»Würden Sie mich bitte in Ruhe lassen. Das Fenster, bleiben Sie vom Fenster weg, ich will die Weite vor mir haben, die Wüste und die Windräder. Nach dem Rechten wollen Sie sehen? Hören Sie, es ist mir egal, wie Ihre Direktiven lauten, ich werde an der Erfüllung der meinen gemessen. Man muss, um die Zukunft freizulegen, Tonnen von Schutt beiseiteräumen, den die zerbröselnde Geschichte hinterlassen hat. Man muss tausend Sätze schreiben, um sich dem einen zu nähern, der ungeschrieben bleibt. Man muss Beharrlichkeit an den Tag legen, Durchhaltevermögen wider jede Vernunft. Man muss, und das ist vielleicht das Schwierigste, Sätze ertragen, die mit man muss beginnen; tatsächlich, wissen Sie, trägt unsere Zeit einen kategorischen Imperativ in sich, der längst überwunden schien. Ich schreibe ja nicht etwa über mein Leben – wie langweilig wäre das! –, sondern um mein Leben, ganz so, wie draußen in der Wüste ein Flüchtling um sein Leben läuft, auf den sie die Jagddrohne loslassen. Der sich, wie im Grunde jeder und jede von uns, verloren weiß im toten Nichts einer toten Landschaft und dennoch rennt, solange er noch kann. Er rennt, ich schreibe. Was ich schreibe, ist bloß ein Beispiel, doch dieses Beispiel muss treffend sein, zutreffend über sich selbst hinaus. So lautet die Vorgabe! Aber suchen wir nicht überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge? Kennen Sie Novalis? Aber was rede ich. Sie verstehen mich ja doch nicht, Sie hören mir nicht einmal zu … Nun gehen Sie schon!«
1 Symptome des Fiebers
Vor meinem Fenster liegt Mitteleuropa, die gehäutete Echse. Am Horizont ragt der Alpenbogen kahl und grau aus der Ebene, entlang des Grates bilden zweihundert Windräder den Rückenkamm des Reptils. Das Grün, von dem Aufzeichnungen und Bilddokumente früherer Jahrhunderte zeugen, haben Hitze, Trockenheit und Einstrahlung längst von den Hängen geschält. Die Wissenschaft hat penibel beschrieben, wie zuerst die feuchtkühlen Buchenwälder, dann die sonnendurchfluteten Eichen- und Föhrenbestände und zuletzt die zähen und hartlaubigen Gebüsche, die dem Wald nachfolgten, verdorrten und durch immer niedrigere, immer kargere, immer widerstandsfähigere Formationen des Bewuchses ersetzt wurden. Bäume und Sträucher sind längst aus dem Landschaftsbild verschwunden, aus den Gedanken und beinahe schon aus dem Wortschatz; ihre letzten natürlichen Vorkommen, hört man, sind wie eine aussterbende Eskimosprache auf winzige Reliktgebiete in den Polarregionen beschränkt. Bei uns, in der einst gemäßigten Zone, haben sich sandig-steinige Wüsten breitgemacht. Nur in den günstigsten Schattenlagen überdauern noch wenige Arten kaum knöchelhoher, unansehnlicher Polsterpflanzen, die sich mit silbrigem Haarflaum vor der Strahlung schützen, einzelne kleinwüchsige, aus den einst eng begrenzten Trockenzonen der Erde stammende Sukkulente und jene grauen, gelben oder rötlichen Krustenflechten, die dem Gestein wie eine vernarbte Haut anliegen und selbst unter experimentellen Laborbedingungen kaum umzubringen sind – alles in allem ein armseliges Häuflein Überlebender ohne jede Ähnlichkeit mit den reichhaltigen Pflanzengesellschaften, die noch vor wenigen Jahrhunderten unsere Breiten bedeckten.
Die Veränderung des Klimas und der Landschaft ist zuletzt in einer Geschwindigkeit vonstattengegangen, mit der die meisten Organismen nicht Schritt halten können. Das Leben wird vor unseren Augen in einer Weise vom Planeten gefegt, vor der die großen Sechs, die bisherigen Aussterbewellen der Erdgeschichte, zu harmlosen Begebenheiten verblassen. Man kann stundenlang auf die Ebene hinausstarren, ohne ein einziges Tier zu sehen. Einmal nur, kurz vor Carinas Tod, flog ein Wüstenrabe vorbei, ankämpfend gegen den böigen Wind; eine fast schon unglaubliche Ausnahmeerscheinung, wie mir Luis versichert hat, der es wissen muss, ist er doch täglich dort draußen unterwegs. Der Wind, der immerzu in Sturmstärke weht, trägt den entblößten Boden in tanzenden Staubwolken ab, bis das Grundgestein zutage tritt. Man kann nicht erkennen, wo das Hitzeflimmern endet und die Schwaden des Feinmaterials beginnen, die überall in der Luft treiben; beides verbindet sich vor dem Auge zu einem Schleier, hinter dem der ferne Alpenkamm zeitweise ganz verschwindet. Die Echse macht sich dem Auge rar. Die Windräder drehen sich dort oben tagein, tagaus unter Volllast.
Auch auf der Sonne, so meldet es der meteorologische Datenspiegel, stürmt es heute vermehrt, begleitet von Zusammenballungen magnetischer Feldlinien strömen Sonnenwinde in den Weltraum und setzen dem Erdmagnetfeld zu. Am Rand der Sonne hat sich, von einer Solarsonde genauestens dokumentiert, zuletzt eine Säule aus heißem Plasma gebildet, die mehr als sieben Erddurchmesser weit ins All ragt. Während Hitze und Strahlung wie unsichtbare Geschoße gegen mein vollisoliertes Fenster prallen, sitze ich hier bei erträglicher Raumtemperatur in meiner Wohnzelle und habe, egal wie, endlich zu schreiben begonnen. Ein wenig stickig ist es allerdings, seit einiger Zeit schon riecht es nach verschmortem Kunststoff; Gerüchte gehen um, die Innenklimatisierung des Humanareals gerate allmählich an ihre Leistungsgrenzen. Immer wieder läuft Personal ein und aus, möglicherweise stehen Arbeiten an der Klimaanlage bevor, oder die Aktivitäten werden nur vorgeschützt und man überwacht mich, versucht mich gezielt zu stören. Vielleicht soll meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Man steht hier ständig unter Leistungskontrolle oder soll es zumindest glauben oder glaubt es von sich aus. Es ist eine paranoide Welt; man zweifelt an seinem Verstand und weiß nicht, wer einen ans Messer liefert, wer wem worüber Bericht erstattet, was inhaltliche Anforderung ist, was Kontrollinstrument und was Ausgeburt der eigenen Neurosen. Man wird irre oder ist es schon – nichts, so heißt es, ist schwerer zu erkennen als der eigene Wahnsinn. Doch gebe ich mich unbeirrt, bleibe, abgesehen von gelegentlichen Wutausbrüchen, auf das Wesentliche konzentriert und lasse meine Aufgabe in ersten Beschreibungen Gestalt annehmen, um sie dann vielleicht zu lösen oder aber, was wahrscheinlicher ist, gerade so sang- und klanglos an ihr zu scheitern, wie wir alle, die wir noch hier sind, an der Überlebensfrage zu scheitern im Begriff sind.
Ich gebe mir Zeit. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, schaue ich hinaus auf die leicht gewellte Ebene des Alpenvorlandes, hinter der die Echse schemenhaft aufragt. Von der einstigen Kulturlandschaft mit ihren Mais- und Getreidefeldern, Blühstreifen, Wäldchen und gehölzgesäumten Bachläufen ist nichts mehr zu sehen, seit die ausufernde Sonne dieses trockenheiße Klima mit sommerlichen Temperaturen von fünfzig bis fünfundfünfzig Grad befeuert. Der Zyklus der Jahreszeiten ist weitgehend zusammengebrochen, die Hitze lässt neuerdings auch im Winterhalbjahr nur noch wenig nach. In der staubigen Weite verfallen die unbewohnten Dörfer, niemand will sich an ihre Namen erinnern. Eines von ihnen kann ich mit freiem Auge, zwei mit dem Fernglas deutlich ausmachen, ein weiteres in der flirrenden Ferne erahnen. In alten Landkarten eingetragene Flurnamen wie Haslau, Grünanger oder Eichkögl haben, abgesehen von ihren Lagekoordinaten in einem abstrakt über die Erdoberfläche gespannten Gitternetz, jeden Wirklichkeitsbezug verloren. Während also draußen alles verglüht und versandet, vegetieren wir in der Enge des Humanareals dahin. Wir sind nur noch wenige, aber wir sind zu viele, um hier ein menschenwürdiges Lebens zu führen. Das ist, so witzelt man, der späte Sinn unseres in Jahrmillionen erworbenen aufrechten Gangs: dass wir wenig Platz brauchen und senkrecht eingeschlichtet werden können in enge Räume. Über Nacht braucht dann alles nur um neunzig Grad geschwenkt zu werden, damit jeder bequem zu liegen kommt.
Die Straßen, die das Humanareal durch doppelte Thermoschleusen verlassen, laufen sternförmig zu den Agrarhallen hinaus. Die riesigen halbtransparenten Gewächshäuser sprenkeln wie Flecken blassgrünen Scharlachs die Landschaft, Symptom des Fiebers, von dem der Planet befallen ist – dabei sind sie noch die vitalsten Orte, an denen es, wenn auch nur unter hohem technischen Aufwand, immerhin wächst und gedeiht. Aus der verstrahlten Landschaft weggesperrt, produzieren hier krumme, niedrigwüchsige Obstbäumchen und dichte Reihen von Gemüsepflanzen streng rationierte Genussmittel, die unsere synthetische, weitgehend geschmacks- und geruchlose Grundnahrung ergänzen. Die Farbe Grün ist, indem sie die spärlichen Reste des Lebens koloriert, zum Symbol der Vergangenheit, der Vergänglichkeit, aber auch des unbeugsamen Überdauerns, ja des Aufbegehrens geworden. Sogar kleine Singvögel, robuste Arten wie Feldsperlinge und Kohlmeisen, werden unter dem Folienhimmel der Agrarhallen durch Schutzprogramme am Leben erhalten, brüten in den dort ausgebrachten Nistkästen und dezimieren die winzigen Pflanzenschädlinge, die Schildläuse, Spinnmilben und Thripse, deren Vermehrung unter den feuchtwarmen Bedingungen, die in den Hallen herrschen, nie ganz auszuschließen, sondern nur einzudämmen ist; die Kunst, sagt Luis, bestehe darin, gerade genügend Pestizide einzusetzen, um eine Massenvermehrung der winzigen Tiere zu unterbinden, und gleichzeitig so wenig, dass die Vögel keinen Schaden nehmen. Ein Fehler und das labile System bricht zusammen – mehr als einmal schon, sagt Luis, habe er hunderte Vogelkadaver aus einer Halle räumen müssen, nachdem man eine aufkommende Schädlingskalamität mit allzu reichlichem Gifteinsatz bekämpft habe.
In den klimatisierten Agrarhallen, vor allem in neu angelegten Hallen nach der ersten Durchfeuchtung des Bodens, kommen mitunter Pflanzen auf, deren Samen schon lange in der Erde geruht haben; sie gelten hier freilich als Unkräuter und werden, je nach dem Ausmaß ihres Auftretens, entweder chemisch bekämpft oder in den Boden zurückgepflügt, aus dem sie gekommen sind. Zuvor aber machen die Botaniker ihre Arbeit, gehen langsam, gesenkten Hauptes über die Flächen und bücken sich hier und da, um die Nachzügler einstigen Lebens zu untersuchen und Proben zu entnehmen, die in unserer Zukunft, falls es eine solche gibt, noch von Nutzen sein könnten; denn Ackerwildkräuter, heißt es, sind in Wahrheit keine Unkräuter, sondern genetische Ressourcen, die keine abwertende Vorsilbe verdient haben. Grün ist die Farbe der Hoffnung und schon heute der Werkstoff der Botaniker, wenn sie durch Gentransfers aus den zählebigsten Wildformen immer genügsamere und gleichzeitig ertragreichere Kulturpflanzen entwickeln, die in den Agrarhallen unter geringstem Wasserverbrauch möglichst rasch zur Erntereife gelangen. Wasser, das liegt bei kaum noch vierzig Millimetern Jahresniederschlag auf der Hand, ist der Schlüsselfaktor der neuen Landwirtschaft, es muss aufwändig hergestellt und sparsam zugeteilt werden. Neben jeder Agrarhalle steht ein Solarfeld mit einem blauen Prozesskubus aus massivem Stahlbeton, in dem Wasserstoff unter Zuführung großer Energiemengen zu Wasser verbrannt wird. Energiemangel ist immerhin nicht unser Problem – die Sonne liefert sie uns im Übermaß. Gelegentlich höre ich aus der Ferne einen dumpfen Knall, wenn bei der Wartung einer Anlage die Regulation der Knallgasflamme vorübergehend entgleist.
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Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).
Die Pandemie zeigt um eine Dimension deutlicher, dass Glauben im gesellschaftlichen Diskurs und im politischen Handeln keine Relevanz hat. Das verneint hier nicht, dass Gott die Sprache der Seele sein kann, die es nicht gibt. Es sagt, dass der Tod allein das Leben bestimmt, aber nicht im erregenden Sinn, sondern so, dass aus ganz sachlichen Gründen die zwischenmenschliche Distanz und der Tod der Natürlichkeit dem Tod vorgezogen wird. Das mag und wird in einer säkularen Gesellschaft das Beste sein, aber es geht hier radikal um die Feststellung, dass das Nichtglaubenkönnen der Grund ist, dass es so ist. Wohl heisst es, für Christen sei jedes Leben heilig. Aber ebenso auch das Sterben. Denn wer von der ein jenseits-von-allem innewohnenden Sprache lebt, hält sich an die Gegenwart einer in Gedanken anderen Welt, die das Denken selber ist. Dieses relativiert das reale Leben und erfährt es als verlierbar ohne Verlust. Oder sogar mit Gewinn: Christus ist mein Leben, sterben mein Gewinn (Paulus). Da dieser Horizont politisch ausgeschlossen ist, muss das Überleben mehr zählen als die sinnliche Nähe und das gemeinsam atmende Gespräch. Das lässt sich daran sehen, dass sehr viele Menschen in Alters- und Pflegeheimen jahraus- und jahrein so bitterseelenalleingelassen werden und so freudlos die Tage verbringen müssen, dass sie am liebsten sterben wollen. Durch Corona aber wurden auch die Hundertjährigen zwangsisoliert, damit auf keinen Fall jemand stirbt oder auch noch andere ansteckt. Dass das Überleben ganz sachlich auch mehr zählen muss als die Würde, zeigt sich in der Art und Weise, wie mit Covid-19 Menschen auf der Intensivstation sterben, ohne Kontakt zu den Liebsten, zu Tode isoliert schon vor dem Tode, so dass die unantastbare Würde nur noch darin bestehen kann, unantastbar zu sein. Aber das Monströseste ist die wachsende Depression und die in ihr wiederum brütende Destruktion. Auch Depression kann als ein das Leben lähmender, todähnlicher Zustand bezeichnet werden. Dieser psychische Todeszustand muss so unweigerlich in Kauf genommen werden, dass die grosse Depression die noch viel grössere Destruktion an Gewalt schürt. Umgekehrt kann Glauben als Vertrauen die Angst nehmen und bei manchen die Abwehr- und Heilkräfte stärken, wenn es nicht die Angst nur verdrängende Realitätsflucht ist. Angst auf jeden Fall macht auch krank. Die Umkehr des Johannesprologs zuDas Wort ist Gott aber heisst für die darin sich erhellende Inexistenz, das Leben von der Begeisterung ob der Unsterblichkeit der Sprache her zu verstehen, von der Verzückung ob der jede Sekunde Unglaublichkeit des Lebens her, von der Ekstase der Liebe her, vom Lachen, vom Übermut her, von dem durch die herzzerreissende Traurigkeit des Todes hindurch zu noch herzzerreissenderer Freude Erwachen her, Pathos hin oder her. Die nur als peinlich aussprechbare Haltung der Glaubenden bleibt, sich auch auf das Sterben zu freuen, darin nichts ihnen die elende Heiterkeit und die übermütige Schwermut nehmen kann, komme da an Angst und Bedrohung, an Pandemie und Panik, was da wolle. Das mag ein Glaubensheldentum sein, hat aber nichts mit faschistischem, volksgesundheitlichem, vaterländischem Heroismus zu tun, denn es schliesst alle Fremden und Minderheiten und Schwachen nicht aus, sondern herzlich ins Jenseitsverlies der Sprache mit ein. Ist umgekehrt Sterben nicht nur das Allerletzte, sondern auch das Allerletzte, und ist es in der Sprache nicht auch ein anderes Leben, zählt nur das eigene Leben und das der Anderen vielleicht schnell nichts mehr. Aber auch ohne das Sterben zu verklären ist auch nur eine Sekunde gelebt zu haben ein Wunder, und wenn von der völligen Unwahrscheinlichkeit ausgegangen wird, überhaupt zu leben, hängt ein erfülltes Leben weniger von der Länge des Lebens als von der Art der Gegenwart ab, so dass auch mit sechzig oder vierzig oder zwanzig zu sterben die Unglaublichkeit, gelebt zu haben, nicht widerlegt. Die durch die Säkularisierung unvermeidliche Verabsolutierung des Lebens bestätigt sich auch darin, dass das immer längere Leben der klarste Sinn und das erklärteste Ziel ist, so dass hundert Jahre alt zu werden schon fast als ein allen zustehendes und zu ermöglichendes Grundrecht angesehen werden kann. Zumindest macht die Coronakrise die so unfassbar hoch gestiegene Lebenserwartung in ebenso unfassbar grosser Selbstverständlichkeit deutlich, dass vielleicht auch ein Hundertjähriger bald nicht mehr sterben kann, ohne elend vor der Zeit gestorben zu sein. Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal. Es ist nicht nur seit Camus der Skandal schlechthin, daran wiederum nur Gott schuldig sein könnte, wenn er wäre. Und dass gestorben und gelitten wird, genügt auch zum Gegenbeweis. Und spräche auch das Nichtsein nicht gegen den zusehends weiblichen Engel, und wäre das nichtseiende Licht auch eine Sie, die Herrin Sprache, und wäre diese Herrin auch alle Sprechenden selber, so wäre sie doch der Kapitalgrund, die Gottillusion als völlig jenseits zu erledigen. Aber achtzig Jahre alt zu werden ist nicht nur historisch, sondern in Hinsicht auf manche Weltregionen auch heute noch ein grosses Glück. Es als selbstverständlich zu erwarten, bleibt unserer Vergänglichkeit gegenüber auch in noch so hochmedizinischer Wohlstandswelt verblendet. Und doch können auch viele betagte Patienten von Covid-19 geheilt werden, bei der die Sterberate immer noch um ein Vielfaches geringer ist als die an Herzversagen oder Krebs. Hoffentlich wird hier erwidert: Wenn das Sterben an Krebs durch einen Lockdown verhindert werden könnte, würde man es auch tun. Und tatsächlich zeigt sich ja nun, dass durch die viel geringeren Feinstaubwerte in den grossen Städten weniger Menschen sterben. Warum also nicht ab sofort weltweit überhaupt das Fliegen und Autofahren für immer einstellen, weil die dadurch bessere Luft viele Todesfälle verhindert und zugleich die von Klimaschäden bedrohte Erde schützt? Aber es geht hier und erst recht beim aus Lebensliebe auch Sterbenwollen darum, dass eine solche Haltung im öffentlich ernstzunehmenden Diskurs nicht haltbar ist. Auch wenn das alltägliche Leben vielleicht über Jahre ausgehebelt bleibt, kann lebensschutzvernünftig nicht berücksichtigt werden, was Corona an psychischer Not bringt: den massenhaften Spontanitätstod, Umarmungstod, Nähetod, was sich für vom leibhaft Begegnen Lebende nicht digital ersetzen lässt, auch wenn es die Lösung der Zukunft ist. Es ist denkbar, dass die vorwiegend digitale Begegnung und das Physical Distancing für die biologische Sicherheit nicht nur vorübergehend, sondern in alle Zukunft zur vorgeschriebenen Lebensweise wird. Dass sich aber auch die Kinder nicht mehr unbekümmert nahekommen und nicht mehr übermütig miteinander spielen dürfen, ist als Gedanke fast nicht zu ertragen, nicht nur, weil Kinder das kaum einhalten können, sondern weil sie es auch nicht einhalten sollen um ihrer spontansten Nähe Willen. Habermass beunruhigt, dass auch Juristen den Lebensschutz zugunsten der Selbstbestimmung relativieren. Das Leben als Lebendigkeit ist anderseits nicht nur für die vom Wort Inbrünstigen auch ekstatische Leidenschaft, dazu auch Selbstverausgabung, sich Verschwenden, sich-aufs-Spiel-Setzen, lieber-Gefahr-als-Sicherheit und Lust des Wahnsinns gehören, welchen im Diskurs der Vernunft der vernünftige Grund fehlt. Allerdings hat auch das vernünftige Sterbenkönnenpathos nur das Jenseits in der Sprache, um verstehbar zu machen, dass es nicht sozialdarwinistisch und nicht volksheroisch und nicht lebensleichtsinnig gemeint ist, sondern ganz persönlich transzendent.
Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach in der Schweiz, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär! Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012) erschien 2018 mit «Es passierte» sein dritter Roman.
Es gab angenehme Dilettanten & solche, die einem gewaltig auf die Nerven gehen konnten. Das waren die, die zu viel darüber nachdachten, was sie machten. Ein echter Amateur überlegt nicht lang, er macht einfach. Es ist wie mit Schönheitsoperationen: Die meisten gehen daneben, obwohl sie mit großem Aufwand betrieben werden. (Der auch mit den Schmerzen danach kaum zu rechtfertigen ist.) Ein echtes Spiegelbild ist eben nicht über Nacht hinzukriegen.
Ich war in der Altstadt von Maskat, Oman, unterwegs. Mein Hemd war durchgeschwitzt, ich hatte den Geschmack von Khat im Mund & machte in der drückenden Hitze bei jeder Gelegenheit halt, um einen Mokka zu trinken. Dabei gingen mir Passagen aus einem Filmskript durch den Kopf, mit dem ich mich seit einiger Zeit herumgeschlagen hatte. Der erste Entwurf stammte nicht von mir. Ein Filmer, den ich kaum kannte, wollte, dass ich es durchsehe, um dem Wirrwarr der Szenen eine „Struktur“ zu geben, wie er sagte. Mir kamen sofort starke Zweifel, ob ich der richtige Mann dafür war. Ich hatte etwas gegen Filmer, die einfach nur eine Story herunterkurbeln wollen & den Schnitt dazu nutzen, sich aus der Affäre zu ziehen, wenn sie mit der Story nicht mehr weiterkommen.
Wer filmisch etwas umsetzen will, muss mit dem Zeitablauf umgehen wie einer, der Karten legt.
Wieso Oman? Es ging um einen schwedischen DJ, der dort verschwunden war. Freunde von ihm wollten, dass ich mich vor Ort unauffällig umsehe. Wie oft steckte wahrscheinlich mehr dahinter, aber das, was sie mir anvertrauten, reichte, um mich ins Flugzeug zu setzen & mich getarnt als Tourist ins Gedränge in den Gassen der Altstadt zu stürzen.
Nachts fiel das Mondlicht auf die bleichen Mauern der Stadt wie auf eine Theaterkulisse. Es war ein Bild, das ohne Wirkung auf mich blieb, aber für die Eingangsszene eines Films taugte es. Um dem exotischen Effekt entgegenzuwirken, stellte ich mir vor, es zerspringen & die Splitter über die Leinwand taumeln zu lassen…
Als der Kaffee nicht mehr wirkte, griff ich zu Ritalin, das damals im Mittleren Osten rezeptfrei zu haben war. Ich konnte mir nicht leisten, mich von den Reizen der fremden Umgebung ablenken zu lassen.
Erste Erkundungen brachten mich nicht weiter. Meine Fragen wurden freundlich, aber mit einem Achselzucken abgewiesen. Ich musste mich irren, hieß es, wenn ich versuchte, Genaueres herauszufinden. Auch ein Foto des vermissten DJ half nicht weiter.
Einmal wachte ich in der Dunkelheit des Hotelzimmers auf & sah Sterne wie Schneeflocken durch die Nacht flattern. Am Rand eines Platzes standen ein paar gebogene Palmstämme vor einem Streifen Silberschimmer, wo ich das Meer vermutete. Als ich kurz die Rippen der Jalousie auseinanderbog, fuhr ein schnittiges Cabrio eine leere Straße entlang. Auf dem Beifahrersitz saß eine schlanke Frau mit dem Körper einer Schaufensterpuppe. Hinter dem Lenkrad konnte ich niemand entdecken. Der Blick auf die Straße hatte mir die Vision eines selbstfahrenden Wagens beschert…
Lust & das sie begleitende Skript. Ich blätterte in den Seiten auf der Suche nach einer erotischen Stelle, wie ich sie in alten französischen Schwarzweiß-Pornos in Bangkok gesehen hatte. Stummfilme, die hauptsächlich von der Kraft der Bilder lebten. Wenn eine Frau die Lippen bewegte, konnte sie Bon soir sagen, aber auch eine ermunternde Bemerkung von sich geben. Die Szenen spielten meist an halböffentlichen Orten. Im Taxi, in einem Separee, in einem Gitterlift… Sex braucht geschlossene Räume. Verführerische Episoden dagegen können sich an jedem beliebigen Ort ereignen.
In einer Bar spiegelten sich Lust & Verlangen bei Gegenlicht im Gesicht einer Frau… das Kleid hing an ihr wie eine im Wind flatternde Flagge… im Mondlicht trieben Schatten über ein wie ein Orientteppich gemustertes Mohnfeld am Rand einer levantinischen Stadt… ein türkischer Soldat beobachtete die Szene mit einer entsicherten Walther in der Hand…
Sex im Film läuft heute anders. Die Frau schwingt sich auf den Mann, der ihre abrupten Bewegungen kaum ertragen kann. Wenn er Glück hat, gerät er nicht an eine wie Xenia aus dem Bond-Film GoldenEye, die ihre Lover beim Cunnilingus mit den Schenkeln erwürgt. Was mit etwas Übung jede Frau hinbekommt… von der Lust bis zum Machtspiel, das Sex zur Todesfalle macht, ist nur ein kleiner Schritt.
Nach einem Whisky zu viel sagte sie (die flüchtige Bekanntschaft aus einer Bar): „Deine Hände zittern ja.“
Sie lehnte mit einem Handtuch um die Hüften an der Kachelwand eines türkischen Bads & tauschte heimlich die Chips mit den Daten aus, die ich einem Kontaktmann in Istanbul übergeben sollte. Mit der Gelenkigkeit einer Akrobatin hatte sie mich kampfunfähig gemacht & dann ihre Aktion durchgezogen.
Beim Showdown auf dem Dach des Hotels stellte sich heraus, dass sie bei mir an den Falschen geraten war, was daran lag, dass sie das verabredete Zeichen ihres Komplizen übersehen hatte, auf das sie wartete, um ihr den genauen Zeitpunkt zu verraten, wann die Wirkung des Betäubungsmittels bei mir einsetzte.
