Regina Dürig ist die erste Weinfelder Buchpreisträgerin!

Regina Dürig ist mit ihrer Novelle «Federn lassen» erste Trägerin der Weinfelder Buchpreises. Der von der BuchhändlerinKatharina Alder  initiierte Weinfelder Buchbuchpreis wurde erstmals übergeben. Der Preis ehrt die Qualitäten eines besonderen Buches und zugleich das Engagement einer leidenschaftlichen Bücherfreundin!

Hier veröffentlicht literaturblatt.ch die fünf Texte der Jury zu den Büchern, die nominiert waren.

Zum Siegerbuch von Regina Dürig «Federn lassen», Droschl:
Schwarz-weiss gestreift wie eine Vogelfeder, dazu noch lang und schmal, kommt dieses Buch daher. Es irritiert auf den ersten Blick, wenn es in der Hand liegt. Ein besonderes Format für ein Buch. Und auch die ersten Wörter sind ungewöhnlich. Verrissene Sätze und Absätze hindern den Lesefluss. Doch das stockende Lesen stört keineswegs das Verständnis der Geschichte. Es ist gewollt und gekonnt. Der Verzicht auf jegliche Interpunktion und die individuelle Interpretierbarkeit von Enjambements verleihen den Textabschnitten unzählige Varianten des Verstehens. Auf der Buchvorderseite steht Novelle, doch die Zeilen hören sich eher nach lyrischer Prosa an. Die Stimme hinter den Sätzen wurde nie erhört. Durch das Niederschreiben bricht wird ein Tabu gebrochen, das unerhörte Ereignis in doppeltem Sinn. Die Kategorie Novelle könnte also nicht treffender sein.

Die Geschichten handeln vom Alltäglichen. Ein namenloses Du erzählt rückblickend von Schweigen, Scham, Stille und Starre. Von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter werden wir Zeuge von Grenzüberschreitungen und Übergriffen, von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt.
Die Erzählerin schildert ihr Überhörtwerden bei der Arbeit, wie sie ihre Freunde bei kleinen Dingen nicht ernstnehmen. Aber auch, dass sie körperliche Nähe erfährt, die sie so nicht möchte und nicht einfordert. Es sind Dinge, die einer Frau tagtäglich passieren. Mit dieser Novelle ist Regina Dürig eine eindrückliche Gesellschaftskritik geglückt.

Und dann ist da noch diese Angst. Sie ist universal, sie ist allgegenwärtig und bestimmend. Diese Angst, dass es immer noch schlimmer kommt. Die Beschreibungen davon sind bedrückend und deprimierend. Die Federn werden fliegen gelassen – gerupft und nackt steht die Erzählerin da und hat uns ihr Innerstes offenbart.

Regina Dürig ist mit «Federn lassen» eine mutige und feministische Novelle gelungen, die aufrüttelt und an der innersten Sicherheit kratzt. Schonungslos und ungeschönt kommen sie Sätze daher. Sie verheimlichen nichts und gewinnen durch ihre Mehrdeutigkeit eine grosse Wucht.

Regina Dürig wurde 1982 in Mannheim geboren und lebt in Biel. Sie ist Autorin, Performerin und Dozentin für Literarisches Schreiben und hat Miniaturen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Kinderbücher, Jugendromane und unsichere Übertragungen veröffentlicht. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern

Judith Keller «Oder?», Der gesunde Menschenversand
Judith Kellers Oder? ist kurzweilig. Das liegt einerseits an den vielen Seiten, die nur mit ein paar wenigen Sätzen bedruckt sind und andererseits am flüchtigen Plot. Die Rahmenerzählung um zwei Schwestern, die ihren eigenen Autor finden wollen, weil sie sich „schlecht erzählt“ fühlen, bleibt so vage wie das Abtauchen ins mythologische Griechenland oder die Zusammenhänge der einzelnen Episoden. Ein bisschen veräppelt fühlt man sich da bei der Lektüre schon. Und gerade das ist immer wieder sehr unterhaltsam. So beispielsweise, wenn Keller sich im Roman etliche Male selbst zitiert – aus Werken, die in Zukunft erscheinen werden. Oder wenn es immer wieder um die nie stattgefundene Entführung von Roger Federer geht. Veräppelt werden nicht nur die Lesenden. Der Text macht sich über den gesamten Literaturbetrieb lustig und ist am Ende – genau so, wie es auf der ersten Seite steht – „überhaupt kein Roman“: Dieser Text ist das Ringen mit dem Roman, den es nicht gibt. Was man da in den Händen hält, ist nicht einmal ein Manuskript. Es ist eine Sammlung von Miniaturen und Notizen zu einem Roman, den Keller vielleicht einmal schreiben wird. Und darauf kann man hoffen, denn das Potenzial dieses Textes geht weit über den Schalk hinaus.

