Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz

Tarjei Vesaas ist einer der Grossen der norwegischen Literatur. Aber vielleicht ist Tarjei Vesaas mehr. Karl Ove Knausgård bezeichnete „Die Vögel“ einmal als den besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde. Dass der Guggolz Verlag die Romane Tarjei Vesaas in so wunderbaren Ausgaben, meisterhaft übersetzt und wunderschön als Buch, verdienstvoll herausbringt, ist ein grosses Glück – und „Die Vögel“ eine Offenbarung.

Nach seinem Tod 1970 geriet Tarjei Vesaas international in Vergessenheit, obwohl man ihn zu Lebzeiten immer wieder als Anwärter für den Nobelpreis machte. Vielleicht liegt unser Glück darin, dass Karl Ove Knausgård den Autor immer und immer wieder auf einen Sockel stellte, oder in der Tatsache, dass sich seine Romane um das Archaische drehen, so gar nichts mit dem flirrenden Zeitgeist zu tun haben und sich doch um urmenschliche Gefühle und grundlegende Fragen drehen. Vielleicht liegt die Faszination dieser Romane auch in der Nähe zur Natur, in einer Sehnsucht, die angesichts der menschgemachten, klimatischen Bedrohungen immer deutlicher nach Nahrung sucht. Aber vielleicht ist es auch ganz einfach die unbestreitbare Fähigkeit des Autors, in unnachahmlicher Weise Beziehungen, Szenerien und Innenwelten zu beschreiben.
„Die Vögel“ schreibt sich in die Welt eines noch jungen Mannes, der sich in seiner begrenzen Welt mehr und mehr an den Rand, an den Abgrund gedrängt fühlt. Ein Mann, dessen Welt abdriftet, eine Welt, die sich mit der aller anderen streitet, nichts Gemeinsames mehr findet. Tarjei Vesaas beschreibt einen Zustand, der seit der Pandemie auch in der Gesellschaft grassiert.

Tarjei Vesaas «Die Vögel», Guggolz, 2020, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, mit einem Nachwort von Judith Hermann, 275 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-945370-28-5

Mattis lebt mit seiner älteren Schwester Hege allein in einem kleinen Haus irgendwo in Norwegen, über einem See, nicht weit vom Wald, aber abgeschottet vom nahen Dorf. Mattis ist anders. Seine Welt ist klein. Im Dorf schimpft man ihn einen Dussel. Einer festen Arbeit geht er nicht nach. Vielmehr versinkt er immer wieder in stillen Versuchen, eine Antwort auf seine ganz eigenen Fragen zu finden. Hege, nach dem frühen Tod ihrer Eltern, sorgt für ihn, verdient das wenige Geld, das sie über Wasser hält mit Strickarbeiten. Hege ist hängen geblieben; das kleine Haus, die Abgeschiedenheit, die tägliche Sorge um ein Auskommen und Mattis. Manchmal taucht Mattis im Dorf auf, kauft sich im Kaufhaus Bonbons oder sucht nach den Ermahnungen seiner Schwester Arbeit, die ihn aber meist überfordert, auch wenn ihn der eine oder andere Bauer ein paar Stunden gewähren lässt.

Dafür sitzt Mattis viel am See oder in seinem alten Ruderboot und denkt nach, versucht seine Welt zu ergründen und jene seiner Schwester Hege – eine kleine Welt mit grossen Fragen. Mattis sieht und hört aber auch die Stimmen und Zeichen der Natur. Zuallererst die Vögel, Schnepfen, die in diesem Jahr viel früher ihre Bahnen übers Haus ziehen. Er versteht den jungen Jäger aus dem Dorf nicht, der eine dieser Schnepfen vom Himmel schiesst. Mattis fürchtet sich vor Gewittern, dem Blitz, der eines Tages einen der beiden verdorrten Bäume nicht weit vom Haus zerschlägt, zwei Bäume, die man bis ins Dorf Mattis-und-Hege nennt. Mattis ist überzeugt, dass eine neue Zeit angebrochen ist, dass sich die Dinge verändern werden. Und es wächst die Angst, dass alles, was sich verändert, zu seinen Ungunsten sein könnte, allein schon deshalb, weil niemand verstehen will, nicht einmal Hege.

Nach seinem Entschluss, nun doch Fährmann über See zu werden, auch wenn niemand darauf gewartet hat, und tatsächlich ein erster Gast auftaucht, der nach seinen Diensten fragt und nach nasser Überfahrt nach einer Unterkunft fragt, nachdem ihn zwei junge Mädchen von der Insel retten und diese Rettung zur triumphalen Einfahrt in den Dorfhafen wird, scheint sich für Mattis alles zum Guten zu wenden. Wenn nur Jørgen, der Holzfäller, den er über den See brachte, sich nicht im Zimmer unter dem Dach einquartiert hätte.
Mit einem Mal glaubt Mattis, die Zeichen stehen gegen ihn, Hege würde sich von ihm abwenden, gegen ihn entscheiden.

Was Tarjei Vesaas an Atmosphäre in diesen Roman hineinbringt, wie gut er sich in Mattis, einen Dussel, seine Welt, seine Sicht, seine Gefühle hineinversetzen kann, wie nah er sich in diesen Dussel hineinversetzt, ohne nur in einem Nebensatz einen solchen aus ihm zu machen, wie perfekt er die Dramatik in seiner Geschichte wachsen lässt, ist ausserordentlich. Mattis versucht seine Welt zu lesen, er sucht nach Erklärungen. Hege, seine Schwester, lebt unter dem gleichen Dach, auf der Schwelle zu einer ganz anderen Welt. Und die Tatsache, dass sie die Welt ganz anders liest, schmerzt Mattis bis aufs Mark.

Ein aussergewöhnliches Buch eines aussergewöhnlichen Dichters!

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten «Das Eis-Schloss», für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und «Die Vögel», das Karl-Ove Knausgård als «besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde» bezeichnete.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Rolf Chr. Ulrichsen

Caroline Wahl «Windstärke 17», DuMont

Stürme toben nicht nur auf See und Land. In „Windstärke 17“ erzählt Caroline Wahl von einem nicht enden wollenden Sturm in einer jungen Frau. Einem Sturm, den sie überall hin mit sich trägt, dem nicht zu entfliehen ist. Ein eindringlicher Roman über das Gewicht einer vermeintlichen Schuld und vergeblichen Fluchtversuchen, am wenigsten vor der Familie.

Man muss Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ nicht gelesen haben, um „Windstärke 27“ geniessen zu können, auch wenn das Personal das gleiche ist. War die Protagonistin in „22 Bahnen“ Tilda, die ältere der beiden Schwestern, so ist es in „Windstärke 17“ Ida. Ida haut ab, hat ihre Sachen gepackt, zumindest das, was sie in den marineblauen Hartschalenkoffer ihrer Mutter packen kann. Wichtigstes Gepäckstück im Koffer ist Ida MacBook, denn Ida möchte schreiben, auch wenn es damit nur noch zäh voranging. So wie alles in einer zähflüssigen Suppe zu versinken drohte und Ida sich nur noch mit Flucht zu helfen weiss.

