Michèle Minelli «All das Schöne», Saatgut

Elisa und Jakob lernten sich erst spät kennen und lieben. Elisa, von einer geschiedenen Ehe verwundet, zieht in das Haus, in dem Jakob hoch über dem Tal seit Jahrzehnten lebt, in ein Haus, in dem die Welt in Ordnung ist, alles seinen Platz hat, auch die späte Liebe zwischen Elisa und Jakob. Bis Jakob stirbt.

„All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa“ ist eine Liebesgeschichte, auch wenn der Tod etwas Grosses wegbrechen liess. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an einen Mann, von dem Elisa erst nach viel Schmerz und Verwundungen neues Vertrauen schöpfte und zu ihm in das Haus über dem Tal zog. In ein Haus mit Weitsicht, ein Haus, das sich über die Jahrzehnte wie eine erweiterte Seelenlandschaft um diesen einen Mann ordnete. Die Liebeserklärung an ein Lieben zu zweit in gegenseitigem Respekt, ohne diese permanente Angst, betrogen und enttäuscht zu werden. Die Liebeserklärung an einen Garten, eine kleine, intakte Welt, voller Leben und Gegenstände, die alle in einer Ordnung zueinander stehen. Die Liebe an ein Leben in Ruhe und Beständigkeit, in dem plötzlich aufbrechen kann, was über lange Zeit blockiert war.

Bis Jakobs Husten, seine Krankheit das Leben im Haus über dem Tal mehr und mehr einnimmt und selbst Jokobs Schwester mit ihrer Hilfe nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Zweisamkeit in diesem kleinen Paradies endlich ist. Jakob stirbt und Elisa bleibt alleine in dem Haus mit Garten und Katzen zurück. Elisa muss sich neu finden. Da ist die Trauer, die Lähmung, der Schmerz und die Sehnsucht. Aber in und um dieses Haus erinnert alles an ein gemeinsames Leben, ist alles durchsetzt von Jakobs Ordnung, seiner sanften Kraft an Garten, Haus und Tieren, der Wärme, die sein Tun und Sein begleitete. Mit einem Mal werden Gemeinsamkeiten zu Erinnerungen, das, was sie wie einen Schatz in sich trägt, wie ein Garten, für dessen Früchte man etwas tun muss.

„Trauer verläuft nicht in geregelten Bahnen. Trauer kennt keinen Massstab und kein Mass.“

Michèle Minelli «All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa», Saatgut, 2024, mit 11 Schwarz-Weiss-Illustrationen von Janine Grünenwald, 96 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-9525244-8-0

Elisas Leben ist an einem Wendepunkt. Kann aus Trauer neuer Mut wachsen? Wie viel stirbt mit? Elisa lebte einst in der Stadt, schälte sich aus einem Leben, mit dem sie sich in den Jahren zusammen mit Jakob versöhnen konnte, das sie besiegte, das zusammen mit Jakob so viel möglich werden liess, dass Elisa sogar für eine Familie bereit gewesen wäre. Jakob war der Mann, der ihr Sicherheit gegeben hatte, sie auch jetzt, nach seinem Tod, noch immer gibt. Selbst in jenen Zeiten, als sich keimendes Familienglück dann doch nicht einstellte und es wieder Jakob war, der sie vor dem Wegsinken rettete.

„All das Schöne“ spielt über vier Jahreszeiten, spiegelt ein Leben, das sich von einem Winter, in dem der Tod sie aus ihrem Glück riss bis in den Winter danach hangelt, in dem Elisa neuen Mut findet, über ein Jahr in Haus und Garten, das ein langes Abschiednehmen ist. „All das Schöne“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das nie in Rührseligkeit abdriftet, eine buchlange Liebeserklärung an ein Leben, einen Plan, eine Ordnung, ein Sein, das von gegenseitigem Respekt getragen ist. Aber „All das Schöne“ ist auch ein Trauerbuch, ein Abschiedsbuch, ein Buch der Selbstvergewisserung. Ein Buch von einer Frau, die mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen ist, die mit jedem Schritt in eine neue Ordnung ihr Leben zurückgewinnen muss.

„In dem ein Leben mit einer Geburt beginnt und mit dem Tod endet, wird es zu einer Geschichte. Alles was mit dir und durch dich war, ist nun zu einer Geschichte geworden. Jakob, mit einem fest verfugten Anfang. Und einem Ende. Auf dieser Wiese vor mir. Ich ziehe die Jacke enger.“

Ein Buch, das wärmt!

Michèle Minelli, Schriftstellerin und Filmschaffende, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und acht Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Minelli ist verheiratet mit dem Schriftsteller Peter Höner.

Janine Grünenwald malte schon als Kind im Architekturbüro ihres Vaters stundenlang. Seit 2015 illustriert sie eigene Comics, Postkarten, Kalender u.a. im Hasenbureaux.ch. Sie lebt und arbeitet in Zürich. All das Schöne ist der erste Roman, den sie illustriert.

«Passiert es heute? Passiert es jetzt?», Rezension auf literaturblatt.ch

«Chaos im Kopf», Rezension mit Interview auf literaturblatt.ch

«Kapitulation», Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anne Bürgisser

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/03

Martin R. Dean erzählt in seinem autobiographischen Roman „Takab und Schokolade“ von Erkundungen über seine Herkunft, dem Gefühl einer Rastlosigkeit, der Suche nach Zugehörigkeit, Familie und Vergangenheit. Auch ein Roman darüber, was Verleugnung und drohendes Vergessen anrichten kann und nicht zuletzt ein Buch über Verlust.

Wir tragen nicht nur Geschichten mit uns, auch Geschichte. Und mit jedem Sterben, jedem Tod brechen Geschichten und Geschichte weg, sinken ins Vergessen. Es sind nicht nur die eigenen Erlebnisse eines Lebens, die sich ins Bewusstsein eingraben, mit denen man lebt, entscheidet, denen man folgt und von denen man zehrt. In unserem Unterbewusstsein begleitet uns mit Sicherheit Eingeschriebenes aus früheren Generationen, als wäre es ein genetischer Code, der erst dann reaktiviert wird, wenn wir uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen beginnen.

