Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp

Mit seinem Roman „Oben ist es still“ (dt, 2008) hat sich der niederländische Schriftsteller nicht nur bei mir tief ins literarische Bewusstsein gegraben. Da schreibt einer mit einem ganz eigenen Blick auf Menschen und Szenarien! Mit seinem neusten Roman „Der Sohn des Friseurs“ setzt Gerbrand Bakker noch einen drauf!

Da ist die Geschichte eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt, der den Friseursalon seines Grossvaters weiterführt und gerade so viel arbeitet, dass es reicht. Da ist die Geschichte eines Sohnes, der die Einmischungen seiner Mutter stoisch erträgt und auf die Fragen nach seinem Vater keine Antworten bekommt. Die Geschichte eines Kunden, eines Schriftstellers, der erst zaghaft nach Einblicken in die Arbeit eines Friseurs fragt und ein immer wichtigerer Teil im Leben des stillen Mannes wird. Und die Geschichte eines Vaters, der sich aus seinem Leben weggeschlichen, dem eine Katastrophe zu einem Neuanfang verholfen hat.

Gerbrand Bakker erzählt die unspektakulären Leben der kleinen Leute. Und weil er sich selbst auch zu ihnen zählt und ganz offensichtlich nichts am Hut hat mit kulturellem Klassenbewusstsein, ist auch der Schriftsteller, der sich in diese Geschichte mischt und unzweifelhaft seine Züge trägt, ein „kleiner Mann“. Einer, der seine Arbeit macht, gerade so viel, dass es reicht, so wie Simon in seinem Salon in der Stadt. Jener Schriftsteller, der sich zu Recherchezwecken so sehr für die Arbeit eines Friseurs interessiert, wurde mit einem Roman „Oben ist es still“ bekannt. Er ist einer neuen Geschichte auf der Spur, jener eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt.

Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp, 2024, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, 285 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43158-0

In Simons Salon ist die Zeit stehengeblieben, alles noch immer so wie damals, als sein Vater aus dem Leben der Familie gerissen wurde, Opfer jener Flugzeugkatastrophe vom 27. März 1977, als eine Boing der KLM und einer der Pan American auf der Ferieninsel Teneriffa bei Nebel auf dem Flughafen Los Rodeos zusammenkrachten. Fast 600 Tote. Simons Mutter verweigert Antworten auf Fragen nach seinem Vater. Simons Mutter war damals schwanger, schwanger mit Simon. Und obwohl Simons Vater keine Erinnerungen generiert, bestimmt er immer wieder Simons Gedanken. Nicht zuletzt, weil sein Grossvater, der damals seinen Salon zu einem regelrechten Quartiertreffpunkt gemacht hatte und so ganz anders tickt wie er, immer wieder rätselhafte Andeutungen machte, beginnt Simon zaghaft eine Recherche.

Gerbrand Bakker erzählt aber auch die Geschichte des Vaters, der damals in einem jener Flugzeuge sass, aber eben nur vor dem Start auf der Ferieninsel, vor der tödlichen Katastrophe. Weggeschlichen aus einem Leben, das ihm zu vorgezeichnet erschien. Es hätten ein paar Tage mit einem Praktikanten aus dem Salon werden sollen. Es wurde ein ganzes Leben auf der Insel, in einem neuen Leben.
Und Gerbrand Bakker erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der auf der Suche nach einem neuen Stoff ist, der der Spur einer Geschichte folgt, der mehr und mehr vom Leben des vierzigjährigen Simons erfährt und sich nicht zuletzt von ihm hingezogen fühlt, sie beide ruhelose Seelen auf der Suche nach einer Spur. In Simons Wohnung über dem Salon, in dessen Schlafzimmer immer noch die eigerahmten Poster seiner grossen Schwimmidole hängen, stehen auch die Bücher des Schriftstellers. Obwohl sie erst nur höfliche Geschenke waren, beginnt Simon zu lesen. So nähern sich die beiden Männer an, verknoten sich mit ihren Geschichten.

„Der Sohn des Friseurs“ ist eine Geschichte, die sich selbst erzählt. Gerbrand Bakker erzählt von sich, von seinem Schreiben, nicht zuletzt vom Unerklärlichen des Literaturbetriebs, witzig dann, wenn er von einer Begegnung mit dem grossen Kehlmann erzählt, bescheiden dann, wenn er sich an der Übersteigerung seines Berufsstands stört. „Der Sohn des Friseurs“ ist Vater- Sohn- und Enkelgeschichte. Die Geschichte einer Familie, die eine Katastrophe zeichnete. Wie viel ist Bestimmung? Können wir uns so einfach verabschieden? Wer und was bestimmt, was wir tun? Gerbrand Bakker stellt seine Fragen ganz dezent, erzählt scheinbar locker und bleibt seinen Figuren freundschaftlich nah. Ein echter Bakker!

Gerbrand Bakker, 1962 geboren, lebt und arbeitet in Amsterdam und in der Eifel. Neben dem Schreiben ist er auch als Gärtner und hin und wieder als Eisschnelllauftrainer tätig. Seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, sind vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Independent Foreign Fiction Prize und dem International IMPAC Dublin Literary Award.

Andreas Ecke hat neben Gerbrand Bakker, AutorInnen wie Saskia Goldschmidt und Ernest van der Kwast ins Deutsche übertragen. Er wurde mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis und dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Marc Brester

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

Porträt auf SoundCloud

Webseite der Autorin

Hanna Sukare «Grün wird Weiß», Plattform Gegenzauber

anfangen

„Der schwierigste Teil des Schreibens ist das Nichtschreiben“, sagt Ilse Aichinger(1). Vielleicht ist mir deshalb das Anfangen wichtig. Anfangen in dem nebligen Vertrauen, eines Tages wird aus der Ahnung ein Text werden. Am Anfang kann der Titel eines Bildes stehen, zum Beispiel Schwedenreiter. Manchmal schenkt mir ein Nachttraum den ersten und letzten Satz, wie für den Roman Staubzunge. Dieser Traum kam allerdings erst, nachdem ich mich zur Erforschung des Materials auf mehrere Reisen nach Polen begeben hatte. Womöglich war ich, als diese Traumsätze kamen, schon mitten drin in der Geschichte, über den Anfang weit hinaus.

Oft war Anfangen das Recherchieren in Archiven und Bibliotheken, weil ich etwa die Geschichte des Wehrmachtssoldaten Rechermacher erzählen wollte und dafür zuerst einiges über dessen militärische Laufbahn sowie über die Gefängnisse und Feldstrafgefangenenlager der Wehrmacht lernen musste. Der Anfang ist lesen: Bücher, Zeitungen, Stadt- und Fahrpläne, Rezepte, Landkarten, Theaterzettel etc. Anfang ist Anschauung gewinnen, zum Beispiel von dem Beruf des Brückenmeisters, der mir unbekannt war, bis ich den Schwedenreiter (2) kennenlernte. Zur Gewinnung dieser Anschauung trieb ich mich manchmal nachts auf Bahngleisen herum, die wegen der Reparatur einer Brücke gesperrt waren, oder ich geriet unter der Stadt in weitläufige Tunnels, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Solche Ausflüge begeistern mich und lassen mich vergessen, dass ich einen Text vorbereite. Nach einiger Zeit türmt sich auf meinen Tischen das Material, meist zu viel. 

Dann beginnt erst das eigentliche Anfangen, dem ich, wie Foucault sagt, „enthoben“ sein möchte, mich lieber, hinter meinem Rücken, ins Schreiben „verstohlen einschleichen“ würde. Foucault sehnt sich nach einer „Stimme ohne Namen“, die ihm „immer schon voraus war“ und in deren Fugen er sich „unbemerkt einnisten“ möchte, er spricht von seinem „Verlangen, nicht anfangen zu müssen“ (3). In diesem zweiten Anfang meldet sich eine Angst, vor dem Nichtkönnen, dem Versagen, vor endgültigem Scheitern. Gedanklich und körperlich umkreise ich mein Material, ähnlich einer Schwammerlsucherin, die in einem bestimmten Waldstück Schwammerln zwar vermutet, aber noch nicht sieht: Circumambulatio. Das Umkreisen erzeugt ein oft fast unerträgliches Spannungsgefühl – C.G. Jung hat das Phänomen beschrieben –, ich bin auf den potentiellen Mittelpunkt zwar konzentriert, kenne ihn aber noch nicht.(4) Ich taste mich voran, meistens blind. Verbales Schweigen (tacere) und die Abwesenheit von Lärm (silere), schreibt Roland Barthes, seien zur Aufrechterhaltung dieses „Zustands ohne Paradigma“ nötig.(5) Wird mir dieser Zustand zu streng, sticke ich, zum Beispiel das Umkreisen. Ich sticke, bis ich statt der Nadel wieder einen Bleistift – am liebsten den grünen Faber-Castell B – in die Hand nehmen will; ich sticke und schreibe (die ersten Textfassungen) mit der Hand. In der Anfangsphase umgibt ein „Zaun der Hoffnung“, wie Nietzsche ihn nennt (6), den inneren Raum. Es mag jener Raum sein, den die alten Griechen Temenos nannten. Dieser Zaun schützt mich, bis sich Sätze und Stiche gebildet haben, die eine mögliche Form andeuten.