Seit ein paar Tagen ist Tildas und Idas Mutter tot. Ida war nicht einmal mehr fähig, zur Beisetzung ihrer Mutter zu erscheinen, obwohl sie bis zum bitteren Ende ihrer alkoholkranken Mutter an ihrer Seite war, wenn auch im allerletzten Moment doch nicht. Ihre Mutter hatte alles aufgeräumt und sich zum Sterben hingelegt, als sie alleine war. Auch dies eine Flucht. Und weil Ida spürt, dass ihr die Stadt, die sie mit ihrer Mutter teilte, wie ein schwerer Stein am Hals zieht, muss sie weg. Eigentlich war ausgemacht, dass sie zu ihrer verheirateten Schwester Tilda nach Hamburg fährt. Aber weil da ein anderer Zug stand und Ida nichts zu ihrer Schwester zog, stieg sie ein und fuhr über Hamburg hinaus bis auf Rügen, wo sie in einem kleinen Kaff am Meer eine Stelle in der Robbe findet, einer schummrigen Kneipe. Der Laden gehört Knut, der eigentlich nie spontan Fremde einstellt. Aber da ist etwas zwischen Ida und Knut, etwas, dass aus Knut bald Opa Knut macht.

Caroline Wahl «Windstärke 17», DuMont, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8321-6841-4

Nach einem Schwächeanfall von Ida lädt Knut die junge Frau zu sich nach Hause ein, in ein Zimmer, das mit ‚Mandy‘ angeschrieben ist. Bald stellt sich heraus, dass auch im Haus von Knut ein Sturm wütet, wenn auch ein ganz anderer. Knuts Frau Marianne ist totkrank, voller Methastasen, vorbereitet darauf, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird. Unweigerlich gerät Ida in ein Gefüge, das sie erneut vor die Frage stellt, ob sie bleiben kann oder fliehen muss. Sie lernt Leif kennen, der sich bis vor ein paar Wochen noch als DJ sein Geld verdiente, der sich wie Ida auf der Insel neu zu finden versucht. Idas Stürme reissen an ihr; ihre Mutter, die sich nicht erst mit ihrem Sterben von ihr entfernt, ihre Schwester, die Ida permanent mit schlechtem Gewissen füttert, Knut und Marianne, die sich in ihrer Endlichkeit zurechtfinden müssen und diese Gefühle, die sie für Leif empfindet, die nur zuzudecken scheinen.

Caroline Wahl beschreibt diesen Sturm, der alles durcheinanderwirbelt, den Kloss aus Wut und Zorn und den nagenden Schmerz, jenen entscheidenden Moment im Leben versäumt zu haben, jene Momente mit der Mutter, jene Momente mit ihrem Traum vom Schreiben, dem drohenden Moment mit Marianne, die ihr etwas schenkt, was sie von ihrer Mutter nie bekommen hatte.

Manchmal schwimmt Ida weit hinaus. Manchmal gar über eine Grenze hinaus. Wo sind die Momente, von denen es kein Zurück mehr gibt? Wie schafft man es, den immer wieder aufflammenden Sturm in seinem Innern unter Kontrolle zu bringen? Schafft man das alleine? Wie befreit man sich vom äzenden Schmerz vermeindlicher Schuld? Caroline Wahls Roman ist die intensive Auseinandersetzung mit der gebeutelten Innenwelt einer jungen Frau. Dabei inszeniert die junge Autorin stilsicher und gekonnt und überzeugt nicht zuletzt durch treffende Dialoge und einen erstaunlich ruhigen Fluss des Erzählens.

Nachdem «22 Bahnen» im Rahmen der Frankfurter Buchmesse bereits zum «Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023» gekürt wurde, ist Caroline Wahls Debütroman nun auch «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2024».

Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman «22 Bahnen» bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Ausserdem wurde «22 Bahnen» Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Rostock.

Beitragsbild © Frederike Wetzels

Dacia Maraini «Tage im August», Folio

Als Grande Dame der Italienischen Literatur 1962 als 26jährige ihr Debüt „La vacanza“ auf den Markt brachte, schlug das Buch ein wie eine Bombe und löste einen Skandal aus. Über 60 Jahre nach seinem ersten Erscheinen hat dieser Roman nichts von seinem Glanz, seiner Einzigartigkeit verloren.

Dacia Maraini ist auch mit ihren 87 Jahren noch immer eine Kämpferin für die Sache der Frau, auch wenn sie sich von gewissen Strömungen der Gegenwart distanziert. Sie stellt Frauen ins Zentrum, die sich aus ihren vorgeschriebenen Rollen befreien wollen. Dacia Marainis erster Roman „Tage im August“ stellt eine junge Frau ins Zentrum, die ihr Leben, ihre Entdeckungsreise des Lebens, ihre Sexualität selbstbestimmt und eigenständig erobern will. „Tage im August» spielt in den Sommerferien 1943 am Meer. Die Welt ist im Umbruch. Die Alliierten haben sich im Süden Italiens festgesetzt. Mussolini tut alles, um an der Macht zu bleiben, aber die Allianz mit Nazideutschland bröckelt, auch wenn noch immer italienische Soldaten an die Fronten im Norden entsandt werden. Immer wieder dröhnen amrikanische Bomber über den Strand Richtung Rom.

Dacia Maraini «Tage im August», Folio, 2024, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 235 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-894-2

Für die Sommerferien darf Anna das Internat in der Stadt verlassen. Sie wird mit dem Motorrad von ihrem Vater abgeholt, der ihr unterwegs nach Hause befiehlt, mit der neuen Mutter freundlich zu sein. Wenn sie nicht zuhause ist, erkundet sie den Strand, hängt mit Gleichaltrigen herum und probiert die Wirkung ihrer Erscheinung auf all die gierigen Blicke vieler älterer Männer aus. Anna ist 14 und will wissen, was aus den Momenten am Strand zu holen ist. Sie ist alles andere als vorsichtig und zurückhaltend. Ich begleite Anna in Situationen, die mehr als nur knistern und jederzeit entgleiten könnten. Und doch bleibt Anna passiv, ihrer Wirkung aber voll bewusst. Nichts von der damals noch weitverbreiteten Vorstellung, ein junges Mädchen hätte die schiere Pflicht, vorsichtig und zurückhaltend, brav und anständig zu sein. Ihre Selbstbestimmtheit ist ihr Privileg. So ganz anders, als das, was man(n) damals wie heute noch vom Frausein erwartet.

