Annette Mingels «Nymphe», Plattform Gegenzauber

Sie kam zu spät, die anderen hatten schon mit dem Essen begonnen. Es war nur noch ein Platz frei, zwischen einem Mann und einer Frau. Wenn die Frau lächelte, wirkte es, als würde sie eine Übung durchführen, deren Ablauf sie beherrschte, an deren Sinn sie aber zweifelte. Der Mann war zierlich mit strähnig blondem Kinderhaar und schnurgeradem Scheitel. Auf dem Tisch standen große Schüsseln mit Miesmuscheln, jemand füllte ihren Teller, ein anderer ihr Glas. „Entschuldigung“, sagte sie nochmals, aber außer dem Mann neben ihr schien es niemand zu hören. Er sagte, „angenommen“, und hob sein Weinglas. „Pavel.“ „Mona“, sagte sie. Dann tranken sie.

Es ging um Politik, den Flüchtlingsstrom, der sich durch Mexiko zog, eine Wanderung von zweitausend Menschen. Viertausend, korrigierte einer. Und da kommen noch mehr, versprach ein anderer.
„Da war diese Mutter“, erzählte die Frau, die Mona schräg gegenüber saß. Ein beeindruckender Afro über einem ebenmäßigen Gesicht, irgendwie kostbar, dachte Mona, wie eine dieser kunstvoll geschnitzten Holzmasken. „An einem Seil kletterte sie von der Brücke auf ein Floß, um den Grenzfluss zu überqueren. Und ihr hinterher ihre Kinder, ganz fassungslos vor Angst.“ „Habe ich auch gesehen“, warf jemand vom anderen Tischende ein. „Und dann das Interview mit ihr!“
„Ja“, sagte die Frau. „Als der Reporter zu ihr sagt: Trump schickt Militär an die Grenzen, und sie nur entgegnet: Gott hat das letzte Wort, nicht Trump.“ „Zu flüchten, ist so unvernünftig. Aber zu bleiben auch“, sagte ein Mann mit grauen, millimeterkurzen Haaren. Er trug eine dickrandige Brille, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen war. Ein asketisches Gesicht, schmaler Clark Gable Schnurrbart. Bestimmt Künstler, tippte Mona, vielleicht bekannt. Oder verkannt. Auf jeden Fall der Älteste hier. Sie zählte lautlos die Anwesenden, mit Felix, dem Gastgeber, waren sie dreizehn. Die dreizehnte Fee, dachte sie. Die zu spät kam. Wütend, weil für sie kein goldener Teller mehr da war.
„Das ist es, was Trump nicht kapiert“, fuhr der Künstler fort. „Dass seine Härte gegen die Verzweiflung nichts ausrichten wird.“
„Ist das ein Krieg?“, fragte die Frau neben Mona. „Eine Invasion?“
„Da hat wohl jemand zu viel Fox News gesehen“, sagte Pavel verächtlich. Muscheln durchreichen. Die Weinflasche. Das Klirren der leeren Muschelschalen, als sie zurück in die Schüssel geschoben wurden. Die Teller behalten, das Besteck auch, die Spülmaschine streikt, ihr versteht?, zustimmendes Nicken, dann erhoben sich zwei, nahmen die Schüsseln mit, gingen mit Felix in die Küche, Mona hörte sie lachen.
„Pavel“, sagte sie. „Ist das tschechisch?“
„Korrekt“, sagte Pavel. „Der Kleine. Das passt doch.“
„Mona… Vielleicht von Mönch abgeleitet?“
„Und? Passt das? Lebst du mönchisch?“
„Ach je.“ Mona lachte. „Kommt vor.“
„Selbst schuld.“ Pavel klang plötzlich gelangweilt. „Du lebst nur einmal, kleine Nonne. Denk dran.“
Der nächste Gang. Kalbsfilet durchreichen. Die Schüssel mit Kartoffeln, klein und rund und gelb. Erbsen. Bohnen. Ein Sonntagsessen. Das Gespräch war inzwischen zur Kunst gewechselt. Eine Ausstellung in der Bronx. Die Kunstsammlung von König Charles dem Ersten. Tizian, Holbein, Tintoretto, you name it. An der Wand der Lebenslauf des Königs, mit 49 hingerichtet, und davor neun Kinder, von denen nur eines älter als 35 wurde.