Stümper auf beiden Seiten, wie man in der Branche sagt…
Manchmal bleibt eben nur die Taktik, die weibliche Version des Skripts außer Acht zu lassen. Gewöhnlich stiftet das genug Verwirrung, um einen Coup durchzuziehen. Die meisten Akteusen können nicht vertragen, wenn man vom Skript abweicht & plötzlich als ein Anderer auftritt. Sie haben schließlich Jahrzehnte damit verbracht, ihre Rolle einzustudieren.
Xenia mit einem Handtuch um die Hüften suchte verzweifelt den Panikknopf… sie erkannte gerade noch durch die Kuppel des türkischen Bads, dass die Killer des Syndikats im Anrücken waren, bevor die Wirkung des Skopolamins einsetzte & ihre Synapsen versagten. Sie sackte auf eine Pritsche & zappelte mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer.
Weder hier noch in einem anderen Land kannst du irgendjemand vertrauen, & was dich betrifft, Tourist, dein Gegenüber hat sich längst aus dem Staub gemacht & nur seine Epidermis zurückgelassen…
Ein Hauch Erox (ein Parfüm aus menschlichen Pheromonen) strömte durchs Gedränge in den Gassen der Altstadt. Ich musste mein Verlangen zügeln, noch einen Kaffee zu trinken. Seiten des Filmskripts waren mit braunen Flecken überzogen & manche Passagen nicht mehr zu lesen.
Wie Stalaktiten fiel Mondlicht auf brüchiges Gemäuer. Ich weiß nicht, aber es kam mir vor, als schaute ich vom Balkon meines Zimmers auf eine weibliche Stadt. Möglich, dass mich die bleichen Mauern an den Teint einer blonden Frau erinnerten, die mit nackten Schultern in einem Cabrio saß, dessen Sitze im Schatten einer Zypresse wie mit Moos überzogen wirkten. Das hatte wohl mit der Art von Erotik zu tun, die durch manche Passagen des Skripts wehte. Von allen Szenen, die als „intim“ markiert waren, wurden heimlich Fotos gemacht, die anschließend unter Sammlern von Hand zu Hand gingen.
Eddie, der sich meist als Agent ausgab, schwang sich nach einem One-Night-Stand mit einer Informatikerin auf die Feuerleiter & verschwand übers Dach. Er hatte versucht, einen Chip mitgehen zu lassen, war sich aber nicht sicher, ob er den richtigen erwischt hatte. Erst anschließend wurde ihm klar, dass ihm die Informatikerin was vorgemacht & nie ihren elektronischen Keuschheitsgürtel abgelegt hatte. Um sicherzugehen, hatte sie sich nicht nur auf die Elektronik verlassen & ihm einen Drink mit Skopolamin verpasst. Das Ergebnis war, dass er erst gegen Morgen in einem Eck neben der Rezeption wieder aufwachte.
Das war nicht Eddies erste unterirdische Nacht. Er hatte schon öfter Bodenberührung gehabt, wenn er an eine gewiefte Gegenspielerin geraten war. Einmal war er mitten in einer Nummer in Panik geraten & getürmt, ohne sich um die an ein Messingbett gefesselte Replikantin zu kümmern, die den Lockvogel gespielt hatte. Sie war gerade dabei, seinen Schwanz auf ihrer Zunge zu balancieren, als die Flammen eines infernalischen Sonnenuntergangs wie ein Buschfeuer durchs Zimmer schwappten & Eddie die Luft abschnürten. Kurz vor einem Erstickungsanfall schwebte er in einem Funkenschwall sprudelnder Lava davon…
Sternschnuppen zerrissen die Nacht. Irrlichter erleuchteten blitzlichthaft die Landschaft. Man konnte hören, wie die Geister der Finsternis aus ihren unterirdischen Revieren auszubrechen versuchten. Es hörte sich an wie das Scharren von Pferdehufen. Lautlose Flügelschläge ließen die Luft erzittern. Als der Strom ausfiel, verflüssigten sich die Farben der letzten Strahlen des Sonnenuntergangs. Dann wurde es schlagartig dunkel. Auf dem verdorrten Rasen vor dem Dschungelhotel, in dem Eddie festsaß, war es drückend heiß.
Immer wieder kam es nach unerklärlichen Kurzschlüssen zu Stromausfällen & er musste sich an den tapezierten Wänden der Gänge entlangtasten, an denen präparierte Tiere wie Fledermäuse, Spinnen mit Fangarmen, Echsen mit fluoreszierenden Häuten & getrocknete Amphibien hingen. Sie sahen aus wie Trophäen von Jägern auf der Suche nach ausgestorbenen Spezies & unbekannten Giften.
Im Schein einer Öl-Funzel erkannte er Lorita, die sich ihm, nur mit einem Patronengürtel & Rucksack bekleidet, in den Weg stellte.
„Wo willst du hin? Ich bin marschbereit“, verkündete sie. Ihr Atem streifte ihn wie der Flügelschlag eines Falters.
Er folgte den Glanzlichtern auf ihrer Haut ins Freie. Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, & in der dampfigen Dunkelheit war sein T-Shirt nach wenigen Schritten durchgeschwitzt. Sie bahnten sich einen Weg durch ein Gestrüpp aus Schlingpflanzen & Luftwurzeln, die von unsichtbaren Ästen herunterhingen. Manchmal leuchtete kurz der Silberstreifen eines Rinnsals auf. Hin & wieder schimmerten Blüten wie bunte Leuchtzeichen im undurchdringlichen Gebüsch. In der feuchten Hitze kam er kaum zu Atem. Einmal blieb Lorita unerwartet stehen, & er prallte gegen ihre schweißüberzogenen Brüste.
„Ayahuasca… schon mal davon gehört?“, hauchte sie.
Ein Stück weiter endete der Pfad am Eingang einer kleinen Höhle. Eddie wusste nur, dass Ayahuasca aus Lianen gewonnen & von Einheimischen eingenommen wurde, um sich in Trancezustände zu versetzen. Er vermutete, dass sich Lorita Blätter der Pflanze besorgen wollte. Aber sie schien sich in keiner Weise für Gewächse der Gegend zu interessieren.
Die Höhle ging in einen Durchgang über, der dem Flur eines primitiven Krankenhauses glich. Eddie spürte einen leichten Schwindel, den er auf die bedrückende, leicht modrig angehauchte Luft im Gang zurückführte. Er stolperte über einen Kübel, & an den Wänden standen ungewöhnlich kleine Baststühle. Halb verdeckt von verdorrten Kletterpflanzen entdeckte er einen Spiegel & erkannte sein seltsam verzerrtes Gesicht. Durch Ritzen in der Decke drang trübes Licht.
Dann fiel sein Blick auf Lorita. Ihre Schritte waren in die geschmeidigen Bewegungen einer Tempeltänzerin übergegangen, die sich auf ihren Patronengürtel übertrugen, der ihre Hüften umschlang.
Plötzlich öffnete ein als Schamane verkleideter Arzt die Tür eines Raums, der wie ein Wartezimmer eingerichtet war.
„Doktor von Meier… welche Überraschung“, sagte Lorita.
„Du weißt ja… die Arbeit. Hast du einen Patienten mitgebracht?“
„Nicht ganz. Eddie & ich haben beschlossen, eine Reise zu unternehmen.“
Sie setzten sich & ein Indiojunge brachte Mate-Tee in Schädeltassen. Der Doktor, fiel Eddie auf, trank aus einem Kristallschädel.
Einmal, als der Doktor kurz verschwand, beugte sich Eddie zu Lorita hinüber & fragte, was hier lief. Ein Dschungelcamp oder eine Art Kokainlabor?
Ehe sie antworten konnte, kam der Doktor zurück. Er war ein stämmiger Mann um die 50, dessen leicht vergilbte Haut verriet, dass er lange in den Tropen gelebt hatte.
„Sie fragen sich sicher, was wir hier mitten im Urwald treiben. Schon mal von der Amazonas Gesellschaft gehört? Nun, sie hat vor einiger Zeit die Anlage übernommen, in der wir uns befinden… hat Ihnen das Lorita nicht verraten? Das Gebäude diente ursprünglich als Drogenlabor. Als das zu riskant wurde – genauere Einzelheiten kenne ich nicht – entstand eine Klinik für plastische Chirurgie. Für Leute verstehen Sie, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Berühmte Leute… Leute mit Geld, die sich davor scheuen, dass es zu einem Vorher-Nachher-Vergleich kommt. Die Boulevardpresse, verstehen Sie? Berühmte brasilianische Ärzte steckten dahinter… Sie können sich denken, dass sich die Eingriffe nicht aufs Gesicht beschränkten… manchen ist der Intimbereich wichtiger als die Physiognomie. Mit der Zeit kamen Geschlechtsanpassungen dazu. In der Chirurgie ist mittlerweile nichts unmöglich, folgen Sie mir?“
Lorita schien der Vortrag zu langweilen. „Ich weiß nicht, ob sich Eddie dafür interessiert“, warf sie ein.
„Ich schätze ihn als Mann ein, der erfahren will, was in der Welt geschieht“, fuhr von Meier fort. „Unsere Kundschaft besteht hauptsächlich aus Männern, die sich als Frauen fühlen. Zumindest wollen sie keine Männer mehr sein… ihr Leben als Mann kommt ihnen abwegig vor, sie wollen ihre Männlichkeit ablegen. Die meisten leben nach wie vor heterosexuell, & wenn sie Kinder haben, dann nur, damit sie in die Mutterrolle schlüpfen können. Andere gehen einen Schritt weiter & wollen eine sogenannte Neovagina. Kein besonders komplizierter Eingriff, muss ich sagen. Die Folge ist zwar Unfruchtbarkeit, aber der fehlende Nachwuchs in den… sagen wir entwickelten Ländern… wird reichlich durch die demografische Entwicklung in den Schwellenländern ausgeglichen.“
Eddies Gedanken waren abgedriftet. Der Tee, die Hitze & die Rede des Doktors hatten ihn benommen gemacht.
„Hören Sie mir überhaupt zu, junger Mann?“, hörte er die Stimme des Arztes. „Spüren Sie nicht auch gelegentlich die Neigung, ihre Männerrolle abzulegen & sich aufs Gendersurfing einzulassen?“
„Kann ich nicht sagen. Ich hab noch nie das Verlangen gespürt, mit meinen Gefühlen Roulette zu spielen.“
„Aber es geht nicht um Gefühle, junger Mann. Wir haben es hier mit ernsthaften Identitätsproblemen zu tun.“
Der Doktor drückte auf einen Knopf & eine Schiebetür öffnete sich. Der Raum dahinter war eingerichtet wie ein Sprechzimmer. Ohne sich weiter um Eddie zu kümmern, setzte sich von Meier an einen Bürotisch, auf dem Geldscheine & ein Plastikhandschuh lagen. Daneben bemerkte Eddie einen mit toten Faltern gefüllten Aschenbecher.
„Ich könnte Sie einem kleinen Gentest unterziehen, wenn Sie wollen“, meinte von Meier. Er sagte es, während er in einer Schriftmappe blätterte.
Plötzlich fiel Eddie auf, dass Lorita verschwunden war. Er spürte keine Lust, sich länger in dieser angeblichen Klinik aufzuhalten, in die er nur wegen Lorita geraten war.
„Ich hatte eigentlich vor, Anakondas zu jagen“, sagte er, ohne recht zu wissen, wie er darauf kam.
Von Meier schien diese Bemerkung überhört zu haben. Er stand plötzlich auf & seine Gestalt zerbrach vor Eddies Augen. Er sah den Doktor wie durch eine zersplitternde Glasscheibe. Als die Scherben am Boden gelandet waren, hatte sich von Meier in Luft aufgelöst, & Eddie erkannte, dass er wieder in der Eingangshalle des Dschungelhotels stand. Es gab wieder Strom, & in der gedämpften Beleuchtung sah die Einrichtung aus wie in angenehmes, gelbliches Dämmerlicht getaucht.
Es war ein Anblick, wie ihn Eddie noch nie gesehen hatte.
Ich versuchte den Transceiver, den ich für Notfälle immer dabei hatte, in Gang zu setzen, was mir aber nicht gelang. Zu viele kosmische Störungen, die gelegentlich Schwindelanfälle hervorriefen… Ein Lichtstreifen deutete den Übergang zur Zukunft an, eine astrophysische Chimäre, wie ich annahm, auf die Zeitreisende immer wieder hereinfallen.
Alle Räume der Raumstation, in der ich übernachten wollte, waren offen. Es gab keine Türen, nur Durchgänge. Auf der Suche nach meinem Quartier kam ich an einem Badezimmer vorbei, in dem sich eine nackte Frau mit dem Hintern zu mir die Beine rasierte.
Ich hatte einige Schwierigkeiten, mein Zimmer zu finden, denn eins sah aus wie das andere & es gab keine Markierungen. Schließlich entschied ich mich für ein beliebiges & stellte meine Sachen ab. Durch ein Panoramafenster konnte ich auf eine trostlose Siedlung sehen, über die ein paar grobkörnige Wolken trieben.
Man hatte mich gewarnt, dass die Verständigung auf der Station wortlos ablief. Wünsche, Fragen & dergleichen wurden transverbal wahrgenommen. Sprachlose Sprache war der letzte technologische Schrei, der auf Künstliche Intelligenz zurückging. Das Ganze beruhte auf Sensoren, die in der Lage waren, von Gehirnströmen & winzigen Muskelbewegungen auf Wörter zu schließen. Das Verfahren funktionierte noch nicht ganz eindeutig, war aber so ausgelegt, dass es sich ständig selbstständig verbesserte.
Mir fiel auf, dass mich die Stille in der Station ungewöhnlich empfindlich für Geräusche & Töne machte. Hin & wieder glaubte ich das Knistern von elektrischen Funken zu hören. Ein schwach bläulicher Schimmer, der von einem Geruch der Leere begleitet wurde, durchzog sämtliche Räume. Leere riecht nicht, könnte man meinen. Aber das Fehlen von Gerüchen kann das Empfinden eines intensiven Nicht-Geruchs hervorrufen.
Das waren Eindrücke, um die ich mich nicht weiter kümmerte. Mutation & Science-Fiction waren Gebiete, mit denen ich mich kaum auseinandergesetzt hatte. Im Hier & Jetzt gab es genug Phänomene, mit denen ich mich herumschlagen konnte, & sie wurden keineswegs weniger. Etwa Sprache, die auf Buchstaben & Wörtern beruht & ähnlich Viren Signale im Bewusstsein verbreitet, die sich von der ursprünglichen Bedeutung der Wörter gelöst haben. Am Ende dieser Entwicklung konnten Wörter jede beliebige Bedeutung annehmen & wurden so zu Wirtszellen von Bezeichnungen, die sich willkürlich mit jedem Begriff, Vorgang oder Objekt assoziieren ließen. Eine Programmierung, die allmählich & unbewusst geschah.
Semantische Verschiebungen waren Bestandteil der sprachlichen Entwicklung & nötig, solange sie sich auf veränderte Erkenntnisse oder Zustände bezogen. Sprache projiziert Bilder in den Raum der Dinge. Ohne sie & wörtliche Festlegungen bliebe er unsichtbar. Mit der Zeit ist es zu einer Art Höhenrausch der Abstraktion gekommen, & Sprache hat auf Kosten der Wahrnehmung die Deutungshoheit über die reale Welt übernommen. Stürme des Verfalls wehten über virtuelle Boulevards…
Verfall war zu einem Synonym von Verwirrung geworden.
Städte im Morgengrauen lösen bei mir gewöhnlich eine nervöse Übelkeit aus. In den ersten Momenten, wenn der Tag einsetzt, brechen die Schutzmechanismen der Konditionierung zusammen, & es kommt zu affektiven Reaktionen, meist im Zusammenhang mit sexuellen Phantasien. Ich nahm an, dass das auf Veränderungen der Orgonschicht zurückzuführen war. Besonders wenn ich einen Nachtflug hinter mir hatte, war dann an Schlaf nicht zu denken.
Ich machte mich auf den Weg durch die Gänge der Station & geriet in eine Art Imbissbar, wo mir ein Mädchen mit rosa Pupillen & lilienweißer Haut einen Detox-Drink anbot.
„Wozu ist das gut?“, fragte ich.
„Du wirst schon sehen“, meinte sie cool. Typisch für die Mädchen des Territoriums, die bekannt waren für ihre röhrenförmigen Zungen, die sie trotz Überlänge mit erstaunlicher Geschicklichkeit handhabten.
Die Ebenen des Territoriums glichen einer erstarrten Topografie, über die immer wieder Sonnenstürme fegten. Am Himmel hingen ein paar von der Raumkrümmung lädierte Sternbilder. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Dialog mit dem Mädchen in der Bar tatsächlich sprachlos abgelaufen war. Ich hatte die Frage mehr gedacht als ausgesprochen & sie hatte mit einem Zirpen geantwortet, dass sich mit dem Zischen der Kaffeemaschine mischte. Es war ganz selbstverständlich passiert, denn ihr Aussehen hatte mich abgelenkt.
War es nicht Verlangen, das Leben zum Abfalleimer machte? Wenn er voll ist, leert man ihn, & das geht so lange, bis er schließlich bricht.
Immer wieder streifte mein Blick das Mädchen hinterm Tresen, während sie mir mit schlanken, elastischen Fingern, an denen ich winzige Saugnäpfe zu erkennen glaubte, den Kaffee hinschob. Etwas an ihr erweckte meine Neugier & ich wollte herausfinden, was es war. Manchmal warf sie mir einen hämischen Blick zu. Er kam mir mehrdeutig vor.
Ich war der einzige Gast an der Bar, weshalb meine Aufmerksamkeit immer wieder an ihr hängen blieb. Möglich, dass ich die Nachwirkungen des Höhenrauschs noch nicht überwunden hatte, die oft mit bipolaren Empfindungen verbunden sind. Mein Zustand erinnerte mich an Versuche in der Unterdruckkammer. Streckenweise glich er Phasen, die sich während des Entzugs einstellen, was vermutlich mit Schwankungen der Sauerstoffzufuhr zu tun hatte.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte die Mutantin hinter der Theke. Sie war eine Mutantin, keine Frage. Ihre Lippen schimmerten grünlich & ihre Erscheinung hatte etwas Künstliches.
„…oder hast du die falsche Droge erwischt?“
Sie war offensichtlich interessiert, Genaueres über mich zu erfahren.
„Ich bin mir nicht sicher“, gab ich ihr zu verstehen, „ob ich dasselbe höre, was du sagst.“
„Verlass dich auf mich.“ Ihr Gesicht nahm plötzlich die Farbe von Asche an & wurde starr wie eine Larve. Lichtblitze durchzuckten den Raum um uns, & ich verlor die Orientierung, als wäre ich in der Leere des Universums in ein euphotisches Vertigo geraten, wo es nur Hell & Dunkel gab. Mein nächster Gedanke war, dass sie mir etwas in den Kaffee geschüttet hatte. Wahllos tauchten Bilder aus vergangenen Zeiten auf. Aufmärsche & Szenen von Revolten auf städtischen Straßen… stumm gehaltene öffentliche Reden… hastig in Träumen hingekritzelte Gedichte… Echtzeit-Bilder von Terroristen, die ihre Anschläge filmten… Flugblätter mit algebraischen Formeln…
Ich musste in eine Sphäre geraten sein, in der die Zeit durchlässige Stellen hat. Schwaden von schwarzem Geruch umhüllten mich. Die Farbe der Hintergrundstrahlung zwischen Galaxien war Sehnsucht. Lichter schossen durch kosmische Stadtviertel. Bilder hatten sich selbständig gemacht & waberten zwischen Klumpen Dunkler Materie. Das Klicken von Assoziationen überlagerte farblose Traumbilder.
Der Raumflug durchs Bewusstsein endete in einem klimatisierten Hotel mit einem griechischen Portier, der bei unserer Ankunft gerade einen Vortrag über „Kontinuität“ hielt. Der Blick durch seine starken Brillengläser konnte einen Gast glatt durchlöchern. Ich zahlte für ein Doppelzimmer & die Mutantin fragte: „Wo bin ich?“ Solche Fragen führen oft zu unbedachten Schritten, erklärte ich ihr. Ich suchte die Windungen meines Gehirns ab, um einen Namen für sie zu finden.
Auf dem Zimmer gerieten wir sofort aneinander & fickten kreuzweise auf einer quadratischen Matratze. Durch eine Schiebetür schaute ich auf eine fensterlose Hauswand & ein schmales Stück Strand mit grellen Sonnenschirmen. Man muss immer darauf gefasst sein, in einem Reiseprospekt zu landen.
Ausgestreckt aufs Bett erinnerte ich mich an eine Safari-Lodge in Afrika, wo ältere Damen beim Fünf Uhr-Tee durch Ferngläser die Rüssel von Elefanten bewunderten. Sie waren entschlossen, sich nicht von Insekten belästigen zu lassen, die überall herumkrochen.
Am Nachmittag fegten heftige Windstöße durchs Stiegenhaus.
Plötzlich wusste ich, dass der passende Name für die Mutantin Oliviera war.
Allmählich verblassten die Zeichen der Sehnsucht. Die wirren Nächte waren nicht lang genug, um Erinnerungen an Träume zu hinterlassen.
Als ich aufwachte, war mir der Name der Mutantin entfallen, & ich fragte sie danach. Sie tat so, als hätte sie nie einen gehabt. Aber so wie ein Gedicht einen Titel hat, musste auch sie einen Namen haben. Während ich mich an den zu erinnern versuchte, den ich ihr gegeben hatte, rätselte ich, ob es Ophelia oder Odette war. Ich wusste, ohne Namen war sie auf dem Planeten verloren.
Wer mit Assoziationen handelt, muss sich auf Überfälle aus dem Hinterhalt gefasst machen. Ich lag noch ausgestreckt auf dem Bett, als mir die Mutantin ihre röhrenförmige Zunge um den Hals legte & wie eine Schlinge zuzog. Sie war in die Rolle einer mexikanischen Malerin geschlüpft, die ihre Liebhaber beim Ficken erwürgte (was angeblich einen mächtigen Orgasmus erzeugt). La carne de los muertos…
Das Zimmer hatte sich in ein Filmstudio verwandelt, das wie das Innere eines mittelamerikanischen Tempels ausgestattet war. Angestellte arbeiteten mit der stumpfen Routine von Gefangenen. Szenen verschiedener Arbeitsabläufe wurden von Filmprojektoren auf die leinwandähnlichen Innenwände geworfen. Die filmische Geschwindigkeit änderte sich ständig, & die Gefangenen waren gezwungen, ihr Arbeitstempo entsprechend anzupassen. Zeit war zum Film geworden.
Ich versuchte herauszufinden, wo die algebraischen Flugblätter aufbewahrt wurden, die, wie ich annahm, verschlüsselte Angaben über meine Reise mit Oliviera enthielten. Mir war klar, dass es Sex & emotionale Reflexe waren, die uns in der Zeit festhielten. Mit jedem Orgasmus wurden wir tiefer in die schwarze Singularität eines Zeittunnels gezogen, aus dem es irgendwann kein Entkommen mehr geben würde.
Um mich von eigenständigem Handeln abzuhalten, versuchte Oliviera, ihre Stimme über einen Sprach-Transceiver mit meiner zu mixen, so dass es unmöglich wurde, festzustellen, wer sprach. Lautlose Sprache hatte anscheinend mit dem Versuch zu tun, einem die eigene Stimme zu nehmen. Auf diese Weise konnte ein „Ich“ in jeden beliebigen Körper schlüpfen.
Der Sprach-Transceiver ließ sich auch dafür verwenden, sexuelle Erregung von einem Körper auf einen anderen zu übertragen. Sex konnte so programmiert werden, dass der Betroffene keinen Einfluss darauf hatte, wie er ablief. Mit diesem Programm war es möglich, den Ablauf von Lust & Handlungen akustisch steuern. Sobald das Gerät aktiviert wurde, setzte ein leises Ticken wie bei einem Geigerzähler ein, & ich wusste, dass sich die Mutantin für eine neue sinnliche Spielart entschieden hatte. Ich war ihr ausgeliefert, denn ich wusste nicht, welche Signale zu den einzelnen Praktiken passten. Ich konnte nicht anders, als mich auf jede Eigenart wie Sado-Maso oder Tantra einzulassen.
Ich wusste nicht, was ich unternehmen konnte, sollte der Sprach-Transceiver fehlerhaft arbeiten oder gar versagen. Ich erwog, ihn zu zerstören, wagte es aber nicht, weil ich die Folgen nicht abschätzen konnte. Auch kam mir der Gedanke, die Mutantin einer kryonischen Behandlung auszusetzen, einer Methode, die gelegentlich auf langen Raumreisen angewandt wird. Aber ich wollte sie nicht allein in einer Zeitschleife zurücklassen.
Plötzlich füllte sich das Tempelstudio mit grünem Licht. Olivieras Körper wurde durchsichtig. Sie betrachtete mich mit toten Augen & ließ den Sprach-Transceiver über mein Rückgrat gleiten. Eine starke sinnliche Erregung erfasste meinen Körper, der unter den neuronalen Erschütterungen zu zerfallen drohte. Elektrische Stösse durchfuhren & hinderten mich, Bewegungen auszuführen. Wie aus eisiger Ferne sah ich, wie Olivieras Körper mit meinem verschmolz. Bei der geringsten Berührung zwischen uns wurde ich von heftigen Spasmen geschüttelt, & ich verlor kurz die Besinnung.
Ein unsichtbares Wesen geisterte durch mein Gehirn, was eine leichte Übelkeit auslöste, ähnlich der, die bei Raumreisen vorkommt. Ich betrachtete Oliviera, deren Gestalt sich trotz der Verschmelzung unserer Körper kaum verändert hatte. Sie versuchte etwas zu sagen. Es war, als würde sie um Hilfe rufen. Sie bewegte den Mund, blieb aber stumm. Auch die wortlose Verständigung funktionierte nicht.
Etwas musste schiefgelaufen sein bei Olivieras Transferversuch, mich in eine zeitliche Sackgasse abzuschieben, aus der es keine Rückkehr gab. Das Ganze ähnelte einem Ritual, das einst Priester im Verborgenen von prähistorischen Tempelanlagen vollzogen, um durch ein Opfer andere Zeitbereiche zu erreichen.
In ihrem nahezu durchsichtigen Zustand entging Oliviera der Gravitation & begann frei im Raum zu schweben. Ich versuchte sie im Auge zu behalten, aber immer wieder verschwamm der schwache Umriss ihrer Gestalt zwischen Linien & Konturen, die das Filmstudio durchzogen. Aus der gleichmäßigen Silhouette ihres Torsos schloss ich, dass sie nackt war.
Während sie sich entfernte, fing die Einrichtung des Studios an, sich zurück in ein Hotelzimmer zu verwandeln. Die Projektionen an den Wänden überschnitten sich, wodurch der Eindruck entstand, dass der Raum schrumpfte. Der grobe Putz glättete sich, & die handgroßen Mauerdurchbrüche weiteten sich zu einer Fensterfront. Das Gewicht des Himmels drückte auf Raum & Zeit, & ich schloss die Augen.