In Dacia Marainis Roman scheint es kein Morgen zu geben. Weil man im tiefsten Innern weiss, dass bald kein Stein auf dem anderen bleiben wird, wiederholt man mantraartig, dass der Krieg nicht mehr lange dauern wird. Was auf den italienischen Faschismus folgen wird, auf die drohende Niederlage, den Zusammenbruch des momentanen Machtgefüges, damit will man sich nicht auseinandersetzen. Nicht einmal Annas Vater, der als Werkstattchef in der Wohnung unter seinem Chef lebt und seine neue Frau regelrecht bändigen muss, weil diese den Umsturz auch in der kleinen Firma wittert, ein Umsturz zu ihren Gunsten. Man lebt mit permanenter Angst, die jungen Männer mit der, doch noch eingezogen zu werden, die Einwohner vor den drohenden Bomben und viele mit dem Untergang der aktuell Mächtigen die zu erwartenden Konsequenzen.

Dacia Maraini erzählt in „Tage im August“ konsequent aus der Sicht einer ganz jungen Frau, (Ganz hinten im Buch steht: Auf Wunsch der Autorin wurde für diese deutsche Ausgabe das Alter der Protagonistin von elf auf vierzehn Jahre geändert.) eines Mädchens, dass sich ihrer Wirkung voll und ganz bewusst ist und die wissen will, was sie damit auslösen kann. Ich las den Roman mit grossem Erstaunen, denn in keiner Zeile, nicht einmal in der Art des Erzählens verrät der Roman sein Alter. Er ist so jung und frech wie damals, auch wenn er heute keinen Skandal mehr auslöst. „Tage im August“ ist unbedingt lesenswert. Man riecht ihn!

Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.

Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin, Moderatorin und Yogalehrerin.

Beitragsbild © Mauro Ruffini

«Die russische Fantasie ist unendlich, unermesslich. Sie kennt keine Grenzen.» (8)

«Der Grosse Gopnik» von Viktor Jerofejew : wahrlich ein Opus magnum!
Der Grosse Gopnik hat mein Buch zerbombt wie die Ukraine. Seltener Volltreffer! Er hat die Welt gezwungen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Er hat jedes Dasein unmöglich gemacht.

Viktor Jerofejew am 28. Internationalen Literaturfestival Leukerbad 2024 zusammen mit seiner deutschen Stimme Thomas Sarbacher © Sophie Tichonenko / Internationales Literaturfestival Leukerbad

«Russland wird aus dem Krieg auftauchen als ein unbegreifliches, unberechenbares Land.»
«Wann nur wird Europa in Bezug auf Russland klarsehen? Ich denke, niemals.»
«Im Unterschied zu Europa ist Russland antihistorisch, es hatte niemals eine Geschichte mit philosophischer Bedeutung.»
«Das Leben an und für sich ist viel schöner als die Menschen.»
«Die russische Fantasie ist unendlich, unermesslich. Sie kennt keine Grenzen.»
«Ich weiss, in Russland kann man sich nicht rechtfertigen. Besser so tun, als erinnere man sich an gar nichts, den Dummen geben oder einfach verrückt werden.»

Lieber Gallus

Heute Morgen früh habe ich «Der Grosse Gopnik» von Viktor Jerofejew fertiggelesen, benommen und nachdenklich. Nach der Begegnung mit dem sympathischen Autor in Leukerbad, dem hochinteressanten Gespräch dort und den gehörten Ausschnitten war ich motiviert, die 600 Seiten dieses Buches sofort in Angriff zu nehmen, unterbrochen nur von einer Bergsteigerwoche in Slowenien. Bisher kannte ich den Autor nur vom Namen her. Jerofejew sagte in Leukerbad, im Zentrum des Buches stehe der Mensch.

Dieses mit Episoden aus mehr als hundert Jahren vollgepackte Buch ist nicht einfach zu erfassen: Autobiografie, aktuelle Geschichte und Politik und der Blick auf die – gefährdete – russische Kultur. Klärende Gedanken über den Konflikt Russland-Ukraine. Begegnungen in Hinterhöfen, erstklassigen Hotels, Datschas und Bordellen auf mehreren Kontinenten, geschildert in einer bilderreichen Sprache, alles kunstvoll verwoben ergeben ein lebendiges Bild der aktuellen Welt. Schauplätze sind u.a. Paris, Dakar, Chicago bis Japan, natürlich Russland. Der Vater des Autors war ein hochrangiger russischer Diplomat.

«Nicht nur Mama konnte mich als Schriftsteller nicht leiden. Ebenso wenig, wenn nicht noch weniger, konnte mich die Regierung des Grossen Gopniks ausstehen.»
«Es quält mich, darüber nachzudenken wann und warum sich ein so lieber kleiner Junge, den alle mochten, in einen Menschen verwandelt hat, der zu Dingen fähig ist, die man nur als schrecklich bezeichnen kann.» (Brief von der Mutter)

Viktor Jerofejew «Der Grosse Gopnik», Matthes & Seitz, 2023, aus dem Russischen von Beate Rausch, 614 Seiten, CHF ca. 35.60, ISBN 978-3-7518-0935-1

Klug verwoben mit dem eigenen Leben des Autors lerne ich Charakter und Handeln des grossen Gopniks kennen, sein Aufstieg aus einem Petersburger Hinterhof zum langjährigen Herrscher über Russland. Unverkennbar Putin.
Das Buch ist gut lesbar, aufgeteilt in zwei Teile und 181 kürzere und längere Abschnitte. Zeitlich und räumlich entsteht ein beeindruckender Kosmos, wo sowohl Kritik wie Humor wie auch Ernst Platz haben. Da sowohl der Westen wie auch der Osten kritisch durchleuchtet wird, hinterlässt die Lektüre ein besseres Verständnis für die aktuelle Situation.

«Doch wie sich richtig verhalten, um irgendwann ohne Furcht zurückkehren zu können?»
«Den Krieg beim Namen nennen oder entsprechend den Forderungen Moskaus den Krieg nicht für einen Krieg halten?»
«Sich wegducken, sich verlieren oder sich frei äussern?»

Wie meisterhaft all das Persönliche, das Historische, die Kultur Europas und Russlands miteinander verwoben ist, haben mich begeistert. Die Kritik und Einordnung Europas aus russischer Sicht helfen, Russland besser zu verstehen. Hoffnung?
Die wunderbare Übersetzung von Beate Rausch (sie macht dies seit Jahren sehr gekonnt), macht dieses Buch zu einer sehr empfehlenswerten Sommer-Lektüre. Dieses Werk wird im jetzigen Russland kaum toleriert werden, es ist auch zuerst nur auf Deutsch erschienen, erst vor kurzem gibt es eine russische Ausgabe.