Judith Keller, 1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Seraina Kobler «Regenschatten», Kommode
In ihrem Debütroman inszeniert Seraina Kobler ein Zürich der nahen Zukunft. Geprägt von Dürren, steigendem Meeresspiegel und Waldbränden schafft Kobler die Atmosphäre einer nahen Dystopie. Und inmitten dieser kaputten Welt entsteht neues Leben: Der Roman verdichtet das Geschehen auf einen einzigen Tag im November, an dem Anna ohne jegliche Hilfe ein Kind zur Welt bringen wird. In einer Rückblende erzählt sie von sich und David, dem Baby, dass sie erwarten und dem Problem, dass nicht David, sondern ein guter Freund der Vater ist. Vom Verlassenwerden und der Frage, ob sie das Kind behalten oder abtreiben soll. Zugleich berichtet die Ich-Erzählerin von einem Feuersturm, der am Zürichberg wütet und die Stadt in Panik versetzt. Kobler verschränkt gekonnt die Geschichte einer Frau und ihrer Schwangerschaft mit der einer Klimakatastrophe. Die Geburtsszene bestimmt die Dramaturgie des Romans und über viele Seiten gelingt es Kobler die unterschiedlichen Ebenen und Motive stimmig miteinander zu verknüpfen. Erst gegen Ende franst das Nebeneinander von Persönlichem und Allgemeinem aus und die Erzählfäden sind nur noch lose bis gar nicht miteinander verknüpft und der Schluss wirkt abrupt. Dennoch gelingt es Kobler übers Ganze eine Atmosphäre zu kreieren, die überzeugt.

Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin, arbeitete sie als Redakteurin bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen, bevor sie sich mit einem eigenen Schreibatelier in der Zürcher Altstadt selbstständig gemacht hat. Sie ist Mutter von vier Kindern. «Regenschatten» ist ihr erster Roman. Ihr literarisches Schaffen wurde von verschiedenen Stiftungen, sowie dem Bundesamt für Kultur unterstützt.

Anaïs Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», mikrotext
Anaïs Meiers erste Kurzgeschichtensammlung mit dem Namen «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» ist ein buntes Sammelsurium. Gerade so gut könnte dieses Buch «Über Hindelbank, Verhütung und insbesondere Essiggurken», oder «Über Bünzli-Ferien, Crazy Ellipsen und insbesondere Emmentaler Schildkröten» heissen. Nichtsdestotrotz ist der erste Titel treffend. Über Berge geht es im ersten Text und von Menschen handeln fast alle von Meiers Geschichten. Genauer gesagt von Menschen aus der Schweiz. Auf sie richtet Meier einen Blick, der in seiner Unaffektiertheit und vermeintlichen Arglosigkeit nur umso härter mitten in die ‘Conditio Svizzera’ trifft. Schweizerische Kleingeistigkeiten, Essgewohnheiten und sonstige Entgleisungen werden aufs genaueste analysiert und entlarvt, zwar immer wieder aufgelockert mit absurden Einfällen und zielgenauem Humor, aber das Lachen bleibt einem allzu oft im Hals stecken (wie eine zu grosse Essiggurke). Meier ist eine abgeklärte Erzählerin und wache Beobachterin der Schweiz, die trotzdem nie Allwissenheit über ihr Sujet vorzutäuschen braucht. Und was hat es mit den ebenfalls titelgebenden Bergschnecken auf sich? Diese Antwort bleibt Anaïs Meier den Lesenden schuldig. Sie scheinen mysteriöse und unergründliche Wesen zu sein – genauso wie wir Schweizerinnen und Schweizer.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne “Aus dem Réduit” in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erscheint der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman “Mit einem Fuss draussen” bei Voland & Quist.

X Schneeberger «Neon Pink & Blue», Verlag Die Brotsuppe
«Wer erzählt, hat überlebt», schreibt Schneeberger. Tatsächlich scheint das gesamte Buch im Bewusstsein dieser makabren Realität entstanden zu sein. Alles muss erzählt werden, und das so schnell wie möglich. In gedrängten Sätzen und dem rastlosen Stil der indirekten Rede zeichnet Schneeberger das flackernde Portrait einer prekär lebenden Hauptfigur. Deren Fluidität zeigt sich hinsichtlich ihrer eigenen Identität, ihres Namens, ihrer Sexualität und sozialen Existenz. Schneeberger schildert Auseinandersetzungen mit dem Staat ebenso wie Auseinandersetzungen mit diversen Liebhaber:innen, Erfahrungen von sexueller und körperlicher Gewalt, Abhängigkeiten, Todesangst, aber auch Rausch, Parties, Lust, Ekstase. In den weniger düsteren Passagen ist «Neon Pink & Blue» schrill, humoristisch, schelmenhaft. Genauso vielschichtig wie die Biografie und Psychologie der Hauptfigur sind die wilden musikalischen und literarischen Referenzen, die sich kreuz und que(e)r durch den Text ziehen. X Schneeberger ist damit ein beeindruckendes Portrait gelungen und eine Geschichte, die gleichsam unglaublich und allzu glaubwürdig erscheint.