Der Schriftsteller Martin R. Dean beschäftigt sich nicht erst mit seinem akuellen Buch mit Herkunft, Zuschreibung und Heimat. Seit drei Jahrzehnten kreist der Schriftsteller immer wieder um seine Herkunft, seine Familie aus mehreren Kulturen, einer aus Norddeutschland stammenden Familie seiner schweizer Mutter und eines aus Trinidad stammenden Vaters. Martin R. Dean, aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen im Kanton Aargau, ist sich seinem Anderssein schon sehr früh bewusst, nicht nur wegen seiner dunkleren Hautfarbe, sondern weil seine Mutter sich nach der Trennung von jenem Vater und eines gescheiterten Traums, in Trinidad heimisch zu werden, nie mehr in jenes Land zurückkehrt. Ein Land, ein Stück Vergangenheit, das die Mutter mehr und mehr aus ihrem Leben verdrängt, nicht zuletzt darum, weil neue Beziehungen der Mutter das Gravitationsfeld der Familie nachhaltig verändern, bis zur totalen Verdrängung.

„Von Raum zu Raum gerate ich immer tiefer in die Geschichte meiner Vorfahren.“

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7

Mit Sterben und Tod seiner Mutter macht sich Martin R. Dean auf auf eine Suche nach der Familie seines leiblichen Vaters. Im Bewusstsein, dass sich hinter den Schwarzweissfotos seiner Mutter, die er aus ihrer Hinterlassenschaft retten konnte, nicht nur ein paar Lebensjahre eines versuchten Familienglücks verbergen, sondern die Geschichte eines ganzen Landes. Es beginnt eine Reise in die Tiefen eines andern Kontinents, ganz anderer Geschichten, einer ganz anderen Geschichte. Jene von Sklaverei, Ausbeutung, Verschleppung, Unmenschlichkeit und Entwurzelung. Jedes Treffen mit Verwandten öffnet neue Türen, Leben, die aus dem Vergessen hervortreten, Leben, die zum eigenen werden. Mit einem Mal offenbart sich ein Wurzelgeflecht, das sich zum Reichtum wandelt. Was ein Leben lang zu einengenden Zuschreibungen und Ausgrenzungen führte, wird durch diese Reise nach Innen und Aussen zu Weite und Perspektive, zu Reichtum und Heimat.

„An den Dingen kleben die Geschichten, und selbst wenn sie nicht mehr in Gebrauch sind, sprechen sie von dem, was sie uns einmal wert waren.“

„Tabak und Schokolade“ ist auch eine Rückeroberung der Mutter, die Suche nach dem verlorenen Paradies, jenen wenigen Jahren unter Palmen, einer Kindheit in der Karibik, die mehr und mehr erlosch. Jene junge Frau, die über dem Ozean ein neues Leben wagte, deren Ehe aber scheiterte und sie mit einem dunkelhäutigen Jungen an der Hand zurück in die Schweiz zwang, starb gleich mehrfach. Damals, als sie einen Traum aufgeben musste, mit der Dominanz eines Stiefvaters und dem Rassendünkel eines späten Lebenspartners.

Den Roman „Takab und Schokolade“ damit aber zu einer reinen Familienerkundung zu machen, wird dem Buch keineswegs gerecht. Sehr schnell wird mir bei der Lektüre bewusst, wie wenig ich über meine eigene Herkunft weiss, wie unbedarft ich mich über all den Schichten meines Seins bewege, wie gedankenlos ich mich in meinen westeuropäischen Privilegien bewege und wie viel Kampf, Leid und Erniedrigung unter den Grundfesten meiner Existenz verborgen sind.

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Meine Väter» (Neuausgabe 2023), «Ein Stück Himmel» (2022), «Warum wir zusammen sind» (2019) und «Verbeugung vor Spiegeln – Über das Eigene und das Fremde» (2015). Martin R. Dean lebt in Basel.

Martin R. Dean «Spiegelungen», Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Illustration © leale.ch

Die Nominierten des Schweizer Buchpreises im Überblick #SchweizerBuchpreis 24/02

Sie sind da. Die Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2024. Drei Titel von vielbesprochenen AutorInnen, ein Debüt und ein Mundartroman, der nicht nur formal aus der Reihe tanzt. Eine illustre Mischung. Eine breite Auswahl mit der nötigen Portion Risiko – und vielen Absenzen.

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis
Lange hat draussen das Schild «Bis auf Weiteres geschlossen» gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois’ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.
Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Auf der Spur des verlorenen Vaters und seines „Töters“– Deutschlandfunk Kultur, 16. Juli 2024 [12:49min.]

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare.


Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von «Stumpenarbeitern» aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den «Wilden» aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.
«Tabak und Schokolade» führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im «Tabakhaus» der Grosseltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

Podcast – Debatte zu dritt» Wir müssen uns den weissen Blick austreiben« Tim Guldimann diskutiert mit dem Schriftsteller Martin R. Dean und der Rassismus- und Genderforscherin Rachel Huber

Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. 

Béla Rothenbühler «Polifon Pervers», Der gesunde Menschenversand
In einer beschaulichen Kleinstadt in der Schweiz passiert Erstaunliches: Kaum gegründet, mischen Sabine und Chantal mit ihrem Verein «Polifon Pervers» und einer neuen Vision von «Onderhaltig» die Kulturszene auf. Risikofreudig und clever agierend, steigen sie als Theater-Produzentinnen zu nationalen Grössen auf und scharen eine illustre Runde um sich: vom eitlen Regisseur Lüssiän über den versoffenen Ghostwriter Iiv, den Lebemenschen und DJ Milan und die opportunistische Schauspiel-Grösse Schontal bis zu Jule und seinen Hanf-Bauern, die unversehens als Performance-Künstler brillieren. Dem Erfolg ordnet der Verein für Unterhaltung im Laufe der Geschichte alles unter, und so folgen auf erste Unsauberkeiten schon bald alle möglichen Formen des Betrugs.
Béla Rothenbühler führt in seinem zweiten Roman die Tradition des Schelmenromans fort – für einmal mit Hochstaplerinnen und auf Luzernerdeutsch. Sein ironisch-satirisches Gedankenspiel über Kultur, Unterhaltung und Geld ist selbst grosse Unterhaltungs-Kunst.