Ich war kurz eingenickt, & als ich wieder zu mir kam, sah ich Oliviera nackt bis auf einen Slip am Geländer auf dem Balkon des Hotelzimmers stehen. Es musste kurz vor Sonnenuntergang sein, denn flutartig hatte sich die Färbung von Blutorangen ins Zimmer ergossen.
Oliviera drehte sich um, kam langsam auf mich zu & betrachtete mich mit grünlich funkelnden Augen. Einen Augenblick zweifelte ich, ob sie es war. Sie sah älter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Lichtflammen, die durchs Zimmer züngelten, erfassten meinen Körper. Aber ich war immun für ihre erotisierende Wirkung.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Oliviera.
„Ich hab versucht, dich zu finden.“
„Aber ich war die ganze Zeit hier.“
Sie würde nie zugeben, dass die Operation, mich in eine andere Zeit zu entführen, misslungen war. Ihre Lippen bewegten sich nicht synchron zu dem, was sie sagte.
„Es kann nicht jedes Mal klappen“, sagte sie, stand auf & zog sich an. Dann: „Vielleicht an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit.“
Ich kam mir vor wie in einer Kurzgeschichte mit dem Titel: Das Ende einer Affäre. Bevor ich recht mitbekam, was geschehen war, war sie zur Tür hinaus, die mit einem leisen Klick hinter ihr ins Schloss schnappte.
In einer abgelegenen algebraischen Gegend geriet ich in eine mir unbekannte Biografie. Sie versetzte mich in eine Lage, in der ich mich erst zurechtfinden musste. Ich hatte den Auftrag, die Vorgänge auf der Panamericana zwischen Totolapan & Aurora spiegelverkehrt zu betrachten. Ich war mit einem alten VW-Bus unterwegs & ständig abgebrannt, rauchte Gras & aß vegetarisch. Zu meinem Unbehagen war das eine für einen Alt-Hippie typische Biografie. Die eines Anthropologen, der sich für indigene Kulturen interessiert, wäre mir lieber gewesen. Aber in meiner Branche muss man die Biografien nehmen, wie sie kommen…
Während der Fahrt fiel mir nach einiger Zeit auf, dass mir ein schräger Typ auf den Fersen war, der sich ähnlich unverdächtig zu verhalten versuchte wie ich. Spiegelbildlich gesehen konnte er ohne weiteres mein Doppelgänger sein, der mich vorsichtshalber im Auge behalten wollte, falls es Ärger mit den Narcos oder den Los Zetas geben würde. In meinem Tran aus Skunk (Marihuana-Duft) & Tequila-Schwaden bekam ich nur flüchtig mit, was in der Gegend vor sich ging. Vermutlich hatte man mich vor der Abreise mit einer Körperkamera verdrahtet, von der nicht mal ich wusste, wo sie steckte. Von einem Alt-Hippie kann man schließlich nicht erwarten, dass er mit allen Neuigkeiten der technischen Entwicklung vertraut ist.
Ein Schlitzohr von Dealer hatte mir in der Nähe von Salina Cruz mit Damiana verschnittenes Sinsemilla angedreht, das zu irren Albträumen & Halluzinationen führte. Es war, als hätte sich ein gefräßiges Insekt in meinem Gehirn eingenistet. Es fraß, & ich musste mich mit seinen Ausscheidungen herumschlagen, die zu Dauererektionen schlimmer als mit Viagra führten. Ich hatte den Verdacht, dass der Dealer mit den Los Zetas unter einer Decke steckte & mich durch Lähmung außer Gefecht setzen wollte.
Um diese Symptome loszuwerden, verbrachte ich eine Nacht mit einem Chitin-Girl in einem Hotelzimmer. Sie wollte es so, der VW-Bus war ihr zu schäbig. Das Zimmer war im Preis inbegriffen. Das war vermutlich die Idee ihres Loddels, der auf die Art doppelt kassierte. Sie faselte mehrmals von Cucaracha, & ich hab nie herausgefunden, ob das ihr Name war oder ob sie damit andeuten wollte, dass sie eine Rebellin war.
Sie wollte es auf die Schnelle, aber darauf habe ich mich nicht eingelassen. Schnell kommen & schnell abkassieren, das ist eine alte Nuttenmasche. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob das Chitin-Girl eine Nutte war. Natürlich war sie nicht ohne Geld zu haben. Sie tat so, als ginge es um eine Gefälligkeit, für die wegen der Umstände (wir kannten uns kaum & würden uns auch nie wieder begegnen) eine finanzielle Gegenleistung angebracht war. Ich sagte ihr, dass die Bezahlung keine Rolle spielte. Das überraschte sie, & ihre Haltung mir gegenüber änderte sich. „Komm morgen um dieselbe Zeit wieder.“ Keine Nutte vertröstet ihre Kunden, deswegen nahm ich an, dass mehr dahintersteckte als eine kurze „Gefälligkeit“.
Am nächsten Tag trat sie mit einem Fotografen auf, den sie als Jimmy Garcia vorstellte. Er hatte in der Nähe des Hotels ein Fotostudio, wo wir den Nachmittag mit Gesprächen verbrachten. Er sagte, dass er seine Aufnahmen dazu benutze, bestimmte Reaktionen bei den Betrachtern hervorzurufen. Es ging um ein Verfahren, das er als Umkehrfotografie bezeichnete.
Es störte mich, dass er sich mit dem Chitin-Mädchen auf Spanisch unterhielt. Ich erklärte, dass mir die Situation nicht ganz geheuer sei, & machte Anstalten, zu gehen. Die Vermutung lag nahe, dass er einen Porno drehen & damit nicht unumwunden herausrücken wollte.
„Ich glaube, ich bin nicht der Richtige dafür“, sagte ich.
„Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Señor“, meinte er. Er hatte einen kalten, unpersönlichen Blick & fummelte ständig an den Kameras herum. Durchaus möglich, dass er bereits heimlich Aufnahmen gemacht hatte.
Schließlich ging er daran, einen Film vorzuführen, den er an die brüchige Wand seines Studios projizierte. Ich konnte nur erkennen, dass er Gesichter von Männern & Frauen zeigte, die sich gelegentlich überlagerten & dabei eine erregte Mimik verrieten. Ich spürte, dass die Aufnahmen eine erotisierende Wirkung auf mich hatten, ohne dass ich sagen konnte, wieso. Es war möglich, dass die Aufnahmen gemacht worden waren, während die Dargestellten einen Orgasmus hatten. Der Fotograf erklärte, dass es ihm darum ging, verschiedene Stadien sexueller Erregung festzuhalten.
Das Chitin-Girl wurde so genannt, weil sie einen geometrisch makellosen Körper hatte & ihre Mimik keine Regungen erkennen ließ, was ihr eine teils animalische, teils exotische Ausstrahlung gab. Das wirkte besonders auf Europäer erregend & geheimnisvoll.
Der Fotograf forderte mich auf, mich ihr gegenüber zu setzen. Mein Misstrauen war inzwischen einer Neugier gewichen, deswegen spielte ich mit.
„Die Zeit ist gekommen“, erklärte er, „körperlich Energien zu übertragen.“
Ich spürte, dass es zu einem Austausch von – wie soll ich sagen – Spannung oder Erregung zwischen dem Mädchen & mir kam, der durch Veränderungen meines Gesichts sichtbar wurde, denn ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, es zu verlieren. Ich versuchte, so gut es ging, mein gewohntes zu behalten.
Eingefahrene Vorstellungen drifteten durch ferne Weiten. Es störte mich, dass ich den Namen des Chitin-Girls nicht kannte, & ich fragte mich, wieso ich annahm, dass sie eine Nutte war.
Jimmy der Fotograf zeigte mir ein Foto, auf dem ihr Gesicht einer byzantinischen Ikone ähnelte. Plötzlich sah ich sie in einem anderen Licht. Auch ihr Körper hatte sich verändert. Ihre Haut glänzte & zeigte erstaunliche Geschmeidigkeit.
Ich überlegte, wie ich an sie geraten war. Gab es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen uns, die mir bisher entgangen war? Vermutlich war die Wirkung des Damians stärker als ich dachte, denn ich ertappte mich dabei, dass ich einen 3D-Film betrachtete, in dem sie nackt auf einer Pritsche lag & mir zuwinkte. Etwas schien mein Lustzentrum zu blockieren, denn ich spürte kein Verlangen nach ihr. Auch weil mir bewusst war, dass ich nicht sie, sondern eine Reproduktion betrachtete.
Grünliches Licht füllte das Studio, erschütterte die starren Formen der Einrichtung, so dass Gegenstände durchsichtig wirkten.
Ein billiger Trick, sagte ich mir, durch den der Eindruck erweckt wurde, dass ich mich statt im Studio des Fotografen in einem magischen Garten befand. Gedämpfte Musik erklang, & eine Hängematte baumelte zwischen Palmen. Blüten leuchteten in Technicolorfarben, & hinter dichtem Gestrüpp schimmerte das türkisene Wasser einer Lagune.
Es war Zeit, ein paar Fragen zu stellen. Hatten die Lichtmuster des Films mich in einen Theta-Zustand versetzt & meine Traumnerven aktiviert? Ich erinnerte mich an eine Stelle bei Castaneda, wo Don Juan sagt: „…für einen Zauberer ist die Welt des täglichen Lebens nicht real, auch nicht außen, wie wir glauben… die Welt, die wir alle kennen, ist nur eine Beschreibung.“
War das Chitin-Girl ein Medium, das der Fotograf benutzte, um Leute wie mich in einen halluzinogenen Zustand zu versetzen, der mir die Augen für Dinge hinter den Dingen öffnete? Unterlag Sehen nicht auch der Anpassung & Konditionierung, was einen Betrachter dazu verführt, das zu sehen, was er erwartet, & spontane Einsichten verhindert? Was kontrollierte die visuelle Wahrnehmung & Auswahl der Bilder?
Konditionierte Sicht kontrollierte Gefühle & begrenzte, was gesehen wurde & was nicht. Diese vorprogrammierte Sichtweise aufzubrechen, kam einer Revolte gleich, bei der eine Kamera zur Waffe werden konnte. Eine Waffe, mit der sich die Wort-Bild-Struktur der Realität niederreißen & zerstören ließ.
Die ersten Schritte, die in diese Richtung führen, fühlen sich an wie ein Erdbeben. Der Himmel senkte sich schwer wie Blei auf die sichtbare Welt. Palmen fielen um, eine gewaltige Flutwelle schwappte über die Landschaft der Gegenwart, & der gregorianische Zeitkalender zerbrach…
Zurück zum Schauplatz der Inszenierung, wo alles begonnen hatte. Kino der Sinne, wenn alles möglich & die einzige Rettung die Dunkelheit des Zuschauerraums ist. Wenn Körper in Polstersitzen versinken & Gerüche intime Aufdringlichkeit annehmen.
„Red’ nicht so viel, mach’s einfach.“
Lichter verflüchtigten sich. Ein flauer Schimmer schob sich über das Blau der Leinwand. Experten in den ersten Reihen wieherten. Eine schmutzige Sonne tauchte langsam aus dem satten Grün eines Dschungels auf. Dazu der Ton eines Saxofons, der einen zerrissenen Himmel zum Einstürzen bringen konnte.
Immer wieder stellt sich heraus, dass in diesem Geschäft die ersten Sequenzen entscheiden. Sound, Farben & das Panorama des Sets. Der Zuschauer muss sofort wissen, wo er ist. Der Rest ist in den meisten Fällen Routine, Plot, Timing… den Horror des Augenblicks sichtbar machen.
Eine Nebenfigur wird abgeführt, Uniformierte legen an, das Opfer fällt kopfüber in den Sand. Das spielt sich nicht in irgendeiner Bananenrepublik ab, das ist Europa, Abendland. Sarajewo, Berlin in den letzten Kriegstagen, Baskenland, Sizilien, polnisches Hinterland… lachen Sie nicht, es geht um mehr als den Surplus historischer Errungenschaften… Gewalt, Vernichtungslager… eine Mischung aus Macht, ethnischem Wahn & Rückständigkeit… eine Gegend, gepflastert mit Schwarzen Löchern, in denen Zeit spurlos versinkt…
Manchmal dringt er doch noch durch, der vergessene Duft des Kontinents. In Pizzakneipen von Rom, in gekachelten Bistros auf griechischen Inseln & an Austernständen der Normandie, wo die Kühle des Atlantiks durch Zellen weht.
„Noch einen Absinth.“ Langsam schiebt sich der Erdschatten über den Fernsehschirm, & ein Luftschiff verschwindet über dem westlichen Kap. In verstaubten Klamotten gekleidete bürgerliche Imitate schlendern durch das ausgestorbene Biarritz.
Ruhe, Aufnahme… auf sämtlichen Kanälen wird der Augenblick der Wahrheit mitgeschnitten, ins rechte Licht gerückt, mit Kommentaren überschüttert. Nichts entgeht dem Auge der Kamera & doch sind die Bilder inszeniert.
Auf ein verabredetes Zeichen treten die Schauspieler in Aktion. „Ist euch doch klar, was es heißt, es bis zur Schlussszene zu schaffen“, meint der Regisseur. Der Plot verlangt unerbittliche Auslese & entscheidet, wer auf der Strecke bleibt.
Bereitwillig ziehen sich die Schauspieler noch einmal aus, zeigen, was Körper ist. Anschließend werden sie ausbezahlt.
„Okay, das wär’s, haut ab.“
Unschlüssig bleiben noch ein paar Statisten zurück. Sie glauben, dass sie eine zweite Chance bekommen, wenn sie lang genug warten würden.
Die Nacht entfaltet sich wie eine tätowierte Blume. Hauser, „der Regisseur“, tritt aus dem Erdschatten, mustert misstrauisch einen Komplizen, während sein eingebauter Scanner das Umfeld nach feindlichen Impulsen abtastet.
In einer Nebenstraße eine Kaffeebar. Säuerlicher Geruch schlägt ihm entgegen. Ein Glatzkopf dreht sich nach ihm um. Auf einem Hocker eine rosa Perücke, daneben Fotos von zerstörten Pyramiden auf einem Plastiktisch.
Kiki im Hotel nackt an der Jalousie. Sie schaut hinaus aufs Araberviertel & den treibenden Sand im Schein von Karbidlampen. Jedes Wort, das sie von sich gibt, kommt mit einem Klirren über ihre Lippen. Unbeirrt zieht Zeit dahin. Geräusche werden von jahrhundertalten Mauern geschluckt.
„Ville“, eine künstliche Feriensiedlung unweit der Grenze. Hauser, von Paranoia gepackt, gibt das Drehbuch nicht aus der Hand. Er hat Schwierigkeiten, das Team in der Januarkälte bei der Stange zu halten. Ein Sicherheitsmann hat sich Johnny geschnappt, der den Hauptdarsteller in Sexszenen doubelt, & schreit ihn an: „Mann, jetzt verrate ich dir mal was. Hier wird nicht gedealt.“ Ein Techniker wirft eine Windmaschine an & eine Kokswolke wirbelt auf. Overalls flattern im Wind.
Leere Grundstücke, verlassene Tankstellen, schwarzer Kaffee. Kiki mit schlaksiger Anatomie Schulter an Schulter mit einem Coke-Automaten.
„Wo willst du hin?“ Ihr Lächeln verschwimmt im kühlen Licht der Landstraße. Sie rückt die Sonnenbrille zurecht, springt in einen Strandbuggy & rast über eine kondensmilchfarbene Dünenlandschaft.
Vor Mauerresten des Atlantikwalls ein Mädchen am Straßenrand, rausgeputzt wie ein Tanzgirl. (Schreie aus meterdicken Bunkerbauten.)
„Wohin?“
„Egal. Bloß weg hier.“
Ein türkisener Himmel, die Mülltonnen grün. Mit einem Knopfdruck lassen sich Städte, Landschaften & Kontinente abrufen. Eine Bedingung digitaler Anwesenheit heißt: fleischliche Projektion. Nur nicht den Panikknopf erwischen… könnte sein, dass der Bildnomade dann als raumloser Schatten in die Skyline von Manhattan, die Lichter von Casablanca oder in die Silhouette der Istanbuler Moscheen entschwindet…
Augenblicke des Exils: Während eines Blackouts mit einem Pappbecher in der Hand zwischen überladenen Fassaden sitzen & alten Zeitungsseiten hinterherschauen, die über den Gehsteig wehen…
Ahnungslose Opfer, eingesperrt in die Echokammer der Zeit. „Bin fremd hier. Kommst du mit?“, fragt das Tanzgirl im Bikini.
Vor einer Strandvilla ein Cabrio mit einem blonden Androiden am Steuer. Die Fassaden an der Promenade schief wie verwitterte Filmkulissen aus der Zeit pompöser Monumentalschinken.
Johnny & Kiki auf dem Weg zu einem Klub vor der Stadt. Muschicats, in tiefe Sessel versunken, warten auf Kunden. Licht frisst sich durch die Markise des Sonnendachs.
„Ich freu mich“, sagt Kiki, die Sonnenbrille im Gesicht.
„Worauf?“
„Auf jetzt.“
Für einen Augenblick verliert Johnny wie nach einem Autounfall die Orientierung. Flashbacks, grelle Blitze, Doppelbelichtungen flattern durch sein Gehirn. Ein Film, der angelaufen ist, lang bevor er das Kino betreten hat.
„Hab dir was mitgebracht“, sagt sie & berührt ihn an der Hand.
„Zeig her.“ Es ist ein Anhänger, eine Art Amulett. Eine Buddha-Figur, dreieckig eingefasst, billiger orientalischer Import. Bis spät in der Nacht ist sie bei ihm. Sie tanzen, fummeln sich ab. Landen in einem Hinterzimmer mit Diwan. Rollen einen Joint & fallen übereinander her.
„Hey, der Vibrator funktioniert nicht.“
Etwas kippt weg in ihm, nur mühsam kommt er zurück, ein verrutschtes Lächeln auf den Lippen. Auch ihr Gesicht hat sich verändert, sieht aus wie schlecht zusammengeklebt. Die Haut findet keinen rechten Halt.
Ein paar Klubgäste kehren ermattet von einem Ausflug in die Wüste zurück, wo sie wie in einem Sandkasten herumgeirrt sind, lassen sich in Polstersessel fallen & vertiefen sich in Zeitungen. Eine Katze schreit, was Johnny an die endlos sich hinziehenden Routen der frühen Fliegerei erinnert. Damals war Kiki schneller aus den Klamotten als eine Stripperin. Im Haus an der Rue Mohammed V. roch es nach Küchenabfällen, nicht selten hatte sich ein Skorpion ins Zimmer verirrt, & jenseits der Stadt schimmerte das Band der Brandung die Küste entlang.
Verblasst die langsam fallenden Sterne, der matte Schein schwankender Straßenleuchten, ein Foto mit einer startenden Maschine an der Wand.
Johnny erinnert sich an die Taxifahrt auf der anderen Seite des Atlantiks nach einem langen Nachtflug. Leichter Regen, der Asphalt von Glanzlichtern zerkratzt, Leute in Mänteln, Dunstfahnen über Hochhäusern, Brücken & dann der Tunnel unterm Fluss hindurch…
„Was ist, kannst du nicht schlafen?“
Kikis Hand, die ihn zaghaft berührt.
Ein fast schon obszöner Akt von Konzentration. Südliche Morgendämmerung erhebt sich im Osten, durchsichtig fast & mit der hypnotischen Anziehungskraft eines Spiegels.
Alte Junkies krepieren nicht, sie verschwinden einfach…
Ein erster Schritt, um zurückzufinden: ohne Entzugserscheinungen den Körper einer Frau betrachten.
Das dumpfe Dröhnen der Stadt, gleichmäßig wie das Summen einer Kamera.
Johnny schaffte es nie mehr ganz, von seinen Trips zurückzukehren. Tagelang verließ er das Zimmer nicht, unsicher, wo er gerade war. Undurchdringliches Schattengewirr nächtlicher Filmaufnahmen umgab ihn, Gegenstände, die er berührte, hinterließen einen zerebralen Abdruck auf seiner Haut.
Mit der abendlichen Dunkelheit wich das Sichtbare aus seinem Gesichtsfeld & gab ihm seine Bewegungsfreiheit zurück. Er zog sich an & tastete sich durchs Treppenhaus, wo es nach Katzenpisse & ranzigem Pommes-Öl roch. Bevor er die Straße betrat, verharrte er einen Augenblick. Von irgendwoher kamen verzerrt Pianoklänge, die sich wie Fetzen eines Tangos anhörten. Strahlen eines Scheinwerfers streiften ein halb abgerissenes Plakat, als er den ersten Schritt auf der Straße machte.
Sofort war er von aufdringlichen Geräuschen umringt. Er hörte Knistern von Zeitungspapier, Worte wurden geschrien oder geflüstert, Weichteile gedrückt, Schritte hallten, Körperteile rieben sich, Türen knarrten, Tassen klirrten & blieben im kalten Licht liegen.
Während sich die Nacht in Fetzen auflöste, winkte er ein Taxi heran. Im Café de France entdeckte er Kiki neben einem schleimigen Dealer; einer von vielen, die dort ständig herumhängen & Karten oder Backgammon spielen. Genau wie in alten Filmen zogen von Zeit zu Zeit Rauchschwaden über ihre verschlagenen Gesichter. Die Kellner glitten mit Blicken von Attentätern & in ungebügelten weißen Kitteln geschmeidig an den Tischen vorüber. Die Männer saßen versteinert da, & Frauen, zerbrechlich wie Wachsfiguren, nippten an buntfarbigen Säften, in denen Perlen wie Diamantsplitter glitzerten.
Zeit, zu verschwinden, jetzt, wo der Tod die Scheiben zum Klirren brachte. Johnny wusste, dass die Filmleute ihn nicht aus den Augen ließen, auch wenn sie sich nicht zeigten. „Macht ihn fertig, er hat uns den Plot versaut.“ Aber er war ihnen zuvorgekommen, hatte vor Tagen die Seiten des Skripts vertauscht. Er konnte sehen, wie ihnen vor Hass die Drinks in den Gläsern gerannen & ihre von Zeitkrankheit entstellten Gesichter erstarrten.
Das verschaffte ihm einen kurzen Vorsprung. Er nutzte ihn & verschwand mit katzenartigen Schritten in einer dunklen Gasse in Richtung Kaffeebar.
Unauffällige Bauten aus zeitlosen Bruchstücken. Straßen übersät mit Ideogrammen, die Archäologen wie Spürhunde zu entziffern versuchten. Nur wenn sie eine Zeitlang verharrten, nahmen ihre Gestalten flüchtig Konturen an. Sie huschten von Zeichen zu Zeichen & blieben unsichtbar wie Piloten von Überschallmaschinen.
Die Schriftschnüffler arbeiteten nach dem aleatorischen Prinzip, ohne sich von öffentlichen Floskeln irritieren zu lassen. Es hieß, dass sie auf dem Weg in unbewusste Räume waren. Ihre Arbeitsweise war nicht beliebig, sondern spielerisch. Sie wollten sehen, um zu erkennen. Nichtsehen bedeutet, unbrauchbare Motive reproduzieren.
Wenn Zeichen zu sprechen beginnen, ist der Augenblick des Schreibens gekommen. Wer Zeichen übergeht, bewegt nur die Lippen & wird zum Bauchredner. Mit jedem Atemzug ergeben sich neue Fragen. Eine ist: Wer spricht, wenn jemand spricht? Reden oder schreiben kann jeder. Buchstaben tippen, Lippen bewegen & Seiten mit Worten füllen. Wo sind die Gegenstände hinter den Wörtern geblieben? Das Wort kann Dinge zum Verschwinden bringen, wenn es in Horden über den Ereignishorizont schwappt & dabei zum Vehikel beliebiger Bezeichnungen wird.
Von Krise will niemand reden. Schnitte durch die Regression zur Mitte werden von der Presse als Aufbruch ins 21. Jahrhundert gefeiert. „Ich wollte einen Städtetrip machen & bin in einem Flüchtlingslager in Tempelhof gelandet.“ Verfechter der Scharia grasen Gehsteige nach Körperteilen ab. Lautlos gellen Schreie aus der Durchgangswelt durch die Nacht. Semantische Frühgeburten erweisen sich nur scheinbar als Lebenszeichen des Alten Europas. Stattdessen geht es um eine Hinrichtung. Bilder davon werden nicht veröffentlicht, um eine Traumatisierung der Bevölkerung zu verhindern. Flashbacks erschüttern die Wahrnehmung, & das Unbewusste rächt sich mit gedanklichen Verknüpfungen.
Nur wenigen gelingt die Flucht durch dunkle Kanäle. Das Universum der Schrift, wo Wörter die einzigen Waffen sind, ist zum Schauplatz des Überlebens geworden. Die Auseinandersetzung um bipolare Begriffe, bei der es um die Kontrolle über das Sehen geht, wird um Bedeutungen geführt. Eine von Flächenbombardements erschütterte Realität zeigt Veränderungen, denen die Oberfläche des Planeten ausgesetzt ist. Fortschritt geht auf Stoffwechselvorgänge zurück. Konzeptionelle Botenstoffe wirken gesellschaftlich gesteuerten Anreizen entgegen & oft neutralisieren sie sich sogar. Kontrolle wird über Rückgriffe auf sinnliche Kodifizierung ausgeübt.
In der Rolle des Cineasten hat der Voyeur seine endgültige Berufung gefunden & damit das Recht auf erotische Beobachtung & die Gier nach Enthüllung für jeden legitimiert. Was kein Freibrief dafür ist, von Hautfarben zu schwelgen & durchsichtiger Unterwäsche den Rang eines Fetischs zu geben. Eher entsteht ein Hang zur Manie, der vom Zuschauer gern mit Realismus verwechselt wird. Das kann so weit gehen, dass etwa ein gebrauchter Schulmädchenslip die Bedeutung einer Ikone in der virtuellen Dimension annimmt. Es gibt keine unkontrollierten Äquivalente. Die Tatsachen stehen nicht mehr für sich, sondern werden zu Symptomen schleichender Agonie, die mit unfassbarer Torsion des Sinns auch Orte erfasst…
Mit ihrem insektenhaften Verhalten haben Attentäter der Stille den virtuellen Terror zur unschlagbaren Waffe im Hass auf real existierende Gesellschaften gemacht. Ob die kraftlose Wahrnehmung des westlich konditionierten Bürgers den als Fortschritt deklarierten Erschütterungen gewachsen ist? Von wuchernder Bürokratie, umfassender Regulierung & unbegrenzter Datenverarbeitung jedenfalls ist keine Abhilfe zu erwarten. Der kontrollierte Verlust des Realen hat den Nachrichtenkonsumenten zum semantischen Zuschauer gemacht, der nicht mitbekommt, dass die von der Schrift geprägte Zeit die Richtung gewechselt hat. Theoretisches Wissen ist eine Voraussetzung dafür, dass getürkte Aussagen & Nachrichten willige Empfänger finden. Manchmal helfen Quantensprünge, um daran zu erinnern, dass der unbekannte Mensch am Leben ist & den Planeten noch nicht verlassen hat. Der synergetische Aufbau des Weltalls kann den Missbrauch der Reiselust nicht verhindern. Anzunehmen, dass erste Schritte in den Raum von Leuten unternommen werden, die sich wie Geisterfahrer in den Kosmos stürzen & keine Ahnung haben, wohin die Reise geht.