I circle around, 78 x 65,5 cm, Seide und Leinen auf Leinen, Detail

Zuerst gestatte ich den Sätzen alles. Sie können als Fetzen daherkommen, gebrochen, gestottert, dürfen aus einem Wort bestehen oder sich verschachteln. Sie nehmen das Material vorerst schwammartig auf. Bald beginnt das Umschreiben. Bis zum letzten Satz bleibt das Schreiben dann Umschreiben, Überschreiben, Neuschreiben, Verwerfen, Neuschreiben, Umschreiben. „Zwischen der Haltung zu den wirklichen Personen und der Haltung zum Wort entscheidet sich der Satz, bis er, gänzlich erfunden, das wirklich Gewesene einigermaßen streifen kann“, beschreibt Herta Müller (7) die langsame Suchbewegung. Das Umkreisen, die Bewegung verwende ich hier nicht als bloße Metaphern. Zum Schreiben brauche ich nicht nur weiche Bleistifte, Ruhe und Papier, sondern auch bequeme Schuhe. Schuhe kommen in meinen Träumen vor, zwei der Exemplare habe ich gestickt. Hier eines, das mir (im Traum) in der Wiener Josefstadt geschenkt wurde. Der tägliche Spaziergang, möglichst ausgedehnt in unverbautem Gebiet und ohne Begleitung, fördert das Anfangen, fördert die gedankliche Suchbewegung, bringt Einfälle.

Verirrt in Josefstadt, 121 x 121 cm, Seide und Leinen auf Leinen, Detail

verwandeln

Der Einfall lässt sich nicht ausdenken. Von außen fällt oder fliegt er ins Gehirn, ins Gemüt. Ein Windstoß kann den Einfall bringen, eine Geste, die Form eines Steinbruchs, der Laut eines Tieres, der Lichtpunkt auf einem Gegenstand, ein Stern auch oder die Nacht bringen Einfälle. Das geschieht oft. Und doch bleibt die Verbindung zwischen dem Außen und dem Innen so dunkel, dass niemand den Einfall bewusst erzeugen kann. Er bleibt Zufall, Geschenk von irgendwo, von irgendwas oder irgendwem, unentbehrlich fürs Schreiben. Aufmerksamkeit und Offenheit sind nötig, den Einfall wahrzunehmen und schnell genug zu Papier zu bringen, er entwischt leicht wie ein Hauch. Zu Papier bringen, das von außen ins Innere Gefallene zurück nach außen tragen, schreiben also. Das Geheimnis des Schreibens erinnert mich mehr und mehr an das Geheimnis der Transsubstantiation in der römisch-katholischen Messe: Oblate werde Fleisch, Wein werde Blut Christi, behaupten Gläubige. Wie die Gläubigen, die sich wandlungsfähige Oblaten auf der Zunge zergehen lassen, muss auch ich glauben. Vorbehaltlos muss ich glauben und vertrauen, dass aus sieben Buchstaben ein Lächeln wird.

Schreiben ist Stoffwechsel, Alchemie, Verwandlung. Damit ich überhaupt schreiben kann, muss ich mir den Versuch versagen, den Vorgang zu analysieren. Sobald ich frage: Wo entstehen die Buchstaben? Wie finden sie zusammen in ein Wort? Wie gelangt das Wort aus dem Gehirn durch den Kehlkopf in den Arm, in die Hand, aufs Papier? Sobald ich diese oder Thomas Manns Frage stelle: „Wie wird aus einer Sache ein Satz?“ (8), kann ich kein Wort mehr schreiben. Ich stocke und stecke fest. Das Schreibwunder darf ich ebenso wenig hinterfragen, wie die Entstehung der Milch: Grün wird Weiß, Festes flüssig, Unverdauliches (für manche) bekömmlich. Oder der Slibowitz. Sein Duft lässt mich vertrauen, dass dieser durchsichtig brennende Geist einmal als Festes, Kerniges an einem Baum hing, purpurn und süß. Das Schreibwunder zu ergründen, gleicht dem Versuch, herauszufinden, welcher Grashalm die Milch süß oder welche Zwetschke den Slibowitz mild gemacht hat. Literarische Chemie, unentschlüsselbar. 

Das Ausgangsmaterial muss sich innerlich – den genauen Ort vermag ich nicht auszumachen, weiß nur, dass dies nicht allein im Kopf geschieht – langsam verdauen. Entlang eines Plots will ich nicht schreiben, es erschiene mir wie Malen nach Zahlen. Der Plot nimmt dem Schreiben sein Bestes, seine „ursprüngliche Bestimmung, der Ort einer Erfahrung, eines Versuchs zu sein“, wie Foucault angesichts seines Überdrusses an Büchern bemerkt, die konzipiert sind, lange bevor sie geschrieben werden. Beim Schreiben ohne Plot bleibt bis zum letzten Satz Ungewissheit, das Scheitern des gesamten Vorhabens ist möglich. Statt eines Plots verwende ich Figuren, kleine Figuren aus Holz oder Stoff, jede Geschichte hat ihr eigenes Personal.

Personal des Romans Staubzunge

Das Personal bleibt auf dem Schreibtisch, bis eine Geschichte ihr Ende gefunden hat. Mit dem Personal rede ich, wenn ich nicht weiß, wie die Geschichte weitergeht. Das Personal gibt Antworten. Erst wenn die Geschichte einmal ganz erzählt ist und handgeschrieben auf dem Tisch liegt, nehme ich bewusster Einfluss auf das Stoffwechselendprodukt: Ich übertrage den Text in den Computer, suche treffendere Ausdrücke, stelle Worte um, überprüfe die Anschlüsse zwischen den Sätzen, feile. Alles anfangs unbewusst Gesetzte sollte den Text nach der letzten Durchsicht verlassen haben. Das gelingt nie ganz. Selbst nach etlichen Überarbeitungen entdecke ich im gedruckten Text Worte oder Sätze, die mich stören. Diese Störungen sind nicht immer als Fehler zu bezeichnen, aber diese Textstellen habe ich offenbar nicht sorgsam genug überprüft. Mittels dieser Störungen sagt die Sprache: Ich bin die Meisterin, frei, ich lass mich nicht beherrschen. Ihren Primat anzuerkennen entlastet Schreibende ebenso wie die Bewusstmachung der Herkunft des Einfalls. Die wundersame Metamorphose der Wirklichkeit kann ich nicht ergründen, und doch hat sie mich immer wieder so beschäftigt, dass ich einmal ein Gedicht über sie geschrieben und ihr eine Stickerei gewidmet habe.

Aus den Händen der Luft

Du löst dich aus Dickicht
Und nimmst deinen Weg
Dir unbekannt
Du lässt dich ein mit dem Speichel
Einer Zunge vertraust du dich an
Und fällst in die Hände der Luft
Vereint macht ihr euch Lippen untertan
Und du setzt den Fuß ins Helle
Du Wort.

Dieses Gedicht widmete ich Marica Bodrožić, nachdem ich ihre Betrachtungen Das Auge hinter dem Auge. Über das Erscheinen des Wortes im Raum (9) gelesen hatte. Bodrožić hört nicht auf zu staunen, sie staunt über die Entstehung von Worten und Sätzen. 

Innere Angelegenheiten, 94 x 71 cm, Seide und Leinen auf Leinen

Gerhard Fritsch verglich die Entstehung der Texte mit Winzerarbeit. Literatur sei gekelterte Trauer, meinte er. Das Keltern verändert nicht nur den Ausgangsstoff, sondern auch die Schreibende. 

Einsamer und freier hat mich das Schreiben gemacht, auch unsicherer. Ist das letzte Wort geschrieben, kommt gleich die Frage, ob der Text nicht eine ganz andere Gestalt bräuchte, ob seine Sätze nicht klarer und einfacher sein könnten?

zweifeln

Routine stellt sich nicht ein. Jeder neue Textversuch macht mich wieder zur Anfängerin, zur Nichtkönnerin, ausgeliefert dem Nichtwissen. Mit jedem neuen Text wächst meine Unsicherheit. Und wieder meldet sich die Angst vor dem Nichtkönnen, dem Versagen, vor dem endgültigen Scheitern. Nicht nur die Sätze und die ihnen zugrunde liegenden Gedanken bezweifle ich, sondern das Schreiben selbst. Seit die Gewalt den Planeten wieder einmal epidemisch überzieht, ganze Landstriche verwüstet, Leiber und Lieben zerreißt, will mir Paul Flemings Sei dennoch unverzagt nicht mehr recht gelingen. Eine Figur meines Romans Rechermacher behauptet: Erzählt muss werden, hin zu den Gegenden jenseits der Angst etc. Ich zögere, dieser Behauptung zuzustimmen. Wozu noch Geschichten? Und Geschichten worüber? Unterhaltende lenken ab. Tröstende beschönigen. Politische ergreifen Partei. Berichte über die Gewalt verdoppeln die Realität, undsoweiter. Wozu noch Worte? Und wenn noch Worte, welche? Wäre es nicht dieser Zeit und meiner Ohnmacht in ihr angemessener, täglich der Toten zu gedenken, der Verwundeten und Obdachlosen? Schweigend. Doch Flemings Zeitgenosse, Andreas Gryphius, schrieb, dass ihm gerade „die scharfe Not die Federn in die Faust zwang. Bestürzt durch Schwert und Feuer, durch liebster Freunde Tod, durch Blutsverwandter Flucht und Elend“ beschrieb er in seinen Sonetten „was itzt kommt vor“. „Itzt“ meinte das 17. Jahrhundert, in dem Fleming und Gryphius lebten, jenes Jahrhundert, das in Europa nur neun Friedensjahre hatte.

