäre sie die eigentliche Jubilarin.
Man bittet mich zu Tisch. Es gibt einen Gästetisch, zwei Männertische, zwei Frauentische. Wieder bestimmen die Frauen die Feierlaune. Sie johlen und kreischen. Die Männer bitten mich zu sich. Immer und immer wieder wird mit Bier angestossen, als wolle man mich in einen Rausch stossen. Dazwischen ein Selfie mit mir hier, eines dort. Immer wieder zischt die Öffnung einer Bierdose, bis drei davon vor mir stehen, die ich im Unterschied zu den Einheimischen aus Furcht vor unliebsamen Nachwirkungen ohne Eis, direkt aus der Dose lauwarm trinke. Das Mal ist köstlich und opulent, vielseitig und dauert. Keine Ahnung, wie man all die Reste in den Kühlschrank in der Küche bringt. Zum Dessert werden Früchte aufgetischt, von denen es an den Bäumen rundum nur so wimmelt, auch in der „Wildnis“.
Was dann auf dem Programm steht, ist für meine Ohren ziemlich unverträglich. Nicht aus ästhetischen Gründen, sondern aus akustischen. So wie es die Vietnamesen grell und bunt lieben, so lieben sie es laut und emotional. Karaoke. Was ursprünglich aus Japan kam, ist hier fester Bestandteil einer Feier geworden. Im Vorraum des Hauses steht ein riesiger Lautsprecher mit einem Bildschirm, den man mit Draht an die Wand gehängt hat. Die Songs der Neuzeit sind triefend und die Gesten der Interpreten auf dem Bildschirm theatralisch. Die Lieder aus der vietnamesischen Tradition für meine Ohren fremd, manchmal schräg, aber viel einfacher, meist nur Gesang mit Saiteninstrumenten. Was mir Mühe macht, ist die Lautstärke. Nicht erst hier am Fest beim Karaoke. Auch in Restaurants ist es laut, in Hotellobbies, auf Booten (wobei es dort der Motor ist, der jedes Gespräch unmöglich macht). Eine der Verwandten singt sicher und mit Esprit, lässt sich auch nicht zweimal bitten, wenn man ihr eines der Mikrofone hinhält.
Sie wissen, wie man ausgelassen feiert. Selbst die Kinder schicken sich in all die Selbstverständlichkeiten. Als wir uns verabschieden, wissen wir genau; das Fest ist noch lange nicht aus!
Die Welt hier scheint in einem anderen Takt zu ticken. Es scheint auch ein anderes Selbstverständnis der Arbeit zu herrschen. Überall Sicherheitsleute, Polizisten, Taxifahrer, Verkäuferinnen, die warten. Eine Eigenschaft, die mir immer schwerer fällt.
Ca Mau ist eine Stadt ganz im Süden Vietnams. Hier liegt das Zentrum des Crevettenhandels weltweit. Ursprünglich war geplant, unsere kleine Reisegruppe im Haus einer vietnamesischen Familie einzuquartieren. Aber weil auch dort die Zimmer ohne Fenster, die meisten ohne Klimaanlage und überall voller Schimmel sind, werden wir auf der anderen Seite der Stadt in ein überdimensional scheinendes Hotel einquartiert. Gerade weil die Gastgeberin untröstlich ist, lädt sie uns trotzdem zu sich ins Haus zum Essen ein. Natürlich Fisch, Gemüse, Tofu und Früchte. Ein köstliches Mahl, das die Gäste ganz selbstverständlich zuerst am runden Tisch im Vorbau begleitet vom Zirpen unzähliger Grillen geniessen dürfen. Erst wenn alle Gäste satt im Wohnzimmer auf Sofas und Hängematte verdauen, setzt sich die Gastgeberin mit ihren Helferinnen und Helfern an den Tisch.
Mit in der Runde ist der über neunzigjährige Vater. Ein schmaler Mann ohne Zähne, mit wachem Blick und unstillbarem Bedürfnis, sich seinen fremden Gästen mitzuteilen. Natürlich vietnamesisch! Der Sohn der Gastgeberin übersetzt. Manchmal fordert er uns einfach auf, Sätze oder Satzfetzen zu wiederholen: „Leidenschaft, Gesellschaft“, „An der Gesellschaft teilhaben“, „Zwei Menschen sprechen“… Er war früher Soldat, später Beamter. Auf der Vitrine mit grossem Bildschirm steht ein retuschiertes Foto seiner verstorbenen Frau mit drei elektrischen Räucherstäbchen davor. Darüber huschen Gekos über die Wand und fressen von den kleinen Insekten, die durch das Licht angezogen werden. Tiere, die wie bei Stubenfliegen. Auf dem kleinen Tisch vor dem alten Mann giesst dieser immer wieder kalten Tee ein, bietet uns welchen an, bitter und gesund!
Aus unserem Hotel machen wir einen kurzen Spaziergang. Erste Station ein Supermarkt gleich ums Eck. Er steht alleine an der Strasse, als hätte man ihn vergessen oder an den falschen Ort hingebaut. Ein kleiner Laden mit den Dingen des täglichen Gebrauchs: Chips, Putzmittel, Hygieneartikel, Getränke (kein Alkohol!). Keinerlei Frischprodukte, nichts. Ich kaufe scharfe Chips mit Fischgeschmack und einen Fünfliterkanister Mineralwasser.Über dem Feld ein „Retortenquartier“ mit lauter identischen Häusern in kolonialem Stil, rechtwinklig angeordnet, junge Bäume entlang den geraden Strassen. Jedes zehnte Haus ist ein Café, davon zwei Drittel geschlossen, einige Häuser bloss Hüllen, daneben ein Einkaufszentrum mit Kino, halb leer mit Personal, dass seit Jahren auf Kundschaft zu warten scheint. Alles in diesem Quartier wuchs einmal schnell und mit viel Enthusiasmus. Man hatte Pläne. Wahrscheinlich wie vieles hier mit chinesischem Geld.