Ein Datenflaneur muss die Wahrnehmung auf Punktuelles richten. Über die Grundregeln auf dem Planeten lässt sich nur spekulieren, & mit dem Ausflug zum Mars ist die Raumfahrt auf einer Einbahnstraße gelandet.
Worte simulieren Geschehen, & niemand kümmert sich darum, ob es & wie es tatsächlich stattgefunden hat. Genauso gilt, dass nichts geschieht, was nicht geschrieben steht. Die Gegner der gegenwärtigen Ordnung operieren mit Versuchsanordnungen, die sie solange verschieben, bis es zur Umwandlung der faktischen Verhältnisse kommt. Die Agenten, die diesen Austausch betreiben, werden Daten-Surfer genannt. Allerdings sind die Ergebnisse ihrer Zufalls- & Nebelaktionen wenig verlässlich, & kulturell gesehen werden sie als Varieténummern belacht. Das Publikum grölt, wenn es einen Random-Techniker auf frischer Tat ertappt. Kausal betrachtet befindet sich die globale Ordnung im Belagerungszustand. Die Notwendigkeit einer Generalprobe für das Schicksal des Planeten wird immer dringlicher. Zugemüllt von schriftlichem Ramsch verliert der „Basic-Realist“ seinen Verstand, & auf Sekundärtexte ist noch weniger Verlass.
Der Kopf eines Nobelpreisträgers für Literatur wird von MS-13 Gangmitgliedern durch die leeren Ränge der Königlich Schwedischen Akademie geschleift. Der humanoide Vormund eines in der Petrischale gezüchteten Gehirnersatzes versucht das zu verhindern, indem er das ethische Einsatzkommando alarmiert. Bevor es eintrifft, wird die Akademie in ein Wachsmuseum umgewandelt & ist über Nacht zu einer Touristenattraktion geworden.
Es gibt Nachmittage, wenn es kein Entkommen aus den Vorstädten gibt. Status quo heißt auf der Stelle treten, & Fakten in der Altstadt verkommen lassen.
In Neu-Köln wurden Schwule als „Perverse“ beschimpft. Die thermodynamische Zone zog sich an der Küste wie eine Blockchain entlang. Im Kampf gegen Viren & Trojaner lüfteten verzweifelte Traditionalisten täglich ihre Matratzen. Der Flaneur, der durch staubige Straßen schlenderte, fand keine Fakten, an die er sich halten konnte. Der Himmel über der Zone erstrahlte im Gletscherblau eines Hologramms. Fluchtpläne wurden zu horrenden Preisen gehandelt, aber die Routen auf ihnen erwiesen sich als falsche Fährten & führten zurück in die Gedächtnisstadt. Geheimnisse der Ausbeutung warfen die Gesetze des Marktes über den Haufen. In der allgemeinen Beschleunigung waren die Bildschirme der Fernseher auf die Größe einer Stecknadel geschrumpft.
Zerstörungen in amerikanischen Kleinstädten geschahen hauptsächlich nachts. Traditionalisten zeichneten sich durch geschichtliche Teilnahmslosigkeit aus. Bei sozialen Unruhen & Tumulten wurden die gegnerischen Fraktionen automatisch getrennt. Auch bei Cocktailpartys konnte auf Kontrollmaßnahmen nicht verzichtet werden. Es gab Tage, wenn die Unruhen nie nachließen. Die Kommission für sozialen Widerspruch ging davon aus, dass sie in der Zone einen Freibrief für schrankenlose Organisation hatte. Die kodifizierte Welt beruhte auf einer ausgeklügelten Struktur kausalen Handelns. Widerspruch musste bestraft werden, weil er den gesellschaftlichen Frieden störte. Das Gedächtnis der Aufklärung war aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. In einer Atmosphäre, in der Probleme als unlösbar galten, entstand Raum für ein Spitzelsystem, & das Kontrollarchiv galt als letzte Instanz für politisch korrekte Meinungen. Dem Bürger wurde eine Unfähigkeit zum Wandel unterstellt. Brisante Darstellungen, etwa in Form von Dokumentationen, wurden von medialen Gremien als irreführend abgelehnt.
Spitzel: „Ich bin auf Transparenzgeräte spezialisiert, die anzeigen, was hinter fremden Wänden geschieht.“ Im Interesse der Verwaltung musste auf das schwächste Glied in der Datenübertragung geachtet werden. Kontrolle war erst perfekt, wenn sie keinem Zweck mehr diente.
Übergriffe auf die Wahrheit prägten das städtische Bild der Zone. Wenn Wahrheit das ist, was geschrieben steht, musste gefragt werden: Wer schreibt? Leser, die den Zentralen Datenspeicher anzapften, in dem sämtliche Fragen & Lösungen gespeichert waren, sahen im geschriebenen Wort ein mit undurchsichtigen Motiven befrachtetes Zeichen. Erneuerung durch Zerstörung hieß, die Bilderbank stürmen & am Fundament von „persönlich“ & „öffentlich“ zu rütteln. Bei der Eroberung der eigenen Sichtweise wurde der TV-Bildschirm zum ersten Ziel.
Noch einmal erschien die abendländische Geschichte im letzten Schimmer der Menschheitsdämmerung. Hier der Erfahrungshorizont & dort das hypertrophe Ich. In der kodifizierten Welt drohte jede Handlung in der Fülle von Daten & Zeichen unterzugehen. Es gab keine Verbote, die das Gedächtnis mit der Erinnerung zur Deckung brachten. Bezugspunkte wurden von der Beschleunigung geschluckt. Sobald Big Data übernahm, hatte das Bewusstsein ausgedient. Jedes Objekt konnte die Funktion eines beliebig anderen übernehmen. „Sehen Sie, Boss, ich bin spezialisiert auf kryptische Bilder, die sich wahllos verändern & neu arrangieren lassen.“ Es war der Kontext, dem die Image-Schärfe ihre Gestalt verdankte. Mit der Zeit entfernten sich die Dinge von ihrer spezifischen Bestimmung, & der europäische Mythos von der Funktion des Ganzen begann zu verblassen.
Man muss einen Stadtplan auf den Knien haben, auf dem Schriftzeilen sich wie Straßen hinziehen, um sich ein Bild vom Montageprinzip zu machen. In den Außenbezirken der Zone konnten kritische Auseinandersetzungen einen Flaneur in einen Schlafwandler verwandeln, der sich weder auf gewohnte Erscheinungen noch Phänomene verlassen konnte & dem nur Schweigen geblieben war. Die dicht gedrängten Dächer einer Vorstadt verschwammen in der spontanen Oberflächenwahrnehmung, die das Hier & Jetzt zu einer beliebigen Chiffre machte.
Die exterritorialen Jahre wurden einst die biografischen genannt. Einige Genossen waren dabei im Knast gelandet. An luziden, filmischen Rechtfertigungen fehlte es nicht. Intakte Sätze waren mehr denn je semantischen Zerreißproben ausgesetzt. Glauben Sie, was da schwarz auf weiß vor Ihnen steht?
Der beschreibende Code erweist sich als unbrauchbar, wenn der Zufallsfaktor als treibende Kraft übernimmt. Die Grenzen der Zone wurden von der Ausbreitung der Außenbezirke bestimmt. Wie Dokumentarfilme zeigten, blieben auf einem geometrischen Kontinent vor allem die südlichen Viertel unter einem Netz undurchdringlicher Geheimnisse verborgen, & das hieß, dass sie sich jeder schriftlichen Darstellung entzogen. Straßen wurden wahllos gesperrt & Viertel, durch die sie führten, verschwanden über Nacht. Auf Fragen, wo sie geblieben waren, hieß es, sie seien der Stadtplanung zum Opfer gefallen.
Manchmal gelang es sensiblen Flüchtlingen, in den Häusern der Altstadt Zuflucht zu finden. Es gab Zwischenstufen, die eine Rückkehr, wenn auch nur vorübergehend, in die Vergangenheit möglich machten. Nur spontan & in flüchtigen Augenblicken konnte das radikale Jetzt in Flashbacks einer spontanen Wahrnehmung auftauchen.
Der erste Schritt zum Abschied von der Gegenwart ist nicht ohne einen biologischen Nachfolger zu schaffen, was gewöhnlich nur mit Hilfe eines Dritten gelingt. Ein Dritter spielt immer eine Rolle, wenn es ums Verschwinden geht. Wenn zwei sich einig sind, kann die Übernahme durch einen Dritten beginnen, der entweder als Beobachter oder Agent auftritt. Der Plan dafür beruht auf grammatikalischen Regeln, die für die digitale Kommunikation unerheblich & von denen die meisten praktisch verschollen sind.
In der Zone kam es vor, dass man mitten in der Nacht aufwachte & feststellte, dass man telepathisch Gedanken empfangen & lesen konnte (die einzige Art des Lesens, auf die noch Verlass war). Geografische Orientierung reichte nicht aus, denn die meisten Straßen verliefen nach dem Zufallsprinzip. Einige zogen sich endlos hin, andere endeten nach wenigen Häuserblocks. Gedankenstriche waren absolut nötig, um sich im Stadtbild der Zone zurechtzufinden.
Wer als Flaneur unterwegs war, montierte seine Streifzüge aus Randomschritten. Der Orientierungssinn richtete sich nach virtuellen Hinweisen aus den im städtischen Panorama versteckten Zeichen. In einem als unseriös eingestuften Fremdenführer stand, dass Luis Buñuels Grab auf den Hügeln oberhalb der Zone lag. Nach literarischen Merkmalen allerdings suchte man im Stadtbild vergebens. Sie waren entweder verblasst oder kritischen Zweifeln zum Opfer gefallen. Sprache diente vor allem als Entschlüsselungscode für archäologische Funde.
Die Atmosphäre in der Zone suggerierte einen Zustand, in dem es weder Grenzen noch Ziele gab. Die geometrisch angelegten Außenbezirke täuschten vor, frei von Geheimnissen zu sein. Aber es war nicht zu übersehen, dass hier vor allem Fellachen & Beduinen siedelten. Ein Wanderer musste mit dem schriftlichen Versuch scheitern, etwas über die Lage der Zone festzuhalten. Auf welcher Seite des Äquators lag sie? Wie weit nach Süden oder Norden reichte sie? Zwar kursierten stark fiktiv belastete autobiografische Berichte, & in Dokumentarfilmen wurden surrealistische Landschaften gezeigt. Auch gab es Zwischenstufen, die an jeder Straßenecke andere, von den Störfaktoren der Übertragung verseuchte Assoziationen auslösten. Die Altstadt galt als Ort der Inkompetenz, wo sich die Lebensbedingungen laufend änderten. In Touristenhotels kam es ständig zu Auseinandersetzungen darüber, was auf realistischen & was auf suggerierten Vorstellungen beruhte.
Von Zeit zu Zeit (vor allem, wenn von „Arabern“ die Rede war) kam es zu Paniken, die den Sicherheitskräften zusätzliche Einnahmen verschafften. Ein Mädchen trank Ziegenmilch & schon wurde in den Medien über Menschenhandel & Kinderkrieger spekuliert. Französische Intellektuelle entdeckten den europäischen Einfluss auf maghrebinische Fehlentwicklungen. Politiker nutzten die Streitigkeiten, um auf Distanz zu populistischen Tendenzen zu gehen. Verschiedene Interessensgruppen schmiedeten einen Pakt, der das bewährte Links-rechts-Muster umging. Auf dem internationalen Platz der Macht wurde um Informationen nach den Regeln des Showgeschäfts geschachert.
Es kam vor, dass Schieber & Zwischenhändler, die ihre konspirativen Strategien für eine Alternative zur „kolonialen Unterwanderung“ hielten, bei dunklen Geschäften in einen Stummfilm gerieten, der ihr Geplapper wortlos machte.
Allmählich entwickelte sich die Zone zu einer Arabeske des vierten Wegs, wo statt Untertitel nur Schlagzeilen zählten. Welche Promis hatten es mit welchen getrieben? Wahre Absichten wurden nicht ohne Rückendeckung inszeniert. Mit getürkten Meldungen konnten spielend elektronisch generierte Identitäten gewählt werden. Angriffe aus dem fiktiven Raum waren nicht zu identifizieren. Über Grabenkämpfe zwischen einzelnen Fraktionen, an denen sich Publizisten aus allen Lagern beteiligten, wurde ausführlich berichtet, um die Auflagen der Printmedien zu erhöhen. Extremisten ergriffen die Chance, sich mit griffigen Twittersprüchen einzumischen.
Das Verhältnis von Ziegenmilch & Politik zu behandeln, galt als ambivalent & riskant. Diplomaten, die besonders niederträchtig mit Informationen umgingen, hielten sich an der Macht, indem sie scheinbar behutsam auftraten. Keine Konflikte, keine Polarisierung, war ihre Devise. Niemand konnte sagen, wohin der vierte Weg führte. Er wurde schließlich als Vernebelungstaktik & Nährboden fauler Kompromisse gleichzeitig gepriesen & diffamiert. Im virtuellen Raum tobten unübersichtlich inszenierte elektronische Grabenkämpfe & erstickten kritische Auseinandersetzungen.
Wenn das Alphabet mit Geschichte kollidiert, bleibt nur: Einfach dazwischen gehen, einen Freibrief unterschreiben, & den Broadway hinuntersegeln…
Den Auftrag hatte ich längst fahren gelassen. Jetzt ging es nur noch darum, die Zone schleunigst zu verlassen, indem ich versuchte, unterm Datenradar durchzuschlüpfen. Aber die Kontrolleure der „Wahrheitssysteme“ hatten sämtliche Kanäle blockiert. Eine Zeitlang legte ich fiktive Spuren, um Schnüffler abzuschütteln, die wie Zecken an mir klebten. Der Autor in mir, an den ich kaum noch dachte, hatte ein untrügliches Gefühl dafür, wann es brenzlig wurde. Ich wollte nichts von ihm wissen & hörte nicht auf ihn. Aber allmählich wurde mir klar, dass ich in der Klemme saß. Ich bat ihn um den Gefallen, mich einer biografischen Transformation zu unterziehen. Allein schaffte ich das nicht, aber mit seiner Hilfe…
„Was verlangst du dafür?“, fragte er.
„Um Kohle geht’s nicht.“
„Seit wann?“
Er wollte mich nicht verstehen & riet mir, es mit einem Unschuldsengel zu versuchen. Das war dieselbe Masche, mit der sich der Fliegende Holländer vom Fluch eines endlosen Lebens befreien wollte. Bedingungslose Liebe sollte ihm den lang ersehnten Tod bringen. Ich fragte mich, ob es auch mit einem Flittchen oder einer Emanze klappen würde, wo doch die reine Liebe mit der Romantik vergangen war. Inzwischen drehte sich Liebe um die Frage, wer den Müll rausträgt, & Unschuld war mit der Frauenpower auf der Strecke geblieben…
Wer sich als Mann ausgab, konnte in der Zone schnell unangenehm auffallen. Er wurde als Chauvi geschmäht, der in der falschen Epoche gelandet war.
Der Autor verriet mir, dass er sich mit einem Roman über die Machenschaften des Komitees für Interne Frage befasse, ein Ansinnen, für das ich nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Auch die Unauffälligen wurden Opfer der Ideologie. In einer „falschen Epoche“ blieb niemand ungeschoren, was daran lag, dass Konsens ansteckend war.
Mit dem Gerücht, dass Informationen unterirdisch gespeichert wurden, brach ein regelrechtes Fluchtfieber aus. Jeder versuchte seinen genomischen Datensatz zu retten, was in Umkleidekabinen immer wieder zu unerwarteten Konflikten führte. Wer war der Schatten, der wie ein Pantomime die Gestalt & Bewegungen einer Frau nachahmte, die sich in gebückter Haltung den Slip hochzog? Jeden Augenblick konnte sie an ein als Algorithmus getarntes Datenprofil geraten, das sie unter dem Deckmantel sexueller Belästigung aus der Fassung brachte. Belästigung oder nicht, sie schaffte es, den Angriff auf ihre mühsam zurechtgebastelte Identität abzuwehren, indem sie sich als androgyne Emanze ausgab.
Die Realität hing wie eine Klette an mir. Wenn es brenzlig wurde, konnte ich mich vorübergehend in die Fiktion zurückziehen & wochenlang von Salzstangen & Sprudelwasser leben. Aber irgendwann ließ mich die Illusion der Singularität im Stich. In einem ideologisierten Milieu sind es gerade die Unauffälligen, die sich verdächtig machen & ins Visier des Komitees für Interne Fragen & damit in eine Fangschaltung der elektronischen Überwachung geraten.
Durch den Schreibvorgang, behauptete der Autor in mir, konnte sich der ganze Informationsgehalt der Zellen mit einem Schlag entladen & „du stehst mit leeren Händen da“. Wenn das passiert, verwandelt sich der Körper in einen Schatten. Wohin mit dem Ektoplasma, das ist dann die Frage. Ein Schatten entzieht dem Körper die Epidermis, & er kann jede Form annehmen, sichtbar oder nicht.
„Aber die Möglichkeiten, sich in eine dritte Darstellungsform zu retten, verrate ich dir nicht“, sagte der Autor.
Er war zweifellos ein Scharlatan, der mit der List eines Lockvogels & aus dem Hinterhalt auftrat. Allmählich wurde mir klar, dass er mich in eine Falle locken wollte mit der Folge, dass ich nie einen Roman hinkriegen würde. Was einerseits für ihn sprach, andererseits aber war er eine Nervensäge & warf mit Phrasen wie „Protoplasma ist eine Einbahnstraße“ um sich & faselte vage von Fluchtplänen.
Ich schloss die Augen & sah Parkplätze & dampfende Gullys, zwischen denen ich durch die Zone irrte. Es roch nach fleischlichem Zeitungspapier & Abfall in Plastiktüten. In einem Hausflur wollte mir eine dunkle Gestalt eine genetische Verjüngungskur andrehen. Wimmern & Lustgestöhn schwirrte durch die Dunkelheit.
Im Schein des Mondlichts blitzte kurz die Silhouette eines weißen Cadillacs auf, der durch eine hügelige Landschaft fuhr, die von Wiehern & Grunzen erschüttert wurde. Er hielt, die Tür öffnete sich & die schlanken Beine einer Frau schoben sich ins Freie. Sie zögerte, entschloss sich dann aber, sich die Füße zu vertreten. Im Licht der Scheinwerfer konnte ich sehen, wie sie nach wenigen Schritten bis zu den Hüften im Treibsand versank…
Das Filmskript, das ich noch immer mit mir herumschleppte, war ein Dummy. Die Seiten waren mit Fluchtgedanken bekritzelt & kaum noch lesbar. Wegen der Überwachung durch das Komitee wagte ich nicht, ein Hotelzimmer zu nehmen. Ich schlief im Wagen auf Parkplätzen & Aussichtsterrassen. Aus Autos, die in der Nähe standen, war manchmal lautes Lustgestöhn zu hören, das gelegentlich in ein Grunzen überging, wie es beim Oralsex entsteht.
Kosmische Strudel fegten über den Kontinent, & Schwarze Löcher blieben zurück. Ich wollte mich nach Westen durchschlagen, was aber widrige Umstände immer wieder im letzten Augenblick verhinderten, weil entweder Bullen auftauchten & ich eine andere Richtung einschlagen musste oder die Straße an einer Küste endete, wo es nicht weiterging.
Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, die Zone per Schiff zu verlassen, was allerdings mit den Gefahren eines historischen Romans verbunden war, in dem Leute um die halbe Welt reisen & dabei riskieren, in die Hände von Piraten zu geraten. Ich wollte mich nicht auf Rückblenden einlassen, denn aus der Vergangenheit kehrt niemand unbeschadet zurück.
„Die besten Ficks…“, erklärte mir ein Matrose. Aber ich winkte ab. Matrosen sind Dilettanten, wenn es um Lust & Befriedigung geht. Im Umgang mit Frauen war es besser, keine großen Töne anzuschlagen & den Mund zu halten.
Ein wenig Skopolamin kann einer Story nicht schaden. Es dämpft den Ekel vor überdeutlichen Bildern, wenn sie anfangen, sich wie Schlingpflanzen um die Nervenstränge zu ranken. Ich kaute Ginkgo, um im Gewirr von Gassen & Passagen einen klaren Kopf zu behalten. Ich wollte endlich die Rolle loswerden, die im Skript für mich vorgesehen war.
Unter der Kuppel eines türkischen Bads kamen mir starke Zweifel, ob die Story dafür taugte, meinen Auftrag unauffällig zu erledigen. Ich wartete auf eine Gelegenheit, den Panikknopf zu drücken & mich aus den zusammengewürfelten Szenen des Plots zu katapultieren. Es reichte nicht, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken & im Gedränge von Touristen unterzutauchen. Die Stadt, durch die ich mich bewegte, blieb Theaterkulisse. Schön anzusehen wie der Teint einer Blondine, aber von keinen Eigentümlichkeiten getrübt. Die Schatten der Zypressen & Zedern zerbröselten, & auf dem Silver Screen blieben verschneite Fade-outs zurück.
Aus einem Zeitungsbericht erfuhr ich, dass der vermisste DJ bei einer Gegenüberstellung leugnete, sich das Leben genommen zu haben. Er deutete an, dass er vom Rummel um seine Person die Nase voll hatte. Ich glaubte ihm kein Wort, & der Reporter hakte nicht nach. Die Angelegenheit erwies sich als geschickter Publicity Stunt.
Ich nahm ein Flugzeug nach Guatemala, wo ich wegen der Regenzeit drei Tage auf einem miesen, kleinen Flugplatz festsaß. Ständig hieß es, die Maschine nach Mexiko würde aufgetankt, aber dann wurde der Flug immer wieder verschoben, weil ein Gewitter die Abfertigung unmöglich machte.
Immer mehr Passagiere tauchten auf & die Abflugshalle füllte sich. Als alle Sitzplätze belegt waren, setzten die Leute sich auf den Boden. Manche packten Proviant aus, andere schliefen. Die meisten waren in ihr Handy vertieft & versuchten, Verbindung zur Außenwelt aufzunehmen. Immer wieder fiel die Klimaanlage aus & es wurde stickig heiß.
Das Personal an den Schaltern wechselte & machte hinhaltende Ansagen. Draußen, in der Dunkelheit, zuckten immer wieder Blitze auf. Wartende berieten, ob es einen Ausweg aus der Misere gab. Zurück in die Stadt? Bis zum nächsten Tag durchhalten? Auf den Tisch hauen & sich Klarheit verschaffen?
An einem kleinen Stand gab es Getränke & Sandwiches, der ständig belagert wurde. Um ihn zu erreichen, musste man sich einen Weg durch Koffer, Taschen & auf dem Boden Sitzende bahnen. Irgendwann hieß es, dass die Maschine zwar betankt sei, aber die Besatzung ihre Dienstzeit überschritten habe & eine andere angefordert werden müsse.
Allmählich schwand das Gefühl für Zeit. Wo zum Teufel war ich überhaupt? Ein Mann in meiner Nähe fragte, ob es eine Möglichkeit gab, ein Wasserflugzeug zu chartern. Ich hatte keine Ahnung, was ihn auf diese Idee brachte. Ein anderer schlug vor, es mit einem Heißluftballon zu versuchen, sobald der Sturm sich verzogen hatte. Mir war mehr danach, die Nacht in einem Puff abseits von Touristenhotels zu verbringen. Aber mit einem Transitticket konnte ich das Flughafengebäude nicht verlassen.
Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich eine Art Zuneigung für eine Gestalt in meiner Nähe entwickelte. Eine junge Asiatin, die eine lange Reise hinter sich zu haben schien, saß ruhig & gelassen da, als meditierte sie mit offenen Augen. Kinder spielten gleichmütig mit Voudou-Puppen, die sie aus der Tasche ihrer Mütter gekramt hatten. Ein dunkelhäutiger Reinigungsmann in einer adretten Uniform am Eingang zum Klo, der sich mit der Gelassenheit ländlicher Bewohner bewegte, schaute verwundert auf das wirre Getümmel in den Gängen. Es war ein Anblick, der ihn vermutlich an den Errungenschaften der Zivilisation zweifeln ließ.
Ich verlor die Hoffnung, diesen Ort je wieder zu verlassen. Es schüttete unentwegt, & selbst wenn der Regen vorübergehend nachließ, wurden die Phasen der Beruhigung von Donner & fernen Blitzen erschüttert. Es war, als hätte ich Tage auf einem unbequemen Sitz verbracht. Von Zeit zu Zeit stand ich auf, um mir einen ruhigen Fleck im Abflugsbereich zu suchen, wo die Luft ein wenig besser war. Damit riskierte ich, anschließend keinen Sitzplatz mehr in der Nähe des Abfertigungsschalters zu finden mit der Aussicht, die nächsten Stunden in einer Ecke am Boden zu verbringen.
Gäste standen an den Fenstern & verfolgten das nächtliche Spektakel auf dem Vorfeld. Kurz blitzten Umrisse von Maschinen auf, dann verschwanden sie wieder hinter einer Schattenwand.
Zeitweilig wurde es atemlos still in der Halle. Die meisten Leute schliefen. Als ich einen Blick nach draußen warf, konnte ich Palmstämme erkennen, die sich im Wind bogen. Die Rippen einer Jalousie klapperten, & ich glaubte, in einen Hurrikan geraten zu sein. War es möglich, dass die Airlines das den Wartenden verheimlicht hatten? Alles war möglich an einem Ort, der von der Außenwelt abgeschnitten war. Kaum zu glauben, aber es kam mir vor, als wäre das Bodenpersonal hinter den Schaltern gegen Schaufensterpuppen ausgetauscht worden. Manchmal waren Ansagen zu hören, von denen ich kein Wort verstand.
Wieder zuckten Blitze auf & verzerrten die Gesichter in meiner Nähe. Plötzlich wurde mir klar, dass der Strom & mit ihm die Beleuchtung ausgefallen war, wodurch sich das Treiben in der Halle nur bruchstückhaft erkennen ließ, wenn ein verirrter Lichtschein über zusammengesunkene Gestalten & Gepäckstücke glitt. Kinder schrien im Schlaf auf. Dunkle Gestalten wankten durch die Sitzreihen, als suchten sie einen Verdächtigen, der durch die Sicherheitskontrolle geschlüpft war. Verschlafen hantierte ein Mann in einem Poncho mit Pillen & Pulvern, die er verstohlen zu sich nahm. Frauen saßen da wie in Gedanken an ein vergessenes Gewerbe versunken. Spärlich bekleidete Engel huschten zwischen den Schlafenden herum, um Hilflose mit dem Nötigsten zu versorgen.
Aus den wahllos zusammengewürfelten Passagieren war eine Gemeinschaft von Gestrandeten geworden, die ohnmächtig auf ein Zeichen der Rettung warteten. Kranke, denen die Medikamente ausgegangen waren, gingen die Nerven durch. Einige wurden von Zuckungen erschüttert, andere versanken in regloser Apathie. Schwarzmarkthändler boten nutzlose Waren an, die sie in Seesäcken mit sich herumschleppten.