Béla Rothenbühler, geboren 1990 in Reussbühl, freischaffender Dramaturg, Bühnenautor, Sänger, Ghostwriter, Gitarrist, Songwriter, Lyriker und vieles mehr. Seit 2016 Teil des freien Theaterkollektivs Fetter Vetter & Oma Hommage. Zudem Gitarrist, Sänger und Songwriter der Band Mehltau und Songtexter für Hanreti.

 

Michelle Steinbeck «Favorita», Ullstein
«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war schon nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Die öffentliche Preisverleihung findet am Sonntag, 17. November 2024, 11 Uhr im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel im Theater Basel statt.
Der Eintritt ist frei. Die Platzanzahl ist beschränkt. Gratis-Tickets können ab dem 1. Oktober 2024 unter www.buchbasel.ch bezogen werden.

Illustrationen © leale.ch

Für drei Tage war Kufstein das Salz in der trüben Wettersuppe! – Sprachsalz 2024

Vor mehr als zwei Jahrzehnten wagte sich eine kleine Gruppe Schreibender an das Abenteuer, ein Festival für Schreibende im Tirol zu organisieren. Inspiration dafür fanden sie in Leukerbad, in den Schweizer Bergen, wo der Verleger Ricco Bilger in seinem Heimatkanton ein Festival ins Leben rief, das mittlerweile zu den grossen, traditionellen und internationalen zählt.

John M. Coetzee, einer der ganz Grossen der Weltliteratur und Literaturnobelpreisträger, Valerie Fritsch, Meisterin kraftvoller, lyrischer Bilder und Metaphern und Nominierte für den Österreichischen Buchpreis 2024, Vigdis Hjorth aus Norwegen, unübertroffen im Sezieren von Familienstrukturen, Abhängigkeiten und Traumata, Barbi Marković, Trägerin des Leipziger Buchpreises 2024, Hiroko Oyamada aus Japan, die in «Das Loch» eine Anderswelt entdeckt, die alles auf den Kopf stellt, Vladimir Sorokin, einer der bekanntesten russischen Autoren, der seit dem Ukrainekrieg im Exil in Deutschland lebt, Michael Stavarič, ein Sprachkünstler zwischen den Genres, Douglas Stuart, der mit zwei Bestsellern über Kindheit, Jugend, Leben und Lieben im harten Glasgow für Furore sorgte.… um nur einige der grossen Namen zu nennen.

Seit seinem literarischen Durchbruch mit dem Roman «Schande», mit dem er mit dem Booker Price, einem der renommiertesten Literaturpreise, den er schon zum zweiten Mal zugesprochen bekam, zählt der südafrikanische Autor, der mittlerweile in Australien lebt, zu den ganz Grossen, erst recht nachdem er 2003 den Literaturnobelpreis erhielt und 2008 «Schande» mit John Malkovich in die Kinos kam, die Geschichte eines Collegeprofessors, der im von Apartheid zerrissenen Südafrika den Boden unter den Füssen verliert. Wer den Autor erleben will, muss die Gelegenheit nutzen. Sprachsalz schafft es immer wieder, die ganz Grossen für ein Engagement zu gewinnen und damit auch die Gelegenheit, nicht nur den Stimmen der ganz Grossen zu lauschen, sie hautnah zu erleben.

John M. Coetzee © D. Jarosch

Nachdem die Stadt Hall im Tirol, zwei Jahrzehnte lang Austragungsort des Literaturfestivals, das weit über Grenzen hinaus für Aufmerksamkeit sorgt und seit Jahren fix in meinem Kalender steht, sich gezwungen sah, sämtliche Kulturausgaben um die Hälfte zu kürzen, war ein Neubeginn gefragt. Mit Kufstein bot sich ein neuer Austragungsort an und damit wohl auch die Gelegenheit, das eine oder andere zu überdenken. Ob das gelungen ist, wird sich 2025 zeigen, wenn jene wiederkommen sollen, die sich heuer auf zum Sprachsalz machten.

Vladimir Sorokin, der bis zum Ukrainekrieg noch in seinem Heimatland Russland lebte, musste fliehen, weil die Art und Weise seines Erzählens, seine Themen und sein ungeschminktes Fabulieren im totalitären Russland unter Putin keinen Platz mehr hat. Russischen Verlagshäusern wurde unmissverständlich klargemacht, dass regimekritische Literatur nicht geduldet wird. Bibliotheken bekamen die Order, Bücher wie solche von Vladimir Sorokin aus den Regalen zu nehmen. Buchhandlungen führen schwarze Listen von Titeln, die nur noch dem Schredder zugeführt werden. Sorokins neuster Roman „Doktor Garin“ ist eine bitterböse Satire, die die Mächtigen der Welt bis auf ihren Hintern mit Armen und Gesicht reduziert. Ein schillernder und urkomischer Roman, der unzweifelhaft abrechnet mit seiner Gegenwart und einer fiktiven Zukunft, die längst begonnen hat. Dass Sprachsalz dem Autor eine Stimme gibt, ist löblich, auch wenn es ein Versäumnis war, ihn nicht über seine ganz eigene Gegenwart diskutieren und sprechen zu lassen.

Vladimir Sorokin mit der der deutschen Stimme Ernst Gossner © D. Jarosch

Ebenso eindrücklich die beiden bisher erschienenen Romane des Schotten Douglas Stuart, der sich bei seinen Lesungen auf seinen mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Shuggie Bain“ konzentrierte. Ein schonungsloses Sittenbild der schottischen Stadt Glasgow, die in der Wirtschaftskrise der 80er-Jahre zu kollabieren drohte. Ein düsteres Porträt der kleinen Leute, denen die Zukunft genommen wurde, die sich nach allem streckten, was Leben versprach.