Etwas später fahre ich mit meinem vietnamesischen Begleiter durch die Stadt, mit einem viel zu kleinen Helm (Dickschädel wie der meinige!) und einem Regenponcho im Rucksack. Zum ersten Mal in diesem Jahrtausend fahre ich Sozius auf einem Motorrad. Und schon gar nicht auf vietnamesischen Strassen vom Haus am Stadtrand von Ca Mao ins Zentrum. Wir wollen „shoppen“! Speziell genug, dass in den Strassen Markenprodukte verkauft werden, die sich die meisten VietnamesInnen niemals leisten können, neben Geschäften, in denen Kunstfaserkleider für Spottpreise auf KonsumentInnen warten. Ein Arbeiter soll nicht viel mehr als 200 Franken verdienen, eine Ärztin 1000. Als wir dann doch noch ein Geschäft betreten, in dem Süssigkeiten verkauft werden, verbeugt sich Verkäufer und Kassenfrau gleich mehrfach. Ist hier der Kunde noch König? Hier in diesem Geschäft schon, sonst aber eher als potenter Fremdling mit eigenartigen Gewohnheiten und permanent suchendem Blick.
Zwei Frauen treffen sich in der Grundausbilung bei der Bundeswehr. Lisbeth steigt kurz vor der Vereidigung aus, während Florentine danach von Einsatz zu Einsatz zieht. So sehr es Lisbeth nicht schafft in einem bürgerlichen Leben Fuss zu fassen, so sehr droht die Gewalt das Leben der Kriegerin zu verschütten. Helene Bukowski schrieb einen Roman, der nicht nur inhaltlich an die Nieren geht.
Wir tragen alle Narben mit uns herum, sichtbare und unsichtbare. Dass Lisbeth an Neurodermitis leidet ist das eine, dass sie sich in Wellen manchmal am liebsten die Haut vom Leib kratzen würde, dass es zum aus der Haut fahren ist – aber Lisbeth erträgt auch jenes Gefühl, dass sie von sich selbst abstösst, nur schwer. Bis sie eines Tages Mann und Kind zurücklässt, „Ich habe etwas im Laden vergessen“ murmelt und die Familie, den Blumenladen, die Stadt, ihr Leben hinter sich lässt. Sie fährt an die Ostsee, findet den Bungalow, wo sie als Kind schon mit ihren Eltern ihre Ferien verbrachte, weil es hiess, es würde ihrer Haut gut tun; die Sonne, das Salz, der Wind. Nicht dass sie Malik nicht mehr lieben würde, schon gar nicht den kleinen Sohn Eden. Es ist ihr Leben. Es ist jenes Leben, das sie weggestossen hatte.
Florentine, die man trotz ihrer Zierlichkeit schon während der Grundausbildung „die Kriegerin“ zu nennen begonnen hatte, zu der Lisbeth wie zu keiner anderen während der Ausbildung Vertrauen gefasst hatte, die zu ihrer Beschützerin geworden war, taucht von Einsatz zu Einsatz. Dorthin, wo es weh tut. Und obwohl die beiden Frauen während Monaten kaum Signale der anderen erreichen, bleiben die beiden verbunden. Nicht bloss durch das gemeinsam Erlebte während der Ausbildung. Auch weil die Freundschaft etwas gab, was es sonst nirgends und bei niemandem zu geben schien.
„Habe ich verlernt, meine Narben zu verstecken?“
Helenę Bukowski «Die Kriegerin», Blumenbar, 2022, 256 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-351-05107-5
Lisbeth heuert auf Kreuzfahrtschiffen an, arbeitet dort während langen Monaten in ihrem Beruf als Floristin, zehn Stunden und mehr, sieben Tage in der Woche. Eingesperrt, einer Aufgabe verschrieben, ein bisschen wie damals in der Grundausbildung, als alles Tun fokussiert war, die Aufgaben klar eingegrenzt, jeder Tag ein gleichgrosser Schritt in eine geschiente Zukunft. Den Kontakt zu Florentine verliert sie nie ganz. Zum einen treffen sie sich immer wieder, wenn auch durch stille Monate voneinander getrennt im kleinen Bungalow an der Ostsee oder die Kriegerin schreibt lange Briefe, die so ganz anderes erzählen, als das, was Lisbeth sonst von ihr weiss.
Lisbeth, eine Frau, die ohne Ankündigung Kind und Mann verlässt und nicht mehr zurückkehrt, erst nach Monaten anruft, erst nach Jahren wieder Nähe zulässt. Florentine, von der man den Namen erst im zweiten Teil des Romans erfährt, die sich mit jeder Faser ihres Körpers in der Männerdomäne Militär durchsetzen will, zur Kriegerin wird, einer Soldatin, die in ihrem Heimatland sogar bespuckt wird. Beide stossen ihr Trauma wie einen Sisiphosstein vor sich her, kämpfen an vielen Fronten. Lisbeth gegen Schuldgefühle, ihr Gefühl des Eingesperrtseins, nicht zuletzt in ihrer Haut. Florentine in den Bildern, die sie aus ihren Einsätzen nicht loslassen, die mit jedem Einsatz unerträglicher werden. Bis die grossen Steine mit ihrem Gewicht auf die Frauen zurückzurollen, bis alte, nie vernarbte Wunden aufzuplatzen drohen.
„Findest du es nicht absurd, wie friedlich hier alles aussieht?“
Helene Bukowski beschreibt das klaustrophobische Lebensgefühl der beiden Frauen auf eindrückliche Art und Weise. So wie die Kriegerin Steine sammelt, Einschliessungen der Zeit, so sammelt Lisbeth die Zeichen Florentines Freundschaft; jene Momente der Innigkeit, die Tage im Bungalow an der Ostsee, das Gefühl, mit ihr etwas zu „besitzen“, was ihr nicht zu nehmen ist.
„Die Kriegerin“ spitzt sich mit der Lektüre immer mehr zu. Es ist, als würde ich als Leser immer mehr in ein Geflecht verstrickt, das zeigt, wie sehr unsere Gegenwart in Wirklichkeit von all den mit Idealen zementierten Vorstellungen zugestellt wurde. Ein starker Roman von zwei Frauen, die in ihrer Stärke all ihre Verletzlichkeit einsperren.
Helene Bukowski, geboren 1993 in Berlin, lebt heute wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie studierte am Literaturinstitut Hildesheim und leitet neben dem Schreiben auch Kurse und Workshops für Kreatives Schreiben. 2019 erschien ihr Debütroman «Milchzähne», für den sie u. a. für den Mara-Cassens-Preis, den Rauriser Literaturpreis und den Kranichsteiner Literaturförderpreis nominiert war. Der Roman wurde ins Französische und Englische übersetzt und eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
Vernünftig wäre eine Reise nach Vietnam in den europäischen Wintermonaten, wenn sich die Temperaturen selbst im Süden zwischen 20 und 30 Grad einpendeln. Aber weil es für mich nur sommers die Möglichkeit für einen mehrwöchigen Aufenthalt in diesem Land der Früchte gibt, mussten wir uns mit den Bedingungen eines tropischen Monsunklimas anfreunden.