„Wenn du in den ersten Raum kommst, ist es wie in einem Albtraum: all die weißen Männer mit ihren Halskrausen und strengen Blicken, die dich anstarren.“ Die Frau neben Mona verzog angewidert das Gesicht.
„Starrst nicht viel eher du sie an?“, fragte ein Mann, den Mona bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie musste sich vorbeugen, um ihn zu sehen: Vollbart, braune, etwas zu eng stehende Augen, nicht viel älter als sie, achtundzwanzig vielleicht, der oberste Knopf des weißen Hemdes geschlossen, was ihm etwas Verklemmtes gab.
„Das eine schließt das andere nicht aus“, sagte die Frau. Mona schätzte sie auf Ende dreißig. Sie hatte etwas Kindliches an sich, stupsnasig im Profil. Sie stocherte in den Erbsen herum, stach dann und wann ein paar auf, ihre Stimme klang fast trotzig.
Kim Jong-Un. Der Islam. Natürlich sei der Koran nicht gewalttätiger als die Bibel. Du sprichst vom Alten Testament? Weil beim Neuen sieht das dann doch etwas anders aus. Okay, aber wer war nicht alles Christ. Truman, Reagan, Bush, Trump. Oha. Jemand erzählte von einem neuen Gesellschaftsspiel, das natürlich nicht neu war, sondern genau wie Wahrheit oder Pflicht. Das hatte Mona schon mit ihren Freundinnen gespielt. Also: Was ist für dich persönlich Erfolg? Spaß am Beruf. Die Liebe. Taxifahren in Manhattan. Wie bescheiden! Eine eigene Wohnung. Die Privatschule für die Kinder. Das war der Mann mit den grauen Haaren gewesen, offenbar der einzige mit Kindern, da niemand darauf reagierte. Das charakterlich Mieseste, was du in letzter Zeit gemacht hast. Meine Mutter ausgeladen. Einen Kollegen gemobbt – aber hey, er hatte es verdient, glaubt mir. Wählt niemand die Pflicht? Was ist die denn? Alles außer Telefonscherze! Küsse eine der anwesenden Personen. Partner ausgenommen. „Ich überleg’s mir noch“, sagte der bärtige Mann.
„Und du, was hast du Schlimmes getrieben?“, fragte Pavel leise.
Mona trank einen Schluck Wein. „Eine Freundin belogen“, sagte sie dann. „Und was ist daran schlimm?“, fragte Pavel ungläubig. „Ich lüge jeden Tag.“ Er wechselte die Tonlage, leutseliger Gesichtsausdruck: „Aber nein, Liebling, natürlich bin ich dir treu, wo denkst du hin? Meinst du etwa, dass ich in deiner Wohnung, deinem Bett…? Wie kannst du nur!“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum muss er auch dauernd verreisen, n’est pas?“
„Bist du Schauspieler?“, fragte Mona. Sie merkte, wie sie innerlich ein Stück von ihm abrückte.
„Nein.“ Er sah sie prüfend an. „Bin ich nicht.“
Apple, Facebook, Tesla. Die Nerds sind Milliardäre geworden, und die großartige Idee vom guten Konsum verpufft. Wäre ja auch zu schön gewesen, so einfach sich und gleich noch der Welt was Gutes zu tun, indem man in einen neuen Laptop investiert oder ein Bild von seinem Lunch hochlädt. Und ist euch aufgefallen, dass wir alle gleich eingerichtet sind? Sogar dann, wenn wir die Sachen vom Flohmarkt holen, damit sie schön abgeschabt aussehen. In einer Ecke steht immer auch ein Eames Chair rum. Vielleicht müsste man aufhören zu konsumieren – hinaus ins Freie, ins abgeschiedene Leben, die Glückseligkeit an frischer Luft. Hat eigentlich jemand dieses Interview mit Sean Penn gesehen? Egal, was er gesagt hat, egal was er tut: alle reden nur über seine Raucherei und dass er auf Ambiant war. Als ob er der Einzige wäre! Als ob wir uns nicht alle aufputschen und runterholen müssten. Wer hat in der letzten Woche alles Drogen konsumiert?