Douglas Stuart im Gespräch mit seiner deutschen Stimme am Festival Ernst Gessner © D. Jarosch

Beeindruckend war aber auch österreichisches Schaffen mit den Autorinnen Valerie Fritsch («Zitronen») Eva Maria Gintsberg («Schichtgedichte») und dem Sprachkünstler Michael Stavarič. Sie alle sind Meisterinnen und Meister der Sprache, Schreibende, denen es um weit mehr geht, als bloss Geschichten zu erzählen. Ihr Schreiben ist Musik, mehrschichtig komponiert, nicht für den schnellen Genuss. Literatur, die erst dann seine Wirkung entfaltet, wenn man sich ganz auf sie einlässt. Das zeigte sich vor allem beim Sprachkünstler Michael Stavarič, der ursprünglich beabsichtigte, seinen Roman „Das Phantom“ in einem Satz zu erzählen. Eine Absicht, die der Verlag durchkreuzte. Geblieben ist ein kunstvolles Werk von thomasbernhard‘scher Wucht. Ein Roman, der seinen Glanz erst dann zur Gänze entfaltet, wenn Stavarič selbst zum Instrument wird.

Michael Stavarić, auch Autor von Bilder- und Sachbücher für Kinder (und Erwachsene). Die Reihe über Meeresbewohner wie Kraken, Quallen oder zuletzt «Faszination Haie» hat aus dem Stand die Herzen seiner Leser*innen erobert. © D. Jarosch

Wer öfter an solche Festivals reist, will überrascht werden, reist in der Hoffnung an, Entdeckungen, bisher Unbekanntes mit nach Hause zu nehmen, ein Buch im Koffer, auf das man sich freut und viel verspricht. Ein solches ist „Unterholz. Auszüge aus einem Langgedicht“. Der Beweis dafür, dass Lyrik weder sperrig noch verschlüsselt sein muss, dass genau der Lyrik keine Grenzen gesetzt sind, dass Gedichte schmeicheln und umgarnen können. Eine Performance der Dichterin Romina Nikolić am Sprachsalz, die zu meinem ganz persönlichen Highlight wurde.

Romina Nikolić © D, Jarosch

Sprachsalz war ein Erfolg, der Zuspruch des Publikums trotz der garstigen Witterung beeindruckend. Zu hoffen ist, dass in der Zukunft Gespräche und Auseinandersetzungen mehr Platz erhalten. Wenn Sprachsalz seine Exklusivität nicht nur über die Gästeliste beweisen will, muss am Formalen geschliffen werden. Einzig das sonntägliche Gespräch zwischen dem Nobelpreisträger John M. Coetzee und der Autorin und Übersetzerin Mariana Dimópulos über Fragen zwischen „Muttersprache“ und „Vaterland“ war erhellende Ausnahme.

Grossen Dank an das Sprachsalz-Team. Ich bin im kommenden Jahr wieder dabei!

Beitragsbild © D. Jarosch

Fee Katrin Kanzler „Flipping the bird“, Plattform Gegenzauber

Küßt euch und beißt,
Zwei Otter, in die Dotter, hartgekocht, den Toast.
​​Durs Grünbein


Komm. Du Idiot. Schau nicht, als wären meine Augen aus Dynamit. Sie sind aus Gallerte. Wie die Sülze beim Metzger, wie der Froschlaich am Ufer. Mach das Kopfkino aus. Hör auf das Gurgeln der Amseln. Beweg dich.

Unter Wasser ist es wärmer als oben. Die Sonne steht zwischen den Schlehdornbüschen, noch geht sie früh unter. Pippa lässt sich von der Luftmatratze gleiten, schwimmt in den flachen Uferbereich. Dort hat der See noch etwas Tageswärme gespeichert, nicht viel, noch ist Frühling. Aus der Wiese hängt Hahnenfuß auf den Strand herab, hingekleckste Dotterflecken, und eine Silberweide schleift ihre Zweige über den lehmigen Grund.
Matt folgt Pippa. Je näher er, Bohnenstange, dem Ufer kommt, desto häufiger stoßen seine Knie gegen den Seeboden. Schließlich liegt er neben dem Mädchen, auf die Ellenbogen gestützt, wirbelt Schlamm auf.

Wie du guckst. Wie ein Hund, der sich vergewissert, ob alles in Ordnung ist. Ich wette, dass du noch keine im Bett hattest. In deinem schottischen Dorf, hundert Seelen am Arsch der Welt, Rinder, Schafe, keine Touristen. Ein Himmel voller Möwen, im Sommer zwei, drei Ornithologen zu Gast, und fertig. Jetzt arbeitest du im Schottlandladen, Spirit of Alba, und kommst mit der Großstadt nicht klar. Du fährst alle paar Tage hinaus in die Landschaft, zu Tümpeln wie diesem hier. Seit du da bist, starrst du mich an mit diesem Hundehunger.

Alles an Matt ist größer als an Pippa. In einen seiner Schuhe kann sie beide Füße stecken. Sie hat es ausprobiert, bevor sie ihre zerrissenen Strümpfe abstreifte, bevor sie ins Wasser sprang. Als sie Matts Hand nimmt, durch die trübe Suppe führt, spreizen sich seine Finger. Seine aufgespannte Flosse bedeckt Pippas kompletten Bauch.
Der Wind hat etwas Müll ans Ufer getrieben, das Mädchen fischt einen kleinen, violetten Tetra Pak aus dem Unrat. Wasser, Fruktosesirup, Sauerkirschsaft, Holunderbeerkonzentrat, Limettensaft, Ascorbinsäure. Sie liest Matt das Kleingedruckte wie ein Gedicht vor, bevor sie die Verpackung ins Gestrüpp wirft. Ein Paar Schwingen bringt die Schilfkolben in Bewegung, ein Graureiher steigt in die Luft. Matt lässt seine Hand einige Zentimeter wandern. Hinter den Bäumen lässt sich die Skyline erahnen. Es ist, als hätten sich die Gebäude extra hochgestemmt, als spähe die Stadt eifersüchtig herüber.