Je weiter in den Süden Vietnams, desto feuchter das Klima. Für einen in die Jahre gekommenen Durchschnittseuropäer gewöhnungsbedürftig, vor allem dann, wenn man sieht, wie sich der Vietnamese vor der Hitze schützt. Während ich in kurzen Shorts mit T-Shirt in permanent feuchter, gut eingecremter Hülle durch die Strassen torkle, kleiden sich viele Motorradfahrer in Pullover mit Kapuze und verstecken sich hinter Brille und Hygienemaske. Sonnenbräune, so erklärt man mir, ist ein Zeichen körperlicher Arbeit im Freien. Somit alles andere, als bei uns Zeichen von Luxusferien an der Sonne. Schlüssig, dass sich junge Vietnamesinnen und Vietnamesen ihre Unterarme in Strümpfen vor der Sonne schützen. Auf keinen Fall braun werden!
Die Hitze bietet kaum eine Pause, auch in der Nacht nicht. Selbst ein Wind ist nicht auffrischend, höchstens ein Regenguss, von denen es im Süden reichlich gibt. Einheimische wohnen deshalb nicht in geschlossenen Räumen. Als einer der vietnamesischen Führer uns zu seiner Familie einlud, empfing man uns freundlich und grosszügig und liess uns auch einen Blick in Haus werfen. Alles ist offen und im Gegensatz zur Umgebung so sauber wie nur irgend möglich. Das Wohnzimmer jener Familie soll repräsentieren, die Erfolge einer ganzen Sippe zeigen. Die älteren Leute kommunizieren meist nur durch scheue Blicke. Dafür sind die Gesichter der Kinder umso freundlicher. Und weil sie einige Brocken Englisch sprechen, sind die beiden immer wiederkehrenden Fragen jene nach der Herkunft und nach dem Namen. Kinder winken und lächeln einem zu, selbst mir, von dem man sagt, ich hätte einen ernsten, fast grimmigen Blick.
Hotels gibt es, zumindest dort, wo ich mich meistens aufhalte, wie Sand am Meer. Meist in die Jahre gekommen, viel Schein, mit ein paar Zimmern übereinander an der Front zur Strasse. Nur jene Zimmer haben Fenster, die sich wohl öffnen lassen aber ganz offensichtlich nicht dafür gedacht sind. Die meisten anderen Zimmer sind fensterlos, mit mehr oder weniger lauten und schimmligen Klimaanlagen. In einem unserer Hotelzimmer versuchten wir eine Nacht ohne Klimaanlage. Zumindest für mich war es ein erfolgloser Versuch. Lieber ein bisschen Schlaf mit einem Duett an Gebrumm von Kühlschrank und Klimaanlage, als stickig feuchtwarme Luft und das Gefühl wegzuschmelzen. Aber ein Hotelzimmer ohne Fenster mit bescheidenen Ausmassen vermittelt schnell ein klaustrophobisches Gefühl. Wenn man aber durch die Strassen fährt, verraten Blicke nach rechts und links, dass die meisten Einheimischen in solchen Höhlen leben und Klimaanlagen Normalausstattung sind, die sich nicht zur Unterschicht zählen müssen. Unvorstellbar, was Klimaerwärmung und Klimaveränderungen in diesen Breitengraden anrichten werden.
Infolgedessen brauchte es einige Zeit, bis sich mein Schlaf an die klimatischen Bedingungen anpasste, ebenso wie mein Magendarmtrakt, meine Lust morgens auf einen Kaffee mit Schäumchen, ein Glas Wein am Abend, kross gebackenes Brot und vieles andere. Und wenn einem dann bewusst wird, dass die meisten Einheimischen auf dem Boden oder in einer Hängematte schlafen, ist meine Anpassung an örtliche Gegebenheiten minim.
In einem der Hotels in der Stadt Cá Mao, nicht weit vom Mekong, das Personal äusserst freundlich und hilfsbreit, wenn auch dem Endlichen noch weniger mächtig als ich selbst, nahm ich, wie oft in Hotels sonst die Treppe und nicht den Lift, wollte mir in den Morgenstunden, weil ich das Gefühl hatte, keinen Schlaf mehr zu finden, die Füsse in den Strassen vor dem Hotel vertreten. Aber weil die Besitzerfamilie in der untersten Etage hinter der Rezeption wohnt, führte der Weg direkt durch die Küche der Familie, wo eine junge Frau in Hoteluniform unter einer leichten Decke in einer Hängematte schlief. Auch in der Rezeption, wo die Rollläden noch geschlossen waren und mir bewusst wurde, dass ich mit meiner Absicht wohl noch warten musste, schlief ein junger Mann mit der selben Uniform auf der einen grossen Ledercouch, die den Gästen sonst zum Warten diente. Noch so ein kleiner Hieb in Richtung Selbstverständnis.
Vielleicht eine helvetische Eigenschaft, bloss schauen, sich nicht trauen, musste mich mein vietnamesischer Schwiegersohn doch regelrecht stossen, doch nun selber etwas zu kaufen, wenn auch nur ein paar von den süssen, kleinen Bananen.
Ob in Sài Gòn, Huế, Cá Mao oder Can Tho, es gibt Strassenzüge, in denen fast ausschliesslich Elektrogeräte verkauft werden, in anderen Textilien oder eben Früchte. Früchte, von denen ich keine Ahnung hatte; Longan, Durian, Pitahaya, Mangostan… Selbst Orangen sehen nicht so aus wie bei uns. Bleiben sie doch unbehandelt grün und werden von den Einheimischen auf den Strassen als Saft mit Eis getrunken. Im Plastikbecher natürlich.