X Schneeberger, Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue».

Begleitbild © Christoph Heer 

Anaïs Meier «Zwiebel», Plattform Gegenzauber

Zwiebeln sind etwas Gutes. Man findet sie in fast jeder Küche der Welt und gleichzeitig gibt es auf der Welt auch sehr viele Zwiebeln, eine Win-win-Situation ist das. Gekocht schmecken sie süss, gebraten saftig und roh pikant. Ein wirklich erstaunliches Gemüse. Das Zwiebelschälen mögen viele trotzdem nicht. Es gibt sehr viele schlechte Metaphern darüber, die man gar nicht zitieren möchte. Es gibt allgemein viele Metaphern zur Zwiebel, was zeigt, wie wichtig sie für die Menschen ist. Die Zwiebel ist auch wichtig für die Tiere. Nachts singen zum Beispiel die Bauernhoftiere Lieder über die Zwiebel, das ist etwas, was nur ganz wenige wissen. Denn die gekochte Zwiebel gibt der Speise Würze und auch Süsse und sie passt zu jedem Gemüse. Und zu jedem Fleisch, ein Fakt, über den die Bauernhoftiere nachts mit Schrecken singen.

Menschen haben auch schon über die Zwiebel gesungen, aber das kam oft nicht gut heraus. «Ich habe eine Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner» von Tim Toupet ist ein Beispiel. Und das ist eines der wenigen Probleme, die die Zwiebel hat: Sie hat keine Zwiebelgottheit. Denn wenn die Zwiebel eine Zwiebelgottheit hätte, würde sie jeden Menschen, der zu diesem Lied tanzt, auf einen Dönerspiess spiessen und im Fladenbrot verkaufen. Mit viel Rotkraut. Auch das Rotkraut ist ein wunderbares Gewächs. Es sieht super aus und schmeckt trotzdem gut. Wie die Zwiebel ist es, was die Witterung anbelangt, sehr genügsam und im Geschmack rezent bis zum Abwinken. Was so ein Rotkraut und so eine Zwiebel einander wohl alles zu erzählen hätten. Traurig sind sie ob all diesem mediterranen Gemüse, welches man ihnen hierzulande vorzieht. Gemüse ohne Konsistenz, Gemüse, das zu achtzig Prozent aus Wasser besteht und schlapp in den Regalen hiesiger Lebensmittelläden vor sich hin fault.
Welche Freude ist da zum Beispiel der Anblick eines wackeren Knollenselleries! Der daneben ganzjährig vor Kraft strotzt und geduldig auf den unteren Regalen auf uns wartet! Auch der Knollensellerie ist ein wunderbar bekömmliches Gemüse, am besten natürlich mit der Zwiebel genossen. Was der Zwiebel nebst einer Gottheit fehlt, ist eine gute Lobby, zum Beispiel in der Regierung. Die Zwiebel-LobbyistInnen hätten hinter den Säulen des Säulengangs des Bundeshauses, dort, wo die ZigarettenlobbyistInnen mit ihren Bauchladen voller Gratiszigaretten und -feuerzeugen warten, die PharmalobbyistInnen mit ihren gratis Modafinil, Ritalin, Temesta und Xanax und die WaffenlobbyistInnen mit ihren … Wir wollen es gar nicht wissen. Also eben dort sollten die Zwiebel-LobbyistInnen kleine Küchen betreiben, dank derer sie sofort tolle Zwiebelgerichte darbieten könnten: Zwiebelsuppe, Zwiebelkuchen, gefüllte Zwiebeln, Zwiebelringe oder Zwiebel-Pakora. Die Zwiebel-LobbyistInnen müssten gar nichts dazu sagen, die Zwiebeln würden sich selbst genügend bewerben. Da sich die Zwiebel selbst aber nicht gern in den Vordergrund drängt, gibt es leider nur wenige Speisen, die primär auf ihr basieren. Vielmehr verhilft sie allen anderen Speisen zur wirklichen Bekömmlichkeit. Ganz anders als arrogantes Gemüse wie etwa die Spargel, der Kürbis oder die dominante Tomate. Die Zwiebel ist ein schüchternes, zurückhaltendes Gemüt, welches deshalb ständig unterschätzt oder, ganz schlimm, vergessen geht: Die Zwiebel!! Die doch Dreh- und Angelpunkt jedes Gerichtes ist, wird viel zu oft vergessen.

Anäis Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», Mikrotext, 2020, 96 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-948631-01-7

Anaïs Meier, 1984 in Bern geboren, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne «Aus dem Réduit» in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erschien der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman «Mit einem Fuss draussen» bei Voland & Quist.

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