Ja, der Toten gedenken. Schweigend. Doch die Tage des hiesigen Friedens auch nützen für poetische Pirouetten. Beim Drehen und Kreiseln entstehen Gesten des Öffnens, Gebens und Umarmens, die auf ein selbstbestimmtes, zärtliches Leben verweisen. In dem nebligen Vertrauen, dass eines Tages aus der Ahnung ein Text wird, stets von Neuem anfangen.

Anmerkungen:
1
Simone Fässler (Hg.): Ilse Aichinger. Es muss gar nichts bleiben. Interviews. Wien 2011, S. 22
2 Hauptfigur von Sukares gleichnamigen Romans 
3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M., 1991, S. 9
4 Carl Gustav Jung: Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 264f
5 Roland Barthes: Das Neutrum, Frankfurt a. M., 2005, S. 55 f
6 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1964, S. 50
7 Herta Müller: Die Anwendung der dünnen Straßen. Klagenfurter Rede zur Literatur, 2004 
8 Thomas Mann: Bilse und ich. In: Th. Mann: Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt a.M., 1925, S. 3–17
9 Marica Bodrožić: Das Auge hinter dem Auge. Betrachtungen. Otto Müller Verlag Salzburg 2015

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend lebt sie meistens in Wien. Für «Staubzunge» (2016) wurde die Autorin mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet und war mit «Schwedenreiter» (2019) auf der Shortlist für den European Union Prize for Literature. 2022 erschien ihr dritter Roman «Rechermacher«.

Beitragsbild © Milan Boehm

Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv

Im Sommer 2009 gingen im Iran Millionen wütender DemonstrantInnen auf die Strassen. Dutzende Menschen kamen um, die Bilder in den Sozialen Netzwerken erschütterten die ganze Welt. «Die grüne Welle» nannte sich jenes laute Aufbegehren, dass das iranische Mullahregime ins Wanken brachte. Das Debüt «Das Ende ist nah» von Amir Gudarzi ist eine literarische Auseinandersetzung.

Als im Nachgang zu den iranischen Präsidentsschaftswahlen, bei der der amtierende Mahmud Ahmadineschād zum Sieger erklärt wurde, eine Welle des Aufruhrs durch das Land schwappte und man sich durch grüne Stirn- oder Armbänder als GegenerIn einer Diktatur solidarisierte, war Amir Gudarzi ein junger Student. Diese grüne Bewegung gipfelte in riesigen Demonstrationen, gegen die die bedrohte Zentralmacht nur mit äusserster Härte und Brutaltät zu reagieren wusste. Unzählige Menschen verschwanden für Jahre in den überfüllten Gefängnissen des Landes, viele starben, wurden während der Proteste getötet oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt. An Kränen baumelnde Hingerichtete sollten zur abschreckenden Normalität werden.

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A. Dass er seinen eigenen Namen, seine eigene Fluchtgeschichte durch einen einzigen Buchstaben mit Punkt verallgemeinert, ist verständlich und erleichterte wahrscheinlich schon den Schreibprozess. Amir Gudarzi wollte mit Sicherheit seine Geschichte erzählen. Aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Verlorener. Die Geschichter jener, denen ich überall begegne, auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt.

Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv, 2023, 416 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-423-29034-0

Klar braucht es diese Bücher, auch wenn sie nicht von jenen gelesen werden, die den Geflohenen wie einer ansteckenden Krankheit begegnen, mit Angst, Ekel und maximaler Ablehnung. Es braucht diese Bücher als Zeugnis, auch wenn Menschen wie Amir Gudarzi die Ausnahme bleiben, weil sie es irgendwann irgendwie doch schaffen, Amir Gudarzi als Theaterautor und nun auch als Schriftsteller. Weil Menschen wie er, die nach all den Strapazen der Flucht, der Anfeindungen, des Misstrauens, der Willkür und des Unverständnisses, schaffen, einen Schuh Glück herauszuziehen. Neben all jenen, die schon auf der Flucht liegenbleiben, die in ihrer Verzweiflung untergehen, die nie die Chance haben, aus dem einst mit Hoffnung begonnenen Leben das zu machen, was möglich gewesen wäre, die weitergeschoben, zurückgeschafft, gnadenlos ausgenützt oder in all den Ungerechtigkeiten zerrieben werden.

Ich las das Buch nicht seiner Sprache wegen, auch wenn ich dem Autor viel Können zugestehe. Ich las das Buch, um mir vor Augen zu führen, was sonst nur im Verborgenen bleibt. A. flieht über die Türkei nach Österreich, wo er hängen bleibt, in ein keines Kaff abgeschoben wird, zusammen mit Afganen und Kurden, lauter Männern, die sich in ihrem Kampf ums Überleben, in ihren gestauten Emotionen und der Hoffnungslosigkeit einer Existenz, die sich ganz aufs Warten reduziert und kaum von dem unterscheidet, was sie in ihren Ursprungsländern zurückgelassen hatten. Amir aus einem Elternhaus mit streng patriarchalischen Strukturen, eine Gesellschaft in Traditionen und zementierten Wertvorstellungen gefangen, einer Politik, die einem den Atem nimmt, einer gestohlenen Zukunft. Was ihn in Österreich empfängt, ist endlose Bürokratie, offener Fremdenhass, maximale Abgrenzung und grenzenloses Misstrauen. 

„Das Ende ist nah“ ist als Titel vieldeutig. Amir Gudarzi erzählt vielperspektivisch, nicht zuletzt aus der Warte von Sarah, einer jungen Frau, die sich in A. verliebt, eigentlich nur helfen will, sich aber verliert. Eine Beziehung, die von rauschhafter Leidenschaft bis selbstzerstörerischer Verirrung alles in sich birgt. Amir Gudarzi schont mich als Leser mit nichts. Es legt sich ein Schauer aus Betroffenheit und Peinlichkeit über mich. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen. Wie viel schwerer muss es für Amir Gudarzi selber sein, auch wenn man ihm an Lesungen freundlich applaudiert.

„Das Ende ist nah“ ist Zeugnis, Klage und Anklage gleichermassen.

Amir Gudarzi, 1986 in Teheran geboren, ging auf die damals einzige Theaterschule im Iran und studierte danach szenisches Schreiben. Seit 2009 lebt er im Exil in Wien, wo er als vielfach ausgezeichneter (inzwischen) österreichischer Dramatiker und Autor arbeitet. 2021 war er Stipendiat im Literarischen Colloquium in Berlin und erhielt den Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, 2022 wurden ihm der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen und der Christian-Dietrich-Grabbe-Preis verliehen, in der Spielzeit 2023/24 ist er Hausautor am Nationaltheater Mannheim. «Das Ende ist nah» ist sein erster Roman.

Beitragsbild © Jürgen Pletterbauer

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung

Was wünscht sich ein Mädchen, eine junge Frau mit 14? Die Zugehörigkeit in einer Peergroup, Anerkennung, die Sehnsucht nach der grossen Liebe, Träume, Freundschaften. Matthias Gruber hat sich in seinem preisgekrönten Debüt „Die Einsamkeit der ersten Art“ ein Leben ausgesucht, dass von vielem ausgeschlossen ist.

Eigentlich ist sie doch mit ihrem Namen schon gestraft; Arielle. Arielle leidet unter einem Gendefekt. Was heisst; Arielle hat als Mädchen fast keine Haare auf dem Kopf, fast keine Zähne im Mund und kann nicht schwitzen. Nicht nur die heissen Sommer sind ihr ein Graus, jede körperliche Anstrengung, das Leben überhaupt. Ektodermale Dysplasien heisst diese Krankheit, oder noch nichtssagender XLHED. Matthias Gruber nennt den Namen dieser Krankheit in seinem Buch nie. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein Buch über diese Krankheit. Und doch trägt das Mädchen den Makel mit sich. Ein Makel, der nicht abgelegt werden kann in einer Welt, die sich vor allem an Äusserlichkeiten orientiert. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein trauriges Buch, sondern mit erstaunlich viel Witz und Humor erzählt. Ein Buch, das mit diesem Makel kein Kapital schlagen will, schon gar kein emotionales.