Bananen kaufte ich für eine Begleitung, die im Hotel blieb, weil sie sich wegen einer hygienischen Abhängigkeit nicht allzu weit weg von einer Toilette mit Papier traute. Glücklicherweise zeigt sich meine Verdauung gnädig, aber vielleicht auch nur weil ich mich knechtisch an jede Warnung erinnere. Manchmal sind es grosse Geschäfte, die ihre Waren bis auf die Strasse auf dem Boden ausbreiten. Manchmal jemand allein mit einem kleinen Plastiktischchen und ein paar Mangos. Und dann jene, die es überall gibt, mit billigem Spielzeug, Sonnenbrillen oder auch nur ein paar Losen. Oder die junge Frau mit blindem Auge, die mich am Unterarm hält und in einen schwarzen Plastikbeutel weist, in dem Plastikpackungen sind und mich volltextet. Ich schau nicht hin.
Abends gehen wir zum Mekong, einem der längsten Ströme der Erde. Unser vietnamesischer Führer will uns auf eine Flussfahrt mit Essen einladen. Was in der anbrechenden Nacht romantisch klingt, ist in helvetischer Wahrnehmung nur schwer einzuordnen. Dreigeschossige Schiffe, früher wohl einmal Passagierschiffe für Flussreisen, sind heute Amüsierschiffe, die in drei Schichten Touristen füttern und bespassen; ohrenbetäubende Livemusik, Zaubervorführungen, die Tische überbordend voll und vorwiegend asiatische Touristen, die mit der Lautstärke der Musik konkurrieren.
Am nächsten Morgen fahren wir noch vor Sonnenaufgang mit einem Boot zum Flussmarkt ein paar Kilometer flussaufwärts. Es muss unzählige solcher Flussmärkte geben. Hier in Can Tho einen für Früchte. Aber was von unzähligen Besucherbooten mit knatternden Motoren und schwarzen Dieselwolken angefahren wird, ist nur noch ein Überbleibsel dessen, was der Markt vor Jahren einmal war. Heute ist es mehr ein Markt für Touristen. Kleine Boote, immer der Mann am Aussenbordmotor und die Frau mit Enterhaken, bieten alles an, was sich zu verkaufen verspricht. Vom Pepsi über die Frühstückssuppe bis zur Mango in Scheiben geschnitten. Oder noch kleinere Boote mit Losverkäufern. Auch die Fischzucht und die Fruchtfarm, denen wir einen Besuch abstatten, leben nicht mehr von Fischen und Früchten, sondern von Touristen, von mir, der sich kaum traut, etwas zu kaufen.
Wer Filme sieht, die im vergangenen Vietnam spielen (Ich war an einem der Schauplätze der Literaturverfilmung von „L‘Amant“ von Marguerite Duras, deren heissblütige Liebesgeschichte in den 30ern spielt), muss wie überall auf der Welt feststellen, dass jene Bilder, die wir mit uns herumtragen, im Müll der Zeit ertrunken sind. In der Schweiz leben wir auf einer Insel, unter einer Glocke. Kein Wunder, dass der Schweizer sich nicht traut. Er ist verängstigt, geschockt und vom Fremden fasziniert.
Frankfurt an der Oder liegt an der Grenze zu Polen. Horatio Beeltz hatte vorgehabt, von Berlin bis ans Kaspische Meer zu wandern. Aber hängen geblieben ist er auf einem Friedhof direkt an der Grenze zu Polen. Jenes Frankfurt oder besser der Friedhof in Słubice wird zu einem rätselhaften Tor in eine fremde Dimension. „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist das gewagte literarische Aufbrechen eines Gravitationsfeldes.
Horatio Beeltz, Verleger und Mitglied einer geheimwissenschaftlichenGruppe, einer kosmologischen Vereinigung, in die Jahre gekommen und ruhelos. In seinen Studien um das Wesen der Zeit, weiss Horatio Beeltz, dass Zeit kein fliessendes Kontinuum ist von Vergangenheiten, Gegenwart in die Zukunft. Und als er unweit von Frankfurt an der Oder an einem alten, vergessenen Friedhof vorbeikommt, in dem ein Grossteil mit jüdischen Grabsteinen verwildert und verwachsen vor sich hinkrautet, steigt er hinein, weil er einem Geruch folgt, ein bisschen nach Zitrone und ein wenig nach kandierten Walnüssen, ein Geruch, der ihn ahnen lässt. Zwischen schrägen Steinen findet Beeltz einen Riss, einen Riss in der Zeit, ein Ort, an dem die Zeit verletzt worden ist.
Der jüdische Friedhof in Słubice war bis zum zweiten Weltkrieg einer der grössten. Nach dem Massaker wurde er weitgehend vergessen, verwilderte mehr und mehr und wurde gar als Bauplatz für ein Hotel und späteres Bordell genutzt. Aber mittlerweile interessiert sich nicht nur die jüdische Gemeinschaft wieder für den Friedhof, sondern auch die Wissenschaft. So wird die noch junge Archäologin Mi-Ra nach Słubice geschickt, um diesen zu erforschen und begegnet dort nicht nur dem verschrobenen Horation Beeltz, sondern auch dem Friedhofswärter Artur, der sich als ehemaliger Leistungsschwimmer mehr auf diesem Friedhof versteckt, als dass diese Arbeit sein Ziel gewesen wäre. Mi-Ra und Artur sind Versehrte. Mi-Ra Kim, mit koreanischer Migrationsgeschichte, ist aus einer Familie, die ohne ihr Kind flüchtete, aus einer Ehe, die mehr und mehr in Schieflage geraten war und einer Kindheit, die alles zu verlieren drohte – und Artur Arkadiusz in seiner Trauer um seine kleine Tochter, die eine tödliche Krankheit dahingerafft hatte, von seinen Schuldgefühlen, etwas versäumt, nicht getan zu haben.
Berni Mayer «Das vorläufige Ende der Zeit», DuMont, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-8321-8184-0
So treffen sich drei Verlorene in einem verwaldeten Friedhof und Horatio Beeltz verspricht den beiden, mittels psychodelischer Substanzen eine gewisse Zeit den Zwängen der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können, eine Chance zu erhalten, in der Vergangenheit etwas anzustossen, mit dem zurück in der Gegenwart in der Zukunft etwas anders werden könnte. Doch man kann nur eine begrenzte Zeit unter Wasser bleiben, bis einem die Luft ausgeht. Bis man wieder nach oben in den lauten Teil der Existenz gezogen wird. Mi-Ra und Artur lassen sich überreden und landen tatsächlich in einer Art Trancezustand in Vergangenheiten, die sich wie reales Leben anfühlen. Sie machen mit, weil sie beide nichts zu verlieren haben, weil sie beide jenen Teil ihres Lebens verloren haben, für den sie lange Zeit alles gegeben hätten. Beiden sitzt ein Trauma im Nacken.