«Die parallele Lüge von amerikanischem Liberalismus und Konservatismus hat den amerikamischen Gopnik hervorgebracht – Trump.»
«Bisher war Dummheit gewissermassen ein sogar liebes und rührendes Phänomen, über das Erasmus geschrieben hat, aber jetzt hat sie etwas tödlich Toxisches angenommen und ist als unheilbare Krankheit über uns gekommen.»

Herzlich
Bär

Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, wurde weltweit bekannt durch seinen 1989 erschienenen und in 27 Sprachen übersetzten Roman «Die Moskauer Schönheit». 1979 wurde er wegen seiner Beteiligung an der Literaturanthologie «Metropol» mit von der Zensur verbotenen Texten verschiedener Autoren aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab er diesen von ihm als »Röntgenapparat, der die ganze Gesellschaft durchleuchtete« bezeichneten Almanach in einer Reihe neu heraus. Zudem ist er Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe. Er schreibt regelmässig für die New York Times Book Review, DIE ZEIT, die FAZ und DIE WELT und gilt als kritischer Intellektueller wie auch als einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren.

Beate Rausch, 1955 geboren, studierte Slawistik und Germanistik in West-Berlin und Leningrad, arbeitete viele Jahre an Universitäten in Moskau und St. Petersburg. Heute lebt sie in Ulm, St. Petersburg und Triest. Sie übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms.

Boris Hoge-Benteler „Klosterberg“ (Romanbeginn), Plattform Gegenzauber

1.

Gartenhaus

Hagebutten und Kastanien auf dem Schreibblock schweben, von oben fotografiert, über dem linienlosen Weiß. Der Kopf. Sein Hängen. Das Klicken des Kugelschreibers.

 

Flur

Der Tunnel ist mir fremd, und ich habe Angst. Nicht aber, dass ich allein bin, ängstigt mich, nicht die vielen nur vage auszumachenden, geschlossenen Türen zu beiden Seiten, nicht die Unkenntnis dessen, was sich hinter ihnen wohl befinden mag, auch nicht die Abwesenheit meiner Schritte auf dem lautlosen Teppich, sondern allein, in diesem Augenblick, der Umstand, dass hinten, ganz weit hinten eine Tür sich öffnet und wieder schließt zu einem Licht, das mich auffordert, ja zwingt, nicht stehenzubleiben und immer weiter darauf zuzugehen.

Nur darum drossele ich meinen Gang, tausche Neugierde und düstere Erwartung ein gegen Achtsamkeit, spüre meine Füße in den Socken, in den Schuhen, die Sohlen auf dem Teppich, das Abrollen der Ferse erst links und dann rechts und wieder links und wieder rechts, spüre meine Hände in den Seitentaschen meiner Jeans, mit der einen ein Feuerzeug umfassend, mit der anderen einen glatten, nicht ganz runden Stein, spüre ein leichtes Jucken an drei Stellen meiner Kopfhaut, einen leicht bitteren Geschmack auf der Zunge, aufsteigende Luft im Magen, ein nervöses Drücken im Darm. Und obwohl das alles nicht angenehm ist, versuche ich, es mir einzuprägen und es zu bewahren, während der Tunnel mich dunkel umgibt und das Licht dort hinten immer kleiner wird und sich immer weiter, mich an sich ziehend und mich nicht loslassend, von mir entfernt.

 

Fahrt

Alle Erwartung frisst sich zurück in meinen Bauch, und ich wende, mit bereits geschlossenen Augen, den Blick ab, den ersten und anhaltenden durch das Fenster hinter dem Schreibtisch, wende ihn ab von den Ställen und der Schmiede, der Wiese, dem Zaun, dem Rest einer Mauer. Ich verstaue das Schreibzeug, den Walkman, alles Umherliegende in Tasche und Rucksack, streife die Jacke über, streiche erneut und erstmalig mit der Hand über den blassgelben und beigen Frotteebezug des Kopfkissens und der Decke, sauge den Geruch nach starkem Waschmittel ein und nach kaltem Staub, sauge den blaugrauen Teppichblick ein, den Blick auf Furnierholz, die Schublade des Nachttischs, das Milchglas der Lampe, das Kreuz darüber, sauge das alles, kaum wurde es vor mir ausgeschüttet, ein, denn nichts soll zurückbleiben, alles sei rückwärtig, bis sie mir übergehen, Augen und Hirn, und ich das Zimmer verlasse, den Flur, die Wohnung, das Treppenhaus mit den hölzernen, nicht endenden, ächzenden Stufen.

Draußen schiebe ich meine Sachen auf den Rücksitz des Wagens, schließe alle Türen, auch den Kofferraum, steige ein, starte und fahre los, im Rückwärtsgang, den schmalen Weg entlang durch den Garten und den Park mit seinen Gemüse- und Blumenbeeten und alten Bäumen, vielleicht sind es Linden, vielleicht auch Kastanien, rolle vorbei an Schmiede und Töpferei, einem Seiteneingang, einem geparkten dunkelblauen VW Golf, passiere rechts das sich jäh und wie von selbst öffnende Eisentor, passiere die verlassene Pforte, die lange weiße Frontseite des Klosters, das rotgeklinkerte Gästehaus, den Parkplatz, die Obstwiesen, die Schule, rolle weiter zurück bis zur Kreuzung, biege nach links ab, schaue auf das Gelb einer Telefonzelle, auf die bunten Auslagen eines Kiosks, nehme den Fuß von der Bremse, gebe Gas und schlängele mich über etliche Kurven den Berg hinab. Fahre den Klosterberg hinab. Bewege mich dabei rückwärts und verschwinde, den Blick wiederum auf Gelb, doch diesmal des Ortsschildes, gerichtet, in einem Wald, einem dunklen Tannenwald, auf den nach langer Zeit braune Äcker folgen, dann wieder ein Wald, Hügel mit grauen Stoppelfeldern, Wald und wiederum Hügel, die Straße in Schlangenlinien den Fluss entlang und irgendwo dort hinten, jenseits des Tales und steil herauf, in schwindender Ferne, mir schwanend: das Dorf und das HAUS.

Ich stelle jetzt, Pauls Wunsch gemäß, vieles vor mich hin, als käme es einer Sichtung gleich, bedenke die Zeit und ihre Lügen, unzählbare Versuche, mir weißzumachen, dass sie vergehe.

Ich entkomme nicht und komme auch nie an. Und unterwegs werde ich mich nicht verlieren im schönen Detail. Denn das schöne Detail ist nicht schön, und ich verliere mich nicht in, sondern ich kralle mich fest an ihm.

 

Flur

Ich stehe vor einer hellen Tür und weiß nicht, ob ich sie öffnen soll. Das Tageslicht, das für mich ganz plötzlich von außen durch die obere und untere Glasscheibe dringt, sorgt dafür, dass ich abrupt die Augen schließe und sie nur zögerlich und blinzelnd wieder öffne. Hinter mir weiß ich einen langen dunklen Flur, dessen Ausgangspunkt mir in diesem Augenblick entfallen ist.