Arielle geht zur Schule. Während sich ihre Klassenkolleginnen über Social Media ganz über ihre Äusserlichkeiten definieren und die Jungs weit entfernt, wie auf einem unerreichbaren Planeten ihr Ding abziehen, wächst Arielle in einem Zuhause auf, das wenig Zeit hat für die Nöte der Tochter. Der Vater verdient sein Geld mit Entsorgungen und Räumungen und sucht in entsorgten Computern auf Festplatten nach Kryptowährung. Aber weil er, vom Amt zu Räumungen geschickt, mit dem Sammelgut auf illegalen Wegen Bares kassiert, fällt er in Ungnade und ist mehr und mehr auf das Geschick seiner psychisch labilen Ehefrau angewiesen. Aber auch sie ist von sich selbst gefangen, hofft mit Kosmetikartikeln das grosse Geld zu verdienen, über Social-Media-Kanäle zur Influencerin zu avancieren, in der Hirarchie eines Schneeballsystems die grosse Bühne zu besteigen.

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Arielles Vater werkelt in seiner Kammer und sucht nach einem Schatz, Arielles Mutter schichtet in ihrem Keller, in ihrer Online-Boutique – und Arielle versucht mit dem Leben mehr oder weniger alleine zurechtzukommen. Am meisten weggetragen fühlt sie sich, wenn sie mit ihrem Vater im Lieferwagen auf Tour ist, oder wenn sie auf der Müllsammelstelle, wo alles landet, was als Spur hinter den Menschen hergezogen wird, im Studio von Aljosha, in einem Container beim Schrottplatz eine Atempause findet, wenn sie sich in die Welt am Rand mischt.

Und doch möchte ausgerechnet sie helfen. Ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Freundin Yasmine und Aljosha, der von einem Leben in Berlin träumt, von einer Kunstschule, weit weg vom Schmuddeldasein und den Blicken all jener, die ihn in seinem Andersein höchstens tolerieren. Aljosha ist schwul.

Die Situation spitzt sich zu, als Arielle sich ein gebrauchtes Handy unter den Nagel reisst und mit den Fotos eines unbekannten Mädchens nicht nur der Mutter unter die Arme greifen will, sondern damit auch einen Feldzug gegen Jungs führen, bei denen sie als sich selbst nur Unverständnis ernten würde. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist eine bunte Geschichte, von den Rändern her erzählt, ein Stück Menschengeschichte, als wäre diese an ein Ende gestossen, als würde sich das Menschsein in lauter Sinnlosigkeiten bis hin zu Müllhalden und Schrottcontainern ausleeren. 

Wenn Matthias Gruber von den Anstrengungen der Mutter erzählt, im Kosmetikbuisiness Fuss zu fassen, dann sträuben sich die Nackenhaare. Wenn die Krone der Schöpfung nur noch hinter Äusserlichkeiten herhechelt und man den wahren Kern von Leben und Sterben aus dem Blick verloren hat, dann ist „Die Einsamkeit der ersten Art“ nicht tröstlich, aber äussert unterhaltsam, mutig erzählt, frisch von der Leber. Matthias Gruber ist eine unverkrampfte, junge Stimme von der ich mir viel verspreche.

Interview

Zuerst möchte ich Ihnen zum Rauriser Literaturpreis gratulieren! Wer einen Blick auf die Liste aller ehemaligen PreisträgerInnen wirft, ist beeindruckt. Das sind keine Eintagsfliegen. Viele der Namen sind heute Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Setzt Sie das nicht etwas unter Druck oder kann man den Preis einfach als Anerkennung für die Qualität eines ersten Romans geniessen?
Zusätzlichen Druck verspüre ich zum Glück noch nicht. In erster Linie freue ich mich einfach, dass der Roman durch den Preis noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Es erscheinen so viele großartige Bücher und das in einer solchen Geschwindigkeit, dass ein einzelner Roman nicht viel Zeit hat, um seine Leser*innen zu finden. Vielleicht kann der Preis diese Zeitspanne ein wenig verlängern.

Obwohl die Pupertät eine Zeit des Suchens und Ausprobierens ist, ist es bei vielen Jugendlichen genau die Zeit, in der man auf keinen Fall aus der Reihe tanzen will, in der man zu erstaunlich viel „Uniformierung“ bereit ist, sich einer Peergruppe anschliesst und alles peinlich findet, was keiner Norm entspricht. Gewisse Menschen scheinen aber gar nie darüber hinauszukommen! Arielle (Was für ein Name!) hat keine Chance, einem Bild zu entsprechen, genetisch bedingt. Während andere, scheinbar ebenso genetisch bedingt, unumstösslich in dieser Norm gefangen sind. Ist Schreiben ein Ausbruchsversuch?
Ich denke, wir alle tragen diese verbesserten Versionen von uns in der Hosentasche herum. Auf unseren Social Media-Profilen spielen wir uns selbst und möchten dabei klüger, schöner und witziger erscheinen, als wir uns im echten Leben fühlen. Mich hat interessiert, wie es einem Menschen geht, dem das nicht möglich ist, weil sein Äußeres nicht einfach durch einen Filter oder eine bestimmte Pose verändert werden kann.

Durch Zufall kann Arielle einen eigentlichen Avatar generieren, mittels eines Telefons, das sie sich bei den Touren mit ihrem Vater unter den Nagel reisst. Ein „Spiel“, in dem die Realität mit einem Mal zurückschlägt. Ist das nicht ein bisschen viel Moralität angesichts dessen, was mittels Social Media alles erreicht werden kann? Frage ich meine SchülerInnen in ähnlichem Alter wie Arielle, so ist „InfluencerIn“ ein vielgenanntes Ziel.
Es ging mir beim Schreiben nicht um ein Verteufeln sozialer Netzwerke. Die Arbeit am Buch war eher ein Versuch, auszuloten, wie umfassend diese Plattformen mittlerweile unser Leben beeinflussen: Unser Selbstbild, unsere Beziehungen, die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten und die Welt betrachten. Das betrifft längst nicht nur Jugendliche, sondern alle. 

In einem Interview erzählen Sie, sie hätten zusammen mit ihrem Kind auf einem Spielplatz ein auffälliges Kind gesehen und danach recherchiert. So sei dieses Kind mit dem Gendefekt Ektodermalen Dysplasie in ein bereits angefangenes Manuskript gekommen. Gab es auch den direkten Kontakt mit Menschen mit dieser „Krankheit“? Ist es nicht abwertend, einen solchen Genunterschied als „Krankheit“ zu bezeichnen?
Über die Vermittlung einer Selbsthilfegruppe konnte ich Kontakt zu Menschen mit Ektodermaler Dysplasie aufnehmen und mit ihnen Interviews führen. Ich bin dafür sehr dankbar, denn ohne diese Einblicke hätte ich den Roman gar nicht schreiben können. Die Frage, ob die Bezeichnung Krankheit per se abwertend ist, kann ich nicht beantworten. Ich vermute aber, es kommt auf den Kontext an. Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen sollte jedenfalls selbstverständlich sein. Leider ist das oftmals nicht der Fall, wie auch die Interviews für das Buch gezeigt haben. Nicht wenige Menschen mit Ektodermaler Dysplasie werden wegen ihres Aussehens ausgegrenzt, verspottet und stigmatisiert. Vieles, was ich in Interviews gehört habe, konnte ich kaum glauben. 

Bei einem Museumsbesuch trifft Arielle auf jenes Tier, dass als erstes seiner Art vom Wasser ans Land kam. Arielle, die nicht schwitzen kann und eigentlich ganz gerne im kühlen Wasser bleibt, fühlt die Einsamkeit, weil niemand wirklich nachvollziehen kann, was in ihr und mit ihr geschieht. Erst recht, weil wir in einer Gesellschaft der Äusserlichkeiten existieren und dauernd taxieren, schubladisieren und urteilen. Einsamkeit in einer Gesellschaft, die unter Dichtestress leidet?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arielle selbst macht ihren Gendefekt selten zum Thema. Natürlich ist er für sie in mancherlei Hinsicht einschränkend, aber zum Problem wird er nur deshalb, weil ihre „Andersartigkeit“ immer und immer wieder von außen an sie herangetragen wird. Erst diese Schubladisierung isoliert sie und macht sie zur Außenseiterin. Die Szene im Naturkundehaus ist für mich auch deshalb eine Schlüsselszene, weil sich in Arielles Wahrnehmung etwas verschiebt. Wie der Ichthyostega wird auch sie plötzlich nicht durch ein scheinbares Defizit definiert. Sie ist die Erste ihrer Art. 

Arielles Mutter leidet an Ekzemen an der Hand und träumt vom grossen Geschäft mit Kosmetika. Ihr Vater entsorgt Hinterlassenschaften, räumt Wohnungen. Auch er träumt; vom lukrativen Kryptogeldfund in „herrenlosen“ Computern. Arielle, die das Spiel mitmacht, sucht aber eigentlich nach ganz anderem; nach Geborgenheit, Freundschaft, Liebe. Unser Tun hängt sich mehr und mehr an digitale Schein- und Nebenwelten. Ihr Roman moralisiert ganz dezent. Er drückt auch nicht auf die Mitleidsdrüsen. Wollen Sie einfach eine gute Geschichte erzählen oder schwingt nicht immer eine Absicht mit im Schreiben?
Ich wollte von Menschen erzählen, deren Welt in Trümmern liegt. Und von ihren oft vergeblichen Versuchen, damit umzugehen. Die Schicksale der Figuren stehen also klar an erster Stelle. Aber natürlich bewegen sich diese Menschen nicht im luftleeren Raum. Die Dinge, unter denen sie leiden, haben Ursachen. Insofern ist es natürlich ein Roman über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und ein zutiefst politisches Buch. Vieles bleibt dabei allerdings in der Andeutung. Vieles läuft über Leerstellen, auch sprachlich. Ich finde, ein Roman braucht diesen Raum. Sonst hätte ich ein Sachbuch oder einen Essay geschrieben. 