Unsere erste Begegnung in der Wunderbar, du warst am Morgen erst aus Edinburgh eingeflogen, ich hielt dir meinen Mittelfinger ins Gesicht. Pippa, Philippa, flipping the bird, sagtest du. Ich fragte dich, ob das eine Songzeile, irgendein Zitat sei. Du hattest es erfunden. Ich beschloss, dass du nur halbseitig ein Idiot bist. Die Hälfte, die Songzeilen produzieren kann, die nach Heidekraut riecht und Klavier spielt, ist in Ordnung. Vertrottelt bist du trotzdem. Entschuldigst dich für jeden Mist. Wenn ich in deine Badeshorts greife, wirst du immer noch dein gehauchtes Sorry auf den Lippen haben. Wenn ich deinen Schwanz anfasse, wirst du die Augen verdrehen wie ein Lobotomierter.

Die Seerosen treiben fette Knopsen an die Oberfläche. Zwei davon sind schon aufgesprungen, zwei Spritzer Monetweiß im Schlammgrün des Sees. Ein Teichhuhn stakt über die Seerosenblätter, viel vorsichtiger, als es müsste.

Im Frühjahr 2025 wird im danube books Verlag (https://www.danube-books.eu/) der Erzählband „Ameisenschnee“ erscheinen, darunter auch der hier erschienene Text.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«. 2020 war sie Finalistin des 22. Irseer Pegasus.

«Wichtige Männer warten lassen»

Webseite der Autorin 

Beitragsbild @ Thomas B. Jones 

Den Lauten lauschen – ein neues, internationales Poesie-Festival im Dreiländereck vom 27. – 29. September

„Was kann und was darf Kunst vor dem Hintergrund von Krieg und Terror? In Zeiten, wo links wie rechts die Fahnen Schwarz und Weiß gehisst werden und die Freiheit der Kunst auf die Parolen der Politik zurechtgestutzt wird, sollte man sich vielleicht an den radikalen Experimenten orientieren, mit denen die Dadaisten und Surrealisten vor hundert Jahren auf die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs antworteten“

Das schreibt der renommierte Literaturkritiker Stefan Zweifel in einem aktuellen NZZ-Feuilleton- Essay. Zweifel hat die Moderation des Festivals übernommen, auch weil ihm die Konzeption gefiel, die die beiden Ideengeber und Initiatoren Luke Wilkins, ein in Basel ansässiger Schriftsteller und der Freiburger Lautpoet Alexander Grimm, entwickelt haben.

Als Herzstück des Konzepts könnte das Motto gelten, das der jüdische Philologe Victor Klemperer seinem Buch LTI, einer Analyse der Sprache des Dritten Reichs, voranstellte: Sprache ist mehr als Blut. Kommen die Widerstandskräfte einer Gesellschaft und auch die Möglichkeiten von kultureller und gesellschaftlicher Metamorphose nicht zu einem guten Teil aus der Sprache, der Literatur und der Dichtung? Könnte man also sagen, dass die Zukunft in der Sprache geboren wird? Die Dadaisten jedenfalls haben vorbildhaft vorgemacht, wie aus dem Klang der Sprache und aus der Sprengung des normativen Sinns der Sprache eine Kunstform entwickelt werden kann, von der aus die Gesellschaft neue Impulse bekommt.

Darauf möchte sich das Festival besinnen, indem es die Lautpoesie feiert und sie auf ihre revolutionären bzw. friedenserhaltenden Impulse hin befragt. Was im öffentlichen Diskurs zu den Eskalationsspiralen unserer Gegenwart viel zu wenig bedacht wird, jedoch zu den wichtigsten Prämissen der deutschen, vielleicht auch europäischen Nachkriegsliteratur zählt: Es ist letztlich die Sprache, in der ein Krieg und kriegerisches Denken entsteht, überwintert, aber in der beides auch befriedet und in der Reflexion – über dichterische Prozesse, die der durch die Gewalt entstehenden Sprachlosigkeit literarische Methoden entgegensetzen – in ästhetische Energie aufgelöst werden kann.

Die Laupoesie, die sich weniger der sprachlichen Semantik als dem Klang, der Musikalität der Worte und Laute und der Lust an ihrer Sinnfreiheit widmet und dabei die Wahrnehmung öffnet für die Absurdität der Welt, bietet einen großen Reichtum solcher literarischen Methoden. Dabei sind etwa so wunderbar anregende und das Zwerchfell kitzelnde Poeme wie Kurt Schwitters Ursonate entstanden, die vom Freiburger Schauspieler Heinzl Spagl auf dem Festival aufgeführt wird. Spagl wird dabei unter Beweis stellen, dass das kunstvolle Stammeln und Grausen von Schwitters, angesichts seiner Erfahrung von kriegerischer Gewalt, auch heute noch kathartische Wirkungen im Publikum auszulösen vermag.

Die Gleichzeitigkeit von Schwerem und Leichtem, von verzweifelter Ratlosigkeit und schwarzem Humor ist das Verwandtschaftsmerkmal der Auftritte vieler Lautpoet*innen. So möchte das Festival Erlebnisse mit Sprache ermöglichen, in denen das Rabenschwarze mit dem Spontanen, dem Gutgelaunten und Zukunftsoffenen ineins fällt. Zugleich erforscht das international ausgerichtete Festival auch, wie sich Lautpoet*innen, die mit dialektalem Material arbeiten, zueinander verhalten: Was gibt es für klangliche Schnittmengen zwischen französischer, elsässischer, schweizerischer und deutscher Lautpoesie? Gerade auch das Dialektale, Muttersprachliche bietet einen unerschöpflichen Reichtum an Klangfarben, der auf dem Festival in all seinen Nuancen ausgelotet werden soll.

Das Festival ist Teil des von der Baden-Württemberg Stiftung lancierten Literatursommers 2024 und wird mit einem opulenten und prominent besetzten Programm vom 27. – 29. September im Literaturhaus Freiburg, im Schopf2 (den Kulturhallen der Kreativpioniere Freiburg e.V.) und vom Literaturhaus Basel (in einer Location auf dem Jazzcampus) aus der Taufe gehoben. Indem es sowohl in Freiburg als auch in Basel über die Bühne geht und bedeutende schweizerische, deutsche und französisch-sprachige Dichterinnen eingeladen hat, möchte es eine neue literarische Öffentlichkeit im Dreiländereck schaffen. Auch hierfür ist die Lautpoesie prädestiniert, da sie sich leicht über Sprachbarrieren hinwegsetzen oder einfach eine neue gemeinsame Sprache erfinden kann.