„Okay“, sagte der Bärtige. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, jemanden zu küssen.“
Alle lachten, keiner hob die Hand, auch Mona nicht. Und der Bärtige blieb sitzen und küsste niemanden. Alles fake, dachte Mona.
„Und du bist Deutsche?“, fragte Pavel.
„Hört man das?“
„Nein. Oder vielleicht doch: ja. Aber Felix hatte dich angekündigt: seine deutsche Freundin.“ Pavel lächelte spöttisch und lieb.
„Eigentlich bin ich Amerikanerin.“ Das war immer ihr Ass im Ärmel: Eigentlich bin ich Amerikanerin. Auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nur dem unwahrscheinlichen Umstand zu verdanken hatte, dass ihre Eltern ein Jahr in Houston gelebt hatten, wo ihr Vater als Ingenieur beim amerikanischen Ableger des bayrischen Mutterkonzerns arbeitete und ihre Mutter, von der texanischen Sonne belebt, unerwarteter Weise doch noch einmal schwanger geworden war. Sodass nicht ihre Tochter, die zwecks Abitur in Deutschland geblieben war, sondern sie nach ihrer Rückkehr mit einem Baby dastand. Immerhin gab es Mona jetzt die Gelegenheit, in Amerika zu studieren und sich hier wie alle anderen Studenten bis zum Hals zu verschulden.
Das erzählte sie Pavel. Nicht aber, dass sie sich immer nach Amerika gesehnt habe. Dass sie sich nie ganz heimisch gefühlt hatte in Deutschland. Das war zu albern, fast so sehr wie dieses dämliche Gesellschaftsspiel.
„Und“, sagte Pavel. „Gefällt es dir hier?“
Er hatte jetzt nichts Spöttisches mehr an sich. Schien ganz zugewandt, nur an ihr interessiert.
„Vieles“, sagte sie, „gefällt mir. Die Atmosphäre, die Uni, die anderen Studenten. Anderes verunsichert mich: ich habe den Eindruck, als könnte ich jeden Moment versagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mitten in einem Strudel und ganz allein.“
„Das kenne ich“, sagte Pavel und Mona lächelte ihn dankbar an. Er sah nachdenklich auf seine Hände, dann sagte er: „Drogen. Mir helfen da immer Drogen.“
„Welche?“
„Ecstasy, Speed, Koks, je nachdem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sex.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Sei nicht schockiert, kleine Nonne.“
„Keine Sorge“, erwiderte Mona. „Bin ich nicht.“
Sie nahm seinen und ihren Teller, stellte sie aufeinander, dazu die Schüssel mit den restlichen Kartoffeln und trug sie in die Küche. Der bärtige Mann stand vor dem Fenster, drehte sich kurz nach ihr um und winkte sie dann zu sich heran.
„Schau mal“, sagte er leise und nickte mit dem Kinn zum Fenster. Eine Amsel saß direkt davor auf der Fensterbank, im Schnabel einen Wurm, ihr zuckender Kopf mit dem runden schwarzen Auge.
„Ein Männchen“, flüsterte er. „Erkenn ich am gelben Schnabel.“ Die Amsel flog weg, und er sagte: „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennen lernen.“
Mona wandte ihm ihr Gesicht zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Finde ich auch.“
„Wollen wir das Abspülen übernehmen?“
„Wie romantisch.“ Mona lachte leise.