In meiner Nähe saß ein Mann, der ständig fotografierte & sich Notizen machte wie ein Ziviler, der Einzelheiten für einen Lagebericht zusammentrug. Schachspieler hatten sich am Boden niedergelassen & versuchten, sich auf die Figuren zu konzentrieren, die aber immer wieder von achtlos Auftretenden über den Haufen geworfen wurden.
Blicke einer Lesbe verrieten, dass sie keinen Mann in ihrer Nähe wollte & in tödlicher Mission unterwegs war. Ein suchtkranker Junky saß da wie von einer Krankheit befallen, die ihn an jeder Regung hinderte. Er schien die Gegenwart hinter sich gelassen zu haben & in eine zeitlose Ära abgetaucht & zum Scheintoten erstarrt zu sein. Die Abfertigungshalle glich allmählich einem Asyl verirrter Seelen, die in einem Zustand zwischen Verzweiflung & Aussichtslosigkeit gefangen waren.
Ein Forschungsreisender mit Augen, die nach einem langen Dschungelaufenthalt zugeschwollen waren, hinkte zwischen den Wartenden herum. Sie wichen erschrocken zurück, wenn er ihnen zu nah kam. Ein betrunkener Bulle schlug wild um sich, um sich Moskitos vom Hals zu halten. Er fuchtelte mit unleserlichen Meldezetteln herum, die er für gefälschte Rezepte für Ayahuasca hielt. Ein Indio mit kupferfarbenem Gesicht ahmte die Laute von Urwaldtieren nach. Zwischendurch schwirrten Schwaden von Pulque durchs Gedränge in der Halle. Tote, die kaum von apathisch Ausharrenden zu unterscheiden waren, wurden auf Bahren ins Freie gebracht & den Aasgeiern überlassen.
Zerlumpte Geisterwesen drängten sich um einen klapprigen Spielautomaten, den sie mit Chips aus Knochenteilen fütterten. Halb Verhungerte & von geisteskranken Göttern besessene Sektenmitglieder schleppten sich mit letzter Kraft ins Klo, wo sie sich auf einen Sitz fallen ließen & ihr Leben aushauchten.
Abenteuerliche Pläne wurden ausgeheckt, erwiesen sich aber als undurchführbar, denn es gab kein Entkommen aus dem Inferno. Die Szene glich allmählich dem Sektencamp von Jonestown, wo Plastikbecher mit vergiftetem Kool-Aid verteilt wurden. Einige Passagiere waren bereit, Schluss zu machen, die meisten allerdings schreckten ängstlich vor jedem Getränk zurück & riskierten lieber, zu verdursten. Dass Vollmond war, wurde als schlechtes Omen betrachtet. Apokalyptische Visionen machten die Runde, in denen es um das Ende einer Dschungelexpedition auf der Suche nach El Dorado ging. Es hiess, der Flughafen würde allmählich von der unaufhaltsamen Vegetation des Urwalds geschluckt & verschwinden, wie einst die Tempelstädte der Maya. Zwischen Koffern & Taschen ringelten sich Schlangen. Frauen schrien & Männer gingen mit Plastikmessern & Gehstöcken auf sie los. Nach kurzer Zeit bot die Halle ein Bild mörderischer Zerstörung.
Was tun in einer aussichtslosen Lage? Ruhe bewahren hiess, dem Verderben in die Augen schauen. Ich war von Geistern umgeben, die wie Sternschnuppen durch die Dunkelheit rauschten. Ein paar Verwegene, die den Platz vor dem Flughafen erreicht hatten, klammerten sich an Palmstämme, um nicht von Regengüssen & Sturmböen mitgerissen zu werden. Ein zerfetztes Kleid flatterte im Wind. Die Finsternis hatte sämtliche auf dem Vorfeld abgestellten Maschinen geschluckt. Längst waren Snacks & Getränke ausgegangen. Rettung war nicht zu erwarten.
Allmählich verschwand das Gefühl für Schatten, & das Flugfeld war einem bunt gefleckten Mohnfeld gewichen. Jemand fragte nach einer Möglichkeit, in die nächste Stadt zu kommen. Ein Uniformierter meinte, dass es weit & breit keine Stadt gab.
Das Klo glich plötzlich einem türkischen Bad, in dem Männer mit Handtüchern um die Hüften standen & sich unterhielten.
Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, um die letzten Tage zu vergessen & einen Bus oder ein Taxi zu ergattern, ganz gleich wohin. Als ich ins Freie trat, fuhr mir ein Hauch von exotischen Gewürzen in die Nase. Ich wusste, es würde eine lange Reise werden. Ich erinnerte mich nicht, wie es dazu gekommen war, dass ich plötzlich als einziger Fahrgast in einem Bus saß, der durch die Schneise einer dichtbewachsenen Landschaft fuhr. Manchmal tauchten Fußgänger auf, ihre Gesichter mit Tüchern vermummt.
Die undurchdringliche Vegetation öffnete sich zu einem Strand, auf dem wie auf dem Korridor eines Hospitals Patienten mit blutgetränkten Verbänden herumliefen. Vor einer schäbigen Hütte wurde auf Widerspenstige eingeprügelt & Fliehende mit Bolas & Ruten mit Widerhaken gejagt. Ein bläulich angelaufener Asiate lief mit einem Kris in der Hand Amok… & eine skandinavische Touristin stürzte sich von einem Felsvorsprung in die Tiefe eines Wasserfalls.
Von Zeit zu Zeit hielt der Busfahrer & betrachtete eine Landkarte, als hätte er sich verfahren. Es war ein heißer Septembertag, & die Ausläufer eines Hurrikans verhüllten die Sonne. Aus dem Off war ein nervöses Kichern zu hören. Es klang, als würde sich jemand darüber amüsieren, dass der Fahrer die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Während ich mit geschlossenen Augen auf dem schlecht gepolsterten Sitz im Bus saß, verfolgten mich Albtraumbilder. Wenn ich bestimmte Reizwörter wie Yagé oder Traumstrand hörte, bäumte sich mein Körper auf. Ich wusste, die Landschaftsbilder würden über kurz oder lang in einem Filmarchiv verschwinden.
Es gab Anzeichen, dass es im Erbgut des verseuchten Planeten zu genomischen Mutationen gekommen war. Berichte über ungeklärte Unfälle häuften sich. Als Ursache für einen Fehler, bei dem der Pilot vom Kurs abgekommen war, wurde die Hitze genannt. Tatsächlich hatte sich das Magnetfeld verschoben & die Richtung geändert.
Es gab Tage, die, verbunden mit einem Gefühl erotisierter Gleichgültigkeit, geeignet waren, den Kontinent physiologisch hinter sich zu lassen.
Allmählich entfaltete sich in meinem Unterbewusstsein der Fahrplan für eine Fahrt ins Unbekannte, der mich in einen Zustand versetzte, der dem des Fliegens glich. Hinter sich lassen… in räuberische Gegenden geraten… in Hieroglyphen denken… akustischen Schatten nachgehen… Wörter kitzeln & Dinge zurücklassen… sich Gefechte mit Bildern liefern… Gebiete ideologischer Kriege meiden… Sprache mit dem Stoffwechsel abstimmen… auf Flammen balancieren, die aus der Hölle hochschlagen… im freien Fall Straßenkontrollen überwinden…
Sucht lauerte hinter sozial gesteuerten Kodifizierungen. Aussagen zur geistigen Selbstverstümmelung mussten ständig angepasst werden. Auf den Boden spucken, & in einem gottverlassenen Nest einen Seco schlürfen.
Sprache kann einen überall erwischen.
Langsam verfärbte sich der rote Faden des chronologischen Ablaufs. Flimmerndes Blau ging in der Hingabe in einen nackten Körper über. Im schwachen Schamlicht glitzerte ein venezianisch verzierter Tisch. Es war ein Bild, das mich den Fluch des räumlichen Sehens spüren ließ…
In der Komplexität von Flauten zwischen Passatwinden verschwanden die Koordinaten des Bewusstseins, & die Gegenwart beschränkte sich auf Schwitzen, Trinken & Flugerinnerungen im triebhaften Takt von Traum & Rausch beim langsamen Hinübergleiten in den außerirdischen Raum…
Jürgen Ploog war Schriftsteller und Publizist. Er war 33 Jahre lang Linienpilot, seit 1993 widmete er sich ausschliesslich dem Schreiben. Er lebte in Frankfurt und Florida. Am 19. Mai 2020 starb Jürgen Ploog 85jährig an den Folgen eines Herzinfarkts.
«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch
als ob da im dunkeln was umkippt
hinter dem brustbein und beim atmen verschüttet.
jetzt, wo die luft so kühl und die blicke der andern
so zugefenstert, als ob da was scheuert und knotet,
als ob die ellbogen einwärts knicken und durch die rippen
nach innen wachsen, als ob auch die hände einwärts ästeln.
als ob da ein wald unter der zunge, ein blättriger
störton im hals; und dann das krachen der äste
hinter den augen, die zunehmende vermoosung
der gedanken – bis da aussen ein wald ums bett
und innen die fäuste, im rippentresor.
aufgewachsen
es ist nur noch ein leises da:
zwischen den zweigen ein schnittpunkt
den es damals schon gab, die hierarchie
der pflastersteine, leicht verschoben nur
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten und
was kümmert den hasel sein wachsender schatten
was die hagenbutte der fortgang der zeit;
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre, auf der abgespielten haut.
1992
hattest beschlossen, dich bis zum gefrierbrand zu monden,
bis zur verbleichung durch den schnee zu stapfen
und stehst jetzt stattdessen so knie gegen heizstab, beschlägst
die scheiben mit tauendem gedankenfrost. hinterm kondensat:
der durchstapfte rasen, aneinander geflockte weggehversuche;
heimlich und klein und tief gefroren. – stehst ganz handwarm jetzt,
in deiner radiatorenstille, und enteist die wut in deinen fäusten.
langschlaf
dein händegeweih. und dann zwischen den lippen
ein wortwild ganz scheu, seine hufe dampfen vom laufen
im moos, so sprichst du, den rücken noch feucht
vom moos deiner träume und alles im zimmer
bleibt unterholz nach solchen nächten, bleibt
wurzelwerk und die ohren nach innen.
im feriehaus
abends, wenn im seetal die laternen angehen,
mir beweisen, dass wieder ein tag überstanden ist,
mach ich mir gierig eine erinnerung ans uns auf,
schlinge sie roh und im stehen; lehne dann
klumpbäuchig am kühlschrank und hasse den mond,
der wahllos jeden scheiss versilbert.
strawberryfields forever
und selbst wenn wir liegen, mit den ohren im gras,
den mündern in der sonne, den händen im salbei,
mit erdbeerzungen einander süsses sagen:
sorgsam gepflücktes beschwichtigungsobst;
selbst wenn wir uns auf instagram ins abseits liken,
gartenzaun an gartenzaun, labiles gewissen umhegen:
# strawberrymoments; selbst dann kandieren wir heimlich
ein paar idyllen für später, für tage, die mager sind,
den outgesourcten frost, der wieder heimfinden wird,
irgendwann, und die früchte verbittern.
ans eingemachte
dein schweigen ein einweckglas, hygienisch
ausgekocht deine herzkammerwände, lückenlos
das vakuum deines rückzugs. weck sie nur ein,
unsere essigliebe, luftleer konserviert
hält sich angebrochenes länger.
Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt «Wurfschatten» (Metrolit, Berlin, 2014). Ihr zweiter Roman «Der Sprung» erschien Ende August 2019 bei Diogenes und ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International und ist Mitglied des AdS (Verband Autor*innen der Schweiz).
Die Sonne stand bereits tief und hatte dennoch kaum etwas von ihrer wärmenden Kraft eingebüßt, als Michael sich mit der Gießkanne dem Rosenstock in seinem Garten näherte. Er musste sich die ausgestreckte Hand schützend über die Augen halten, um sehen zu können, ob die Blattläuse auf die Rosenblätter zurückgekehrt waren. Mit einem zufriedenen Brummen senkte er den Ausgusshals der Kanne nahe beim Stamm des Stocks zu Boden und wollte gerade zu gießen beginnen, als er eine Bewegung bemerkte. Eine Feldmaus am Rand des Beets hatte ihn bemerkt und versuchte, das Weite zu suchen. Es gelang ihr aber nicht, weil die Hinterbeine ihr offenbar den Dienst versagten. Nur das rechte bewegte sich ein wenig nach außen, das andere hing schlaff an der Seite. Ihre Vorderbeinchen vollführten dabei schwach rudernde Bewegungen, die nicht ausreichten, um ihren Körper aus seinem Sichtfeld zu robben. Er stellte die Gießkanne auf den Boden und ging neben der Maus in die Hocke. Seine Kniegelenke knackten laut, er biss kurz auf die Zähne, beugte sich über das Tier, das auf seine Annäherung reagierte, indem es noch panischer versuchte, von der Stelle zu kommen. Das bewegliche Hinterbeinchen fuhr vor und zurück, aber da es keine Unterstützung von der anderen Seite bekam, vollführte das Tier nur eine kleine Kreisbewegung, das kranke, schlaffe Bein über den Boden schleifend wie einen fremden Gegenstand, der zwar am Rumpf befestigt war, aber keine Funktion mehr hatte.
Er beugte sich so weit hinab, wie es sein bereits schmerzender Rücken zuließ, und inspizierte die Maus genauer. Ihre weit geöffneten schwarzen Knopfaugen glänzten in der Sonne. Auf dem hinteren Teil ihres Rückens war eine schmale Vertiefung erkennbar, eine kleine Kerbe im Fell, das aber nirgends blutgetränkt war. Er blickte in den wolkenlosen blauen Himmel. Vielleicht war die Maus einem von Krähen attackierten Raubvogel aus dem Schnabel gefallen und hatte sich beim Sturz in seinen Garten das Rückgrat gebrochen. Wie auch immer, das Tier war verloren, es war nur eine Frage der Zeit, bis es zur wehrlosen Beute einer Katze oder einer Krähe werden würde. Er stand auf, einen plötzlichen Schwindel niederkämpfend. Dann holte er eine kleine Gartenschaufel aus dem Geräteschuppen und ging zurück zum Rosenstock. Die Maus lag immer noch am gleichen Fleck. Als er sich ihr mit der Schaufel näherte, versuchte sie wieder vergeblich, ihr Gewicht von der Stelle zu robben, doch die Bewegungen ihres Beinchens wurden bereits schwächer, nicht einmal mehr einen halben Kreis brachte sie zustande.
Mit einem Stock schob er das Tier vorsichtig auf die Schaufel und legte es dann in den Schatten des Rosenstocks, um ihm bei seinem Kampf gegen Schwäche und Schmerz wenigstens die Hitze zu ersparen. Noch einmal regten sich die Fluchtinstinkte in der Maus, sie zuckte bei der Berührung mit dem Stock zusammen und wand sich. Der Sonne entkommen, legte sie schließlich den Kopf auf den Boden und blieb flach atmend liegen.
Immer noch konnte er den Blick nicht von dem angeschlagenen Tier abwenden, das sich jetzt wieder zu bewegen begann. Langsam zog es das noch bewegliche Hinterbeinchen an und schob es wieder zurück, wie bei einer Schwimmbewegung, wobei sich der Körper abwechselnd leicht durchstreckte und wieder zusammenzog. Der Atem ging flach und stoßweise. Er deutete das als krampfhaftes Aufbäumen, womöglich gegen starke Schmerzen. Plötzlich empfand er den drängenden Wunsch, das Tier von seiner Pein zu erlösen. Es war ohnehin aussichtslos. Er sah sich auf dem Boden um und erblickte einen faustgroßen Stein am Rand des Rosenbeets. Zögernd hob er ihn auf und wog ihn in der Hand. Ein kurzer, gezielter Schlag könnte dem allem ein Ende bereiten.
Langsam hob er den Stein in die Höhe und verharrte damit über der Maus, deren Bewegungen allmählich schwächer wurden. Das Beinchen streckte sich nur noch wenige Millimeter weit, die Körperdehnung, mit der das Tier offenbar mit letzter Kraft nach Atem rang, wurde mit jedem Zug kürzer. Schließlich streckte die Maus ihr Beinchen noch einmal langsam zu voller Länge aus, es wirkte, als würde sich ein Krampf lösen. Ein letzter, matter Atemzug, und der Glanz wich aus den Knopfaugen.
Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn, eine Mischung aus Ernst, Traurigkeit und Erleichterung. Er war Zeuge eines Sterbens geworden, und selbst hier, bei dieser winzigen, unbedeutenden Kreatur hatte es etwas Ergreifendes, dieses verzweifelte Aufbäumen gegen das Unvermeidliche, dieser unbedingte Lebenswille bis zum letzten Atemzug. Etwas war verschwunden aus dieser leblosen Fellhülle, etwas Fühlendes, Pulsierendes, Unfassbares.
Er stand da, den Stein immer noch in der Hand, und vor seinem inneren Auge entstand ein Bild aus längst vergangenen Zeiten: ein Junge, der, wie er selbst jetzt, einen Stein in der Hand hielt, und auch dieser Stein war dazu bestimmt gewesen, einem Tier ein vorzeitiges Ende zu bereiten.
Er war elf, vielleicht zwölf Jahre alt, und er hatte am Vortag eine Einladung zu einem ganz besonderen Ereignis bekommen. Charly, ein Junge aus seinem Heimatdorf, hatte ihn zum Grillen von selbst gefangenen Jungtauben eingeladen. Eine Köstlichkeit, meinte Charly, das Fleisch sei unglaublich zart. Charly war zwei Jahre älter als er und genoss allgemeine Bewunderung im Dorf. Er hatte ein Luftgewehr mit Zielfernrohr und ein Moped, das er ohne Nummernschild und ohne den erforderlichen Führerschein fuhr. Es gab keinen Baum, den er nicht bis in die äußerste Krone erklommen hatte, keine Mutprobe, die ihm zu heikel gewesen wäre. Wenn Charly einen zu etwas einlud, dann ging man hin, es war eine Auszeichnung.
Als Michael sich auf den Weg machte, traf er unterwegs auf Norbert, einen großen, dicklichen Jungen aus der Nachbarschaft, den alle Lutschi nannten, weil er einmal beim heimlichen Daumenlutschen ertappt worden war. Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls zum Taubengrillen eingeladen war, was Michael eine leise Enttäuschung bereitete, weil es den Prestigegewinn der Ladung schmälerte. Als sie bei dem Haus ankamen, in dem Charly allein mit seinem Vater, einem wortkargen und meist missgelaunten Mann, wohnte, stellten sie fest, dass sie die einzigen geladenen Jungen waren. Das verschaffte Michael zwar ein Gefühl von Exklusivität, die allerdings von dem Umstand beeinträchtigt wurde, dass er sie ausgerechnet mit Lutschi teilen musste.
Als Charly ihnen die Tür öffnete, trug er Gummistiefel und einen blauen Arbeitsanzug, der ihm einige Nummern zu groß war und wahrscheinlich seinem Vater gehörte. Eine Kappe mit breitem Schirm beschattete seine Augen und verlieh seinem Blick etwas Düsteres. Er hatte den Grill und die Kohle schon auf der Terrasse vorbereitet, jetzt fehlte nur noch das Fleisch. Ohne viel Worte zu verlieren, ging er mit den beiden Jungen in den Garten hinter dem Haus und schob die Zweige eines im dichten Laub stehenden Fliederstrauchs auseinander. Ein Nest kam zum Vorschein, darin befanden sich vier kleine, weiße Tauben, die den Kopf reckten, als das überraschende Licht auf sie fiel. Geschickt nahm Charly eine Taube aus dem Nest und hielt sie Lutschi hin. Der wich einen Schritt zurück und legte die Hände auf den Bauch.
„Die beißt nicht!“, sagte Charly und hielt ihm die Taube erneut entgegen.
Lutschi streckte zaghaft die Arme aus und ließ sich den Vogel in die geöffneten Hände setzen. Er verzog vor Unbehagen den Mund, als er das Tier umfasste und sanft gegen seinen Bauch drückte. Charly nahm eine weitere Taube aus dem Nest und hielt sie Michael entgegen. Der ließ sich seinen inneren Widerstand nicht anmerken und nahm, ohne zu zögern, den Vogel in beide Hände, als wäre ihm diese Handhabung völlig vertraut. Dabei hatte er noch nie Gefieder in seinen Händen gespürt. Das Tier fühlte sich warm und weich an und rührte sich nicht. In den Handinnenflächen fühlte er ganz leicht den Atem und den schnellen Herzschlag des Vogels. Schließlich nahm Charly selbst eine Taube heraus, die vierte bleib regungslos im Nest zurück.
Einen Moment standen sich die drei Jungen gegenüber, jeder einen identisch aussehenden Vogel in Händen.
„Und jetzt?“, fragte Lutschi.
„Jetzt müssen wir sie nur noch killen“, sagte Charly und blickte mit provokanter Ruhe aus dem Mützenschatten von einem zum anderen.
„Was, wie denn?“ Lutschis Stimme war in eine hohe Lage gerutscht.
„Indem du ihnen den Kopf abreißt, einfach so:“
Charly löste eine Hand von der Taube und klemmte das Köpfchen am Halsansatz zwischen die Innenseiten des gekrümmten Zeige- und Mittelfingers. Dann riss er ruckartig die Hand von dem Tier weg. Lutschi schnappte hörbar nach Luft und kniff die Augen zusammen. Doch Charly hatte rechtzeitig die Finger von dem Kopf des Vogels gelöst, er war unversehrt.
„Nichts dabei“, sagte er, die Hand immer noch in der Luft. „Ist wie Kirschenpflücken.“
Eine angespannte Ruhe breitete sich unter den Jungen aus. Lutschi starrte auf die Taube, die ruhig in seinen Händen saß. Michael versuchte, etwas in Charlys Blick zu erkennen, der erwartungsvoll in seine Richtung schaute. Aber er konnte seine Augen nicht sehen, sie lagen im Schatten des Mützenschirms. Er betrachtete die Taube in seinen Händen und spürte die Wärme ihres Körpers. Ihr Kopf war winzig, der Hals kaum sichtbar, er würde wenig Widerstand leisten. Ein kurzer Moment, kaum Kraft, nicht einmal ein echter Ruck wären nötig, um Charlys volle Anerkennung zu gewinnen. Doch während er eine Hand vom Flügel des Tieres löste, um sie dem Kopf zu nähern, spürte er einen starken inneren Widerstand. Die Stille wurde vom Gackern eines Huhns im Stall neben dem Garten durchbrochen, ein hohes, durchdringendes Geräusch, das in diesem sich dehnenden Moment eine Erinnerung auslöste. Als Michael vor einigen Tagen vom Spielen nach Hause gekommen war, trat gerade sein Vater aus dem Geräteschuppen und ging in Richtung des Hühnerstalls. Er trug eine mit rotbraunen Flecken gesprenkelte Schürze über seiner Arbeitskleidung und hielt ein Beil in der Hand. Seine aufgekrempelten Ärmel legten sehnige Unterarme frei, auf denen die Adern bläulich hervortraten. In der freien Hand hielt er eine brennende Zigarette.
„Was machst du?“, fragte Michael.
„Wonach sieht’s denn aus?“
„Und, wen nimmst du? Die Emma?“
„Die ist noch nicht fett genug. Fritz ist dran.“
„Der Hahn? Dann kriegen wir keine Küken mehr.“
„Mama will die Hühner abschaffen. Sie sagt, die kriegen wir billig und sauber verpackt im Supermarkt.“
Der Vater öffnete eine mit Maschendraht bespannte Tür und verschwand im Hühnerstall. Lautes Gegacker ertönte, gefolgt von Geflatter und Flügelschlag. Nach einer Minute kam der Vater zurück und hielt den Hahn umklammert, mit der einen Hand presste er den rotbraun gefiederten Körper fest gegen seinen Bauch, die andere hatte er an den unteren Halsansatz des Tieres gelegt. Das Beil steckte mit dem Griff nach unten im hinteren Hosenbund. Der Vogel zuckte mit dem Kopf hin und her und versetzte seinen roten Kehllappen in eine pendelnde Bewegung. Der Vater ging zu einem Holzblock am Rand des Hofes, dessen Oberfläche von getrocknetem Blut gefärbt war. Michael sah ihm dabei zu, wie er den Hahn auf den Block legte und am Halsansatz auf das Holz drückte. Mit der anderen Hand tastete er zum Beil im Hosenbund. Er hatte ein Auge zugekniffen, um es vor dem Rauch der Zigarette in seinem Mundwinkel zu schützen.
„Tut es weh?“, fragte Michael.
„Was?“
„Wenn man ihn abhackt.“
Der Vater sah kurz von dem Hahn auf und sagte:
„Ah.“
Es war ein kurzer, kehliger Laut der Verneinung, ein Minimalton, für den man so gut wie keinen Atem benötigte. Michael hätte seinen Vater gern mehr gefragt, etwa ob die Geschichten stimmten, dass Hühner manchmal noch einige Meter ohne Kopf weiterlaufen können. Aber das „Ah“ des Vaters ließ ihn verstummen.
Plötzlich hörten sie die Stimme seiner Mutter aus der Richtung des Hauses.
„Mickey, komm ins Haus!“
Ihre Stimme hatte einen schrillen Unterton, die seinen Vater in seinem Tun innehalten ließ.
„Gleich, Mama!“
„Sofort!“
„Geh schon“, sagte sein Vater, „sonst flippt sie wieder aus. Wenn sie auf Kur ist, bring ich dir bei, wie man’s macht.“
Unwillig riss sich Michael von der Szene los, drehte seinem Vater den Rücken zu und folgte dem Ruf seiner Mutter. Während er auf das Haus zuging, lauschte er, aber es blieb völlig ruhig hinter ihm, bis er den Eingang erreicht hatte. Seine Mutter stand in der Tür, sie hatte eine steile Falte zwischen den Augen und schob ihn an der Schulter ins Haus. Als sie im Flur standen, war die Falte verschwunden und ihr Blick hatte etwas Flehentliches bekommen.
„Warum abreißen?“, fragte Michael, seine Hand hatte fast den Kopf der Taube erreicht.
„Was?“, fragte Charly und zog sich die Mütze tiefer in die Stirn.
„Wieso muss man den Kopf abreißen?“
„Willst du ihn lieber abbeißen?“
„Hast du kein Beil?“
„Wie wär’s hiermit?“, fragte Lutschi und stieß mit der Fußspitze gegen einen großen flachen Stein. Er hielt seine Taube mit leicht ausgestreckten Armen ein Stück weit von seinem Körper entfernt.
„Na, dann mach mal!“, sagte Charly. Michael sah, dass sein Mund sich zu einem spöttischen Grinsen verzog.
Lutschi stand eine Weile unschlüssig da und blickte von einem zum anderen. Dann kniete er nieder, setzte den immer noch reglosen Vogel ins Gras und drückte ihn am Rückengefieder zu Boden. Mit der anderen Hand nahm er den Stein auf, hielt ihn in die Sonne und betrachtete ihn von allen Seiten, als wollte er ihn auf seine Waffentauglichkeit prüfen.