Matthias Gruber, 1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. »Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art« ist sein erster Roman, für den er mit dem Rauriser Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Eva Krallinger-Gruber

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck

Was geschieht, wenn mit einem Mal kein Stein mehr auf dem andern steht? Wenn der Tod Gewissheiten zerstört. Wenn eine Welt aus den Fugen gerät. Sabine Grubers neuer Roman «Die Dauer der Liebe» beschreibt seismographisch die Erschütterungen eines Bebens.

Es klopft an der Tür. Vor der Wohnung steht ein Polizist. „Darf ich reinkommen? Es ist etwas Schlimmes passiert.“ Renatas Lebenspartner Konrad ist tags zuvor auf einer Autobahnraststätte tot zusammengebrochen. Renatas Leben steht Kopf. Wer rechnet schon mit dem Tod. Selbst dann, wenn wir deutlich in der zweiten Lebenshälfte stehen, blenden wir das Wahrscheinliche geflissentlich aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Leben eines Paares gleichzeitig enden, ist verschwindend klein. Und trotzdem kümmern uns die möglichen Konsequenzen kaum. Selbst dann nicht, wenn wir es von Beispielen aus unserer Umgebung genau wissen sollten.

Renata ist Übersetzerin, Konrad war Architekt. Konrad war die Liebe ihres Lebens. Ein Vierteljahrhundert lang waren sie ein Paar, ein Paar, das sich mit den Gemeinsamkeiten gut eingerichtet hatte, auch wenn Renatas Beziehung zu Konrads Familie, seiner Mutter Henriette, seinem Bruder Marcel stets ein schwieriges war. Aber sie liebte Konrad, liebt ihn noch. Mit einem Mal ist nichts mehr, wie es einmal war, verschiebt sich das Gravitationsfeld ihres Lebens total, bricht ein, was stets Gewissheit und Fundament war.

«Das Misstrauen beschädigt die Erinnerungen.»

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck, 2023, 251 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-406-80696-4

Ans Heiraten hatten sie nie gedacht. Nichts hatte sie gedrängt, auch schon deshalb, weil der anfängliche Kinderwunsch keine Erfüllung fand – und weil man sich selbst genug war. Da gab es wohl ein Stück Papier, eine Art Testament, das er unterschrieben hatte. Aber in den Mühlen der Ämter schien dieses Stück Papier keine Gültigkeit zu haben. Was an anständiger Distanz und gebotener Höflichkeit während mehr als zwei Jahrzehnten das filligrane Gefüge der Familie Grasmann zu ihr im scheinbaren Gleichgewicht hielt, stürzt mit der Frage um Erbschaft und Nachlass in Gier und bodenlose Gemeinheiten ab. Während Renata sich mit dem Verlust ihres Liebsten taumelnd von einer Not in die nächste hangelt, stellt man sie vor vollendete Tatsachen, beraubt man sie ihrer Erinnerungen. Als sie Tage nach der Beerdigung Konrads, die in keiner Weise so stattgefunden hatte, wie es sich Konrad vorgestellt hatte, ins gemeinsame Ferienhaus eintritt, muss sie feststellen, dass Bilder, Möbel, Vasen fehlen, selbst Dinge, die nicht einmal sie selbst hätte zuordnen können.

Sabine Grubers Roman „Die Dauer der Liebe“ erzählt vom vielfachen Verlust. Da ist nicht nur der Tod, der Verlust eines Liebsten, das Wegbrechen aller Sicherheit, das Infragestellen aller Gewissheiten. Neben der lähmenden Gewissheit, dem Verlust der grossen Liebe, bricht auch die Sicherheit weg. Konrads Familie bedient sich hemmungslos seiner Hinterlassenschaften und tut, als wären die fünfundzwanzig Jahre mit Renata nicht mehr als eine Affäre. Renata versucht unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte im neuen Leben Tritt zu finden. Es helfen ihr Freundschaften und all jene Erinnerungen, die nicht an Dinge gebunden sind. Und trotzdem. Da sind die Findlinge dessen, was Renata nicht einordnen kann; die beiden Schlüssel mit einem grünen Anhänger, die Renata zuvor nie gesehen hatte oder ein verwaschenes Stück Papier aus einer Hose mit der Notiz Du fehlst mir so sehr. C. Gab es in Konrads Leben Winkel und Facetten, von denen Renata nichts wusste oder nichts wissen sollte? Gab es neben dem Leben davor auch noch ein Leben daneben? 

«Der Schmerz rauscht.»

Sabine Gruber beschreibt eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Interview

Ich las Ihr Buch sehr gerne. Nicht zuletzt, weil es zum eigenen Sinnieren anregt, darüber, wie sehr wir uns in «Sicherheiten» wiegen, wie sehr wir uns der Wahrheit, dem Unausweichlichen verschliessen, wie schnell alles eine vollkommen andere, unplanbare Richtung einnehmen kann. Funktioniert der Mensch nicht eben darum, weil er ausblenden kann?

Vermutlich geht es nicht, ohne zu verdrängen oder auszublenden. Renata, die Hauptfigur, hatte schon zu Lebzeiten Konrads den Gedanken, dass jede Nacht, die sie mit ihrem Liebsten verbringt, eine weniger ist. Dennoch ist sie, ist das Paar, nicht konsequent genug; vielleicht sind die beiden auch zu gutgläubig, können sich nicht vorstellen, wozu Familien in der Lage sind. Beide versäumen es, ein gültiges Testament zu verfassen, sie drucken es nur aus und unterschreiben es. Nach dem Tod Konrads wird von seiner Familie keiner seiner niedergeschriebenen Wünsche erfüllt, seine Mutter Henriette und die beiden Geschwister bestimmen, was mit der Leiche zu passieren hat und verfügen über Konrads Privatgegenstände. Die 25 gemeinsam verbrachten Jahre zählen nicht.

Sie psychologisieren nichts und niemanden. Und doch beschreiben Sie den vielfachen Verlust Renatas ganz genau, ohne Theatralik, aber doch mit viel Empathie und Melancholie. Natürlich ist es die Fähigkeit einer guten Schriftstellerin, sich in ein konstruiertes Ich hineinzuversetzen. Und natürlich kann niemand schreiben, was nicht in ähnlicher Form erlebt ist. Und doch muss beim Formen der ProtagonistInnen jene Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz gewonnen werden, die es möglich macht, Plastizität nachvollziehbar zu machen. Gibt es Regeln oder Grenzen, die Sie nie überschreiten würden?

Es gibt zahlreiche autobiographische Trauerbücher (z.B. von Connie Palmen, Joan Didion oder Olga Martynova) in denen Klarnamen verwendet werden. „Die Dauer der Liebe“ ist ein Roman, Figuren und Topographie sind daher erfunden. Ich habe – wie in früheren Romanen – Figuren aus anderen Büchern eingearbeitet, um die Fiktionalität zu unterstreichen. Ich leugne nicht, dass ich – übrigens nicht das erste Mal – einen mir sehr nahen Menschen unvorhergesehen verloren habe, dass ich diese existentielle Erfahrung gemacht habe, aber Schreiben ist für mich ein Transplantationsakt, die Einverleibung von Fremdem oder die Verfremdung von Eigenem. 

Ich sehe in der Fiktion mehr Möglichkeiten zur Ambiguität, mehr Freiräume, die das autobiographische Schreiben in dem Versuch, der Wirklichkeit gerecht zu werden und den Figuren beizukommen, verstellt. 

Ich habe einmal versucht, einen Text über Gabriel Grüner zu schreiben, mit dem ich zehn Jahre zusammen war, der einige Jahre nach unserer Trennung als Stern-Reporter im Kosovo erschossen wurde. Ich kriegte die Figur nicht zu fassen, hörte den toten Gabriel lachen, ihn sagen „Das soll ich sein?“.
Aus diesem Mann, der mit 35 das Leben verloren hatte, wurde 17 Jahre später in dem Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“ eine gänzlich andere Figur, nämlich ein alternder, traumatisierter Kriegsphotograph, den die Bilder einholen. Im neuen Roman, „Die Dauer der Liebe“, wird Daldossi zum wichtigsten Begleiter Renatas.