Violaine Lochu – Foto © Valérie Sonnier

Bereits im Vorfeld haben die Festival-Macher viel Zuspruch bekommen und konnten neben aufsteigenden Lautpoesie-Sternen wie Dagmara Kraus oder Violaine Lochu auch Koryphäen wie Urs Allemann, Michael Lentz oder Christian Uetz gewinnen. Ein weiteres Highlight werden die Auftritte zweier Elefantengedächtnisse der europäischen Gewaltgeschichte Alexander Kluge und Klaus Theweleit sein. Theweleit wird aus seinem aktuellen Buch a-e-i-o-u lesen und das Publikum auf eine rasante Reise zu den kriegerischen Ursprüngen des Vokalalphabets im homerischen Mittelmeerraum mitnehmen und Alexander Kluge hat exklusiv für das Festival dadaistische Kurzfilme produziert, wozu er mit Stefan Zweifel ein Werkgespräch führen wird.

Für Abwechslung im Programm sorgen Konzerte mit Musiker*innen, die ästhetische Verfahren anwenden, die mit der Lautpoesie verwandt sind, wie etwa das Ernst- Eggimann-Konzert des Oberton-Chors Partial. Das vollständige Programm findet sich hier.

Friedrich Buchmayr / Felix Diergarten (Hg.) «Anton Bruckner & Sankt Florian – Wie alles begann», Müry Salzmann

Was wird aus einem 13-jährigen Lehrerssohn, wenn er aus Not vom elterlichen Schulhaus weg an einen Ort von Welt gelangt?
Ein ausserordentlich schön gestaltetes und reich bebildertes Buch beleuchtet den Beginn und die lebenslange tiefe Beziehung des grossen Komponisten zum Stift Sankt Florian bei Linz. 

Gastbeitrag von Urs Abt

«Es gilt, ein vermintes Feld von Zuschreibungen, Vorurteilen und Fehldeutungen der älteren Brucknerliteratur zu bereinigen» 

In neun Kapiteln von fünf international renommierten Fachleuten taucht die Leserschaft ein in die oberösterreichische Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts. Einerseits in das einfache Leben einer Lehrerfamilie im Dorf, andererseits in den damals blühende Augustiner Stift Sankt Florian mit der grössten und berühmtesten Orgel der Donaumonarchie. Vater und Grossvater des Komponisten lebten und wirkten als Lehrer in Ansfelden. Ein Lehrer wohnte damals mit seiner Familie im Schulhaus, neben Pfarrhaus und Kirche gelegen, was auf die erwünschte Tätigkeit auch im Kirchendienst und an der Orgel hinwies.

Anton war das älteste von 11 Geschwistern, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Am 7. Juni 1837 starb Antons Vater an einer Lungenentzündung, die Mutter Theresia Bruckner geriet mit den fünf verbliebenen Kindern in grosse Not.

Glücklicherweise konnte eine Zwangsheirat der Witwe, damals oft üblich, um Pensions- und Fürsorgegeld zu sparen, verhindert werden. Der älteste Sohn Anton wurde nach einem Schreiben von Pfarrer Seebacher an den Propst Michael Arnet als Sängerknabe im Stift Sankt Florian angenommen. Aus der kleinen Lehrerwohnung kam Bruckner an einen Ort von Welt, ein sehr entscheidender Schritt in seinem Leben. Fleissig und talentiert konnte er sich als Sängerknabe, als Musiker, als Lehrer und später als fantastisch improvisierender Orgelspieler und Komponist entwickeln.

Friedrich Buchmayr / Felix Diergarten (Hg.) «Anton Bruckner & Sankt Florian – Wie alles begann», Müry Salzmann, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 53.90, ISBN 978-3-99014-258-5

Begleitet von reichlich abgebildeten Handschriften, Zeugnissen und Fotografien entsteht ein wunderbar entstaubtes und ausführlich dokumentiertes Bild vom Werdegang des Meisters. Die Welt innerhalb des Stifts, das Leben als Organist und Lehrer in Linz und Wien und viele entscheidende Begegnungen werden lebendig geschildert und dargestellt. Wir erfahren, wie Anton Bruckner sich lebenslang eifrig, oft als Autodidakt, weiterbildete und seine Erfolge auch bestätigt haben will. Aus dem Lehrer-Komponisten wurde so ein selbstbewusster autonomer Künstler. Der wenig auf Äusserlichkeit gebende Musiker eckte oft an, ging aber trotz Widerständen und Krisen beharrlich seinen künstlerischen Weg.

«Liebe Frau Mutter! Recht schön danke ich Ihnen für das Schnupftuch, welches Sie mir schenkten. O! könnte ich auch Gutes Ihnen erweisen, wie so gern würde ichs! Aber recht fromm u. gehorsam zu seyn, das verspreche ich Ihnen recht aufrichtig, so wie täglich für Sie zu Gott zu bethen. Ihr gehorsamer Sohn Anton Bruckner. St.Florian am 2. Jänner 1838»

«Ich wünsche, dass meine irdischen Überresten einem Metallsarge beigesetzt werden, welche in der Gruft unter der Kirche des regulierten lateranischen Chorherrenstiftes St. Florian, und zwar unter der grossen Orgel frei hingestellt werden soll, ohne versenkt zu werden und habe mir hierzu die Zustimmung schon bei Lebzeiten seitens des hochwürdigsten Herrn Praelaten genannten Stiftes eingeholt.»

Diese zwei Beispiele, der Brief des 14jährigen an seine Mutter und das Testament von Anton Bruckner weisen auf die werdende Persönlichkeit und Autonomie Bruckners hin.

