Marie-Hélène Lafon «Die Quellen», Atlantis

Marie-Hélène Lafon ist Meisterin darin, eine Geschichte auf den Punkt zu bringen, ohne diesen vor mir auszubreiten. Die Autorin trifft den Punkt und es breiten sich Wellen aus, Wellen aus feinen Beobachtungen, Blicken nach innen und solchen nach aussen. Und darüber hinaus ist „Die Quellen“ ein unspektakulärer, literarischer Gang an den Ursprung.

Eine junge Frau, irgendwo in Frankreich, verheiratet, Mutter dreier Kinder, seit sieben Jahren mit ihrem Mann auf dem gemeinsamen Hof, weit ab, auf 1000 m über Meer. Ihr Leben ist eingepfercht und festgefahren. Sie spürt es nicht nur an den blauen Flecken, Spuren ihres Mannes, dass sie verloren ist, wenn sie bleibt. Aber der Hof gehört zur Hälfte ihr. Und es hätte ein gutes Leben werden sollen, auch wenn ihre Beziehung schon bald in beklemmende Schieflage kam. Das schmerzhafteste ist die Tatsache, dass sie sich selbst nicht mehr genügt, dass sie sich selbst fremd geworden ist. Warum akzeptiert sie, was nur noch Schmerzen verursacht? Die Frau, die sie im Spiegel sieht, ist ihr fremd geworden, aufgeschwemmt, nicht nur in ihrer Figur aus der Form geraten.

«Ihr Leben ist ein Desaster, sie weiss es, sie steckt in der Klemme, festgenagelt mit den drei Kindern…»

Drei Kinder, zwei Mädchen und Gilles, der Jüngste. Nicht nur, dass sie sich vor ihrem Mann fürchtet. Sie fürchtet sich auch für ihre Kinder. Da sind auch die gelegentlichen sonntäglichen Ausflüge zu ihren Eltern keine Hilfe mehr, schon lange nicht mehr. Sie machen ihr nur bewusst, was sie verloren hat. So weit ab der Hof gelegen ist, so weit ab fühlt sie sich vom Puls der Welt, von alledem, was sie mit sich herumgetragen hatte. Ein Hof am Ende der Welt, ein Leben am Ende der Welt. Und über allem die Angst, dass man im Dorf etwas davon mitbekommt, dass die Fassade zu bröckeln beginnt, dass es der Anfang vom Ende sein könnte.

Marie-Hélène Lafon «Die Quellen», Atlantis, 2024, aus dem Französischen von Andrea Spingler, 128 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-7152-5035-9

Sie kennt ihren Mann seit Schulzeit. Bevor sie heirateten, war er mehr als zwei Jahre Soldat weit weg, mehr als zwei Jahre, während derer sie sich schrieben und sie erst viel später wegen versteckter Fotos erfahren mussste, dass es dort ein Leben gab, dass ihr Mann verborgen hielt. Das Meer, ein Glück, eine Frau. Als er zurückkam, heirateten sie und kauften mit ihrem zusammengelegten Ersparten diesen Hof über dem Dorf. Was Glück hätte werden sollen, Erfüllung und Zuhause, ist zu einer eisernen Kette geworden, gleich mehrfach verankert; an ein Versprechen, an Kinder und den Hof.

«Er hat recht, sie stinkt.»

Nicht nur, dass er sie schlägt. Erniedrigungen, Beschimpfungen und seelische Pein sind zum permanenten Alp geworden, ihr Körper zu einer Wüste. Die verbalen Attacken lähmen sie. Kein Schritt in Haus und Hof ohne die immerwährende Angst, einen schmerzhaften Ausbruch zu riskieren.

Marie-Hélène Lafon beschreibt ein Leben, das bereits zu Ende ist, das sich mit diesem Ende arrangieren muss, um nicht alles andere mit sich in den Abgrund, in ein schwarzes Loch mitzureissen. Marie-Hélène Lafon beschreibt einen Überlebenskampf, eine Frau, die sich an immer Kleinerem festhält, um die Schwere des Grossen zu ertragen. Bis es ihr dann doch gelingt. Bis sie dann doch ausbricht.

«Sie denkt oft, dass sie, als sie ihn heiratete, in eine Art Winter eingetreten ist, der nicht enden wird.»

Im zweiten Teil schlüpft Marie-Hélène Lafon in den Mann, der auf dem Hof alleine zurückgeblieben ist, verbittert und trotzig. Marie-Hélène Lafon beschreibt den Typus Mensch, der nie wirklich zur Reflexion fähig ist, der die Welt nach seiner Fasson zurechtrückt, der seine Aufgabe, den Hof trotz gerichtlichem Beschluss und Unterhaltszahlungen in seinem Besitz halten will, zum höchsten Gut erklärt, zur letzten Bastion, zur allumfassenden Rechtfertigung.