Ich habe Angst in beide Richtungen.

Die Tür hat, glaube ich, im Gegenlicht einen sehr dunkelgrünen Rahmen.

Wenn ich wüsste, ob und hinter welcher der vielen abgehenden Türen in meinem Rücken sich ein Ort des Unterschlupfs befindet, vielleicht ein dunkler und enger Wäsche- oder Putzraum, eine Dusche oder eine Toilette, würde ich mich, vielleicht, jetzt, in diesem Augenblick, umdrehen, um ihn aufzusuchen. Mich einzuschließen in einer der Kabinen. Vielleicht auch zwischen den Eimern und Geräten einer Abstellkammer. Um Zeit zu gewinnen.

Die Tür verfügt über einen Stoßgriff, rechteckig, aus schwarzem Kunststoff. Keine Klinke. Zum Aufschieben oder  ziehen, je nachdem. Sie ist nicht verschlossen. Sie führt nach draußen, kein Zweifel.

Wie mit der Nase eines Kindes am Glas mit Blick von drinnen nach draußen: Dort sitzen und bewegen sich große Menschen, wie viele, ist von hier aus nicht zu erkennen. Etwas trübt die Sicht, Nebel oder Rauch. Akustisches nehme ich nicht wahr.

Welche Art des Öffnens, frage ich mich, wäre das, öffnete ich die Tür ganz langsam oder versuchte ich, sie aufzustoßen, ruckartig, und welchen Ausmaßes wäre dieses Öffnen, und was würde sein, und was würde folgen.

Ich umfasse den Griff, gebe mir einen Ruck: der allerdings nicht oder nur halb nach vorn, nach draußen, sondern zugleich nach hinten losgeht, ins Dunkle, wo ich mich rasch verkrieche, in irgendeiner Ecke, fort bin und unauffindbar, während ich im selben Augenblick und etwas ungelenk nach vorne kippe und mich und einen nicht leicht zu bestimmenden Teil von mir wiederfinde am Ein- oder Ausgang eines Hofes.

 

Kabine

Ich sitze im Dunkeln und gehe davon aus, dass ohne Licht die Zeit nicht vergeht. Dass sie anhebt und vergeht, nur wenn es hell ist.

Wenn ich an die Fahrt denke, dann nur an ein stehendes Bild, vielleicht auch mehrere, aber immer stehend. Dass keine Gefahr ausgehe von ihnen.

Was, frage ich mich, werde ich tun, wenn jemand kommt und das Licht anschaltet? Mich auf keinen Fall räuspern, nur nichts zu erkennen geben, nichts, das sich zurückverfolgen, sich einfordern ließe. Ich werde die Luft anhalten, den Herzschlag herunterfahren, mir die Fluchtwege vor Augen führen, auch das Heimweh verdrängen, es mir verbieten, wonach auch. Nur im Dunkeln entfällt die Frage, in welche Richtung ich denken oder schauen und mich bewegen werde.

Doch wenn das Licht angeht, seltsam, wird Paul dann denken, dass die Tür der Kabine verschlossen ist. Dann wird er wissen, was los ist, was ich getan habe, wird, nur kurz und ohne sie nach unten zu drücken, die Hand auf die Klinke legen, wieder heben, mit den Fingernägeln fast und doch nicht, aber fast schon hörbar, über die glatte Furnierschicht der Tür streichen, um sich dann, mit leichtem Rauschen, wieder zu entfernen. Das Licht zu löschen. Und seine Schritte auf dem Teppich des Flures und die Richtung seines Fortgehens werden nicht mehr auszumachen sein.

Oft, denke ich, wird von jetzt an diese Kabine der Ort meines Rückzugs sein.

 

Hof

Als wäre ich, gerade jetzt, an einem trüben Tag und in fremder Umgebung aufgewacht. Es ist weniger hell, als es der Übergang von Schlaf zu Nichtschlaf vermuten ließ. Ein kühler, etwas milchiger Nachmittag ist dies. Rauch und Nebel weiten die Grundfläche des Hofes, die in vermeintlicher Ferne eingefasst scheint von einer vage verlaufenden, in blassem Rot sich verlierenden Mauer.

Die Welt ringsum ist nicht vorhanden, innerhalb der Mauer jedoch nehme ich gleichzeitig Verschiedenes wahr: vorne einen Grill, qualmend, darauf graue, braune oder geschwärzte Würstchen, zwei Bierkisten, einige Flaschen Cola, Becher, zwei Bierbänke und einen Tisch.

Die Personen zu zählen, liegt mir jetzt fern, es scheinen viele, aber mir fällt auf, dass sie alle Jacken tragen und dass doppelt so viele Augen sich jetzt, womöglich, auf mich richten und mir zu sagen scheinen: Jetzt musst du etwas tun oder etwas sagen. Noch stehe ich abseits, aus Scham, dass sie mich sehen, doch schon höre ich eine Stimme, die ich kenne, dann sehe ich ihn auch: Bruder Paul.

„Da bist du ja.“ Und prompt werden mir, viel zu schnell, die vorgestellt, denen ich zugeordnet werde, die mich einarbeiten und von nun an begleiten sollen, es sind vier: Tom, Liv, Chris und Ka.

Dann sitze ich etwas krumm auf einer der Bänke, eine Bierflasche in der Hand, zwischen ihnen. Das Bier macht die unruhigen Hände, macht den nervösen Magen kalt. Stimmen erfasse ich, doch keine Worte. Paul befindet sich nicht weit von mir. Von oben ragt der Ast irgendeines Baumes ins Bild, das hin und wieder flackert, wie unentschieden zwischen Farbig und Schwarzweiß.

„Vergiss nicht“, höre ich ihn durch das Blättergewirr und die Stimmen der anderen hindurch zu mir sagen, „morgen, um halb acht.“

 

(Der Roman „Klosterberg“ erscheint im Herbst 2025.)

Boris Hoge-Benteler „Liebe Dunkelheit. Briefroman“, kul-ja! publishing 2023, 304 Seiten, ISBN: 978-3-949260-13-1

Boris Hoge-Benteler, geboren 1979 in Marburg, aufgewachsen in Büren (Westf.), studierte Neuere deutsche Literatur, Italienisch und Geschichte in Berlin und Wien und promovierte in Münster über Russland-Konstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er arbeitet als wissenschaftlicher Bibliothekar in Jena und lebt in Weimar. 2022 erschien sein Debütroman „Sonnenstadt“, 2023 folgte sein Briefroman „Liebe Dunkelheit“.

Der Autor auf literaturport.de

Beitragsbild © Miriam Benteler

Franziska Gänsler «Wie Inseln im Licht», Kein & Aber

Woran hält man sich, wenn einem der Boden unter den Füssen weggerissen wird? Was passiert, wenn alle Sicherheiten wegbrechen? Wie schon bei Franszika Gänslers Debüt „Ewig Sommer“ geht es in ihrem neuen Roman um Existenzielles. Eine junge Frau sucht nach Erklärungen und muss feststellen, dass ihr Leben auf Sand gebaut ist.

