Pascale Kramer «Eine Familie», Edition Blau

In zwei Wochen feiert man Weihnachten, ob Christ oder nicht, mit Weihnachtsbaum, Keksen, Geschenken und dem scheuen Blick auf die «heilige Familie», jene von Erwartung und Idealisierung zugestellte Gemeinschaft, die in den letzten 2000 Jahren nicht nur in der Kirche, sondern auch in manchen politischen und gesellschaftlichen Ideologien auf einen marmornen Sockel gehoben wurde.

Pascale Kramers neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin der Leserin und dem Leser zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann.

Zur Geburt eines weiteren Kindes «findet» sich die Familie im Haus der Grosseltern zusammen. Vielleicht ist «finden» dabei nicht der richtige Ausdruck, denn obwohl vieles in der Familie stimmt, öffnen sich mit der Geburt jene Abgründe, über die man lange Zeit erfolgreich hinwegzuschauen versuchte.
Lou, die eben erst ihr Kind im Spital zur Welt brachte, hat die ältere Marie bei ihren Eltern zuhause, bei Danielle, ihrer Mutter und Oliver, ihrem Vater, der erst vor kurzem sein neues Leben als Rentner aufgenommen hat. Lous Schwester Mathilde ist von Barcelona hergefahren, auch der Bruder Edouard ist da. Nur einer fehlt. Einer fehlt immer. Romain, der älteste, den Danielle aus ihrer ersten Ehe in die wachsende Familie gebracht hatte. Romain, der schon als Jugendlicher nicht den Weg eingeschlagen hatte, den man ihm gewünscht hätte, der sich immer mehr verselbstständigte, sich immer mehr dem Einfluss seiner Eltern entzog. Ein junger Mann, der sich durch seinen exzessiven Alkoholkonsum bis ins Koma saufen, von dem man über Monate und Jahre nichts hören konnte, der verschwand, den Edouard irgendwann in Paris in der Gosse wiederfinden musste, weit weg von jeglicher Bereitschaft, in ein normales Leben zurückzukehren.

Romain ist der übergrosse Alp der Familie, jenes labile Terrain, auf dem die ganze Familie wegzurutschen droht. Pascale Kramer beschreibt aber nicht das aus den Fugen geratene Leben des grossen Bruders, sondern was dieses im Leben der anderen anrichtet. Ein Leben wie es in vielen Familien gibt, ein Leben, das man früher als das eines «schwarzen Schafs» bezeichnete, ein Leben, das sich aller Erklärungs- und Rettungsversuche entzieht, ein Leben, das das Glück einer ganzen Familie in permanente Relation stellt. Pascale Kramer erzählt aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder, fokussiert sich dabei aber nicht bloss auf die Sicht des abtrünnigen Sohnes, sondern mit hellwacher Empathie auf das feinmaschige Beziehungssystem einer ganzen Familie über drei Generationen. Pascale Kramer macht lesenden Vätern bewusst, wie unsäglich gross der Kraftaufwand ist, eine Familie aufrecht zu erhalten. Pascale Kramer macht allen lesenden Müttern bewusst, dass die Sonnen im System Familie weiblich sind und allen Lesenden sonst, dass es Dinge gibt, die weder durch Organisation noch Kraftaufwand zu lösen sind.

Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird.
Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat eine Anzahl Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Für «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» wurde sie mit dem Schillerpreis, dem Prix Rambert und dem Grand Prix du roman de la SGDL ausgezeichnet. Mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2017 konnte Pascale Kramer erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Rezension von «Autopsie des Vaters» von Pascale Kramer auf literaturblatt.ch

Pascale Kramer erhält den Schweizer Grand Prix Literatur

Beitragsbild © Sandra Kottonau