Michael schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte auf die tote Maus im Schatten der Hecke. Der Stein lag immer noch in seiner Hand, er wog ihn wippend, bevor er ihn zu Boden fallen ließ. Er versuchte sich zu entsinnen, wie die Geschichte mit den jungen Wildtauben ausgegangen war. Aber es gelang ihm nicht. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, ob Lutschi wirklich ernst gemacht hatte mit seinem Stein. So sehr er sich auch konzentrierte, ihm fiel weder ein, was aus der Taube in seiner Hand geworden, noch ob es je zu dem Grillen gekommen war. Da war nur ein zäher undurchdringlicher Nebel in seinem Kopf, der seine Gedanken lähmte.
Mit mechanischen, eingelernten Bewegungen goss er den Rosenstock und stellte danach die Kanne zurück in den Geräteschuppen. Er ging über die Terrasse in die Küche und machte sich einen Tee. Mit tiefen Atemzügen genoss er die ungewohnte Ruhe im Haus, das er ein Wochenende lang für sich allein hatte. Dann duschte und rasierte er sich, zog ein frisches Hemd an und stieg ins Auto, um seine Eltern im Nachbardorf zu besuchen.
Als er den Wagen in der Einfahrt parkte, blieb er noch einen Moment am Steuer sitzen und blickte am Haus vorbei über den Hof in den Garten. Nachdem sein Vater einen zweiten Herzinfarkt gehabt hatte, ließ seine Mutter auf der gesamte Anbaufläche Gras sähen und Obstbäume anpflanzen, deren Laub sich bereits zu verfärben begann. Der Hühnerstall war längst abgerissen worden, jetzt war da nur noch eine betonierte Fläche, die gelegentlich als Grillplatz diente.
Michael öffnete das Handschuhfach und holte eine Schachtel Tabletten heraus. Lange starrte er auf die Beschriftung der Verpackung. Dann steckte er die Schachtel in seine Sakkotasche und stieg aus dem Wagen.
Seine Mutter stand bereits auf der Eingangstreppe. Ihre gebeugte Gestalt war etwas schief gegen das Geländer gelehnt, sie hatte für seinen Besuch ein gutes Kleid angezogen, ihr weißes Haar war frisch frisiert.
Sie hielt ihm zur Begrüßung die Wange hin und fragte:
„Wo sind Ruth und Kerstin?“
Wie so oft versetzte es ihm einen Stich, dass sie nur nach seinen Kinder fragte und nicht nach seiner Frau. Flüchtig küsste er die Wange seiner Mutter.
„Katharina ist mit den beiden zu ihrer Mutter gefahren. Das hab ich dir doch am Telefon gesagt.“
„Ach Gott, ich werd langsam vergesslich“, sagte sie und hakte sich bei ihm ein, um leichter die Treppe hinaufzukommen. Als sie in der Küche waren, fragte er:
„Und? Wie geht’s ihm?“
Eine Kerbe bildete sich zwischen ihren Augen. Er wusste, die Falte würde sich gleich wieder entspannen, aber nicht mehr gänzlich verschwinden, zu oft schon hatte sie Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihr Blick bekam wie immer etwas Flehentliches, was in letzter Zeit aufgrund der schlaffen, geröteten Lider einen immer stärkeren Zug ins Weinerliche bekommen hatte.
„Er hatte eine harte Nacht.“
„Probleme mit der Luft?“
Sie nickte.
„Vor allem im Liegen ist es arg.“
Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein.
„Mickey.“
Er zwang sich, sie mit festem Blick anzusehen.
„Letzte Nacht wache ich auf, und er ist nicht im Bett. Ich gehe ins Wohnzimmer und er steht da, mit beiden Händen an eine Stuhllehne gekrampft. Er keucht vor Luftnot und die Augen treten ihm aus dem Kopf. Ich weiß nicht mehr weiter.“
Michael spürte, wie sein Mund trocken wurde.
„Warum nimmt er denn nicht das wassertreibende Medikament?“
„Er geht sparsam damit um, weil es allmählich seine Wirkung verliert. Darum setzt sich immer mehr Wasser in der Lunge ab.“
Nach einer kurzen Weile, in der die Falte zwischen ihren Augen sich wieder vertiefte, fügte sie hinzu:
„Weiß du, was er gesagt hat?“
„Was?“ „Warum schläfern sie mich nicht ein?“ „Mama, ich –“
„Mickey, einschläfern hat er gesagt. Das tut man doch nur mit einem Tier.“
Als er sah, dass ihre Augen sich mit Tränen zu füllen begannen, wandte er sich von ihr ab und sagte lauter als gewollt:
„Ich geh zu ihm.“
Er verließ die Küche und betrat das Wohnzimmer, wo er seinen Vater nicht antraf. Er ging zurück in den Flur und lauschte an der Toilettentür. Zuerst hörte er ein leises Schnaufen, dann einen Wasserstrahl, gleichmäßig und anhaltend. Länger als eine Minute hörte er zu, wie das Wasser, das die Pillen aus den Lungen und Blutgefäßen des Vaters gesaugt hatten, in die Schüssel plätscherte. Die Spülung erklang, und Michael trat rasch von der Tür zurück.
Als sein Vater sich ihm gegenüber ächzend aufs Sofa sinken ließ, wirkte seine Gestalt eingefallen und abgemagert. Dunkle Ränder hatten sich unter seinen Augen gebildet. Sie plauderten einige belanglose Worte über die Kinder und das Wetter. Und Michael bemerkte, dass sein Vater zwischen seinen spärlichen Worten immer wieder nach Luft schnappte, ein kurzes, beinahe erschrockenes Japsen, einem geräuschlosen Schluckauf ähnlich. Michael sah sich im Raum um, in einer Ecke neben dem Fernseher stand eine Sauerstoffflasche in einem metallenen Fahrgestell. Er deutete darauf und sagte:
„Soll ich dir das Ding bringen?“
„Ah.“
Ein Schweigen entstand, das sich lange zog. Die lastende Stille erinnerte Michael an ein Gespräch, das sie eine Woche zuvor geführt hatten. Sein Vater war wie immer den Fragen nach seinem Befinden ausgewichen, hatte einsilbig oder nur mit einer abwinkenden Handbewegung geantwortet. Doch am Ende blickte er aus dem Fenster, ein Schleier hatte sich über seine Augen gelegt und er sagte leise, wie zu sich selbst:
„Ich werd sicher keine Siebzig.“
Michael überlegte, was er darauf antworten sollte. Doch seine Gedanken wurden träge und schwer, nicht einmal mehr den Blick vermochte er zu heben. Minutenlang saßen sie sich schweigend gegenüber. Beim Abschied hatte sein Vater ihn noch einmal geradeheraus angesehen und gesagt:
„Ich verlass mich auf dich. Ich will nicht ersticken wie ein gefangener Fisch.“
Ein Schnappen nach Luft riss Michael aus der Erinnerung. Er stand auf, rollte die Sauerstoffflasche zum Sofa, drehte den Hahn auf und reichte dem Vater den durchsichtigen Schlauch. Der Vater nahm ihn nach einem Zögern widerwillig entgegen und steckte sich das gebogene Plastikende in die Nase.
Die frische Luftzufuhr verschaffte ihm sichtlich Erleichterung, seine Atmung begann sich etwas zu entspannen. Dann verengten sich seine Augen, die buschigen weißen Brauen schoben sich zusammen, und er sagte:
„Hast du es dabei?“
„Was?“
Der Vater zog verächtlich einen Mundwinkel nach unten. Michaels Hand griff unwillkürlich nach der Tablettenpackung in der Sakkotasche, der Blick des Vaters folgte seiner tastenden Bewegung. Mit einem Räuspern stand Michael auf und ging ziellos einige Schritte durch den Raum. Auf einer Kommode stand ein Hochzeitsfoto der Eltern. Seine Mutter trug darauf einen weißen Schleier auf dem kunstvoll frisierten blonden Haar. Sie stand etwas seitlich und sah mit weit geöffneten Augen zu ihrem Mann auf, der einen Kopf größer war als sie und das markant geschnittene Kinn der Kamera entgegenreckte.
Als er sich von dem Foto losriss, sah sein Vater ihn immer noch unverwandt an, als erwartete er eine Antwort.
„Nein!“, sagte Michael, schüttelte bekräftigend den Kopf und versuchte seiner Stimme Festigkeit zu verleihen.
Sein Vater blickte auf Michaels Sakkotasche, die von der Medikamentenpackung ausgebeult war. Dann nahm er den Schlauch aus der Nase, schnaufte verächtlich und sagte, den Mund zu einem leichten Grinsen verzogen:
„Hätt ich dir auch nicht zugetraut.“
Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).
Sicher hat vieles damit zu tun, dass ich nun schon eine Weile arbeitslos bin. Dass niemand einen Ingenieur brauchen kann, schon gar nicht einen, der spezialisiert ist auf Anlagen für Wärmerückgewinnung im Niedrig-Temperatur-Bereich. So dass ich ein bisschen viel Zeit habe, um Zeitung zu lesen, aus dem Fenster zu schauen und kleine Runden zu drehen auf meinem schönen alten Rennrad.
Während einer Ausfahrt in die Hügel zwischen Bern und Burgdorf fahre ich, in einem Wald hinter Bäriswil, eine Weile entlang von Tüten, Servietten, Bechern und anderem Unrat, der da, hingeschmissen von einem McDonald’s-Kunden, den Weg säumt. Als mir zwei, drei Kilometer später eine ähnliche Szene begegnet, werde ich hineingezogen in eine sonst Pubertierenden vorbehaltene Stimmung, in welcher man alle wachrütteln, zur Besinnung rufen und die Welt retten möchte.
Egal, mit welch grossen Gängen ich die folgenden Steigungen, insbesondere den ruppigen Aufstieg nach Dieterswald auch bewältige, mein Ärger über die Ignoranz gewisser Menschen und der Wunsch, mich für mehr Ökologie einzusetzen, bleiben an mir haften.
So stelle ich mich nach dieser Radtour nicht wie gewöhnlich unter die Dusche, sondern hocke mich an den Laptop und schreibe einen Leserbrief. Ich beginne mit dem Elektro-Velo, das mich in der letzten Steigung überholt hat und erwähne, dass auch ich, wäre mein Velo derart schwer, eine Batterie nötig hätte. Und dass es unverantwortlich sei, statt Körperfett zu verbrennen, mit einem unsäglichen Aufwand in China und Afrika seltene Metalle aus dem Boden zu holen, sie nochmals mit einem unsäglichen Aufwand in eine Batterie zu drücken und dann so zu tun, als wäre das Umweltschutz.
Nach ein paar Zeilen, in welchen ich hervorhebe, wie idiotisch es ist, vom Zahnbürstchen über den Rasenmäher bis zum Auto alles mit einer Batterie auszurüsten, komme ich auf den Klimawandel zu sprechen und auf die Verträge von Paris. Kaum habe ich beim Thema Massentierhaltung und Abholzung der Regenwälder argumentativ ein bisschen an Fahrt gewonnen, klingelt das Telefon; von meiner Mutter aber lasse ich mich gerne unterbrechen. Sie ist 71, hat eine schwierige Knieoperation hinter sich, wäre fast begraben worden unter einer Lawine von Medikamenten; erleichtert vernehme ich, dass es ihr deutlich besser geht. So gut geht es ihr, dass sie nun zusammen mit Vater die Sommerferien gebucht hat. Jetzt freue sie sich riesig auf Ägypten.
Ehe ich reflektiere, höre ich mich fragen, ob sie noch nie etwas von Ökologie gehört habe und ob so ein Flug wirklich nötig sei.
Meine Mutter kennt meine etwas direkte Art; dennoch scheint sie frappiert. Ihre zögerliche Erklärung, man könne ja doch nichts gegen den Klimawandel machen, erzürnt mich so sehr, dass ich auflegen muss.
Mit umso grösserem Furor führe ich meinen Leserbrief fort. Schon möglich, dass Wut in der Regel kein guter Antrieb ist, um etwas zu Papier zu bringen. Aber für mich ist dieser Zustand genau der richtige; es fühlt sich gut an, loswerden zu können, wie ignorant meine Eltern sind. Dann resümiere ich, dass viele Pensionierte zum Glück alt genug seien, um ungestraft glauben zu dürfen, der Klimawandel sei wie einst das Waldsterben nichts weiter als eine medial inszenierte Aufregung. Anderseits seien die Pubertierenden jung genug, um glauben zu dürfen, es ließe sich mit Protesten etwas bewegen, sei es auch nur das Gefühl, einer Protestbewegung anzugehören. Folglich sei es an den Mittelalterlichen, an den Praktizierenden, wie ich sie nenne, die Welt als Lebensraum zu retten: Wir dürfen nicht dumm genug sein zu glauben, wie bisher leben zu können. Wir müssen unser Leben in der Schweiz wandeln hin zu einem Stil, der einem rumänischen Provinzdorf bei Stromausfall ähnelt.
Diese Formulierung gefällt mir. Gerade weil das Wort Rumänien bei den meisten Schweizern negative Gefühle auslöst, will ich es drinhaben. Die Leute sollen endlich begreifen, dass die Zukunft unbequem wird, dass es mit der Faulheit, mit dem Fleischessen ein Ende haben wird, dass fertig ist mit warm duschen.
«Die Schweiz ist gut aufgestellt, um das Übereinkommen von Paris umzusetzen», lese ich dann auf der Website des Bundesamtes für Umwelt. Und erleide beinahe einen hysterischen Lachanfall. Die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen natürlich, dass wir überhaupt nicht gut aufgestellt sind. Dass der Mensch nicht gut aufgestellt ist, bescheidener zu leben. Der schweizerische Mensch sowieso nicht. Denn welcher Schweizer, welche Schweizerin möchte weniger Kaffee? Weniger Wohnfläche? Weniger Apfelkuchen? Weniger Liebe? Wer möchte in alten Kleidern rumlaufen? Keine Butter aufs Brot? Ein lahmes Auto fahren? Zu Fuss in die Ferien? Nicht in den Mangoschnitz beissen?
Ja, die Menschen vom Bundesamt für Umwelt wissen das alles, sie dürfen es aber nicht hinschreiben. Also schreibe ich es in meinen Leserbrief hinein.
Und versuche schließlich, diesen abzurunden mit einer klaren, auf ihre Art vielleicht auch radikalen Forderung: Nicht Fridays for Future sei das Programm der Stunde, sondern Mondays for now. Mit den Protesten der Jugendlichen sei nichts falsch, im Gegenteil. Aber die Erwachsenen müssten eben antworten. Und ich schlage vor, sie sollen das tun mit einem arbeits-, auto- und flugzeugfreien Montag. In den 70er-Jahren hat doch der Bund aufgrund der damaligen Erdölkrise unserer Schweiz einige autofreie Sonntage anbefohlen. Abgesehen von ein paar Besitzern abgelegener Ausflugsrestaurants war das damals für alle eine grossartige und höchst erholsame Sache. Also empfehle ich dem Parlament, das Verbrennen treibhausgasemittierender Stoffe und das Benutzen der ökologisch ebenso bedenklichen Elektrofahrzeuge an Montagen generell zu verbieten. Rasch rechne ich vor, dass dies — mit all den leeren Autobahnen, mit Flughäfen, die für Spaziergänger und Rollschuhfahrer geöffnet sind — die CO2-Emission der Schweiz sofort runterbringt auf einen Wert, von dem aus sich die in Paris vereinbarten Klimaziele mit einigen zusätzlichen Massnahmen erreichen lassen.
Ich setze einen Punkt, notiere meinen Namen, meinen Wohnort, speichere zufrieden meine Zeilen und schicke sie, weil mir scheint, es sei trotz allem die einzige halbwegs anständige Zeitung, an die NZZ.
Drei Tage später, ich denke schon nicht mehr an diese Sache, erreicht mich eine Mail von einem mir unbekannten Mann aus Oberburg bei Burgdorf, der erklärt, er habe seinen Müll im Wald hinter Bäriswil eingesammelt; er entschuldigt sich und wünscht mir weiterhin gute Fahrten mit dem Rennrad.
Da sehe ich, dass die NZZ meine Zeilen tatsächlich abgedruckt hat. Nicht hinten, nicht versteckt bei den Leserbriefen. Sondern ungekürzt und ziemlich prominent im Wirtschaftsteil als Gastkommentar; hinter meinem Namen steht das Wort Ingenieur. In einer Mail aus dem NZZ-Sekretariat werde ich nach meinen Kontoangaben und meiner Pensionskasse gefragt. In einer anderen Mail der NZZ ist entschuldigend von einem Missverständnis die Rede; ein Redakteur drückt gewunden seine Hoffnung aus, es sei mir die Sache nicht zu unangenehm. Im Ressort Wirtschaft habe man verzweifelt auf einen längst vorbesprochenen Gastkommentar gewartet, und ein offenbar übermüdeter Blattmacher habe schliesslich geglaubt, ich sei jener Ingenieur, dessen Text man herbeigesehnt hatte. Aber ja, vielleicht sei es auch gar nicht so schlimm, meine Ausführungen seien jedenfalls erfrischend und überraschend bunt.
Ich will mich gerade fragen, ob die Worte erfrischend und überraschend bunt unter Journalisten vielleicht gemeinhin nicht als Kompliment gelten, als meine Mutter anruft und ganz aufgeregt erzählt, es seien verschiedene Mails bei ihr eingegangen, alle mit wüsten Beschimpfungen, eine sogar mit einer Drohung: Wenn sie die Flugreise nach Ägypten nicht annulliere, werde man ihr co2-neutral das Haus abfackeln.
So gut es geht, versuche ich, meine Mutter zu beruhigen. Die Vorstellung, dass das Haus, das ich in wenigen Jahren erben werde, ein Raub der Flammen werden könnte, alarmiert mich. Also empfehle ich meiner Mutter, auf Facebook zu posten, dass sie die Reise nach Ägypten abgesagt habe. Dann muss ich auflegen, denn jetzt prasseln die Nachrichten nur so auf mein Telefon nieder. Ich kann mich nicht erinnern, je derart viel Lob, Zuspruch und Ermutigungen erhalten zu haben. Endlich jemand, der nicht davor zurückschrecke, vollkommen moralisch an die Sache heranzugehen, lese ich.
Mir war nicht bewusst, dass meine Zeilen moralisch sind, ich habe bloss getippt, was mir durch den Kopf ging.
Eine unbekannte Frau erzählt mir in einer Mail, wie sie aufgrund meiner Ausführungen zur Massentierhaltung entschieden habe, nur noch Fleisch zu essen von Tieren, die sie kennen gelernt hat. Also habe sie einen Bauernhof am Stadtrand aufgesucht und nach einem Tier gefragt, das demnächst geschlachtet werden soll. Der Landwirt habe sie im Stall zu einem rabenschwarzen jungen Stier geführt, der auf den Namen Sultan höre. Kaum sei sie vor dem kräftigen Tier gestanden, sei es zu einem Blickkontakt gekommen, dessen Intensität zu beschreiben ihr schwer falle. Jedenfalls könne sie sich nicht erinnern, je zuvor in einem Auge derart deutlich gefühlt, nein: gesehen zu haben, was gemeinhin als Seele bezeichnet werde. Ergriffen habe sie sich gefragt, wie sie all die Jahre überhaupt habe leben können, ohne regelmässig einem derartigen Tier in die Augen zu blicken.
Kurz danach habe sie am Hals des schönen jungen Stiers eine Beule entdeckt. Danach gefragt, habe der Landwirt gelacht und erklärt, das sei vielleicht ein bisschen gross, allerdings nichts anderes als ein Pickel. Der junge Kerl befinde sich halt in der Pubertät.
Das habe sie nur zusätzlich berührt. Und sie habe den Stall nicht verlassen können, ohne das Versprechen des Landwirts mitzunehmen, diesen jungen, bildhübschen Stier am Leben zu lassen. Bald schon werde also sie sich um das Tier kümmern — und vielleicht könnte ich ihr behilflich sein auf der Suche nach einem guten Platz für Sultan.
Noch während ich überlege, wie viel Gras wohl ein junger Stier frisst und wie gross seine Weide sein muss, erreicht mich eine Mail aus dem Bundeshaus. Zwar stehe noch eine ausserordentliche Sitzung an mit den Dachverbänden von Wirtschaft und Zivilluftfahrt, aber eigentlich sei klar, dass Mondays for now die einzige Chance sei, um die hochgesteckten, in Paris beschlossenen Klimaziele zu erreichen. Man möchte gerne wissen, ob ich kommende Woche für ein Podiumsgespräch sowie assistierend, mit meiner Erfahrung als Ingenieur, bei der Ausarbeitung der gesetzlichen Grundlagen zur Verfügung stehen könne — natürlich gegen Honorar.
Die Anfragen nehmen gar kein Ende; bald schon werde ich als Star der Schweizer Klimaszene bezeichnet. Journalisten melden sich, begeisterte Bürger, ein jungen Mann, der sich dabei gefilmt hat, wie er seinen Führerschein in einen Schredder wirft, eine fremde Frau, die mir tausend Herzen aufs Papier gemalt hat, ein nervöses Fernsehteam, ein feister Wirtschaftsboss aus Deutschland.
Und drei Tage später, kurz nachdem ich den Flug nach Brüssel gebucht habe, kaufe ich mir einen schicken Anzug, schicke Lederschuhe einen dieser schlanken Laptops und ein neues Telefon, damit ich an der Konferenz, zu der ich eingeladen bin, auch seriös und glaubhaft auftreten kann.
Seltsam, aber heute kann ich kaum mehr verstehen, wie ich es geschafft habe, diese unendlich langweiligen, des fehlenden Einkommens wegen auch brutal bescheidenen Monate der Arbeitslosigkeit durchzustehen, ohne psychisch krank zu werden. Ja, es tut mir gut, ich fühle mich wertvoll, mich in einer ganz neuen Position für den Kampf gegen den Klimawandel einsetzen zu können.
Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling «Luchs», 2006 dann «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland und der Ukraine. «Bergsteigen im Flachland» ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.
Es war ein Sommer wie im Backofen. Am Horizont hinter der großen Stadt türmten sich Abend für Abend feuerrote Wolken. Sie sahen aus wie riesige rote Elefanten, die gemächlich auf die fingernagelgroßen Häuser zu wanderten. Der Trupp der Elefanten war unendlich lange, so als würde er niemals aufhören. Sogar an windigen Abenden klebten sie am Himmel wie an einem Vorhang, der immer dunkler und dunkler wurde, bis schließlich die tiefblaue Nacht hereinbrach.
Mufeng presste ihre Nase ans Fenster und sah dem Elefantentrupp dabei zu, wie er sich langsam vorwärts bewegte. Obwohl die Klimaanlage im Wohnzimmer an war, schwitzte sie, und ihre Nase hinterließ auf dem Fensterglas einen Abdruck wie eine Erdbeere.
Großmutter sagte: „Morgen wird wieder ein heißer Sommertag sein. Das kann man an der Form der Wolken erkennen.“
Kaum war Großmutters Stimme verklungen, sah Mufeng keine Elefanten mehr, sondern nur ein paar feuerrote Riesenwolken, die über den Himmel dahinzogen.
Mit den Hausaufgaben für die Sommerferien war Mufeng schon fast fertig, der Sommer selbst würde bald zu Ende sein. Natürlich war sie gespannt auf den Herbst, im nächsten Semester gab es viele neue Kurse und sie würde viele neue Mitschüler kennen lernen. Aber in letzter Zeit hatte Mufeng begonnen sich etwas zu wünschen. Sie wünschte sich, dass der Herbst niemals kommt, sie wünschte sich, dass die Zeit stehen und dass es für immer Sommer bleibt, auch wenn es so heiß ist, dass man nicht nach draußen gehen kann. Genau das wünschte sie sich aus tiefstem Herzen.
Großmutter ging viel langsamer als früher. Sie brauchte jetzt sehr lange, um einen Teller Bohnenbrei aus der Küche ins Wohnzimmer zu tragen. Der kleinen weißen Katze kam sie auch nicht mehr nach. Großmutter liebte es Mufengs Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden, jetzt kam sie beim Kämmen immer ganz außer Atem. Mufeng merkte, dass Mama und Papa sich große Sorgen um Großmutter machten. Jedes Mal, wenn sie Großmutter zum Arzt fuhren, kamen sie mit zusammengezogenen Augenbrauen wieder heim.
Aber Großmutter lächelte strahlend über das ganze Gesicht: „Jetzt bin ich eben alt. Was ist denn so schlimm daran?“
Was war das, „alt“? Mufeng fuhr mit der Hand leicht über Großmutters Rücken, der in diesen Jahren immer krümmer und krümmer geworden war.
„Dieses spezielle Recht bekommt man erst, wenn man sehr viele Jahre lang gelebt hat“, meinte Großmutter lachend. „So kann man die schönen Blumen am Boden besser sehen.“
Mufeng betrachtete Großmutters Haar, das ihr bis über die Ohren reichte. Keine Ahnung, wann es völlig weiß geworden war.
„Das ist ein noch spezielleres Recht, man bekommt eine silberne Krone. Damit kann man in der Menschenmenge glitzern und funkeln.“ Großmutter steckte einen Schmetterling in Mufengs Haar.
Plötzlich sah Großmutter wieder sehr müde aus, sie drückte ihre Finger an die Schläfen. Dabei meinte sie zu Mufeng: „Man hat nicht mehr so viel Energie wie die jungen Leute, das ist auch ein spezielles Recht. Denn man hat einfach keine Zeit mehr für nutzlose Dinge.“
Wenn Mufeng sich zu lange bei Großmutter aufhielt, kam jetzt immer öfter Mama vorbei. Sie meinte, Großmutter sei müde. Einmal brachte Mama sie ins Elternschlafzimmer, wo es sich gerade die kleine weiße Katze gemütlich gemacht hatte. Dabei murmelte Mama: „Großmutter muss sich ausruhen.“ Dann wurden ihre Augen rot und sie flüsterte mit erstickter Stimme: „Großmutter hat nicht mehr so viel Zeit.“
Als von den Sommerferien nur noch zwei Wochen übrig waren, war die kleine weiße Katze auf einmal verschwunden. Mufeng war noch im Bett, da hörte sie eines Tages in aller Frühe, wie Mama und Papa rein und raus liefen. Dabei sprachen sie leise darüber, dass Katzen verschwinden, bevor sie sterben, um sich ein Versteck zu suchen. Immerhin war die kleine weiße Katze schon über zehn Jahre alt.
Mufeng verstand nicht. Auch der Nachbarsjunge war schon über zehn, aber er sah keineswegs alt oder tot aus. Von draußen drangen laute Rufe herein, Großmutter war auf der Suche nach der kleinen weißen Katze im Garten hingefallen. Mufeng kletterte aufs Fensterbrett, um nachzuschauen, was los war. Als sie nichts sehen konnte, sprang sie aus dem Bett und lief barfuß im Schlafanzug hinaus. An der Haustür wurde sie von Mama aufgehalten.