Zeitreisen à la Hollywood interessieren Berni Mayer nicht. Aber der Autor weiss, dass das, was wir als naturgegebene Einbettung erfahren, menschliche Wahrnehmung ist. Eine, die trainiert und als solche längst zur unumstösslichen Wahrheit geworden ist. Obwohl wir seit Einstein und anderen WissenschaflerInnen wissen, dass Zeit kein gleichmässig fliessender Strom ist, dass wir mittels Erinnerungen und Trancezuständen sehr wohl in der Lage sind, die Gesetzmässigkeiten der Zeit auszuhebeln, trauen sich nur wenige an ein Gedanken- und Handlungsexperiment wie Berni Mayer. Es entwickelt sich zwischen den dreien ein angespanntes Hinundher zwischen Hoffnung und Ernüchterung, zwischen Angst und Erwartung.
„Das vorläufige Ende der Zeit“ geht als Roman weit über die Frage hinaus, was man hätte anders entscheiden können. Im Roman wird gezeigt, was Schuld anrichten, wie sehr Schuld sich zu einem Berg auftürmen kann, der sich mit grösster Willenskraft nicht entfernen lässt. Einzig vielleicht durch ein Anschupsen in der Zeitachse. „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist mutig!
Interview
In Filmen sind Zeitreisen kein seltenes Motiv, auch in Kinder- und Jugendromanen. Aber in der Belletristik, für ein „anspruchsvolleres“ Publikum, scheint man sich vor dieser Thematik förmlich zu hüten, obwohl sich die Wissenschaft schon genüsslich mit unseren allzu fixen Vorstellungen auseinandersetzte. Warum diese Zurückhaltung? Ich vermute, Verlage, Vertriebe, Buchhandlungen und vor allem das Publikum denkt in literarischen Kategorien und möchte bitte nicht verwirrt werden. Es möchte seine Autofiktion oder seine Fantasy. Bitte nicht beides vermischen. Ich erinnere mich, dass mein alter Lektor (whom I truly love) mir aus „Rosalie“ mal eine längere Passage mit der Anmerkung gestrichen hat, die Leser würden von magischem Realismus an dieser Stelle aus dem Gleis geworfen. Das hab ich mir gemerkt und mich jetzt gerächt. Nein, Spass. Ich wollte beweisen, dass das eben schon zusammengeht. In TV-Serien (v.a. englischsprachigen) finden sich ja auch ständig wilde Genremixes und doch haben die Charaktere Tiefe und Geschichte und berühren einen ganz arg. Und dann kommt trotzdem ein UFO. So ist halt Geschichtenerzählen, so ist Literatur: es ist ein Erfinden und gleichzeitiges Verankern in der Realität. Das ist ja auch die Kunst und die möchte ich neben so vielen anderen Spielarten des Schreibens gut beherrschen.
Ihre drei ProtagonistInnen sind Versehrte. Alle tragen Verletzungen und Vernarbungen mit sich herum, wir auch. Literatur ohne dieses Forschen nach Wunden und ihren Ursachen ist undenkbar. Etwas Urmenschliches. Und trotzdem ist da die Vorstellung, in der Zeit zu beeinflussen, der Wunsch, etwas ungeschehen machen zu können. Die Flucht in Drogen und Süchte könnte bestimmt auch als eine Form der Erleichterung gesehen werden. Stehen wir seit den Errungenschaften der Psychologie unter dem Zwang einer permanten Selbstauseinandersetzung? Auf keinen Fall. Vieles ist nur Verschlagwortung und Lifestyle und erreicht nur eine gewisse intellektuelle Bubble. Wenn wir unter einem Zwang der permanenten Selbstauseinandersetzung stünden, sähe die Welt nicht so aus, wie sie aussieht. Ich finde, die Leute könnnen sich ruhig noch viel mehr mit sich auseinandersetzen … mit einem gewaltigen Addendum: Am Ende der Auseinandersetzung und Optimierung, am Ende der Selbstheilung, oder am besten schon im Prozess, muss die Empathie stehen und im Idealfall der Altruismus. Sonst haste am Ende einen reflektierten Rassisten oder einen noch viel konsequenteren Demagogen … und da hat ja auch keiner was davon. Ich persönlich gebe mir alle Mühe, bei aller Rotation um mich und meine Psyche, nicht aus den Augen zu verlieren, wie es den anderen geht. Ob das gelingt, müssen natürlich die beurteilen. Ich bin aber immer wieder verwundert, wie selbst Leute vom Selbstauseinandersetzungsfach – Buddhist:innen, Psycholog:innen, Coach:innen, Priester:innen etc – spektakulär daran scheitern, eine kritische Distanz zu sich zu finden. Insofern gerne noch mehr Selbstauseinandersetzung.
Friedhöfe sind Grenzorte. Es gäbe keinen besseren Platz für einen Riss, einen Riss in der Zeit. Es gibt an vielen Orten ganz besondere Friedhöfe. Ich erinnere mich an einen in der Bretagne mit Sicht aufs Meer. Und trotzdem sind viele westeuropäische Friedhöfe weit weg von einem Nekropolis, viel mehr Orte überbordender Reglemente. Entfernen wir uns vom Tod, dem Sterben genauso wie von den Vorstellungen durchbrochener Zeit? Nein, ich denke nicht. Ästhetisch integrieren wir das immer mehr, es gibt zig Bücher über Trauer und Tod, alternative Beerdigungsfirmen schiessen aus dem Boden (pun intended) und auch die Populär-Psychologie greift aktiver in diese Diskussion mit ein. Ich vermute aber, dass auch das letztlich ein Versuch ist, sich den Tod vom Leib zu halten, indem man ihn stilisiert. Das macht die Menschheit via Glaube, Literatur und Kunst ja eh seit Jahrtausenden. Wenn er dann aber passiert, bleibt er welterschütternd. Insgesamt würde ich aber mutmassen, wir integrieren den Tod gerade ein bisschen mehr in unseren Alltag, in unserer Ästhetik und das ist ja nichts Schlechtes. Wie es andere Länder aber auch schon viel länger viel besser machen. Siehe z.B. den mexikanischen Feiertag Día de los Muertos. Doch selbst in Mexiko tut’s genauso weh, wenn ein geliebter Mensch stirbt, nehme ich an. Über die deutsche Friedhofskultur an sich kann ich wenig sagen, ich vermute jedoch, da hat sich wenig geändert in den letzten Jahren. Meine Tochter ist vor ein paar Jahren gestorben, seitdem verbringe ich viel Zeit auf einem wunderschönen alten Friedhof in Berlin Mitte. Für mich ist das ein Rastplatz, ein Garten und ein Erinnerungsort, ich bin da sehr gerne und fühle mich wohl in Gesellschaft der vielen toten Menschen. Dieser Friedhof hat aber auch was Wildes und Altes. Wenn ich dagegen an das Grab meiner Grosseltern auf dem katholischen Friedhof meines Heimatorts denke, überkommt mich ein eher klaustrophobisches Gefühl. Läge ich dort begraben, käme ich mir vor wie in einer Kleingartenkolonie. Und ich habe grosse Angst vor Kleingartenkolonien.