Als mein Vater starb, sah ich ihn eine Weile überall, von hinten in der Strassenbahn, im Rückspiegel beim Autofahren. Es gibt keine Abstufungen des Erinnerns. Erinnerungen sind unwillkürlich. Wenn ich meinen Bruder treffe, begegne ich meinem Vater in den Händen meines Bruders, bei meiner Schwester in ihren Stirnfalten. Seit ein paar Wochen liegt auf meinem Stehpult ein altes Schulheft meines Vaters. Wohnungen sind voll mit Erinnerungen. Erinnerungen, die uns viel bedeuten. Aber sterbe ich, sterben die Erinnerungen. Täglich werden unsäglich viele Tonnen Erinnerungen entsorgt. Macht ihnen das nicht zuweilen Angst?

Einerseits werden täglich Tonnen Erinnerungen vernichtet, sie zerfallen wie Gesteine durch Verwitterung, werden abtransportiert, andererseits bleiben Sedimente davon erhalten: in der Literatur, in der Dichtung… Der Sand, die Gesteinspartikel oder zum Beispiel der Löss am Wagram, wo sich das Landhäuschen des Paares befindet, verweisen wieder auf das, was vorher war, auf die Berge, das Meer… Die Poesie ist doch am Ende tröstliche Verdichtung!

„Die Dauer der Liebe“ ist auch eine Fragestellung. Was geschieht mit der Liebe, wenn jemand stirbt? Wie bleibt sie? Soll sie bleiben? Kann man Gefangene werden? Was erwartet die Umgebung?

Eine grosse Liebe dauert natürlich an. Novalis spricht sogar von der Pflicht, an die Verstorbenen zu denken, weil es der einzige Weg ist, in Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben. Renata hat ihren Konrad über alles geliebt, ihn zu erinnern, empfindet sie gewiss nicht als Pflichterfüllung. Das dem Roman vorangestellte Motto, ein Gedicht von Patrizia Cavalli, beschreibt Renatas Zustand am besten: Penso che forse a forza di pensarti/potrò dimenticarti, amore mio. (Wörtlich: Ich denke, dass ich vielleicht Kraft meiner Gedanken an dich,/ dich werde vergessen können, mein Liebling.) 

Ich diskutiere mit meinen erwachsenen Kindern immer wieder einmal über Sinn und Unsinn der Ehe. Ihr Roman verdeutlicht, dass Liebe, Partnerschaft, Zusammenleben keine Privatsache ist. Bis in die Institution Familie, und dazu zähle ich auch eine Partnerschaft, mischt sich der Staat, das Gesetz. Kein Wunder, muss doch selbst das Halten von Hunden reglementiert werden. Widerspricht nicht alles, was wir mit romantischen Gefühlen beschreiben, der Realität. Schliesst Staat und Gesetz die Romatik in einen Käfig, um sie vor der Gier des Menschen zu schützen?

«Es wäre besser gewesen, ihr hättet geheiratet», sagt Renatas Freundin Elsbeth, eine Anwältin, im Roman. «Er wollte mich immer heiraten, aber die Ehe ist doch unmöglich für eine Frau, die selbstständig ist», antwortet Renata. Es handelt sich hier um ein verkürztes Bachmann-Zitat. Renata gehört als Boomerin jener Post-68er-Frauengeneration an, für die das Private selbstverständlich politisch ist, die den Ehemann als klassischen männlichen Versorger ablehnt. Renatas Leben ändert sich auch nach dem Tod von Konrad nicht, weil sie eine selbstständige, emanzipierte Frau ist und daher keine ökonomischen Probleme zu befürchten hat. Dennoch fordert der Roman dazu auf, persönliche Angelegenheiten und Verfügungen rechtlich einwandfrei zu formulieren. Recht ist nicht immer gerecht. Viele verdrängen den Tod, andere sind naiv oder schlampig wie das Paar im Roman, das ja immerhin alles Wichtige aufgeschrieben hatte.

Ich habe sehr viele Zuschriften von Menschen erhalten, denen Ähnliches widerfahren ist wie Renata. Es sind auch Mails von Leserinnen und Lesern eingetroffen, die nach der Lektüre des Buches geheiratet haben oder zumindest ein Testament bei einer Notarin oder einem Anwalt hinterlegt haben. Da soll noch mal jemand sagen, Literatur bewirke nichts!

Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran (Italien). Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien. Lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a.: 2007 Anton-Wildgans-Preis, 2015 Veza-Canetti-Preis, Österreichischer Kunstpreis für Literatur 2016, Preis der Stadt Wien für Literatur 2019.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling

Seit 1971 werden die Rauriser Literaturtage ausgerichtet – Thomas Bernhard war damals zu Gast, 1972 Peter Handke, 1973 Adolf Muschg, Uwe Johnson und viele andere; die Liste der prominenten Autorinnen und Autoren lässt sich bis in die Gegenwart fortsetzen – über 450 sind es inzwischen geworden. Heuer ist eine der Grossen Margit Schreiner.

„Mobilmachung“ ist nach „Vater. Mutter Kind. Kriegserklärungen“ (2021) und „Mütter, Väter. Männer“ (2022) der dritte Teil einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, weit über das reine Nacherzählen hinaus. „Margit Schreiner schreibt unerschrocken gegen die Sentimentalität, den Selbstbetrug, die Lebenslüge“, schreibt Karl-Markus Gauß. Und weil die Autorin erst recht bei der eigenen Geschichte den Blick von Innen, der immer ein Blick von Aussen bleibt, braucht, spiegelt „Mobilmachung» die pränatalen und ersten Lebensjahre, jene Zeit, die sonst der Erinnerung verschlossen bleibt.

Meine eigenen Erinnerungen an meine Kindheit reichen nicht sehr weit zurück. Oft kann ich nicht unterscheiden zwischen echten Erinnerungen und jenen die sich aus Fotographien und Erzählungen generieren. Aber eine meiner ersten war mein kleiner Teddy, der vom Hund einer Tante verbissen wurde. Eine Erinnerung, die nicht einmal meine Mutter und schon gar nicht meine Tante zu bestätigen weiss.
Sie kennen Situationen, in denen Erwachsene um die Gunst von Kleinkindern buhlen, indem sie die verrücktesten Gesten produzieren und Laute, von denen Zeugen gar nicht wissen, das jene zu solchen fähig sind. Manchmal denke ich an die kleinen Kinder, was wohl in den Köpfen jener vor sich geht, wenn Buhlende sich im Gluteralen vergreifen.

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978 3 89561 712 6

Margit Schreiner spinnt den Faden noch viel, viel weiter, bis ins wachsende Bewusstsein eines Fötus, der alles, was dieser wahrnimmt schon im Mutterbauch zu Gedanken formt. Keine Nabelschau, sondern ein Blick in den Uterus, in das Bewusstsein eines Heranwachsenden. Dieser hört und spürt, kombiniert und wertet mit den Gedanken einer Erwachsenen. Dabei spielt keine Rolle, wie weit ein solches Gedankenspiel realistisch ist. Margit Schreiner geht es um die Stimme selbst, die spiegelt. Eine Schwangerschaft im Nachkriegsösterreich, einer Gesellschaft mit klaren, patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, einer Gesellschaft, von der man sich in der Moderne verabschiedet glaubt, die uns aber noch immer tief in den Knochen sitzt.

Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Ich freue mich ausserordentlich auf die Literaturtage im Salzburgischen Rauris. Gäste sind die Spoken Word PerformerInnen Timo Brunke, Elif Duygu, Robert Prosser, die Kinderbuchautorinnen Renate Welsh, Verena Hochleitner, Luka Leben und Martina Wildner, die LyrikerInnen José F. A. Oliver, Anja Utler und Jan Wagner und die AutorInnen Milena Michiko Flašar, Laura Freudenthaler, Matthias Gruber, Sabine Gruber, Amir Gudarzi, Irene Langemann, Gianna Molinari, Tonio Schachinger, David Schalko und Margit Schreiner.

Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmünd, Niederösterreich. Sie erhielt für ihre Bücher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit «Kein Platz mehr» war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Rauriser Literaturtage vom 3. bis 7. April 2024

Beitragsbild © Patricia Marchart

Kuno Roth «Allein mit dem Schreiben und mit sich in Irland», Plattform Gegenzauber

Oktober 2023, dort oben im Nordwesten Irlands, an der Küste, entspricht das Wetter dem Vorurteil: Wind, Wolken, Regen und ab und zu die Sonne. Dort in Glencolmcille*, wo ich mich für vier Wochen zum lyrischen Schreiben niederlasse:

Nun stehe ich hier.
Habe mich 
an den Rand der Welt gestellt.
Blicke 
auf Klippen und das Meer
für Rückblicke, Einblicke, Ausblicke.
Augenblicke, die mir gehören.
Möge mich dieser Schatz 
auf Empfang stellen.

Empfänglich war ich der Wind- und Grautöne wegen namentlich auch für melancholische Stimmungen. Was zum Schreiben treiben kann:

Der Nebel nähert sich
auf leisen Pfoten.
Schleicht über den Hügel,
breitet seinen grauen Schal 
über Bucht und Dorf
aus.
Liegt auf der Lauer, 
lugt,
steigt unvermittelt ab.

