Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/07

Lieber Bär

Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von einem Stammgast im Literaturhaus Thurgau, „meinem Literaturhaus“. Vorauszuschicken ist, dass ich nur ganz selten schriftliche Reaktionen auf die von mir organisierten Lesungen erhalte. Unter den seltenen finden sich von grossem Zuspruch bis direkter, unverblümter Kritik alles. Das riskiere ich gerne, zumal ich nicht nur die grossen Namen einlade. Aber die Mail letzthin beschäftige mich doch etwas mehr: „Der Stoff … eine super Idee, geradezu kafkaesk, aber die Sprache sehr enttäuschend, auf Niveau Trivialliteratur, also wenig kunstvoll, wenig originell, wenig geistreich. Ist das wirklich gute (hohe) Literatur? Ich habe meine Zweifel.“

Bei den fünf Nominierten bin ich mir sicher, dass sie viel mehr sind als trivial. Auch wenn dahingestellt ist, dass „trivial“ ein schlechter Stempel sein muss. Was macht „hohe“ Literatur aus? Gibt es Anhaltspunkte, woran man gute Literatur erkennt? Ich habe alle Nominierten um ein kurzes Statement gefragt, was für sie „gute Literatur“ ist. Sarah Elena Müller, die Autorin von „Bild ohne Mädchen“, schrieb: „Gute Literatur ist für mich erweiterte Erfahrung, und Erfahrung ist dann wertvoll, wenn sie über das Gute und Schlechte hinausweist, in einen Raum führt, wo Sicherheit nicht durch Kategorien, sondern durch Verschränkung hergestellt wird.“ Ein erstaunliches Statement schon deshalb, weil es weit über formale und sprachliche Massstäbe hinausweist und bewusst macht, wieviel mehr Literatur sein kann und muss, als blosse Unterhaltung.

Sarah Elena Müllers Roman macht ihr Statement mehr als deutlich. Ich mag an diesem Buch die Provokation, sei sie thematisch, inhlatlich oder sprachlich. Der Text knirscht zwischen den Zähnen und will alles andere als flutschen. Aber natürlich gibt es viele Leserinnen und Leser, die sich mit ihrer Lektüre nicht in unsicheres Terrain wagen wollen. Ich erinnere mich an einen Freund, der meinte, er hätte in seiner Freizeit keine Lust, sich mit „fremden“ Problemen herumzuschlagen.

Liebe Grüsse und knirschende Lektüre!

Gallus

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Lieber Gallus

Apropos «Knirschen» in der Literatur: Dank deinem Besuch in unserer Buchhandlung letzte Woche war und bin ich gerade in grossartiger, sinnlicher und nicht knirschender Literatur unterwegs. 

Dein Tipp Maja Haderlap! Nach eurem Verlassen des Bücherladens hatte ich etwas Zeit und begann «Nachtfrauen» zu lesen, war sofort mit der Protagonistin Mira in Kärnten unterwegs und wurde durch eintretende Kunden arg aufgeschreckt!
Was für eindringliche wortgewaltige Sätze! Diese Literatur macht süchtig! Gut, dass die Autorin nicht jedes Jahr ein Buch schreibt!

«Sie war auf einmal voll Schlaf, in dem verschwommen ihre Kindheit lag, verstellt von den Jahren, die sich dazwischen geschoben hatten. Mira war es, als glitte sie in einen Traum, den sie stets von neuem träumte, in der Hoffnung, dass er endlich aufhörte…. So schnell konnte sie gar nicht denken, wie sie von den Gerüchen und Schattierungen der Kindheitsgegend erfasst und mitgerissen wurde.»

Diese Sätze knirschen nicht, sie duften!

Was zeichnet gute Literatur aus? fragst du. Wie Sarah Müller dir geantwortet hat, geniesse auch ich es, beim Lesen in einen unbekannten Raum, in eine unbegrenzte Zeit geführt zu werden, wo mir Gewagtes, Unerwartetes, Einzigartiges, Schockierendes oder auch Trauriges begegnen. So entstehen eindrückliche Bilder in mir, anstelle von Farben mit Worten gemalt, menschliches Sein in seinen bunten Facetten.

Für mich darf es «Knirschen», wenn es zum Inhalt passt. Ich liebe besonders  sinnliche, duftende, winddurchwehte Texte, Spiegelungen in Raum und Zeit.

Beispiele sind:
«Die Welt, die es noch nicht gibt und die, die in der von Danijel erzählten Geschichte vor unseren Augen entstehen wird, ist von einer Stille vom Himmel zur Erde durchdrungen. In diese Welt kommt eine Geschichte, die auf so festen Fundamenten wie der Erinnerung und der Phantasie eines Kindes beruht.» («Als die Welt entstand» von Drago Jancar)

Und:
«Als der Morgen über der Stadt erwachte, erwachte er tief in den Häusern, und nichts drang bislang heraus auf die Gassen und Plätze. Der Zug stürmte aus der Nacht herbei, und stürzte sich in den entstehenden Tag, rasch wird er den Mittag umfahren und sich in den Nachmittag neigen. Die Strecke zog sich teuflisch hin.» («Die Verweigerung der Wehmut» von Florjan Lipus)

Sprachlich und inhaltlich unterschiedlich ist das für mich Literatur von starker Ausdruckskraft und eigenständigem Charakter. Dies macht meines Erachtens ihre hohe Qualität aus. Sofort entsteht ein unvergleichlicher Raum, eine packende Atmosphäre.
Dies setzt voraus, dass ich ein Buch nicht nur zur Entspannung lese, sondern mich offen auf die Reise zum Kern des Werkes aufmache.

Seit ich als Hausarzt pensioniert bin, kann ich neben der aktuellen Belletristik  auch von mir noch nicht gelesene Klassiker wie «Der grüne Heinrich» (Gottfried Keller) oder «Der Jüngling» (Dostojewskij), um nur zwei Beispiele zu nennen besser geniessen, da ich auch tags lesen kann. 

Nun sind wir vom Schweizer Buchpreis abgekommen, der Auftritt von Demian Lienhards «Mr.Goebbels Jazz Band» muss noch etwas warten, ich bin sehr gespannt, ob dieses Buch fetzt und grooved! 

Ich freue mich auf unsere baldige Begegnung, wo Lyrik uns möglicherweise verwirren und anregen wird!

Herzliche Grüsse

Bär