An der Figur Horatio Beeltz ist alles antiquiert, nicht nur der Name. Er ist eine Figur, die aus der Zeit gefallen ist, eine Figur, der wir mit Befremden begegnen würden, würde sie sich im Zug neben uns setzen. Ihnen gegenüber sind Mi-Ra und Artur ganz in der Gegenwart verankert, Archätypen der Neuzeit. Lieben Sie Gegensätze? Klar lieb ich die Gegensätze. Welche(r) Autor:in tut das nicht? Mit Horatio Beeltz wollte ich den ultimativen alten weissen Mann besetzen, aber weil mir das als Kategorie natürlich viel zu flach ist, hab ich aus ihm eine Art unsterblichen Vincent Price gemacht, mit einem obsessiven Hang zu Romantik, Rhetorik und dem Besiegen der Zeit. Verliebt bin ich natürlich trotzdem unsterblich in Mi-Ra.
Die Einsichten der Quantenphysik sind auch ein esotherisches Tummelfeld. Unglaublich, wer und was sich alles darauf bezieht. Ich bin neugierig, ob Ihnen bei einer Lesung dereinst einmal eine Besucherin oder ein Besucher erklären wird, dass man bei diesem Thema doch noch viel mehr hätte lernen und folgern müssen. Wie weit erfahren Sie Quantenphysik als Büchse der Pandora? Wäre mein Buch ein heftiger Bestseller, bekäme ich vermutlich öfter eins auf den Deckel von Quantenphsyik-Fanclubs und Wissenschaftler:innen, die meinen eklektischen und anarchischen Umgang damit kritisieren. Aber sorglos war ich mit dem Thema nicht, ich habe mir eine Menge angelesen und Ansätze weitergedacht. Bin sogar selbst mit Fragen zu Raum und Zeit auf einen intensiven Pilztrip gegangen und schlauer wieder herausgekommen. Wobei das natürlich viele Leute denken, die auf Pilztrips waren. Am Ende gilt für alle meine Unternehmungen aber auch so ein bisschen: ich hab in dem Buch das gemacht, worauf ich Lust hatte. Wie gesagt, meine kleine Tochter ist vor ein paar Jahren gestorben, ich dachte einfach: I don’t give a fuck, was jemand von mir erwartet oder über Zeitreisen denkt … ich schreib jetzt genau das Buch, das ich schreiben will, das ich auch selbst gerne lesen würde. Fuck you, Erwartungshaltung und Erfolgsdruck. Und jetzt ist es eh zu spät, das zu bereuen.
Berni Mayer, geboren 1974 Mallersdorf, Bayern, war Chefredakteur bei MTV und VIVA online. 2012 – 2014 erschien bei Heyne die «Mandel-Trilogie» über die musikjournalistischen Privatdetektive Sigi Singer und Max Mandel, 2016 «Rosalie» beim Dumont, ein düster-romantischer Coming-of-Age-Roman in den 1980ern und 2019 dann mit «Ein gemachter Mann», ein Campusroman über einen wehleidigen jungen Mann und die weniger wehleidigen Frauen in seinem Leben. Mayer arbeitet als freiberuflicher Autor, Journalist, Moderator, Übersetzer & Podcast-Produzent in Berlin.
Was würde ich meinen vietnamesischen Besuchern in der Schweiz zeigen, um ihnen einen Eindruck dessen zu bieten, was meiner Meinung nach die Schweiz ausmacht? Klar will man sich von der besten Seite zeigen und führt seine Gäste nicht auf Autobahnraststätten, in Einkaufszentren oder durch Kehrichtverbrennungsanlagen. Oder unter Umständen vielleicht doch?
Vietnam, wie es sich jetzt zeigt, ist ein junges Land, stolz auf seine lange Geschichte, auf seine kaiserlichen Dynastien ebenso wie den scheinbar überwundenen Schmerz immens grausamer Auseinandersetzungen bis ins 20. Jahrhundert. Meine Erwartung, ich würde Ressentiments antreffen, zumindest den Aggressoren des 20. Jahrhunderts gegenüber, erwiesen sich als falsch. Davon spüre ich nichts, ganz im Gegenteil. Man eifert in fast allem westlichen Eigenschaften und Auswüchsen nach.
Vietnam ist ein Land der Gegensätze. Fährt man mit der Eisenbahn, die einst von der französischen Besatzungsmacht erbaut und den Norden mit dem Süden verbindet, ruckelt man an den Wohnstuben vorbei, direkt neben Müll und schwer behangenen Bananenbäumen, sieht Wasserbüffel, Krokodile und streunende Hunde, in der Ferne unberührte Strände und direkt neben der Eisenbahnstrecke riesige Waldgebiete, die von invasiven Pflanzen überwuchert sind.
So besuchte ich im Hinterland der ehemaligen Hauptstadt Huế ein von etwas mehr als einem Duzend buddhistischer Mönche gehegtes und gepflegtes Kloster, das nur über Schotterstrassen, Fusswege und eine kurze Überfahrt mit einer kleinen, lottrigen Fähre zu erreichen ist. Thiền Viện Trúc Lâm Bạch Mã strahlt stolze Ruhe aus, jeder Winkel eine Aufforderung zum Verweilen. Es gibt diese Orte, aber Vietnam scheint alles daran zu setzen, möglichst schnell zum touristischen Hotspot zu werden.