Glencolmcille? Der Name Glencolmcille bedeutet ‘das Tal von Colm Cille’. Colm Cille ist einer der drei Schutzheiligen Irlands; ein Priester, der im 6. Jahrhundert eine Zeit lang hier lebte. Es gibt noch ein paar Spuren von ihm, zu welchen ein nach ihm benannter Pilgerweg führt. 
Mein Pilgern verläuft auf anderen Wegen. Man kann sie er-fahren: Die Strassen sind verkehrsarm, das mit dem Linksverkehr kriegt man hin. Man kann sie er-wandern: Eine der Wanderungen führt weglos nach Port. Und dort den Wellen zusehen und zuhören: 

Kommt die Flut,
rollen die Kiesel uferwärts,
rollen zurück, lässt die Welle wieder locker,
reiben sich.
Glatt geworden vom vielen Rollen.
Die nächste Welle rollt sie abermals hinauf.
Das Meer als Sisyphus?
Nein, nur Meer.
Gelassen 
Dinge ins Rollen bringen.

Illustration: Markus Reich (Ausschnitt «zurück, lässt die Welle …)

 Und einem Schaf zuzusehen, das sich unbeobachtet fühlt:

Das Schaf sucht 
maulunten
nach Grashalmen, 
kommt auf ein Stück Weide,
wie zuvor schon Mähscharen.
Es zupft und rupft und zupft.
Unablässig wie ein Friseur,
der einen weiteren Millimeter Haar
über seinen Kamm schert.

Es ist ein Pilgern abseits der ausgetretenen Pfade des Alltags. Offenen Sinnes absichtslos durch die Natur, sodann durch Wörter und Zeilen streifen, die aus der Feder tropfen. Äussere Landschaften, die sich zu inneren verdichten:

Eine Oase der Ruhe, trotz oder wegen dem Rauschen des Meeres und des Windes. Das Licht ändert sich minütlich. Eine atemberaubend schöne Gegend mit hohen Klippen, eine raue, heidenreiche Landschaft, die bei Sonnenuntergang himmlisch leuchtet, freilich eher selten:

Schreiben hautnah an der Sache. Zum Beispiel eine Krähe betrachten und plötzlich taucht eine Frage auf: 

Man versteht nicht,
warum die Krähe im Regen 
und gegen den Wind fliegt.
Mühelos, scheint es.
Was gewinnt sie, das zu tun?
Längst ist sie weiter,
lässt den Gedanken,
den sie nicht hat,
beim Beobachter zurück.

Dieses Hautnahe machte es auch, dass ich Schreibblockaden kaum bemerkte. Ging es nicht weiter, ging ich nach draussen, streckte die Fühler aus und beobachte, was geschah. Ging das nicht, ging ich nach drinnen, Fühler weiterhin ausgestreckt: Auszeit ist auch Inzeit. 
Vier Wochen alleine mit mir und dem Schreiben und ohne News, sind ein enormes Privileg. Nicht immer nur einfach, die Stimmungen schwankten zwar nicht wie das Wetter, aber doch auch. 
Und ich hatte zwei Anker: Rückmeldungen von Zuhause und von Schreibfreund:innen sowie als Abwechslung die bereits verfassten Gedichte, die ich mitnahm und die fürs neue Buch noch gehobelt und geschliffen werden wollten.

* Glencolmcille ist zwar klein und abgelegen, und doch auch ein Kulturort mit einem Zentrum für gälische Sprache und keltische Kultur, einem Freilichtmuseum, einer Schafwoll-Manufaktur sowie zwei Pubs mit Musik am Wochenende. Und im Winterhalbjahr gibt es ein Angebot für einmonatige ‘Art-Residencies’ – Informationen bei stefanhofmann7@gmail.com.

Kuno Roth schreibt Gedichte, Aphorismen und Kolumnen (letztere bei Kampagnenforum und BVM). Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016), «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018) sowie ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› (2. Aufl. 2022, bei ProLyrica). Sein nächstes Buch – ‘seelensee’ mit u.a. einigen Gedichten aus Glen – erscheint im Herbst 2024.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, nunmehr Humanökologe, Experte für Lernprozesse sowie Schriftsteller, arbeitete zuletzt als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. Frisch pensioniert ist er weiterhin als Berater tätig und Co-Präsident von Solafrica.

Cécile Wajsbrot «Mémorial», Wallstein

Während ein Grossteil der Verwandtschaft von Cécile Wajsbrot als Juden in den Jahren des Weltkriegs in den Vernichtungslagern ums Leben kam, gelang ihrem Vater zuerst, später auch ihrer Mutter, die Flucht nach Frankreich. Obwohl Cécile Wajsbrot in Paris aufwuchs und zur Schule ging, ihr Leben sich dort abzuspielen schien, zeugt ihr ganzes literarisches Werk vom Trauma einer gestohlenen Geschichte, einer nicht zu tilgenden kollektiven Vernichtungstat.

Cécile Wajsbrot will mit ihren Büchern nicht unterhalten. Somit ist auch die Lektüre ihres 2008 erstmals erschienenen Romans „Mémorial“ keine Unterhaltung, sondern Auseinandersetzung. Als ich ihren Roman damals las, schien er bei weitem nicht jene Resonanz zu erzeugen, wie er es fünfzehn Jahre später tut. Das mag mit mir selbst zu tun haben, mit meinem Alter, dem Bewusstsein, wie wichtig es ist, zu wissen, woher der Fluss kommt, in dem man schwimmt, dem Fliessen, das irgendwann in ein unendlich grosses Meer münden wird. Vielleicht aber auch mit den Geschehnissen in all den Kriegen, dem Wissen, das dort überall Menschen in Todesangst fliehen, um an einem anderen Ort etwas Neues zu beginnen. Auch wenn es abgebrochen sein wird. Auch wenn die Herkunft genommen wurde. Auch wenn mit allen Mitteln versucht wird zu vergessen, die Schrecken hinter sich zu lassen.

– Wir haben mehrere Leben gehabt.
– Sind mehrmals weggegangen.
– Aber nie angekommen.

Cécile Wajsbrot reist mit dem Zug dorthin, von wo ihre Eltern damals flohen. Die Stadt Kielce im Südosten Polens. Eine Stadt, in der der Jüdische Fiedhof lange ein Fussballplatz war und kaum etwas an die Gräuel des Krieges und darüber hinaus erinnerte. „Mémorial“ ist ein Mahnmal gegen das Vergessen. „Mémorial“ ist die Auseinandersetzung der Generation danach, die den unausgesprochenen Schrecken in der Familie eingepflanzt bekam, die sich selbst mit der Auseinandersetzung nicht befreien kann von dem, was die direkt betroffene Generation einfach nur vergessen, begraben und ruhen lassen wollte. „Mémorial“ ist ein langer Dialog mit den verschiedenen Stimmen der Erinnerungen, Stimmen des Unterbewusstseins und all jener, die man als Erinnerungen mit sich herumträgt; den Vater und seine Schwester, die beide später an Alzheimer erkrankten und in ein schwarzes Loch des Vergessens fielen, an ihre Mutter, die den Tod zweier Geschwister wie einen Mühlstein mit sich herumtrug. Und „Mémorial“ ist der Versuch zu verstehen.

Ich hatte immer den Eindruck gehabt, irrtümlicherweise da zu sein, und dieses Gefühl nahm ich überallhin mit, wohin ich ging.

Cécile Wajsbrot «Mémorial», Wallstein, 2023, aus dem Französischen von Holger Müller Fock, 171 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-8353-5528-6

Schon auf dem Bahnhof holen sie Stimmen ein, packt sie der Zweifel und die Mahnung, sie, die alleine reist, von Paris über Warschau nach Kielce. Fast 2000 Kilometer zurück in die Zeit in die Stadt am Fluss, in permanentem Dialog mit Stimmen, die auftauchen und verschwinden, manchmal, als wäre da jemand, der sie begleitet. Wie die Frau aus Oświęcim, dem Ort, der als Auschwitz wie Hiroshima Synonym für sie Schrecken des 20. Jahrhunderts ist und bleiben wird. Mahnungen, die nicht verhindern konnten, dass im 21. Jahrhundert weiter Kriege Mensch und Landschaften auf Generationen hinaus verwüsten. Die Stadt, in der sie ein Hotelzimmer bezieht, ist längst nicht mehr jene, aus der ihre Eltern damals flohen und fast alles zurückliessen. Unter den Menschen könnten die sein, die damals zu den Täter gehörten, bei der Deportation Tausender Juden, beim Friedhofsmassaker von Kielce, bei dem die letzten 45 Kinder von den Besatzern auf dem Friedhof erschossen wurden oder von jene, die nach dem Krieg 1946 im Progrom von Kielce, als man über 40 überlebende Juden ermoderte, nachdem ein Vater das Gerücht in Umlauf gesetzt hatte, sein Junge sei Opfer einer Entführung geworden.

Euer Schweigen wog ebenso schwer wie Worte und vielleicht noch schwerer, denn man konnte sich alles vorstellen.