Mama lächelte Mufeng mit geröteten Augen zu: „Ich habe eine Idee. Was hältst du davon ein paar Tage bei Onkel zu verbringen? Jetzt hast du ja noch Ferien.“
Schon wenig später war Onkel da und packte Mufeng in sein Auto. Dann hievte er noch den riesigen Koffer hinein, den Mama für sie eingepackt hatte. Schon sausten sie durch die Straßen und erreichten sein kleines Haus außerhalb der Stadt. Onkel war ein Maler, und in seinem Haus duftete es nach Öl und nach Holz. Neugierig lugte Mufeng durch die halboffene Tür in sein Atelier.
„Ich habe gerade deinen Vater angerufen, er sagt, Großmutter geht es sehr gut. Aber sie muss noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben.“ Obwohl Onkel sehr zuversichtlich klang, hatte Mufeng ein seltsames Gefühl und brachte keinen Bissen hinunter. So zog sie sich in ihr kleines Zimmerchen im oberen Stock zurück und starrte zum Fenster hinaus. Dabei drückte sie ihre schweißnasse Nase an die kalte Fensterscheibe.
Seltsam, obwohl sie sich am anderen Ende der Stadt befand, waren die Wolken vor dem Fenster dieselben. In der Sommerhitze dehnten sie sich aus und wurden unglaublich groß. So lagen sie quer am Horizont, zunächst weiß und dann zunehmend röter und röter, wie ein Trupp von riesigen roten Elefanten, der nach und nach in die immer dunklere Nacht hinein schreitet.
Plötzlich klopfte es an der Tür, leicht und schnell, so als pochten da viele kleine Fäuste. Mufeng erschrak, wer außer Onkel wohnte denn sonst noch in diesem Haus? Zaghaft öffnete sie die Tür. Im nächsten Augenblick rollte ein ganzer Schwall von feuerroten Tomaten ins Zimmer, der Raum füllte sich mit ihrem Duft. Das waren also die Tomaten gewesen!
„Wir haben keine Zeit mehr.“
„Wir haben keine Zeit mehr!“
So schrien sie und wirbelten wild durcheinander. Mufeng stand sprachlos daneben und starrte sie an.
Eine Tomate, die rundeste von allen, rollte sich in unglaublichem Tempo auf Mufengs Fußrücken. Unter heftigem Schnaufen meinte sie: „Bitte hilf uns! Schnell! Wir haben keine Zeit mehr!“
Mufeng fragte sie: „Wie kann ich euch helfen?“
„Geh zum Kühlschrank und iss uns auf, oder nimm uns mit.“
Kühlschrank? War das vielleicht ein Traum?
„Wenn ich sie nicht aufesse, dann kommen sie vielleicht wieder in meine Träume“, überlegte Mufeng. Also machte sie sich auf den Weg Richtung Küche.
Sie öffnete den Kühlschrank und stellte fest, dass sich dort in der Tat reife Tomaten türmten. Mufeng nahm sie heraus und legte sie auf den Küchentisch.
Jetzt sahen sie genauso schüchtern aus wie die Tomaten im Supermarkt, die nicht sprechen konnten. Mufeng griff nach einer Tomate und biss hinein, sogleich spürte sie ihren Geschmack auf den Lippen. Diese Tomaten hatten in der Tat genau die richtige Reife, sie schmeckten weich und ein bisschen sauer, und zugleich klebrig süß.
Mufeng aß und aß, aber es waren zu viele Tomaten. So langsam befürchtete sie gleich zu zerplatzen.
Als die alte Uhr im Wohnzimmer zwölf Mal schlug, kam auf einmal Bewegung in die Tomaten auf dem Tisch. Mufeng sah, wie eine nach der anderen einen Sprung bekam. Fröhlich riefen sie: „Jetzt haben wir endlich einen eigenen Mund! Dann brauchen wir nicht mehr in die Träume anderer Leute hinein zu laufen, wenn wir etwas sagen wollen.“
Mit ihrem gerade erst gewachsenen Mund flehten sie Mufeng an: „Bitte nimm uns mit, wir können hier nicht länger bleiben!“
Mufeng fragte: „Wohin wollt ihr denn?“
„Ans Ende des Sommers“, rief die Tomate mit dem größten Sprung. „Das befindet sich hinter der Nacht da draußen.“ Und dann lächelte sie das schönste Lächeln, das Mufeng in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Es hörte sich an, als wäre das ein Ort, der zehn Millionen Mal besser war als das Gemüsefach im Kühlschrank.
Mufeng überkam die Angst. Sie blickte in die undurchdringliche Dunkelheit vor dem Fenster hinaus. Sie kannte die Straßen in dieser Gegend kaum. Zudem kam gerade Wind auf, der die Schatten der Bäume über die Gitter vor dem Fenster tanzen ließ. Auf einmal tat es einen lauten Knall und die Haustür flog auf. Der Wind blies in die Küche und wirbelte einmal über den Tisch und den Geschirrschrank, sodass die Teller und Essstäbchen laut klirrten. Die Tomaten auf dem Tisch drängten sich auf einem Haufen zusammen. Draußen prasselte schon laut der Regen.
Plötzlich bemerkte Mufeng eine kleine weiße Gestalt, die in der offenen Haustür vor der Regenwand stand. Es war die kleine weiße Katze, die sie den ganzen Tag lang gesucht hatten. „Weißchen!“ Mufeng lief auf die Katze zu und wollte sie hochheben.
Wer hätte gedacht, dass sich die kleine weiße Katze hochnäsig sträubte: „Es ist dir nicht erlaubt mich so zu nennen. Mein richtiger Name ist Kater Weiß. Deswegen wünsche ich, dass du mich Herr Kater nennst.“
Mufeng schaute den Kater erstaunt von oben bis unten an, er sah heute wirklich anders aus als sonst. Er trug einen weißen Frack und hatte eine feuerrote Schleife umgebunden. Auf dem Kopf saß ein weißer Zylinder, und in einer Vorderpfote hielt er einen weißen Spazierstock. Mit der anderen Vorderpfote lüpfte er den Hut zum Gruß, dann schritt er majestätisch in die Küche und wetterte zu den Tomaten auf dem Tisch: „Hatten wir nicht ausgemacht, dass ich euch den Weg dorthin zeige? Warum fragt ihr dann sie?“
Die fröhliche Tomate meinte sogleich erklärend: „Herr Kater, natürlich haben wir auf dich gewartet. Aber schau doch, wie rund wir alle sind. Wenn dir niemand dabei hilft uns zu bändigen, dann wirst du einige von uns auf Halbweg verlieren.“
„Und wer sollte dabei bitteschön helfen?“ Herr Kater schwieg einen Augenblick. „Ihr wisst doch ganz genau, dass kein Mensch an diesen Ort gehen darf. Ihre Großmutter hat eine Eintrittskarte erhalten, aber sie doch nicht.“
Als Mufeng hörte, dass Großmutter auch an jenem Ort war, horchte sie auf. „Ich bin nicht irgendjemand, und ich helfe wirklich sehr gerne! Bitte bitte, lieber Herr Kater, ich muss Großmutter sehen. Lass mich doch bitte mitkommen!“
Mit ihren großen Mündern unterstützten die Tomaten Mufeng lautstark: „Herr Kater, eine Persönlichkeit wie du könnte doch eine Dienerin dabei haben.“
Was? Eine Dienerin? Er ist doch mein Haustier, und ich bin seine Besitzerin! Mufeng sträubte sich zunächst. Aber dann sah sie, wie Herr Kater den Spazierstock in seinen Händen drehte und sie dabei vielsagend ansah, so als wollte er sie daran erinnern, dass sie es war, die ihm Tag für Tag sein Futter hinstellte und sein Fell bürstete. In der Tat, es war völlig klar, wer hier der Herr war und wer der Diener.
Gut, dachte Mufeng, Hauptsache ich kann Großmutter sehen. Was macht es da schon aus, dass ich seine Dienerin sein muss.
Als Dienerin machte sie sich sofort daran genügend Regenschirme aufzutreiben. Es regnete in Strömen, da braucht jede Tomate ihren eigenen Schirm. Aber Herr Kater bestand darauf, dass es keine Schirme bräuchte. Dann machte er einen Katzenbuckel, hob den Kopf, klopfte mit dem Stock auf den Boden und wies alle an zusammenzustehen. Er hielt er den Stock in den Regen hinaus. Auf einmal öffnete sich mitten im Regen ein kleiner Gang mit silbernen Vorhängen, wie ein Durchgang, der hinter eine Bühne führt.
Würdevoll trat Herr Kater in den Gang, und die Tomaten folgten ihm kullernd eine nach der anderen. Mufeng war die letzte in der Reihe. Als sie sich noch einmal umsah, waren die Regenvorhänge verschwunden, ebenso wie die große Stadt. Mufeng spürte Sonnenlicht auf ihrer Haut, die Luft um sie herum war trocken und kühl. Licht und Schatten wogten auf und ab wie Musiknoten, und unter ihren Füßen spürte sie weiches Gras. Es duftete nach Tau.
Sie befanden sich an einem frühen Morgen ohne genaues Datum. Um sie herum standen keine Hochhäuser, sondern nur schneebedeckte Berge mit dichten grünen Wäldern. Darüber strahlte ein blauer Himmel.
Am Fuß der schneebedeckten Berge lag ein ruhiger See, der so klar war, dass man durch das Wasser hindurchsehen konnte. An seinem Ufer wuchsen frische Gräser und bunte Blumen. Sie liefen am Seeufer entlang, der Kater schritt eilig an der Spitze des Zuges, die Tomaten rollten in einer Reihe hinterher.
„Beeilt euch ein bisschen!“
„Sonst kommen wir noch zu spät zur Feier!“
Aber der Trupp kam alles andere als schnell vorwärts. Im Gegenteil, es war genauso, wie es die Tomate vorhergesagt hatte. Sie rollten ständig durcheinander, manche auf die linke, die anderen auf die rechte Seite. Mufeng, die als letzte ging, hatte alle Hände damit zu tun die Tomaten, die vom Weg abgekommen waren, wieder zurückzurollen. So kam es, dass sie immer wieder von anderen Trupps überholt wurden.
Der Trupp der Sternjasmine bestand aus vielen kleine Grüppchen. Alle trugen grüne Röcke und hielten weiße Windräder in die Luft. So glitten sie wie auf Flügeln im Wind dahin.
Dann kam der Trupp der Hortensien, die auf einem grünen Wagen saßen und während der Fahrt wie ein Team von Cheerleadern tanzten und winkten. Die Musik, zu der sie sich bewegten, stammte vom Trupp der Klettertrompeten und Taglilien. Diese hielten ihre orangen Trompeten hoch in die Luft und bliesen gerade einen flotten Marsch.
Majestätisch nahte der Trupp der Chrysanthemen. Auf hohen Stängeln reckten sie ihre Blüten in die Luft. Sie waren mit lila und roten Röcken bekleidet und trugen goldene Kronen auf den Köpfen. In höfisch distanzierter Eleganz nahmen sie den Gruß von Seiten der Tomaten nur sehr von oben herab wahr.
Auch die Kirschen waren dabei. Sie drängten sich schnell nach vorne, dabei hüpften sie wild und prallten aufeinander. Schon bald hatten sie den Trupp der Tomaten auseinander gesprengt. Nach ihnen folgten Erdbeeren, Pflaumen und Litschi. Den Pfirsichen erging es ähnlich wie den Tomaten, sie rollten langsam daher und verliefen sich ständig. Schon bald hatten sie sich völlig mit den Tomaten vermischt. Unglücklicherweise hatten sie es noch nicht geschafft sich wieder in Formation zu bringen, als sich mit Getöse ein weiterer Trupp ankündigte.
Das waren die Wassermelonen. Sie rollten daher wie Kriegsfahrzeuge, die alles niederzuwalzen drohten, was ihnen in den Weg kam. Zu Tode erschrocken flüchteten sich die Pfirsiche und Tomaten zur Seite. Herr Kater stellte sich schützend vor sie hin und nahm den Spazierstock quer in seine Vorderpfoten: „Ruhe bewahren, Ruhe bewahren!“
In diesem Augenblick erblickte Mufeng abermals die feuerroten Elefanten. Es war das erste Mal, dass sie sie aus nächster Nähe sah. Sie gingen am Ende des Zuges und kamen allmählich näher. Sie waren so groß, dass Mufeng nur ihre Beine und Bäuche sehen konnte, als sie näher kamen. Ihr Trupp sah unendlich lange aus, so als würde er niemals aufhören.
Auf ihren Rücken trugen sie Menschen und Tiere, die gemeinsam ein altes hallendes Lied sangen. Die Melodie erfüllte die Luft, als würden zahllose kleine Elfen mit den Flügeln schlagen. Mufeng konnte nicht genau verstehen, worum es in dem Lied ging. Sie schaute nur gebannt nach vorne, wo Großmutter auf einem kleinen Elefanten daher geritten kam. Ihr weißes Haar glitzerte im Sonnenlicht wie eine Silberkrone.
„Großmutter, Großmutter!“ Mufeng stürmte auf Großmutter zu.
Großmutter war auf einmal wieder jung und beweglich. Sie rutschte über den Rüssel des kleinen Elefanten hinunter und breitete ihre Arme aus, um sie um Mufeng zu schlagen. Mufeng stürzte sich in die Umarmung, wie warm und schön war das doch! Die Kleider hatten Großmutters vertrauten Geruch. Mufeng war so glücklich, dass ihr die Tränen kamen.
Der kleine Elefant hielt inne und lächelte und schloss die beiden mit seinem Rüssel in einer weiteren Umarmung ein. Seine Haut war weich und warm, wie die Schale von gebratenen Süßkartoffeln. Mufeng sah, wie der kleine Elefant eine Freudenträne vergoss, und als sie auf den Boden fiel, wuchs daraus eine schöne Blume.
Sogleich kamen die Tomaten herbei und freuten sich mit. Herr Kater lüpfte seinen Hut und küsste Großmutter nach europäischer Art auf beide Wangen.
Mufeng griff fest nach Großmutters Hand. Sie hatte sich solche Sorgen um sie gemacht! Jetzt war sie entschlossen sie nie wieder los zu lassen. Hand in Hand folgten Mufeng und Großmutter dem Zug. Vorne wurde es langsamer. Umrahmt von Seen und Wäldern öffnete sich auf beiden Seiten des Weges ein fröhlicher Jahrmarkt. Früchte und Blumen mit bunten Schürzen und Kopftüchern verkauften alle möglichen kleinen Dinge.
Herr Kater wollte eine Riechflasche aus Geißblatt haben. Mufeng sah, wie er der Verkäuferin eine Pfote hinstreckte. Diese scannte die Pfote, es piepste, dann meinte sie: „Restbetrag: eine Stunde und 19 Minuten.“ Daraufhin reichte die Verkäuferin Herrn Kater die Riechflasche und meinte: „Ich wünsche dir viel Freude damit.“
Die Riechflasche war gefüllt mit getrocknetem Geißblatt, das einen betörenden Geruch verströmte.
Als Mufeng sah, dass es Windräder aus Jasmin zu kaufen gab, blieb sie sofort stehen. Großmutter konnte ihre Gedanken erraten und streckte lächelnd ihre Hand aus.
„29 Minuten.“ Daraufhin meinte die Verkäuferin: „Das ist die gesamte Zeit, die Ihnen geblieben ist. Dafür kann man nur noch ein kleines Windrad haben.“ Großmutter nickte, nahm das kleine Windrad entgegen und reichte es Mufeng.
Mufeng war ein wenig traurig. Auf dem Jahrmarkt gab es noch so viele schöne Dinge, sie wollte auch etwas für Großmutter kaufen. Das Gelee aus Vogelbeeren zum Beispiel, das in kleinen herzförmigen Behältern angeboten wurde. Mufeng streckte ihre Hand aus, die Verkäuferin scannte sie. Da begann ein Alarm zu schrillen.
„Ihre Zeit gehört nicht hierher“, meinte die Verkäuferin erstaunt. „Ihre Zeit gehört nicht hierher.“
„Sie gehört nicht hierher!“
Die Blumen, Früchte und Tiere schrien alle erschrocken auf, einer lauter als der andere. Das Chaos führte dazu, dass die Elefanten in ihrem Schritt innehielten. Der größte Elefant entdeckte Mufeng in der Menge und ging langsam auf sie zu: „Wer bist du? Wie kommst du hierher?“
Die Stimme des Elefanten grollte wie der Donner im Sommer.
Herr Kater sprang mutig vor und stellte sich vor Mufeng: „Ich habe sie hierher gebracht, sie ist meine … Dienerin.“
Mufeng wollte in keinem Fall, dass der Herr Kater Schwierigkeiten bekäme, und sagte: „Es ist meine eigene Schuld. Ich habe ihn darum gebeten mich mitzunehmen! Ich wollte nur Großmutter sehen.“
Der Elefant beugte seinen riesigen Körper und schwenkte seinen Kopf über die Menge, um Mufeng zu finden. Schließlich konnte Mufeng ihr eigenes Spiegelbild in den Augen des Elefanten erblicken. Nach und nach verschwand daraus die Schärfe und die Augen füllten sich mit Wärme.
Mufeng fragte den Elefanten vorsichtig: „Könntest du mir nicht ein bisschen Zeit geben?“
„Wofür willst du die Zeit haben?“ Der Elefant blinzelte mit seinen großen Augen.
„Ich möchte ein Geschenk für Großmutter kaufen.“
Der Elefant richtete sich wieder auf und erklärte laut vor der versammelten Menge: „Sie ist ein Kind.“
„Sie ist ein Kind!“
„Himmel, sie ist ein Kind!“
Alle schrien wild durcheinander.
„Und deswegen“, meinte der Elefant, „hast du noch sehr viel Zeit, mehr Zeit als wir alle zusammen.“
Der große Elefant machte mit seinem Rüssel eine Bewegung in der Luft, wie ein Zauberer. Da erschien auf der Spitze des Rüssels eine goldene Kreditkarte, eine „Zeit-Kreditkarte“. Er reichte Mufeng die Kreditkarte und meinte ernst: „Bitte merk dir eines: Jede Minute, die du heute hier ausgibst, wird später von deiner Zeit abgezogen, sobald du erwachsen bist.“
Glücklich nahm Mufeng die golden schillernde Karte in Empfang und bedankte sich beim Elefanten.
Im nächsten Augenblick hatte sie schon zwei Portionen herzförmiges Vogelbeergelee gekauft, eines für Großmutter und eines für sich selbst. Es schmeckte süßsauer und glitzerte rot wie Rubin. Schon bald hatten sie es mit einem kleinen Löffel aufgegessen.
Der Jahrmarkt hatte noch so viele schöne Dinge zu bieten! Mufeng suchte für Großmutter einen Haarschmuck aus Jade aus, der ausgezeichnet zu ihrem weißen Haar passte. Dann kaufte sie noch eine kleine Laterne aus Lampionblumen, die hell leuchtete, wenn ein Glühwürmchen hinein flog. Außerdem musste sie noch die lila Tusche aus Himbeeren haben, Großmutter konnte wunderschöne Schriftzeichen malen. Am Ende erstand sie noch einen Kirschenlikör in einer kleinen Porzellanflasche, eingehüllt in dunkelrotes Geschenkpapier.
„Zu zahlender Betrag: Eine Stunde und 39 Minuten. Vielen Dank für Ihren Einkauf.“ „Ursprünglicher Preis: 59 Minuten, nun gibt es zehn Prozent Rabatt.“
„39 Minuten. Ohne Garantie.“
„Zwei Stunden und neun Minuten. Dazu gibt es gratis eine Geschenkbox.“
…
Großmutter sah ein bisschen traurig aus: „So viele Geschenke brauche ich doch gar nicht. Ich habe ja schon dich, das macht mich sehr glücklich.“
Mufeng meinte ernst: „Großmutter, wenn ich für dich eine Minute Freude kaufen kann, dann ist es völlig egal, wieviel die kostet.“
Großmutter lachte laut: „Ich freue mich schon sehr.“ Sie strich Mufeng über den Kopf: „Du musst noch erwachsen werden, deswegen darfst du nicht deine gesamte Zeit hier verbrauchen.“
Aber Mufeng hatte das Gefühl, dass die Zukunft völlig unbedeutend war angesichts dieses wunderbaren Moments.
Für Herrn Kater kaufte Mufeng ein Rückenkissen gefüllt mit Pfingstrosenblüten. Für einen reisenden Gentleman war das doch ein ausgesprochen nützliches Geschenk. Herr Kater war so gerührt, dass er anfing zu niesen.
Dann fiel Mufengs Blick auf einen Stand mit kleinen lila Klappschirmen aus Hibiskusblüten. Sie musste zwei davon haben, einen für sich und einen für Großmutter. So würden sie nicht nass werden, falls es regnete. Aber als sie mit ihrer Kreditkarte bezahlen wollte, hielt Großmutter sie zurück: „Du brauchst nicht zwei davon zu kaufen. An den Ort, wo ich hingehe, kannst du nicht mitkommen.“
Mufeng wurde von einer plötzlichen Ahnung ergriffen. Sie merkte, wie der Zug immer schneller und schneller wurde. An beiden Seiten des Weges wurden schon die Stände weggeräumt. Im nächsten Augenblick waren die beiden Schirme in ihrer Hand zu zwei ganz normalen Hibiskusblüten geworden.
Der kleine Elefant, auf dem Großmutter gesessen hatte, näherte sich ihnen. Mit seinem Rüssel hob er Großmutter leicht auf seinen Rücken. Deswegen konnte Großmutter Mufengs Worte nicht mehr hören: „Warum darf ich nicht mitkommen, warum?“
Der Elefant blies Mufeng mit seinem Rüssel warme Luft in den Nacken: „Für alle Dinge gibt es die richtige Jahreszeit. Wir werden gemeinsam mit diesem Sommer aufbrechen, aber du wirst noch viele Sommer haben.“
Mufeng erinnerte sich, dass die Tomaten über einen Ort gesprochen hatten, der „Ende des Sommers“ heißt. In der Tat war der Sommer zu Ende. Mufeng fragte: „Aber nächstes Jahr im Sommer kommt ihr doch wieder zurück, nicht wahr?“
Der kleine Elefant meinte mit warmer Stimme: „Wir kommen nicht mehr zurück. Für dich wird es nächstes Jahr einen weiteren Sommer geben. Du wirst wieder die schönen Blumen und Früchte sehen, und du wirst wieder rote Elefanten am Himmel sehen. Aber das werden nicht wir sein.“
Erschrocken begriff Mufeng, dass das hieß, dass Großmutter ebenfalls nicht mehr zurück kommen würde.
Der kleine Elefant tröstete sie: „Aber du kannst dir auch vorstellen, dass die großen Elefanten am Himmel wir sind.“
Mufeng schüttelte energisch den Kopf. Niemals würde sie sich vorstellen, dass ein anderer Mensch Großmutter wäre, oder eine andere weiße Katze Herr Kater. Nie wieder würde es einen so wunderbaren Sommer geben! „Bitte bleibt stehen, bleibt stehen!“ Mufeng lief dem kleinen Elefanten hinterher und schimpfte verärgert: „Warum können wir nicht für immer in diesem Sommer bleiben?“
Der kleine Elefant schüttelte seine großen Ohren: „Wenn es so wäre, dann würden die Kinder auf der Welt nie erwachsen, und die Äpfel würden nicht rot, die Kastanien würden nie reifen, und du und deine Mitschüler, ihr würdet nie in die vierte Klasse kommen. Würde dir so eine Welt etwa gefallen?“
Noch während er sprach, trabten die Elefanten immer schneller. Mufeng lief ihnen keuchend hinterher. Aus vollem Halse schrie sie: „Stehenbleiben!“
Sie schrie so laut, dass sie selbst darüber erschrak. Da blieb der kleine Elefant wirklich stehen, und der große Elefant, der hinter ihm ging, prallte leicht auf ihn. Schließlich stand der ganze Zug still. Die Früchte kullerten nicht mehr weiter, die Blumen tanzten nicht mehr, die Tiere und Menschen hörten auf zu singen. Alle blieben stehen, in diesem Augenblick.
Mufeng hatte das Gefühl, dass ihr Kopf aufgehört hatte zu denken. Sie überlegte fieberhaft, was sie sagen wollte.
Der große Elefant kam durch die Menge hindurch auf sie zu und hielt seinen großen Rüssel wie ein wütendes Fragezeichen in die Luft.
Mufeng reckte ihre goldene Kreditkarte hoch in die Luft: „Ich habe noch viel Zeit, und ich möchte diese Zeit Großmutter und Herrn Kater schenken! Ich weiß, dass ich nicht nur an mich selbst denken darf. Ich darf mir nicht wünschen, dass die Kinder auf der Welt nicht erwachsen werden, nur um diesen Sommer aufzuhalten. Aber wäre es nicht möglich, dass ich nicht erwachsen werde? Dürfen Großmutter und Herr Kater dann bleiben?“
Der große Elefant blinzelte überrascht und gerührt zugleich.
Herr Kater klemmte sich den Spazierstock unter den Ellenbogen und griff nach dem Taschentuch in der Brusttasche seines weißen Fracks. Damit tupfte er sich versteckt die Augen.
Der große Elefant überlegte eine ganze Weile, dann antwortete er: „In dieser Sache gibt es keinen Präzedenzfall.“
Der kleine Elefant flüsterte Mufeng ins Ohr: „Dann kannst du ja mal einen Antrag stellen!“ „Glaubst du, sie werden ihn annehmen?“ fragte Mufeng aufgeregt.
„Das ist schon möglich“, meinte der große Elefant langsam.
Mufeng borgte sich von der Chrysantheme einen Stängel aus und von Herrn Kater sein Taschentuch. Dann tauchte sie den Chrysanthemenstängel in die Himbeertusche und schrieb ihren Antrag auf das Taschentuch. Der Elefant hob ihn mit seinem Rüssel hoch in die Luft. So war der Antrag also gestellt.
Der kleine Elefant streckte abermals seinen warmen Rüssel aus und umarmte Mufeng. Sie sah, wie er vor Rührung eine große Träne vergoss, und als die Träne auf den Boden fiel, verwandelte sie sich in einen Seufzer. Im nächsten Augenblick setzte sich der Zug wieder in Bewegung und alle Trupps darin schritten eilig dahin.
Die Tomaten rollten davon und schickten Mufeng ein letztes Lächeln.
Der Kater winkte ihr mit dem Pfingstrosen-Kissen zu, dabei funkelte sein Zylinder im Sonnenlicht.
Großmutter saß auf dem Rücken des kleinen Elefanten, die Tüten mit den Geschenken schaukelten im Rhythmus seiner Bewegungen hin und her. Aus immer größerer Entfernung lächelte sie Mufeng zu. Sie lächelte nur, ohne das kleinste bisschen Traurigkeit.
Dieses Mal schaffte es Mufeng nicht mehr, mit ihnen Schritt zu halten.
Schließlich begannen ihre Tränen zu fließen, so warm wie Großmutters Hände. Mufeng sah dem kleinen Elefanten nach, wie er Großmutter immer weiter fort trug, zu den rätselhaften schneebedeckten Bergen, irgendwohin an einen Ort, wo der weiße Schnee ins Dunkel der Nacht übergeht. Dabei zeichneten ihre Gestalten eine feuerrote Einbahnstraße über den Himmel.