Im Hinterland der aus dem Boden gestampften Millionenstadt Đà Nẵng führt eine Strasse auf den «Berg des Grauens»! Sunworld nennt sich dieses Unding auf den Resten eines französischen Ferienressorts der ehemaligen Besatzer erbaut, hoch oben auf einem Berg. Ein vietnamesisches Disneyland mitten im Urwald. Ein Stück wummerndes Sodom und Gomorrah auf dem ein weisser Buddha wegschauen muss, mit Schweizer Equipment ausgerüstet, seien es Rolltreppen oder Gondelbahnen. Unser vietnamesischer Führer war ganz offensichtlich überzeugt, diese Errungenschaft perfekter Unterhaltung dem Schweizer als vietnamesisches Leuchtfeuer des Fortschritts anpreisen zu müssen, dem Besucher, der von sich selbst nicht denken soll, er wäre der einzige, der an einem Ort lebt, der die Brust schwellen lässt.
Vietnam tut alles, um nicht als Opfer der Geschichte gesehen zu werden. Man will Selbstbewusstsein demonstrieren, Aufbruch und gleichzeitig den Unterschied zum Nachbarn Thailand behaupten. Man sei offen und tolerant und der Buddhismus, Staatsreligion in Thailand, hier Überzeugung, erklärte der örtliche Begleiter. Religion ist allgegenwärtig und im Gegensatz zu den christlichen Religionen in der Schweiz nicht bloss Kulisse und Erinnerung an eine jahrhundertelange Tradition. Überall kräuseln die Kringel von Räucherstäbchen. Selbst einheimische Touristen verneigen sich und verharren einen Moment. Besuche in Tempeln und Pagoden aller Art sind nicht nur Besuche in architektonischen Sehenswürdigkeiten, sondern Vergnügen und Gebet in einem, auch wenn die inszenierten Felsen aus Sagex sind. Vielleicht ist die Religion genauso wie die Geschichte vor den Wirren der Kriege im zwanzigsten Jahrhundert ein Teil einer Selbstbehauptung.
Wie sich in grossen Städten Vietnams die nahe Zukunft nur schon verkehrstechnisch auswirken wird, ist mir rätselhaft, genauso wie die überstürzte Ausrichtung auf eine touristisch gewinnbringende Zukunft. Saigon erstickt im Verkehr, Huế buhlt um die Gunst solventer Besucher und in Đà Nẵng ragen riesige Bauleichen direkt am Strand gen Himmel.
So lecker das Essen, so genügsam die Menschen, so blau der Himmel und bunt der Markt; Vietnam bricht auf!
Dass ein dünnes Buch kein Gewicht vermitteln muss und dass Geschichten, dessen „Sammlung“ der Autor selbst lakonisch „Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ untertitelt, alles andere als bloss heiter sind, beweist der Sprachkünstler Thomas Stangl auf beeindruckende Art und Weise. Sein Band „Diverse Wunder“ ist wahrhaft wunderlich, sprachlich schillernd, voller Geheimnisse.
Thomas Stangl muss nichts beweisen. Und darum ist selbst der Titel seiner Geschichtensammlung, alles andere als eine Sammlung unwillkürlich zusammengestellter Kurztexte, Understatement und wie das ganze Buch eine literarische Schnitzeljagd in den Gedankenkosmos eines Künstlers, der sich nicht durch Grenzen der realen Wahrnehmung einschüchtern lässt. „Eine paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ macht glauben, die Texte wären einfach so dahingestreut, ohne Absicht, schon gar nicht komponiert. Aber in den Geschichten tauchen immer wieder Namen und Motive auf, sei es nun Wittgenstein, der Hunde malende Kunstmaler Wu Daozi, die schöne Nichte Tamara, Fortsetzungsgeschichten wie Venedig ein, zwei und drei, eine Akrobatin, vom Neffen Tamaras geliebt, eine mehrteilige Vorschichte oder ein dreiteiliges Ende.
„Ziel der Literatur ist es, der Gurke den Weg aus dem Gurkenglas zu zeigen.“
Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-125-3
Thomas Stangls Geschichten kippen an der Realität, nähren sich aus Traumbildern, Geschichten von der anderen Seite. Weit weg von Erbauungsgeschichten, keine Nachttischchenlektüre, denn die Geschichten könnten sich, vermischt mit den eigenen Traumgeschichten, zu Kopfgewittern auswachsen, die kleben bleiben.
Wäre Thomas Stangl ein Maler, müsste man sich beim Betrachten seiner Bilder Zeit lassen, denn was sie auf die Schnelle zeigen, ist nicht das, worum es dem Bildermaler geht. Er spielt mit den Bildern, gibt ihnen Vieldeutigkeit. Seine Sprachbilder spielen mit Perspektiven, leuchten mal von vorne, mal von hinten, aus den Tiefen des Surrealen. Manchmal reisst Thomas Stangl auch das Bedeutungs- und Deutungsschwere herunter, so wie in der Geschichte vom Fisch, einem Symbol, einer Zeichnung, die viel zu oft mit Ideologie aufgeblasen wurde. Ein Fisch interessiert sich für nichts. Ein Fisch frisst seine Kinder, wenn das, was ihm entgegenschwimmt, zufällig seine Kinder sind.
Skurriles gepaart mit genauer Betrachtung, seine Fantasie mit Geträumtem, die Lust am Formulieren und Fabulieren mit jener, die Bilder zu entfremden, der scheinbaren Wirklichkeit entgegenzustellen. Thomas Stangl schert sich nicht um Verständlichkeit, seine Geschichten sind Bilder, die sich überlappen, sich gegenseitig kommentieren. Sie besitzen einen ganz eigenen Witz, den Witz eines Sprachspielers. So wie Kinder, wenn sie zeichnen oder malen, sich nicht darum kümmern, eine Welt abzubilden, viel mehr Lust am Zeichnen selbst verspüren. Er folgt der Magie des Formulierens und Schreibens, seiner Lust, mit Sprache etwas entstehen zu lassen, was die reine Wiedergabe niemals schaffen kann.
Ausgerechnet in der Literatur verlangt man Verständnis, Klarheit und Lesbarkeit. In vielen anderen Kunstgattungen, sei es Musik, Malerei oder selbst dem Tanz, wird Widerspruch und Geheimnis akzeptiert. Aber weil Literatur auch noch unterhalten muss, für viele in erster Linie unterhalten muss, wird alles „Unverständliche“, Uneindeutige nur schwer akzeptiert.