Nichts von früher hätte sich in „behütete Kindheit“ einordnen lassen. Vielleicht die innigen Momente zusammen mit ihrer kleinen Schwester Oda. Die Jahre damals im umgebauten Bauwagen am Meer in den Dünen, als Zoeys Welt aus der Zweisamkeit mit ihrer Schwester bestand, der kleinen Welt an der Küste.
Aber als vor zwanzig Jahren ihre kleine Schwester verschwand, sich das ruhige Leben am Meer mit einem Mal umstülpte, alles und jeder eine Antwort verweigerte, als sie zusammen mit ihrer Mutter zurück nach Berlin reiste in eine ihr fremde Stadt und sich das Verschwinden ihrer kleinen Schwester wie ein Alp an ihr Innerstes klebte, löschte ihre Mutter die Vergangenheit. Oda schien nicht einmal mehr in Erinnerungen zu existieren. Aber das Gefühl einer Mitschuld blieb.

„Wie Schnüre rollen sich die Erinnerungen in mir auf.“

Zwanzig Jahre später ist Zoey zurück an jenem Ort am Meer. Sie wartet auf die sterblichen Überreste ihrer Mutter, die sie in den vergangenen Jahren bis zur Selbstaufgabe gepflegt hatte. Ihre Freundin Ari organisiert alles, während Zoey in diesen Tagen spürt, wie sehr sie die Pflege ihrer Mutter von der Welt entfernt hatte. Aber nicht nur von der Welt. Auch von ihren Erinnerungen an die Jahre am Meer, ihren Erinnerungen an ihre kleine, verschwundene Schwester Oda. Die letzten Jahre galten ihrer Mutter und ihrer Arbeit, schlossen alles andere aus, selbst das Wissen, dass da doch eigentlich viel mehr sein müsste, nicht zuletzt ein Vater, eine Familie, ein Leben hinein in die Welt.

Franziska Gänsler «Wie Inseln im Licht», Kein & Aber, 2024, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5034-1

In den Tagen des Wartens macht sich Zoey auf die Spuren in ihren Erinnerungen. Den Campingplatz gibt es noch, auch die umgebauten Bauwagen ganz hinten vor dem Wald. Der Wagen, den sie mit ihrer Mutter und Oda bewohnte, zerfällt. Nicht so die Bilder, die wieder aufsteigen auf ihren Streifzügen durch den Ort. Sie lernt Menschen kennen, die Zweifel auslösen. Sie wagt nach zwanzig Jahren den Gang zur Polizei und muss feststellen, dass damals keine Vermisstenmeldung aufgegeben wurde. Im Archiv der örtlichen Zeitung findet sie keine Meldung, als hätte es die Katastrophe damals nicht gegeben. Das, was sie sich in den zwei Jahrzehnten des Schweigens, der Verdrängung zurechtgelegt hatte, beginnt nach und nach zu bröckeln.

„Die Mutter, Oda und ich. Wir waren ein Körper mit drei Köpfen, und der Wagen war unsere Höhle.“

Oda war fünf, Zoey sieben. Als Oda verschwand, waren sie beide allein. In Zoeys Erinnerung gingen sie zusammen in den Wald. Und Zoey kehrte allein zurück. Warum waren sie damals allein? Wer waren die Menschen, die damals im Wald waren und zumindest in ihrer Erinnerung Deutsch sprachen? Warum verliessen sie fluchtartig den Campingplatz am Meer, um nach Deutschland zurückzukehren? Warum wartete man nicht? Warum suchte man nicht? Fragen, die jetzt zu brennen beginnen. Fragen, die sich erst jetzt, nachdem Zoey sich aus der allumfassenden Umklammerung ihrer Mutter lösen kann, mit aller Vehemenz aufdrängen und Antworten fordern, Antworten, um ihr Leben wieder aufnehmen zu können.

„Ich versuche irgendwie, nicht zu ertrinken.“

„Wie Inseln im Licht“ lebt von dieser Vehemenz. Zoey spürt erst jetzt, wie sehr sich das Schweigen, das Verschweigen, das Verleugnen wie ein Gewitter über ihr zusammenzieht. Dass sie erst dann in ihr Leben zurückkehren kann, wenn Fragen beantwortet sind und sie sich an Gewissheiten festhalten kann. „Wie Inseln im Licht“ ist die Entladung dieses einen Gewitters. Ein Sturm, der durch ein Haus aus Ahnungen und Interpretationen fegt. „Wie Inseln im Licht“ ist ein Buch der Befreiung, das sich aber nicht in erster Linie auf die Auflösung bohrender Fragen fokussiert, sondern auf die Auswirkungen jenes Sturms in der gebeutelten Seele einer jungen Frau. Franziska Gänslers Roman folgt einer verschlungenen Spur nach Innen und Aussen, in einer Sprache, die von Verletzlichkeit und Sehnsucht erzählt.

Ein Buch, das man nicht so einfach zurück ins Regal schiebt!

Franziska Gänsler hat in Berlin, Wien und Augsburg Kunst und Anglistik studiert. 2020 war sie Finalistin des 28. open mike. Ihr Debütroman «Ewig Sommer» erschien 2022, er wurde ins Französische übersetzt, für diverse Preise nominiert und 2023 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur sowie mit dem Literaturförderpreis der Stadt Augsburg ausgezeichnet. Sie lebt in Augsburg und Berlin.

Beitragsbild © Bahar Kaygusuz

Das 66. Literaturblatt ist da!

«Wo gibt es das sonst: ein analoges Literaturblatt, von Hand kalligraphiert, sorgfältig illustriert, mit Lesetipps, die überzeugen.» Tabea Steiner

Übersicht aller bisherigen Literaturblätter

«Dein wundervolles analoges Literaturblatt lässt nicht nur das Herz des Schriftstellers Schertenleib höher schlagen, sondern beschleunigt auch den Puls des früheren Typographen. Aus der Zeit gefallen und deswegen umso wertvoller.» Hansjörg Schertenleib

«In unverwechselbarer Handschrift akribisch notiert auf Pappe, was für eine besondere, verrückt einfache und so wirkungsvolle Vermittlung von Literatur.» Nina Jäckle

«Lieber Gallus, ganz herzlichen Dank für das Literaturblatt Nr. 65, das ich wie immer begierig und mit Freude gelesen habe, denn ich vertraue sehr auf Dein Urteil.» Beatrix Katharina Langner