Seltsam, eigentlich war der Sommer vorbei und es war schon merklich kühler. Aber auf einmal begann die goldene Kreditkarte in Mufengs Hand zu schmelzen. Sie klebte und duftete, denn sie war aus Zucker gemacht. Mufeng steckte ihre klebrigen Finger in den Mund. Aber noch bevor sie herausfinden konnte, wie sie schmeckten, erwachte sie aus ihrem Traum.
Die kleine Holztür ihres Zimmerchens war geschlossen. Die Lichter der Nacht schienen von draußen herein. Die Klimaanlage surrte. Mufeng stieß das Fenster auf. Draußen hatte es geregnet. Die feuchte Luft drang ins Schlafzimmer.
Der letzte Tag des Sommers war vorbei.
Einige Tage später entdeckte Mufeng ein Bild in Onkels Atelier. Darauf waren riesige rote Elefanten zu sehen, wie sie gerade über den Himmel hinter der großen Stadt wanderten. Die Farbe war noch nicht ganz trocken.
„Hast du sie auch gesehen?“ fragte Mufeng.
Onkel nahm den Pinsel von der Leinwand und hob den Kopf: „Du meinst die roten Sommerwolken?“
Nach dieser Frage sah Mufeng keine roten Elefanten mehr, sondern nur eine Reihe von großen roten Wolken, die sich am Himmel erhoben.
Als Mama Mufeng wieder abholte, steckte sie ihr eine weiße Blume ins Haar. Die Blume sah genauso aus wie das Windrad aus Sternjasmin, das Großmutter für sie gekauft hatte.
Dann begann wieder die Schule und Mufeng kam in die vierte Klasse, später in fünfte, und dann in die sechste. Irgendwann merkte sie, dass jener Antrag, den sie damals gestellt hatte, niemals angenommen worden war. Sie wuchs und wuchs. Hieß das etwa, dass Großmutter und Herr Kater nicht zurückkommen würden?
Vor dem Abitur erinnerte sich Mufeng daran, dass es da noch eine andere wichtige Sache gab. Sie hatte doch einmal eine „Zeit-Kreditkarte“ bekommen, und der große Elefant hatte zu ihr gesagt: „Merk dir, dass jede Minute, die du heute hier ausgibst, von deiner Zeit abgezogen wird, sobald du erwachsen bist.“ Falls ihre Zeit gerade während der Abschlussprüfung zu Ende wäre, dann wäre das schon ein unglaubliches Pech.
Zum Glück geschah nichts dergleichen.
Nach der Schule begann Mufeng zu arbeiten, aber sie war nie in Eile. Was sie zu erledigen hatte, tat sie in aller Ruhe. Denn sie wusste, egal wie sehr sie sich auch beeilen würde, es gab immer noch viel Zeit die „automatisch abgezogen“ wird.
Manchmal versank sie am Fotokopiergerät in ihre Gedanken, wenn das Licht unter der Scheibe hin und herwanderte. Dann erinnerte sie sich an die schneebedeckten Berge und an das alte hallende Lied. In jenen Augenblicken hatte sie das Gefühl, dass Großmutter ganz nahe bei ihr war. Im Handumdrehen war eine halbe Stunde vergangen. War es vielleicht genau das, was mit „automatisch abgezogen“ gemeint war?
Ihre Arbeitskollegen meinten es nur gut mit ihr, wenn sie ihr rieten, nicht so viel Zeit zu verplempern. Es war wohl das Beste, jede Minute in Geld oder Erfolg zu verwandeln. Sie hatten immer das Gefühl, dass Mufeng viel zu verschwenderisch umging mit ihrer Zeit. So konnte sie ewig einer Blume zulächeln oder stundenlang eine Wolke betrachten.
Dann dachte sie an jenes alte Lied und an die roten Elefanten, die nie mehr zurück kommen würden. Vielleicht genoss sie aber auch nur die Stille, oder den Duft der Früchte, oder die Blumen, die sich langsam öffneten, oder sie verlor sich in der einsamen Magie der Wolken … Sie sah den Dingen der Welt dabei zu, wie sie auf der Einbahnstraße der Elefanten dahin ziehen, und diesem Augenblick, der vergeht und nie zurück kommt.
An eine Szene am Ende jenes Sommers konnte sich Mufeng noch ganz klar erinnern. Soeben hatte ihr der große Elefant mit seinem Rüssel die goldene Kreditkarte überreicht. Voller Erwartung drehte Mufeng die Karte in ihren Händen. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleingedruckten Satz auf der Rückseite:
„Es lohnt sich immer, Zeit für die Zeit selbst zu verbrauchen.“
Sun Wei (1973), während den Zeiten der Kulturrevolution in China geboren, war vor ihrer Profession als Schriftstellerin Journalistin, Dokumentarfilmerin und Geschäftsführerin eines Betriebs. Sie veröffentlichte bereits 23 Bücher, die mit vielen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihr Roman „The Map of Time“ wurde 2017 in China ein Verkaufsschlager. Ihre Novellen „Farewell“, „Ignition“ und „Second Son“ wurden ins Englische, Französische, Spanische, Bulgarische übersetzt. Sun Wei sticht in die vielen psychologischen und sozialen Probleme der chinesischen Stadtbewohner. Ihre Arbeiten spiegeln Einsamkeit, Stolz und das Gefühl der Entfremdung wider.
Stoffe finden ist die einfachste Sache der Welt. Sie liegen überall herum. Sie lächeln einem aus der Zeitung entgegen. Sie flimmern über Bildschirme. Stoffe wollen gefunden werden. Ich habe keine Ahnung, weshalb sich das Märchen von den Stoffen, die sich in den hintersten und letzten Winkel verstecken, so hartnäckig hält.
Natürlich ist es immer der Schriftsteller, der den Stoff finden muss. Stoffe finden keine Schriftsteller. Das liegt daran, dass sich Schriftsteller in der Öffentlichkeit gerne unauffällig benehmen, durch die Strassen gehen, wie normale Menschen, einkaufen, was alle kaufen, lesen, was alle lesen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Stoff. Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sich so hübsch wie möglich zu präsentieren, damit ein vorbeigehender Schriftsteller auf Sie aufmerksam wird. Denn woher wollen Sie wissen, wer von den Vorbeigehenden ein Schriftsteller ist.
Stoffe finden ist kein Problem. Viel schwieriger ist der Umgang mit einem Stoff. Haben Sie einen Stoff für gut befunden und mit nach Hause genommen, bildet er sich schnell etwas darauf ein. Stoffe sind ganz schön eitel und alles andere als pflegeleicht. Der grösste Fehler, den Sie machen können, ist, dem Stoff alles zu geben, was er will. Gehen Sie von Anfang an intensiv auf den Stoff ein, verwandelt sich der gleiche Stoff, den sie eben noch in einem schmutzigen Hinterhof zwischen Abfalleimern gefunden haben, in ein grössenwahnsinniges Ungetüm, weil er sich für unersetzlich hält. Das Wesen des Stoffes neigt zum Grössenwahn. Das muss man leider sagen. Arbeiten Sie also nie mit nur einem Stoff. Nehmen Sie von verschiedenen Stoffen, so viel Sie brauchen, aber nie von einem einzigen so viel, dass Sie ohne ihn nicht mehr auskommen. Das spürt ein Stoff sofort. Und ist es erst so weit, macht er Ihnen die Arbeit zur Hölle. Er geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn. Er bestimmt Ihre Gedanken und Handlungen. Er führt Sie an Orte, wo Sie nie im Leben hin wollten.
Ein Schriftsteller darf die Kontrolle über seinen Stoff nicht verlieren, weil sich der Stoff ansonsten entfaltet, wie es ihm passt und nicht wie es der Schriftsteller vorgesehen hat. Und Stoffe sind keine guten Erzähler, das kann ich Ihnen versichern, dazu sie sind viel zu selbstsüchtig.
Mindestens ebenso wichtig, wie der richtige Umgang mit einem Stoff, ist es für den Schriftsteller, die richtigen Stoffe auszusuchen. Die Stoffe, die zu ihm passen. Was selbstverständlich und banal daherkommt, ist alles andere als eine einfache Angelegenheit. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts lässt sich ein exponential ansteigendes Stoffwachstum beobachten. Von Schriftstellerverbänden anfangs begrüsst, werden schon seit einigen Jahren kritische Stimmen laut, die sich gegen den unkontrollierten Stoffwachstum erheben. Die Stoffe haben im ständigen Konkurrenzkampf mit ihresgleichen inzwischen derart geschickte Strategien der Tarnung und Täuschung entwickelt, dass selbst gestandene Schriftsteller nicht davor gefeit sind, daneben zu greifen und einen oberflächlichen Stoff, der sich nur geschickt genug verkleidet, für einen Jahrhundertstoff zu halten. Gerade jungen Schriftstellern sei es deshalb ans Herz gelegt, sich nicht von vermeintlich grossen Stoffen blenden zu lassen, sondern sich kleine, feine Stoffe auszusuchen, mit denen sie umgehen können.
Lorenz Langenegger lebt und schreibt in Zürich und Wien. Davor einige Semester Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern. Mitglied der Autören. Verschiedene Arbeiten fürs Theater mit Uraufführungen in Zürich, Mannheim und Berlin. Bei Jung und Jung in Salzburg erscheint im Frühjahr 2009 der erste Roman «Hier im Regen». 2014 erschien «Bei 30 Grad im Schatten» und 2019 der Roman «Jahr ohne Winter.
Rotgoldene Streifen
über Hügelkuppen,
Seidenschal
im schwindenden Tag.
Sehr oben, sehr nah
die haarscharfe Sichel
des ganz geahnten Mondes.
Sie liegt im Himmel,
eine aufgeschnittene Porzellanschale
mit angedeuteter Eiskugel:
Mango!
Keine Zeit,
das Fallholz
des Winters
bleibt
unbeachtet
liegen.
Steig aus
brausenden Augenblicken
ein in stille Minuten.
Lass sie wachsen
zu Zeiträumen.
Räum Zeit auf,
schirm dich ab,
gib den Augen
Atem
Pause.
Alles log, o!
Neulich
im Blog:
Ana log digital.
Auch Mono log,
er betrog sich selber.
Kata log dagegen
wie gedruckt.
Nur das Dia log
vorbildlich.
Wen kümmert’s?
Ich kümmere mich um mich.
Du kümmerst dich um dich.
Er kümmert sich um sich.
Sie kümmert sich um sich.
Wir verkümmern.
Zu sagen
euch Ungeborenen
werde der Kirschbaum
auch noch blühen,
ist Hoffnung
oder Stimmungsmache.
Dasselbe
Singvögel pfeifen dasselbe
Lied vom Tannenzweig
wie von der Stromleitung.
Stellen nicht fest,
meinen nicht,
singen.
Nur Bühne
und Kulissen
ändern sich.
Kuno Roth würzt seine hintersinnigen, wohl dosierten Gedichte mit einer Prise Heiterkeit, einem Schuss Nachdenklichkeit und einem Körnchen Gesellschaftsskepsis. In seinen prägnanten Versen über Natur und Technik, Liebe und Verlust, Politik und Wirtschaft erweist er sich als versierter Stilist. Dieser Lyriker beherrscht die von ihm bevorzugte Form der Kurzgedichte. Mit Lakonie, Humor und Pointiertheit gelingt es ihm, selbst komplexe Lebensphänomene poetisch auf den Punkt zu bringen.»Klima Vista» heisst der neue Gedichtband von Kuno Roth, der im September 2020 beim Verlag Prolyrica.ch erscheinen wird. (Hier ein Blick in die Vorschau)
Kuno Roth, Jahrgang 1957, lebt in Bern und Solothurn. Der ehemals promovierte Chemiker ist heute als Humanökologe, Umweltbildner sowie Schriftsteller tätig und arbeitet als Mentoring-Verantwortlicher bei Greenpeace International. Er schreibt vornehmlich Gedichte und Aphorismen sowie Glossen und Kolumnen.
Ein Missgeschick – er hatte seinen Fotoapparat vergessen – bildete den Auftakt für ein einmaliges literarisches Experiment: Peter K. Wehrlis «Katalog von Allem: Vom Anfang bis zum Neubeginn» (Ammann, 2008). Über vier Jahrzehnte hat der Journalist seine Eindrücke von Reisen und alltäglichen Begebenheiten nicht mit der Kamera, sondern mit den Mitteln der Sprache festgehalten. So entstand eine Wahrnehmungsart, die Wehrli bis heute immer weiter praktizierte und perfektionierte.
Katalog der besonderen und der andern Dinge 29 Nummern aus dem „Katalog von Allem“
1. das Klima
der Grenzübertritt von Portugal nach China, der durch die triumphbogenpathetische „Porta do Cerco“in Macaoführt, dorthin wo wirklich alles anders ist, sogar das Klima, das die Grenzpolizisten verbreiten, so anders, dass ich mir eingestehen muss:„Mehr als hier hat sich mir noch nie mit einem einzigen Schritt verändert“.
2. das Gedicht
die Liebe zur Stadt Macao, die der Dichter Austin Coates dadurch zeigte, dass er oben an der Avenida da Amizade seinen Füllfederhalter mit dem Wasser des Perlflusses füllte, damit sein Gedicht schrieb und sich dann doch darüber wunderte, dass niemand – ausser ihm – erkennen konnte, wie gut dieses Gedicht über Macao war und wie sehr er Macao liebte.
3. das Vergessen
die Antwort, mit der Anton Bruhin, als er tat, was er erklärtermassen nicht tun wollte, sein Tun begründete: «Ich habe vergessen, es nicht zu tun».
4. der Greis
die Bestürzung, mit der Dagmar von ihrem Interview mit James Stewart zurückkam, und die deshalb anhielt, weil sie nicht den strahlenden Leinwandhelden gesprochen hatte, den wir alle vor unserem Auge haben, sondern einen gebrechlichen Alten, der nur, wo er sagte, was die Journalistin bereits über ihn wusste, zu erkennen zu geben vermochte, dass er James Stewart ist.
5. das Schlimmste
…wie er das Schlimmste und das Angenehmste beschreiben würde, das er sich vorstellen könne, diese Prüfungsfrage im Kurs „Kreatives Schreiben“, die Manfed sofort, als hätte er die Frage schon gekannt, mit dem Satz beantwortete, der in den Mitschülern Schauder und Beklemmung gleichzeitig auslöste: „Es krachte, als hätte der Mond die Sonne gerammt, und das Meer, die Meere schwappten über ihren Horizont“,
5a.und die eher verstört geflüsterte Nachfrage des Dozenten:“… und das Angenehmste ?“, auf die Manred nach sehr kurzer Besinnung brüsk entgegnete: „ … dass dies alles ein Traum gewesen ist“.
6. die Clowngesichter
die in Fetzen zerfledderten Clowngesichter auf den verwitterten Plakaten des ‘Circo Americano’, die mir klar machen, dass in der Schweiz die Anschläge von den Wänden entfernt werden sobald der Zirkus weitergezogen ist, dass sie in Brasilien aber erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgebleicht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat.
7. die Sympathie
die Sympathie, die ich für den Detektiv Marlowe empfinde, und dies allein deshalb, weil ihn Osvaldo Soriano im Roman «Traurig, einsam und endgültig»in einem Anflug von ergreifender Selbsterkenntnis sagen lässt: «Ich habe mein Leben lang gefragt und habe darüber vergessen, wie man antwortet».
8. die Zeit
die Feststellung, dass man von Germain Nouveau nicht etwa deshalb nicht mehr spricht und die Grossartigkeit des Monsu Desiderio nicht etwa deshalb vergessen worden ist, weil das, was die beiden taten, zwecklos gewesen wäre, sondern ganz einfach nur deshalb, weil die Zeit das grossmaschigste aller Siebe ist, – und offenbar nur selten jemand das Herstellen von feinmaschigeren für sinnvoll hält.
9. die Speisekarte
die Speisekarte im Restaurant „Ribouldingue“ (10, rue Saint Julien le Pauve, 75005 Paris), die mich irritiert, dann verstört und mich schliesslich anekelt weil da als Gerichte nur Innereien angepriesen werden: Nieren, Lebern, Milz, Hoden, Hirn, Lunge, Herz, Kutteln etc., und meine Vermutung, dass ich Pablo, der mich eingeladen hatte, nur dann werde vorspielen können, das bestellte Gericht schmecke mir, wenn diese Innereien auf dem Teller so angerichtet sind, dass nicht (und für niemanden )wahrzunehmen ist, dass es Innereien sind
10. die Vergangenheit
das Gewimmer in der Sitzreihe hinter mir bei der Vorführung von Charlie Chaplins Film «Circus» im Kino in Vevey im Mai 1969, dieses sirenenartige Heulen, das sich anhörte, als schalle es über weite Ebenen und frisch vernarbte Grenzen in diesen Tag hinein, und das mir wohl nur deshalb noch jetzt in den Ohren hallt, weil mir ein Blick nach hinten verraten hatte, dass es niemand anders war, als der greise Charles Chaplin, der da vor seinem jugendlichen Abbild auf der Leinwand weinte, jammerte angesichts einer Vergangenheit, die nur die Tränen jenes Menschen weckt, dessen Zukunft schon vorbei ist.
11. die Augenmerk
Ernsts Trauer über den Verlust des Schwenks, die noch grösser ist als jene über den Verzicht auf Zooms in Fernsehsendungen, das Bedauern also, dass diese Bildbewegungen nicht mehr ausgeführt werden dürfen, weil sie – da Schauen Zeit braucht und Sehen nicht – jene Sekunden kosten, die der Zuschauer im Zeitalter des Zappens braucht für seinen Entschluss, ein anderes Programm anzuwählen,
11a. und die erst beim Wiederlesen deutlich gewordene Einsicht, dass diese Eintragung durch eine Schärfenverlagerung viel verbindlicher werden könnte, dadurch nämlich, dass der Augenmerk im Titel von ‘der Schwenk’ auf ‘das Zeitalter’ verlegt würde.
12. die Folgen
die lakonische Trockenheit im Satz: «Nur Tote sterben nie», mit dem der greise Greta Garbo-Verehrer im ‹Esquinade‹ meine Frage beantwortet hatte, wie weit sich seine Art der Verehrung mit dem Tod der Schauspielerin gewandelt habe, und meine kurz nur aufflackernden Gedanken an die möglicherweise schauerlichen Folgen seines Nachsatzes: «Bei Filmstars spielt es keine Rolle, ob sie lebendig sind oder tot.»
13. der Kapitalismus
die beim Überdenken der Interviewspielregeln aufkommende Vermutung, dass Andy Warhol einerseits die zermürbende Wiederholung vermeiden und andererseits dem Interviewer etwas Verblüffung verschaffen wollte, als er damals, in der Galerie Bischofberger, Bices Frage: «Do you like Capitalism?» mit «Ja» beantwortete, und auf die von jemand anderem kurz darauf gestellte Frage: «Do you like Communism?» ebenfalls ein «Ja» ins Mikrophon hauchte und dann,auf die Ausschliesslichkeit der einen Antwort gegenüber der andern aufmerksam gemacht, sagte: «Oh, ich habe bereits vergessen, dass ich die vorherige Frage mit ‹Ja› beantwortet hatte!».
14. die Demokratie
die fundamentale Einsicht in die Formen des menschlichen Zusammenlebens, die Rara in ihrem radikalen Leitsatz verriet, dem ich –aller Radikalität zum Trotz – meine Zustimmung schenke: „Wer für die Privatisierung von Wasser. Strom, Luft, Verkehr plädiert, hat nicht begriffen, was Demokratie ist!“
15. der Kassenzettel
meine Verlegenheit, die sogar Beklemmung war und mich zu überprüfen zwang, ob ich denn schon so gebrechlich und vergreist aussehe, dass die junge Verkäuferin im Sainsbury Grund hatte, mich zu fragen: „Sie sind sicher über achtzig ?“
15a.und die Erlösung vom Schock, den mein ungenaues Zuhören verursacht hatte, als ich zuhause dann auf dem Kassenzettel unter dem Namen des erstandenen Rotweines ‚Corbières’ den Aufdruck fand: „Die Verkäuferin bestätigt, dass der Kunde über achtzehn Jahre alt ist“.
16. der Zerfall
meine Weigerung anzuerkennen, dass die kindlichen Gesten in der Altersdemenz Zeichen des Zerfalls seien, weil Eugens Gesten von jener frischen wachen Kindlichkeit sind, die verraten, dass sich da einer – mit List und endlich mit Erfolg – in seine Kindheit zurückgelebt hat,
16a. und meine eben überprüfte Feststellung, dass ich noch nie jemandem begegnet bin, von dem ich das Umgekehrte sagen könnte, nämlich: er habe sich – mit List und endlich mit Erfolg – in sein Alter vorgelebt.
17. der Roman
sein Temperament, sein Wissen, seine Vorlieben, seine Klugheit, seinen Witz und seine Neigungen, die der Schriftsteller in jeden Roman und in jede Erzählung einspeist, und dies derart rigoros, dass zu sagen ist: „Einen besseren Freund als den Autor, den er liest, kann ein Leser nicht haben“.
18. das Bemühen
das erkennbare Bemühen, es beiden – Frauen und Männern – recht zu machen, das der Präsident der ASASTP an der Generalversammlung erkennen liess, als er seine Eröffnungsrede mit dem Begrüssungswort begann: «Liebe Mitgliederinnen und Mitglieder»
18a.und mein Eingeständnis, dass mir die Unstimmigkeit erst aufgefallen war, als ein Versammlungsteilnehmer den Redner mit dem Zuruf unterbrach: «Max, jetzt hast du uns aber vergessen»,
18b. und mein Nachdenken, das mir eigentümlicherweise wie ein Nachrechnen vorkam und mir nach einer Weile klar machte, dass der Rufer recht hatte, weil nämlich die Wörter ‹Glied› und also auch ‹Mitglied› sächlichen Geschlechts sind,
18c. und mein Zögern, das mich jetzt – Wochen später – beim Eintragen dieser Wahrnehmung in den «Katalog von Allem» befällt, weil ich diese Nummer 18 mit ‹das Bemühen‹ überschreibe, wo ich ebenso gut und ebenso genau ‹die Vergeblichkeit des Bemühens› hätte schreiben können.
19. der Irrtum
die schönen blauen Augen des greisen Hans Coray, welche die Journalistin der Zeitschrift «Schöner Wohnen» in ihrem Artikel über den Designer beschrieb, diese Augen, die ein Irrtum sind, der sich nicht durch eine Richtigstellung im Blatt beseitigen lässt, ein Irrtum, auf den mich Rara, Corays Gattin, aufmerksam macht, als sie sagt: «Er hat gar keine blauen Augen, er schaut nur wie jemand, der schöne blaue Augen hat».
20. die Kunst
der verängstigte Blick in den Spiegel mit der fragenden Ahnung, um wieviel gealtert mich mein Spiegelbild wohl zeigen würde, wenn der Spiegel tatsächlich vorginge,
20a. und mein Lächeln beim Eingeständnis, dass ich mir diese verwegene Frage sicher nie stellen würde, wenn mich Franz Kafkas Feststellung nicht so beeindruckt hätte, die Kunst sei ein Spiegel, der vorgeht wie eine Uhr.
21. das Casting
der im herrlich entspannten Zustand vor dem Einschlafen praktizierte Versuch, auszuwählen, wem ich eine Rolle im Traum dieser Nacht zuteilen wolle,
21a.und die am Morgen beim Erwachen notwendige Feststellung, dass dieses Casting überraschenderweise perfekt funktioniert hat, – und zwar nicht aus esotherischen oder gar magischen Gründen, sondern nur deshalb, weil ich bei der Rollenbesetzung vor dem Schlaf an Susanne Wille und an Ady Berber gedacht hatte.
22. die Buschenschenke
der Empfang durch Peter Rosei und Christa in Radkersburg heute abend und das Beisammensitzen in der Buschenschenke (ein Wort, dessen Bedeutung ich – obschon sie mir erklärt worden ist – vergessen habe), die so intensiv waren, dass ich morgen früh wieder abreisen könnte im – andernorts sich erst nach längerem Aufenthalt einstellenden – schönen Gefühl, wirklich dort gewesen zu sein.
23. das Erstaunen
der alterslos alerte Kurt Guggenheim, als der er während den Dreharbeiten vor der Kamera stand, und der zum Greis gealterte, den ich nun im Filmbild vor mir sehe,
23a.und das von diesen unterschiedlichen Alterszuständen ein und desselben Augenblicks ausgelöste Erstaunen, dass mir meine möglicherweise havarierte Erinnerung einen andern, einen verjüngten Kurt Guggenheim zeigt; – der Sechsundachtzigjährige, der er ist, ist er nur im Film.
24. die Bedingung
das Glück, das du erstellen musst, wenn du glücklich werden willst, und die Bedingung dazu, die ist, dass du erst dann glücklich werden kannst, wenn du herausgefunden hast, was dich glücklich macht
25. der Glast
dieses jahrelang nicht mehr gebrauchte und deshalb fast schon vergessene Wort «Glast», an das mich das von Mittagshitze gesättigte Bild aus «High – Noon» erinnert, dieses Wort, das, obschon es das heisse Trockene signalisiert, mir jetzt doch die Tropen in den Körper und vor die Augen jagt, eine Vorstellung, die abzuwenden mir nicht gelingt; – sie bleibt.
26. der Federhalter
was ich fand, ohne es zu suchen: den Federhalter, mit dem ich vor 61 Jahren als Siebenjähriger bei Lehrer Redmann im Schulhaus Leimbach schreiben zu lernen begann, – nur seine Farbe Grün war in meiner Erinnerung längst erloschen,
26a.und was mich erstaunt, ist: nicht etwa der Fund und sein Nostalgiewert, sondern die Tatsache, dass er dort war, wo ich ihn vor sechs Jahrzehnten hingelegt hatte (in die rote Kartonschachtel) und dass er da war, obwohl ich ihn längst vergessen hatte und deshalb nicht verloren geglaubt haben konnte.
27. die Mühe
das blendend pralle Sonnenlicht über dem Eingang zum Friedhof der Freuden in Lissabon, dieses heisse Licht, durch das der alte Mann an Stöcken so zäh und gekrümmt vorwärtsschritt, als schleppe er nur mit Mühe seinen schwarzen Schatten am Boden hinter sich her.
28. die Poesie
das Entsetzen, das mich peinigt ob der heftig steigenden Zahl der Dinge, die ich bereits vergessen habe, und der Trost, dass ich wenigstens alle jene Dinge nicht vergessen kann, die mir Poesie geworden sind.
29. der Satz
der Satz, den mir nur die deutsche Sprache zu sagen erlaubt, und dem nichts und gar nichts mehr beigefügt werden muss, gar nichts mehr beigefügt werden kann, weil er der Satz von Allem ist: „Wenn der Anfang endlich zu Ende ist, kann der Schluss beginnen“:
Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999). Eine stark erweiterte und neu organisierte Ausgabe erschien 2008 unter dem Titel «Katalog von Allem: Vom Anfang bis zum Neubeginn» im Ammann Verlag, Zürich.