Erstmals werden in diesem Prachtband die Kindheit und die lebenslange Beziehung des Komponisten wissenschaftlich auf dem neuesten Stand dargestellt. Reichlich mit Fotos und Bildern ausgestattet können wir handschriftliche Zeugnisse, Briefe und Notenbeispiele und Porträts des Meisters und seiner Fördere betrachten. Die handschriftlichen Dokumente (die meisten aus dem Stiftsarchiv) sind in die aktuelle Schreibweise übersetzt und erläutert. Erste Werke, darunter ein Requiem, eine Missa solemnis und kleinere Chorwerke, werden in Wort und Bild aufgeführt.

Zusammen mit dem 2024 neu eingerichteten Bruckner Museum in Sankt Florian ermöglicht dieses vorzüglich gestaltete Buch einen modernen entmystifizierten Blick auf das Werden und die Herkunft Anton Bruckners und lässt seine einzigartige Musik noch besser verstehen und geniessen.

Den Autoren und Autorinnen ist es gelungen, die kulturelle Ausstrahlung von Sankt Florian einzufangen und zusammen mit dem Leben und Wirken Anton Bruckners umfassend und spannend darzustellen.

Eine Bereicherung für jeden Bruckner Liebhaber!

Friedrich Buchmayr, geboren 1959 in Linz. Seit 1987 Bibliothekar in der Stiftsbibliothek St. Florian. Veröffentlichungen u. a.: «Der­ Priester­ in­ Almas­ ­Salon» (2003), «Madame­ Strindberg­ oder­ die­ Faszination­ der­ Boheme­» (2011), «Mensch­ Bruckner!­ Der­ Komponist­ und­ die­ Frauen» (2019) im Müry Salzmann Verlag.

Felix Diergarten, geboren 1980, ist studierter Musiker, promovierter Musiktheoretiker und habilitierter Musikwissenschaftler. Nach Professuren an der Schola Cantorum Basiliensis und der Hochschule für Musik Freiburg lehrt er heute an der Musikhochschule Luzern. Diverse Veröffentlichungen, zuletzt «Anton­ Bruckner:­ Das­ geistliche­ Werk»­ (2023) im Müry Salzmann Verlag

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

© Zora del Buono

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer

Helena Adler «Miserere», Jungundjung

Helena Adler starb Anfang 2024 an einem Hirntumor, nicht einmal 40 Jahre alt. Sie war verheiratet, Mutter eines Sohnes – und begnadete Schriftstellerin. Vielleicht eine der vielversprechendsten im deutschsprachigen Raum, eine der innovativsten, mutigsten. Nach nur drei Romanen brach etwas ab, was grossartig und bahnbrechend immer neue Blüten getragen hätte.

Helena Adler, eigentlich Stephanie Helena Prähauser, war Schriftstellerin und Malerin. 2018 erschien ihr Debüt „Herz 52“, der auf jenen „Hertz 52“ genannten Wal anspielt, der aufgrund seiner falschen Tonhöhe beim Singen von seinen Artgenossen keine Antwort erhält und deshalb völlig einsam ist. 2020 dann ihr vielbeachteter und hochgelobter Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und zwei Jahre später „Fretten“, beide beim Verlag Jungundjung. „Die Infantin trägt den Scheitel links“ und „Fretten“ sind Unikate der deutschsprachigen Literatur. Obwohl es in Österreich eine regelrechte Tradition des Wutromas gibt, die mit Thomas Bernhard eine unvergessliche „Leitfigur“ hervorbrachte, sind die beiden Romane Helena Adlers viel mehr. Sie sind sprachliche Feuerwerke, wilde Fahrten, Lichtspiele.

Sie kennen das Gefühl, in ihrem Leben das eine oder andere versäumt zu haben? Vorsätze, die sie nie umsetzten, die ins Leere liefen, die nie mehr nachzuholen sind, weil etwas abgerissen ist? Als ich von Helena Adler ihren zuletzt erschienenen Roman „Fretten“ gelesen hatte, nahm ich Kontakt mit der Autorin auf und bat sie um ein Mailinterview. Daraus wurde ein kleiner Mailverkehr, bei dem sie mir auch ein paar Fotographien ihrer Gemälde zusandte, Bilder die man bei meiner Rezension noch immer entdecken kann, Bilder, die wie ihr Schreiben aufs Ganze gehen und gar nichts mit Schmuck zu tun haben. Schreiben und Malen waren ultimativ, griffen bis aufs Mark, kompromisslos und schonungslos ihrem eigenen Selbst gegenüber. Damals versprach ich ihr, auf einer meiner nächsten Reisen nach Kärnten, ins Heimatland meiner Frau, in ihrem Atelier einen Besuch abzustatten. Ein paar Monate später erhielt sie die Diagnose Hirntumor. 

Die Künsterin, die wie manch andere Schriftsteller*innen auch der Malerei zugewandt war, schrieb auf die Frage, was in ihrem Fall das Malen vom Schreiben unterscheide: „Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper.“

Helena Adler «Miserere», Jungundjung, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 24.90, ISBN 978-3-99027-407-1

Im Sommer 2023 war Helena Adler zum Bachmann-Preislesen in Klagenfurt eingeladen, musste diesen Auftritt aber wegen ihrer Diagnose absagen. Nun legt Jungundjung mit „Miserere“ drei Texte vor, die für die Autorin als abgeschlossen galten, aber nie in ein Buch Einzug hielten. Der längste der drei Texte „Miserere Melancholia“ wäre Helena Adlers Beitrag in Klagenfurt zum Bachmannpreislesen gewesen, eingeladen vom Juroren Klaus Kastenberger. Drei Texte, die das konzentrieren, was die Besonderheiten Helena Adlers Schreiben ausmachen. Die Intensität, die pralle Bilderflut und die opulenten Satzkaskaden, die von kaum zu bändigender Musikalität sprühen. „Miserere Melancholia“ hätte mit Sicherheit eingeschlagen und Helena Adler zu noch viel mehr Aufmerksamkeit verholfen, einer Aufmerksamkeit, nach der sie nicht suchte, die ihr aber gebührt hätte.