Thomas Stangls Buch ist ein wundersames Bilderbuch der Geheimnisse!
Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, studierte Philosophie sowie Hispanistik und lebt in Wien. Bereits sein erster Roman «Der einzige Ort» brachte ihm den aspekte-Preis (2004) für das beste deutschsprachige Debüt ein. In den Folgejahren erhielt er u. a. den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann-Preis (2007), den Erich-Fried-Preis (2011) oder den Österreichischen Kunstpreis für Literatur (2022) sowie den Bremer Literaturpreis (2023).
Auch Wurstfinger haben ihre Feinmotorik. Auch die verrauchte Stammkneipe ist Fakultät. Auch Friedhofsbänkchen oder Mauervorsprung bieten Logenplätze. Auch der Katzenradius um den heißen Brei zeichnet eine Umlaufbahn. Auch die Einkaufsliste des Alleinstehenden ließe sich deklamieren. Auch Geld verschwenden sei mitunter eine Art, es zu verachten. Auch Schlafsack und Fallschirm sind entfernte Verwandte. Auch die kahle Glühbirne an der Zimmerdecke wäre ein Gestirn. Auch ein herumgereichter Plastikbecher könnte als Kelch dienen. Auch den Sichtschutz aus Klarheit kann es geben.
Steht, stand, gestanden
Das ist eine Geschichte, dieser eine Satz. Peter Bichsel
Auf dem Podest einer Gartenmauer, unter dunkel aufziehenden Regenwolken, steht da in sich verstummt ein Karton voll aussortierter Kinderbücher.
Die Erschöpfung stand am Küchentisch, hielt inne und starrte in den Strudelteig, schloß für einen Moment die Augen, als könne man auch so untergehen.
Mit dem Einläuten der letzten Runde ist einer auf- gestanden und klopfte, bevor er ging, mit seinen hellen Fingerknöcheln dreimal auf die Tischplatte.
Begegnungsstätte
Durch einfallendes Straßenlampenlicht erhellt, im Halbdunkel von Praxisräumen, in einem dämmernden Gemeindesaal, dies aufatmende Stilleben, nachdem der abendliche Gesprächskreis aufgelöst wurde, gegangen ist, rundum die Stühle zurückließ, die jetzt alleingelassen sich auf sich selbst gesetzt haben, mit ihren müden Lehnen, den schwebenden Sitzflächen, ihrem ersten Schattenentwurf, ein eigenes Zentrum bilden, sich konstituierten, aber nichts erwidern, nichts entgegnen, keine knifflige Antwort wüßten auf die ungestellte Frage, einander nur groß anschweigen in ihrer Verbliebenheit.
Die Spätauslese des Gesehenen
Der morgens schon vollgestellte Parkplatz vorm Amtsgericht. Der Neubau einer Freikirche, die dastand als Gebetsfiliale. Ein Toupetträger, dem man ansah, daß er ein Toupet trug. Das aufgebrochene Geheimfach eines verweinten Gesichtes. Etwas Zentrierendes, wie eine stillende Mutter im Raum. Das einzige Grab in der Reihe, das von Bienen angeflogen wurde. Das stotternde Fahrschulauto, das am Kapellenberg das Anfahren übte. Die Mauer, als träte sie hinter den Schatten zurück, den sie warf. Inmitten des nicht abgeräumten Tisches: die Grazie eines Weinglases. Die abgenutzte Zahnbürste, die deinen Blick erwiderte. Vertrocknete Mäusekötel in einer Werkzeugkiste. Der Schnullerabdruck um den Babymund.
Walle Sayer, 1960 in Bierlingen bei Tübingen geboren, lebt in Horb am Neckar und schreibt Gedichte und Prosa. Veröffentlichungen seit 1984. Seit 1994, seit dem legendären Erfolg seiner Prosa «Kohlrabenweißes», erscheinen seine Bücher in enger verlegerischer Zusammenarbeit mit Hubert Klöpfer. Zuletzt erschienen „Mitbringsel“ (2019 ), „Nichts, nur“ (2021) und „Das Zusammenfalten der Zeit“ (2022). Walle Sayer erhielt über die Jahre namhafte Stipendien und Auszeichnungen, u. a. den Berthold-Auerbach-Preis, den Thaddäus-Troll-Preis, den Basler und den Gerlinger Lyrikpreis, 2020/21 das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds. Er ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und im Deutschen PEN.
Vor vielen Jahren brachte mir einmal eines meiner Kinder eine Puppe nach Hause. Keine Puppe wie bei uns im Kinderzimmer. Aber eine daumengrosse, dunkelbraune Puppe eines Falters. Ich begrub die Puppe auf gut Glück in einen grossen Topf mit Erde und vergass Puppe und Gefäss. Dank meiner Vergesslichkeit stand der Topf bis tief in den Herbst hinein in einem beheizten Zimmer. Und als es draussen schon herbstlich kalt wurde, holten mich wiederum meine Kinder, zogen an mir herum und riefen aufgeregt durcheinander, in meinem Zimmer wäre ein Tier, ein riesiges Tier.
Totenkopfschwärmer sind bei uns selten, wie alle Schwärmer nachtaktiv und geschlüpft von beachtlicher Grösse. Sie erreichen eine Flügelspannweite von über 10 cm. Die Raupen ernähren sich von Kartoffelpflanzen. Ihre Zeichnung auf dem Rücken gibt ihnen ihren Namen. Wesen der Nacht!
So haben auch die vier besprochenen Bücher in der einen oder anderen Weise mit der Nacht, mit dem Tod, mit dem Sterben zu tun, jedes auf seine ganz eigene Art und Weise – aber jedes mit Qualitäten, die sie zu literarischen Perlen machen.
„Die Literaturblätter und literaturblatt.ch sind Leuchttürme im trüben Digitalungefähr des literaturkritischen Meinungsbetriebs. An ihnen sollte man sich orientieren.“ Simon Strauß
„Lieber Gallus, soeben flattert das neue Literaturblatt zu mir ins Haus. Es ist wieder einmal ein wunderbares Kunstwerk daraus geworden, ich gratuliere Dir. Und ich danke Dir herzlich dafür, daß mein „Bildnis meiner Mutter“ dabei sein darf. Ich fühle mich geehrt!“ Wolfgang Hermann