Im letzten, ganz kurzen Kapitel, wird mir als Leser bewusst, wie sehr Marie-Hélène Lafon mit dieser Geschichte verzahnt ist. Eine Geschichte über einen langen Schmerz. „Die Quellen“ ist meisterhaft erzählt, so sehr verdichtet, dass dieser Sud in seiner Intensität seinen Schmerz überträgt. Grossartig!

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die vielfach übersetzt wurden, spielen im Cantal in der Auvergne, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den markantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la Nouvelle, 2020 den Prix Renaudot. Auf Deutsch liegen «Die Annonce», «Geschichte des Sohnes» und «Joseph» vor.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © Olivier Roller

Marie-Hélène Lafon «Geschichte eines Sohnes», Rotpunktverlag

Die „Geschichte eines Sohnes“ ist die Geschichte einer Familie über ein ganzes Jahrhundert, von 1908 bis 2008, zwischen Figeac in Südfrankreich und Paris, eine Geschichte zwischen Alltäglichem und Geheimnissen, über die geschwiegen wird, die sich aber wie ein Alp über die Familiengeschichte legten. Marie- Hélène Lafon schreibt höchst poetisch, in einer ganz eigenen Sprache, in einer eigenartigen Mischung aus Unmittelbarkeit und Respekt.

1908, in einer Zeit, als der Kontinent vor dem grossen Auseinanderbrechen steht, schüttet die Haushalthilfe Antoinette ohne Absicht dem dreienhalbjährigen Armand heisses Wasser aus dem Waschtopf über den Körper, unglücklich, weil sich der Kleine an die Beine Antoinettes wirft. Armand stirbt nach einigen Tagen und alles in dieser Familie wird anders, als hätte Armands Schrei nicht nur seinen Zwillingsbruder Paul geweckt, sondern eine ganze Familie, einen ganzen Haushalt aus der Bahn gekippt. Mutter und Tante retten sich in religiösen Übereifer, der Vater in Ehrgeiz.

Marie-Hélène Lafon «Geschichte des Sohnes», Rotpunkt, 2022, 152 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-85869-940-4

Paul schickt man in ein Internat, wo er sich in ein erotisches Abenteuer mit einer Angestellten stürzt. Gabrielle ist 15 Jahre älter als Paul, wird schwanger, will ihr Kind gebären, arrangiert sich selbstbewusst mit ihrer Familie zuhause, bringt ihre Schwester dazu, das Kind in ihre Obhut zu nehmen. Die Vaterschaft muss ein Geheimnis bleiben, weil Gabrielle überzeugt ist, der viel jüngere Paul tauge nicht zur Vaterschaft. André kommt zur Welt und spürt bald, dass das Geheimnis um seinen Vater Geheimnis bleiben wird. Erst am Abend seiner eigenen Hochzeit erfährt André den Namen seines Vaters, ein Name, der aber noch über Jahrzehnte Geheimnis bleiben wird, weil André die Konfrontation fürchtet. Bis das Geheimnis aufbricht.

Marie-Hélène Lafon erzählt die Familiengeschichte in zwölf ineinander verwobenen Kapiteln, eine Geschichte, die sich mir erst in der zweiten Hälfte des Buches ganz erschliesst, weil Marie-Hélène Lafons Roman nicht chronologisch erzählt ist und Schicht um Schicht das Geheimnis einer Familie erst nach und nach lüftet. Auch nicht ganz einfach, sich in den Namen und Familienkonstellationen zurecht zu finden. Marie-Hélène Lafon geht es nicht um Enthüllung. Geheimnisse offenbaren sich nicht mit einem Mal, oft nicht überraschend, viel mehr nach und nach wie ein leckes Fass. Was mich als Leser viel mehr fasziniert als die Geschichte, ist die Sprache. Eine Sprache, die sich mit unter mit einem Mal ganz ohne Satzzeichen aufzulösen scheint, einer Sprache, die nicht in erster Linie Geschehnisse nacherzählen, rapportieren will, sondern Stimmung erzeugen, Klang erzeugen will, ihre Eigenwilligkeit entfalten.

Nach „Die Annonce“ der zweite Roman von Marie-Hélène Lafon, der bei Rotpunkt erscheint, von einer Autorin, die von einem anspruchsvollen Publikum zu entdecken wäre!

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal des Zentralmassivs, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle. «Die Annonce», 2020 beim Rotpunktverlag erschienen, wurde mit dem Prix Pages des libraires ausgezeichnet und von Arte verfilmt. Für «Geschichte des Sohnes» bekam Lafon 2020 den Prix Renaudot.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © Philippe Matsas