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«Als passionierte Bücherfrau und langjährige SRF-Literaturredaktorin weiss ich aus eigener Erfahrung, wie stark das Bedürfnis beim leseaffinen Publikum ist, Zugang zu haben zu professioneller, unabhängiger Berichterstattung über Literatur. Leider steht den Feuilletons in den herkömmlichen Medien dafür immer weniger Platz  zur Verfügung. Umso schöner, dass es Webseiten gibt wie literaturblatt.ch und das Literaturblatt von Gallus Frei, die diese Lücke mit Knowhow und Herzblut füllen: Sie fördern die Motivation zu lesen und geben Orientierung in einem schier unüberschaubaren Markt.» Luzia Stettler, buchmensch.ch

Maxim Leo «Wir werden jung sein», Kiepenheuer & Witsch

Weil die Kosmetikbranche alles tut, um uns glauben zu lassen, Alterungsprozesse liessen sich aufhalten oder wenigstens verzögern und die Pharmaindustrie mit Hochdruck und gewaltigen Budgets an Anti-Aging-Mitteln arbeitet, ist der gedankliche Versuch, was passieren würde, wenn ein solches Medikament kurz vor dem Durchbruch stünde, absolut dringlich. Maxim Leo tut dies mit „Wir werden jung sein“ mit viel Spannung und grosser Leidenschaft.

Manchmal überfällt mich der Gedanke an meine eigene Endlichkeit, mein Sterben, meinen Tod wie ein Gewitter, das sich direkt über mir mit aller Wucht entlädt. Je nach Alter und gesundheitlicher Situation beschäftigen wir uns mehr oder weniger, oder auch gar nicht damit. Aber wer sich durch Krankheit oder das Schicksal mit einem Mal mit seinem baldigen Ende konfrontiert sieht, dem stellen sich existenzielle Fragen. Wie keine andere Kunstform kann es die Literatur, ein Gedankenexperiment durchzuspielen; Was wäre wenn? Was wäre, wenn man mich totkrank anfragen würde, als Proband bei einer wissenschaftlichen Erprobung eines Medikaments mitzumachen, das Heilung verspricht, mein Leben verlängern könnte, aber mit noch unbekannten Nebenwirkungen einhergehen würde? Was wäre, wenn ein solches Medikament mit genau diesen Nebenwirkungen nicht nur eine Stärkung der Abwehr bewirken würde, sondern eine eigentliche Verjüngung? Was würde mit der Industrie, der Politik, unserer Gesellschaft passieren, wenn wir die Dauer unseres Lebens fast beliebig verlängern könnten? Wenn man nur ein bisschen im Internet recherchiert, scheint man nicht weit weg von der Entwicklung eines solchen Wundermittels zu sein. Maxim Leos Roman „Wir werden jung sein“ ist ein genau solches Gedankenexperiment, fein durchdacht, mit einem erstaunlich milden Ausgang.

Professor Doktor Martin Mosländer arbeitet seit Jahren in seinem Labor im Institut für Biowissenschaften an der Berliner Charité an einem Medikament, das kranke Herzmuskelzellen regenerieren und sogar in der Lage sein soll, das Wachstum neuer Zellen anzuregen. Sein Ziel; chronische Herzmuskelschwächen, die bisher als nicht behandelbar galten, zu kurieren. Für einen ersten „Feldversuch“ im kleinen verabreicht Mosländer sein vielversprechendes Medikament fünf Proband*innen: dem Teenager Jakob, der eben zum ersten Mal sein Herz verlor, Jenny, die seit vielen Jahren alles daran setzt, schwanger zu werden, Verena, einer ehemaligen Schwimm-Olympiasiegerin, Wenger, einem schwerreichen Immobilienmogul, der es gewohnt ist, sein Tun zum Gesetz zu erklären und sich selbst, weil er fand, ein echter Forscher dürfe nicht anderen unerprobte Mittel verabreichen, ohne sie selbst einzunehmen. Selbst seinen in die Jahre gekommenen Collie Charles hat er von dem Medikament unter das Futter gemischt.

Das mit der Jugend (…) funktioniert leider nicht. (…) Weil Jugend vor allem im Kopf stattfindet. Man bekommt die Begeisterung nicht zurück, die Naivität, die Neugier. Und diese ständigen ersten Male.

Maxim Leo «Wir werden jung sein», Kiepenheuer & Witsch, 2024, 304, CHF ca. 35.90, ISBN: 978-3-462-00375-8

Was auf den ersten Blick wie ein Wunder wirkt und nicht nur bei Mosländer und seinen Proband*innen Euphorie und Hoffnung weckt, wächst sich schnell durch seine unvorhersehbaren Konsequenzen ins Unberechenbare aus. Was für den herzkranken Wenger, der bereits sein Ableben akribisch vorbereitete, wie ein Geschenk erscheint, dem jungen Jakob mit einem Mal seine erst erwachende Manneskraft raubt, der Schwimmerin ganz unerwartet zu sportlichen Höhenflügen verhilft, stürzt die noch junge Jenny in ihrem Wunsch nach Familienglück in eine existentielle Zwickmühle und Mosländer vor fast unlösbare Probleme, nicht nur medizinischer Art. Der vermeindliche Erfolg des Medikaments lässt sich nicht geheim halten und löst eine unkontrollierbare Kettenreaktion aus. Nicht nur, dass sich die Pharmaindustrie, die Wissenschaft global dafür zu interessieren beginnt. Auch zwielichtige Organisationen wittern das grosse Geschäft. Aus den Proband*innen voller Hoffnungen werden Gejagte. Die Situation kollabiert.

„Es war so, als hätte man einen Motor in ein Auto eingebaut, ohne zu wissen, wo sich das Gaspedal und die Bremse befanden.“

Was geschieht, wenn Menschen ihre Lebensdauer aktiv in die Länge ziehen können? Wenn ein Medikament berechenbaren Aufschub verspricht? Wenn Zeit mit einem Mal nur noch eine untergeordnet Rolle spielt? Wenn die Menschheit sich nicht mehr durch Geburten erneuern muss? Immer wieder kam es in der Wissenschaft zu Entdeckungen, die Kolossales versprachen, in ihren „Nebenwirkungen“ aber katastrophale Wirkungen erzielten. Warum tickt der Mensch aus, wenn er Licht am Ende eines Tunnels sieht? Maxim Leo stellt sich diesen Fragen, hängt sie ganz unmittelbar an das Leben seiner Proband*innen. Auch wenn ich dem Buch einen etwas weniger schlacksigen Ton gewünscht hätte und ich dem Ende etwas mehr Pepp, ist „Wir werden jung sein“ eine Fragestellung, die sich aufdrängt!

Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, ausserdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.

Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sven Görlich

Lesekreis „Gegenwartsliteratur“ im Literaturhaus St. Gallen – Rückblick und vielversprechender Ausblick

Überall gibt es sie – Lesekreise. Aber dieser eine in St. Gallen soll sich von allen anderen unterscheiden. Ein Begegnung mit Autorinnen und Autoren auf Tuchfühlung, im vergangenen Halbjahr mit Karl Rühmann und Mireille Zindel, im kommenden mit Rebekka Salm und Jens Steiner.

Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.

«Dienstagabend, sieben Uhr. Wir treffen uns im Bürgerratssaal des Stadthauses zur Abschlussdiskussion meines neuen Romans «Fest». Das heisst, Gallus holt mich am Bahnhof ab und spaziert mit mir durch die Innenstadt dorthin. Und so geht der Abend weiter: wärmend, nährend. Zwölf Teilnehmende des Lesezirkels, die sich in insgesamt drei Sitzungen eingehend mit «Fest» befasst haben, stossen in der Abschlussrunde auf mich. Ich erfahre, wie die Lektüre auf sie gewirkt hat, beantworte ihre Fragen und höre Dinge, die mich riesig freuen. Zum Beispiel, dass Ueli drei Monate lang kein anderes Buch lesen konnte, weil «Fest» ihn so sehr anging. Oder Dieter, der nach zwei Stunden ein Zitat aus dem Roman vorliest und das Gespräch so zu einem perfekten Abschluss bringt. Die direkte Begegnung mit Lesenden und das Gespräch mit ihnen ist äusserst wertvoll, nochmals ganz anders als bei Lesungen, intensiver, weil näher. Und es ist schön zu beobachten, wie sie das Buch – so scheint es – beinahe besser kennen als ich.» Mireille Zindel

Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!

Zwischen September 2024 und Januar 2025 werden dies an fünf weiteren Abenden Jens Steiner («Die Ränder der Welt«, Hoffmann & Campe) und Rebekka Salm («Wie der Hase läuft«, Knapp) sein.

Anmeldungen sind noch immer möglich. ➜ literaturhaus@wyborada.ch.

»Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe.« Gallus Frei, literaturblatt

«Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.» Elke Heidenreich

Szczepan Twardoch «Kälte», Rowohlt

Seit seinem Roman „Morphin“ (2012) gehört Szczepan Twardoch zu den ganz grossen und eigenwilligen Schriftstellern der Gegenwart. In seinen düsteren, beinah apokalyptischen Romanen, die nichts beschönigen und die Abgründe menschlichen Seins mit Tiefenbohrungen bis ins Rückenmark sondieren, keimt wenig Hoffnung. Und gerade deshalb sind Bücher wie sein neuer Roman „Kälte“ existenziell.

„Kälte“ ist nichts für zarte Seelen, keine Erbauungsliteratur, schon gar keine Nachttischlektüre. „Kälte“ fasziniert und schreckt ab, pulverisiert Illusionen, zeigt mit letzter Konsequenz, dass sich Menschsein schlussendlich nur noch auf den letzten Drang zu überleben reduzieren kann – koste es, was es wolle. „Kälte“ ist grosse Literatur, die sich um die grossen Fragen des Lebens dreht: Was bleibt, wenn nichts mehr hält? Was macht Menschsein aus? Gibt es Hoffnung? „Kälte“ ist ein Roman, der in die Knochen fährt, der während des Lesens die Haut erschaudern lässt und zeigt, worin die Kraft der Literatur liegt; in der Berührung.

Konrad Widuch, aus dem schlesischen Polen, reist in den Wirren der russichen Revolution nach Osten, schliesst sich den Trotzkisten an und gründet mit der Revolutionärin Sofie eine Familie, überzeugt davon, Teil einer neuen Weltordnung zu werden. Aber in den Wirren verschiedener Auffassungen von Revolution und dem uneingeschränkten Machtanspruch Stalins zwingt die Zeit Sofie mit den Kindern zur Flucht und Widuch in ein riesiges sibirisches Gulag, einen Ort, über den ich nicht schreiben und dessen Namen ich nicht erwähnen will (Dalstroi). Widuch gelingt mit zwei düsteren Gefährten die Flucht, nicht weil er an eine Rückkehr nach Hause glaubt, aber weil es die einzige Chance ist auf einen letzten Rest Freiheit.

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

Nichts an seiner endlos lange werdenden Flucht ist ein Ankommen. Neben der arktischen Kälte und den Wintermonaten in absoluter Dunkelheit, gepeinigt von Hunger und Krankheiten, findet Widuch mit seinen beiden Gefährten Schutz bei einem weitgehend autark lebenden Taigavolk, wo man ihnen in einer Mischung aus traditioneller Gastfreundschaft und Misstrauen begegnet, sie leben lässt, bis ein Flugzeug aus der Zivilisation die Bedrohung nicht zu Widuch und seinen Gefährten bringt, sondern zur ganzen Siedlung, die abgeschottet vom Weltgeschehen lebt, in einer Ordnung, die einer neuen Weltordnung viel näher kommt als der russische Kommunismus. Nach einem weiteren Blutbad ist Widuch erneut auf der Flucht, am Schluss nur noch auf sich selbst gestellt, bis er im Eis eingeschlossen die Invincible findet, ein Schiff aufs Eis gedrückt und zwei Männer, die auf den Sommer und die Weiterfahrt auf dem Weg zur arktischen Nordostpassage warten. Irgendwann ist Widuch auch auf diesem Schiff allein, wo er mit den Aufzeichnungen seiner langen Reise nach Nirgendwo beginnt, einem Monolog gegen die Einsamkeit, gegen den Wahn.

Jahrzehnte später gelangen diese Aufzeichnungen zu Borghild Moen, die im Sommer 2019 mit ihrer Jacht Isbjørn im Hafen von Pyramiden, einem ehemals sowjetischen Bergbaudörfchen auf Spitzbergen dem Schriftsteller Szczepan Twardoch begegnet, der sich dort eigentlich hätte zurückziehen wollen. Raus aus der Schlinge des Lebens. Borghild gibt Twardoch die Aufzeichnungen zu lesen, nicht nur in der Hoffnung, einen geeigneten Adressaten zu finden, denn Borghild ist unheilbar krank. Die Aufzeichnungen von Konrad Widuch sind die ihres Vaters.

„Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Auch kein Zufall, dass der 2022 in Polen erschienene Roman zeitgleich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der Bühne erschien. „Kälte“ ist auch eine Abrechnung mit dem Argessor Russland, einem Ungeheuer, das alles frisst und schluckt. Eingebaut in den Roman sind regelrechte Schimpftriaden, in den Mund eines Mannes gelegt, dem jede Hoffnung genommen wurde, der ganz auf sich selbst, sein Überleben zurückgeworfen ist. Geschrieben von einem Schriftsteller, der es nicht scheut, bitter notwendiges Kriegsgerät aus eigener Initiative an die Front zu schicken. Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.

In seiner ganz eigenen Kraft strotzend!

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Rezension von «Das schwarze Königreich» von Szczepan Twardoch auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Paweł Śmiałek