Reisen ist eine einfache Sache, aber nicht an den Ort des Grauens zurück. Die Autorin weiss, dass es kein Zurückkehren gibt, weil es in der Zeit kein Zurück gibt. Erinnern ist der Versuch des Reisens in die Vergangenheit. Eine notwendige Reise, um den Lauf der Zeit verstehen zu können. Cécile Wajsbrots Reise ist eine mehrfache Reise. Die Reise an den Ort, von dem ihre Eltern einst flohen, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu den Fragen, die nicht verstummen, eine Reise an den Fluss, im Wissen darum, dass selbst der Tod den Schrecken nicht löscht.

„Mémorial“ ist Erinnern. Einmalig gut.

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt auch Hörspiele, die in Frankreich sowie in Deutschland gesendet werden. 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Künste in Berlin. 2014 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis, 2016 den Prix de l`Académie de Berlin.

Sabine Müller, geb. 1959 in Lauffen am Neckar, übersetzt seit 25 Jahre aus dem Englischen und mit Holger Fock aus dem Französischen u.a. Werke von Patrick Deville, Mathias Enard, Philippe Grimbert, Pierre Loti, Alain Mabanckou, Andreï Makine, Erik Orsenna, Pascal Quignard, Jean Rolin, Olivier Rolin und Cécile Wajsbrot.

Holger Fock, geboren 1958 in Ludwigsburg, studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Er übersetzt seit 1983 französische Belletristik und wissenschaftliche Literatur, u. a. Gegenwartsautoren wie Andreï Makine, Cécile Wajsbrot (beide zusammen mit Sabine Müller), Pierre Michon und Antoine Volodine. 2011 wurde er zusammen mit Sabine Müller mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Er lebt bei Heidelberg.

Sabine Müller und Holger Fock wurden 2011 für ihr gemeinsames Werk mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. 

Rezension von «Zerstörung» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Ich war zwei Wochen im Land der Pharaonen unterwegs. Tief beeindruckt von den bis 4000 Jahre alten Kulturgüter, so gut erhalten und in frischen Farben und leuchtendem Gold zu bestaunen, habe ich die teils langen Fahrten durch die Wüsten genutzt, ägyptische Autoren zu lesen. Neben Nagib Machfus, dem ersten arabischen Literaturnobelpreisträger von 1988, las ich ein Buch von Wagiuh Ghali «Snooker in Kairo».

Waguhi Ghali «Snooker in Kairo», C. H. Beck, 2018, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, 256 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-71902-8

Es ist das einzige Buch dieses Autors aus Kairo, geschrieben bereits 1964, auf Deutsch erstmals erschienen 2018. Knapp 40jährig hat sich der Autor in der Wohnung seiner Lektorin und Freundin das Leben genommen. Im Kern seines Wesens war er überzeugt, keine Liebe verdient zu haben. So die Worte seiner Freundin.
Meines Erachtens ist ein Meisterwerk entstanden! Melancholie, Verzweiflung, Witz und Komik sind literarisch bestechend umgesetzt. Aus einer reichen koptischen Familie stammend, aber mausarm kämpft der Protagonist für ein weltoffenes Leben, blitzgescheit und hochsensibel, gefährdet durch Spielen in Snooker-Club und viel Alkoholgenuss. Die Liebe zu einer Jüdin der Oberschicht gibt ihm viel Kraft, er erlebt sie aber ambivalent und toxisch.

Sehr klug und authentisch geschrieben vor dem Hintergrund vom Ende der britischen Kolonisation und zur Zeit Präsident Nassers gibt es auch einen Einblick in die damalige desillusionierte Gesellschaft.

Für mich war es eine bereichernde Ergänzung und nachhaltige Vertiefung, die mir das Erlebnis der lauten, schmutzigen und überbevölkerten Städte Kairo und Alexandria ein klein wenig verständlicher zu machen schien.
Kann Literatur einem ein fremdes Land näher bringen? Täusche ich mich? Was denkst du darüber?

Mit bestem Gruss
Bär

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Lieber Bär

In einem Interview, das ich mit Iris Wolff über ihren Roman „Lichtungen“ führte, sagt sie: „Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist.“ Kunst ist nicht nur für mich neben echter Bereitschaft zur Kommunikation zur einzigen Hoffnung geworden. Wie sonst sollte sonst das Verständnis dafür wachsen, dass wir nur eine einzige Welt zur Verfügung haben, dass es nicht das Privileg der gegenwärtigen BewohnerInnen sein kann, auf diesem Planeten wie Berserker zu wüten, ganz nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Wie sonst sollte man dem Hass, all den Vorurteilen begegnen, die es scheinbar verunmöglichen, das Geschenk Erde miteinander zu teilen?

Juri Ritchëu «Traum im Polarnebel», Unionsverlag, 2005, aus dem Russischen von Arno Specht, 384 Seiten, CHF ca. 20.50, ISBN 978-3-293-20351-8

Ja, die Literatur kann mir ein Land, Menschen, eine mir fremde Kultur, eine mir fremde Religion näher bringen. Ich erinnere mich gut an die Bücher von Juri Rytchëu, eines tschuktschischen Schriftstellers, Sohn eines Jägers eines indigenen Volkes ganz im Norden Russlands. Ich tauchte regelrecht ein in eine Welt, die mir zuvor vollkommen unbekannt war, lernte, dass Russland aus viel mehr besteht, als aus dem, was ich zuvor wusste. Juri Rytchëu starb 2008 und scheute sich in seinen späten Jahren auch nicht, die Politik Russlands zu kritisieren. Ich lernte mit diesem Autor eine Kultur zu lieben, die mir viel Respekt einpflanzte. Nicht zuletzt macht es mir die Literatur unmöglich, ein Land zu dämonisieren, alle Russen in einen Topf zu schmeissen, was ganz offensichtlich in einer breiten Öffentlichkeit passiert. Nur schon weil ich viele russische SchriftstellerInnen, auch solche der Gegenwart wie Ljudmilla Ulitzkaja, Michail Schischkin viel zu sehr schätze und verehre, ist mir ein kollektives Urteil unmöglich. Putin ist nicht Russland.

Als ich letztes Jahr in die Heimat meines Schwiegersohns reiste, war es keine Reise in die Ferien. Ich wollte Vietnam begegnen. Ich wollte in den Wochen etwas lernen. Ich wollte eine Kultur, Menschen kennenlernen. Selbstverständlich las ich AutorInnen aus diesem Land, zB. Kim Thúy mit ihrem Roman «Der Klang der Fremde» oder den vorzüglichen Sammelband literarischer Kostbarkeiten aus Vietnam „Vietnam fürs Handgepäck“ von Alice Grünfelder. Ich sah, hörte und schmeckte mehr, als ich dieses fremde Land bereiste. Aber das klappte auch nur, weil ich mich nicht bloss auf den touristischen Trampelpfaden bewegte, sondern versuchte, möglichst offen zu sein, mich einliess, was sich mir zeigte. Wer All-inclusive zwei Wochen in Ägypten in einem Fünfsterneressort verbringt, lebt auf einem anderen Planeten, wattiert in Luxus, umgeben von allen Annehmlichkeiten.

Wenn Vermummte am Rand einer Demonstration gegen Hass stehen und den rechten Arm nach oben recken, wenn Propagandisten den Krieg gegen die Ukraine mit dem Dogma des grossrussischen Reiches erklären, wenn ein Parteichef in der Schweiz den menschengemachten Klimawandel leugnet und argumentiert, die Landwirtschaft könne von einem wärmeren Sommer doch nur profitieren, dann fehlt diesen Menschen Empathie. Es mag idealisierend klingen; aber ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die sich wirklich auf Kunst einlassen, sich auch auf ihnen fremde Stimmen einlassen, dass sie sich unweigerlich öffnen und verstehen lernen. Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land.

Liebe Grüsse

Gallus

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«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Immer wieder denke ich an diesen Satz aus deiner letzten Mail bei der Lektüre von «Weisse Rentierflechte» von Anna Nerkagi. Dieses erste Buch in deutscher Sprache von einer nenzischen Frau ist von archaischer Kraft und sinnlicher Poesie, entführt uns in eine ganz andere Welt im Norden Sibiriens.

Anna Nerkagi «Weiße Rentierflechte», Unionsverlag, aus dem Russischen von Rolf Junghanns, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 18.00, ISBN 978-3-293-20999-2

Naturverbundenheit und Tradition beeinflussen das Leben dieser Menschen in unwirtlicher eisiger Tundra. In wunderbarer Sprache geschildert begleiten wir verschiedene, junge und alte Nenzen auf der Suche nach Liebe, nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens. Der Autorin ist ein nachhaltiges Werk über Liebe, Verantwortung und Tod gelungen, das mich in der modernen Welt lebend zum Nachdenken herausfordert:

«Alte Bäume erscheinen uns als langlebige Menschen. Man möchte glauben, dass sie sich an so vieles erinnern, vielleicht sogar an das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT, das die Menschen einst vergessen haben… Das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT – was ist das? Ein Lied? Ein Gebet? Ein Gott?»

Ein Buch voller Fragen zum Kern unserer menschlichen Existenz. Unbedingt lesenswert!

Bär

Lieber Bär, Lieber Gallus 1:
«Die einen schwimmen auf, die andern versinken»