Pascale Kramer „Autopsie des Vaters“, Rotpunktverlag

Pascale Kramer zog mit 26 nach Paris. Heute zählt sie zu den grossen Autorinnen der Schweiz, trotzdem. Vielleicht gerade deshalb, weil sie den „Blick von aussen“ an sich schulte. „Eine Meisterin der Zwischentöne, des beredten Schweigens, der ‚non-dits‘. Eine, die die Zeichen der Zeit – und des Zeitgeistes – virtuos dechiffriert“, so Bundesrat Alain Berset anlässlich der Verleihung des Schweizer Grand Prix Literatur 2017.

In den Romanen Pascale Kramers geht es immer ums Ganze. Keine einfachen Geschichten, nichts Episodisches. Keine Lektüre, mit der es sich so einfach unterhalten lässt. Kein papierner Fastfood. Pascale Kramer spürt der Zeit auf den Nerv. So auch in ihrem neuen Roman „Die Autopsie des Vaters“.

Gabriel tötet sich selbst. Er schluckt Glasscherben. Seine viel jüngere Lebenspartnerin Clara findet ihn in seiner kleinen Zweitwohnung in der Stadt. Clara telefoniert Ania, Gabriels einzigem Kind, die seit Jahren den Kontakt zu ihrem schwierigen Vater verloren hat. „Ihr Vater ist heute nacht in seiner Wohnung in Monceau gestorben.“ Ania hört die Stimme und sieht auf ihren tauben Sohn, der genau zu spüren scheint, dass etwas eingebrochen ist. Ania lässt ihren Sohn in fremder Obhut und fährt nach Monceau. Ein Treffen mit Clara. Ein Treffen mit einer Fremden, die die Frau ihres Vaters war, eines Fremdgewordenen. Erst recht in den Jahren des gegenseitigen Schweigens, als sie in der Presse von ihrem Vater las. Vom langsamen Abrutschen bis zur endgültigen „Entgleisung“, als Gabriel von seinem Landhaus aus öffentlich Partei ergreift für zwei junge Einheimische, die unweit von seinem Haus einen afrikanischen Sans-Papiers brutal zusammenschlagen und ertränken. Ein Skandal.

Wider Willen kehrt Ania in ein Leben zurück, von dem sie sich schon als Kind loszureissen versuchte, von einem Vater, der sie nicht verstehen wollte und konnte. Nicht ihre Mühen in der Schule, nicht ihre Distanziertheit in der Zeit im Internat, nicht ihre Liebe und Ehe mit Novak, einem Serben und schon gar nicht ihren tauben Sohn Théo. Ania kehrt zurück in ein Leben, von dem sie sich mit aller Kraft getrennt hatte, in die Nähe eines Vaters, der sich mit seinem Freitod ganz ihrem Verständnis entzog. Die zurückgelassene Unordnung ihres Vaters hatte sich mit seinem Tod noch weiter verschoben. Als hätte ein Erdbeben in bodenloser Tiefe die Schichten darüber so sehr verückt, dass nichts mehr zusammenfinden kann, nichts.

Der Roman gipfelt in den Vorbereitungen zum Begräbnis in Gabriels Haus. Dort sammelt sich das Personal eines Dramas, als wäre es das Setting eines Film noirs. Dort prallen Welten aufeinander, die weiter nicht entfernt sein könnten. Um das Haus rottet sich der Hass, im Haus Missverständnis und tiefes Misstrauen. Und mitten im Geschehen Ania, eine zu tiefst verunsicherte Frau, die zusehen muss, wie selbst die innige Zweisamkeit mit ihrem Sohn Théo am Riff des Vaterhauses zu zerbrechen droht. Erschüttert von einer Mischung aus Hilflosigkeit und nagenden Schuldgefühlen.

Pascale Kramer schildert die Zerrissenheit einer ganzen Gesellschaft, das Gift alter Verletzungen, die Verheerungen Unausgesprochenem. Die Autorin richtet ihren Fokus genau dorthin, wo man viel zu schnell in Versuchung gerät wegzuschauen. Und das alles in einer Sprache, die mich staunen lässt. Pascal Kramer kann in einem einzigen Satz ganze Geschichten erzählen, Türen aufreissen, epische Hintergründe aufblitzen lassen. Sie beschreibt Stimmungen, Szenen und Situation derart gekonnt, dass man die sinkenden Temperaturen zu spüren glaubt.

Grosse Literatur einer grossen Autorin!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman „Die Lebenden“ (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Zur Übersetzerin: Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Ein wunderbares Filmporträt über Pascale Kramer

Informationen zu Pascale Kramer und ihren Roman „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“

Titelfoto: Copyright: BAK/Corinne Stoll