„Oh, unterschätz das nicht. Die Hände im warmen Wasser, das Reiben und Polieren. Und vielleicht kommt die Amsel noch mal zu uns, vom Spülbecken aus könnten wir sie sehen. Übrigens mag ich dein Kleid, dieses schillernde Grün, du siehst darin aus wie eine Nymphe.“
„Ich bin eine“, sagte Mona. „Geboren aus Schaum, einer Muschel entstiegen.“
Er nickte. „Jetzt, wo du’s sagst.“

Er hieß Alex. Er kam aus Michigan und studierte Medizin an der Columbia. Mit dem Schwamm rieb er die Teller sauber, dann hielt er jeden unter warmes fließendes Wasser, bevor er ihn ihr gab. Schmale lange Hände, fast wie die einer Frau, sie stellte sich vor, wie er ein Skalpell hielt, wie er Körper öffnete, wie er darin herumbastelte, geschickt und sicher und unbeeindruckt.
„Nein“, sagte er. „Ich will kein Chirurg werden.“
„Sondern?“
„Frauenarzt.“
„Wie schrecklich“, sagte sie. „Diese Entzauberung, meine ich.“
„Eigentlich nicht.“ Er hielt mit dem Spülen inne und sah sie an. „Der Zauber bleibt.“
„Dann ist ja gut.“
Sie nahm den Stapel mit Tellern. „Wohin damit?“
„Kinder, Kinder, Kinder!“, rief Felix, der in die Küche kam. „Ihr seid hier doch nicht zum Arbeiten. Raus mit euch, gleich gibt’s den Nachtisch.“ Er holte eine große Glasschale mit Vanillecreme aus dem Kühlschrank.
„Nein“, sagte er streng, als Mona die Schale mitnehmen wollte. „Da müssen noch Verzierungen drauf. Kirschen, Krümel, der ganze Kram, du weißt schon. Raus jetzt mit dir.“
„Schon gut“, sagte Mona. „Ich geh ja schon.“
Im Bad sah sie sich im Spiegel an. Nur wenn sie lächelte, war sie schön. Ansonsten sah sie mürrisch aus. Auf ihrem Kleid Wassertropfen in gerader Linie, wie eine Markierung. Bevor sie die Tür öffnete, wusste sie, dass Alex davor stehen würde.
„Er will mir nicht seinen Platz überlassen“, sagte er. „Ich habe ihm fünfzig Dollar geboten, aber er weigert sich.“
„Hast du nicht ernsthaft“, sagte Mona. Sie hatte Lust, ihn zu küssen. „Doch.“ Alex nickte. „War das zu wenig?“
„Wahrscheinlich“, sagte sie und ging zu ihrem Platz.

Also, sagte Pavel, jetzt da sie sich in der Küche amüsiert und ihn hier allein gelassen habe, müsse er ihr offenbaren, dass sie etwas versäumt habe, einen Streit nämlich, und wofür, wenn nicht dafür, gehe man schließlich zu einem Abendessen. Der Streit sei entbrannt zwischen zwei Frauen. Er deutete unauffällig auf die Frau mit dem Afro und auf eine zierliche Blonde, die am anderen Ende des Tisches saß und von einem bulligen Glatzkopf fast verdeckt wurde. Sie war die Einzige, die wie eine Geschäftsfrau aussah: Bluse, Blazer, Goldkette, der akkurat geschnittene Pagenkopf. Sie sah klug aus, fand Mona, und so, als wisse sie das auch.
„Es ging um Emanzipation“, sagte Pavel. „Um sexuelle Belästigung, gleiche Bezahlung, Frauenquote – nichts Neues unter der Sonne. Das Witzige war, dass sie eigentlich einer Meinung waren und sich dann doch anfeindeten. Oh je“, unterbrach er sich. „Da kommt dein Verehrer.“
Alex hatte eine Schale in der Hand und einen Löffel. Er sagte, „ich setz mich dazu, falls das okay ist“, und Pavel sagte: „Nur zu, wackerer Kämpe, du lässt dich ja eh nicht abhalten.“
Alex holte einen Stuhl und setzte sich so neben Mona und Pavel, dass sie einen Halbkreis bildeten.