Im Mailinterview zu ihrem Roman „Fretten“ schrieb die Autorin auf die Frage, was ihr das Schreiben bedeute: „Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast.“
Diese Aussage passt mit Sicherheit auch zu dem schmalen Band „Miserere“ (lateinisch ‚Erbarme dich‘). „Miserere Melancholia“, der eigentliche Kerntext des Buches, ist ihre Auseinandersetzung mit der Melancholie, der Schwermut, der Depression, dem Selbstzweifel, manchmal monologisch, manchmal im Dialog mit dem Gnom, dem Mistkerl, der Ausgeburt. Der Text sprüht, badet in Metaphern. Nicht zuletzt beschreibt Helena Adler darin auch ihren Kampf im Schreiben: „Jeder Morgen ein Grauen, in dem es mir dämmert, dass es in mir dämmert“. Helena Adler schrieb nicht, um Geschichten zu erzählen, schon gar nicht zur Unterhaltung. So wie ihre Bilder nie Schmuckstück und Zierde sein sollten. Helena Adlers Texte sind Sprachkunst gewordene Auseinandersetzung, die Spur durch eine gebeutelte Seele. Ein Denk- und Mahnmal dafür, was Kunst sein muss und kann.

Wer sich traut, liest Helena Adler!

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg, starb am 5. Januar 2024 an einem Hirntumor. Helena Adler ist eine der wesentlichen Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Autorin und Künstlerin studierte Psychologie und Philosophie an der Universi-tät Salzburg sowie Malerei am Salzburger Mozarteum und debütierte 2018 mit dem Roman „Hertz 52“. Helena Adlers schwarzhumoriger, sprachkünstle-rischer Anti-Heimat-Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ gelangte 2020 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Im August 2022 erschien im Verlag Jung und Jung ihr Roman „Fretten“, der für den Österreichischen Buchpreis 2022 nominiert wurde.

«Fretten» Rezension mit Interview auf literaturblatt.ch (mit Bildern der Malerin Helena Adler)

Beitragsbild © privat

Lesekreis Literaturhaus St. Gallen „Gegenwartsliteratur“

Der Lesekreis! Mindestens 2 Bücher, 5 Abende, maximal 12 Teilnehmerinnen oder Teilnehmer, jeweils von 19 bis 21 Uhr in St. Gallen, bei Wein und Knabberzeug und mit der einmaligen Gelegenheit, die ausgewählten Schriftstellerin und Schriftsteller persönlich kennenzulernen.

Anmeldungen direkt an literaturhaus@wyborada.ch

17. September (Bitte bis Seite 98 in «Die Ränder der Welt» lesen!)
22. Oktober
12. November (im Gespräch mit Jens Steiner)
10. Dezember
7. Januar (im Gespräch mit Rebekka Salm)

Dieser Lesekreis ist ein ganz besonderer! Nicht nur dass wir uns im Gespräch ganz intensiv an mehreren Abenden mit den Romanen zweier Schweizer Schriftsteller der Gegenwart beschäftigen. An zwei der fünf Abenden besuchen uns die jeweiligen Autoren der gelesenen Bücher und ermöglichen so einen ganz speziellen Einblick in das Werk dieser Künstler. Diese Begegnungen bei einem Glas Wein eröffnen Gespräche weit über die Bücher hinaus!

Jens Steiner (1975), studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman »Hasenleben« erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“, „Mein Leben als Hoffnungsträger“ und „Ameisen unterm Brennglas“. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund

Die Ränder der Welt: Als Sohn estnischer Auswanderer wächst Kristian im Basel der Nachkriegszeit auf und freundet sich mit dem Nachbarsjungen Mikkel an. Mikkel rotiert wie ein Kreisel durchs Leben und macht sich, kaum erwachsen, auf nach Dänemark, wo er sich einer Gruppe junger Künstler anschließt. Und Kristian bald nachholt. Auch Kristian findet in Dänemark Inspiration für seine Bildhauerei. Aber dann schlägt Mikkel sein Leben aus den Fugen, indem er eine Affäre mit Kristians großer Liebe Selma beginnt.
Die Wut jagt Kristian durch die Welt, bis ins ferne Patagonien, wo er neu anfangen kann. Erst viele Jahre später reist Kristian wieder zurück nach Europa und erhält einen mysteriösen Brief, der ihn auf die kleine Fähre nach Christansø schickt…

„Statt geschmeidig den Markt zu bedienen, folgt Steiner als Autor seinen eigenen Interessen: mit einer gewissen Sturheit, aber auch mit Witz und sprachlichem Eigensinn.“ Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt

Rebekka Salm (1979), wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch „Das Schaukelpferd in Bichsels Garten“ (2021) erschienen. Bei Knapp erschien 2022 ihr vielbeachtetes Debüt „Die Dinge beim Namen“ und 2024 „Wie der Hase läuft“. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen.

„Rebekka Salm hat ein absolut tolles Gefühl für Dramaturgie, Aufbau, Erzählökonomie. Sie schreibt gute Dialoge und hält wunderbar die Spannungsfäden zusammen bis zum Ende.“ Elke Heidenreich über das Debüt „Die Dinge beim Namen“

Wie der Hase läuft“: Amsterdam, 1943: In einer Bäckerei fällt ein Schuss, hinter dem Tresen stirbt ein junger Mann. Seine Witwe, fast noch ein Kind, flieht in die Schweiz. Fünfzig Jahre später verlässt im Basler Hinterland ein Familienvater Frau und Kind, in der gleichen Nacht liegt eine Frau zwischen zwei Dörfern tot am Strassenrand.
Jahrzehnte später begegnen Teresa und Mirco einander. Sie verlieben sich und versuchen sich an ihre Kindheit zu erinnern, die geprägt war von Verlust und Schweigen.
Mirco hat Angst, dass die Vergangenheit sich wiederholt, wenn man sie nicht ruhen lässt. Aber Teresa begibt sich auf Spurensuche und erschafft Stück für Stück ihre gemeinsame Geschichte.

«In ihrem neuen Roman entfaltet Rebekka Salm ein Panoptikum aus Geschichten und Erinnerungen zweier Familien, die sich nicht erinnern wollen – und die doch, ob’s ihnen gefällt oder nicht, Teil einer grossen Erzählung sind.»