„Es ging gerade um den Streit, den ihr verpasst habt“, sagte Pavel. „Zwei Frauen, die sich wegen MeToo und all dem Scheiß anfeindeten, ganz wunderbar.“
„Warum Scheiß?“, fragte Mona.
Pavel sah sie abschätzig an. „Weil’s Scheiß ist, darum. Wir steuern auf prüde Zeiten zu, das kann ich dir verraten, meine Liebe.“
„Das sagt dir deine lange Lebenserfahrung, nicht wahr?“
Mona war auf einmal wütend, es überraschte sie beinahe selbst. Bis eben hatte sie Pavels Blasiertheit noch unterhaltsam gefunden. Wie alt war er überhaupt? Fünfunddreißig, vierzig?
„Da hast du wohl recht.“ Pavel ignorierte ihre Wut. „Und ich für meinen Teil muss sagen: wenn mich Kevin Spacey betatscht hätte, hätte ich mich nicht wirklich aufgeregt.“
„Aber darum geht’s doch gar nicht“, sagte Mona. „Ob es dir persönlich gefallen hätte oder nicht. Sondern ob du dich hättest wehren können, wenn du in einer abhängigen Position gewesen wärst.“
„Hör mal, Süße. Das ist doch ein Nehmen und Geben. Ich meine, schau dir doch die Frauen mal an, Titten und Ärsche, wohin man sieht, und das alles nur, weil sie sich Vorteile damit verschaffen wollen. Aber dann dieses ‚nur gucken, nicht anfassen‘, eiteitei, die Unschuld vom Lande plötzlich! Dabei ist das doch ein Tauschgeschäft, von alters her und so bekannt wie der Katechismus.“
„Und damit ist jede Belästigung, sogar wenn es dann eine Vergewaltigung wird, in Ordnung?“ Mona sah fassungslos von Pavel zu Alex. Alex aß seine Vanillecreme, ohne den Blick zu heben.
„Ach, Vergewaltigung.“ Pavel schnaubte spöttisch. „Wer da nicht alles vergewaltigt worden sein will.“ Mit hoher Stimme sagte er: „Also ich bin da nur so mit ins Hotelzimmer und hab mir nix dabei gedacht und plötzlich liegt der auf mir. – Merkst du nicht, was das für ein Mist ist?“
„Dann gibt’s für dich also gar keine Vergewaltigung?“
Mona sah hilfesuchend zu Alex, der ihren Blick erwiderte und kurz eine Grimasse komischer Ratlosigkeit schnitt.
„Doch“, sagte Pavel. „Klar, im Park, von irgend einem Triebtäter. Aber der Begriff wird einfach inflationär gebraucht.“
„Nein“, sagte Mona. „Nein, nein, nein.“ Sie merkte selbst, dass ihre Stimme mit jedem Nein lauter geworden war. Für einen Moment schien ihr, als verstummten die Gespräche um sie herum. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie ganz auf Pavel konzentriert war, und auf das, was sie sagen wollte. Pavel sah sie abwartend an, sie amüsierte ihn offensichtlich.
„Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Sie bemühte sich geduldig zu klingen – geduldig und herablassend. „Sie liegt dann vor, wenn Sex an jemandem vollzogen wird, ohne dass der- oder diejenige das will.“
„Und woher weiß man immer so genau, was der andere will?“, fragte Pavel. „Jetzt stell dich nicht dumm.“
„Wenn also beide den Sex wollen, ist er okay?“ Pavel legte die Stirn in Falten und stützte sein Kinn in die Hand. Er schien sich überwinden zu müssen, um die nächste Frage zu stellen, aber etwas in seiner Stimme – diese Naivität vielleicht: zugewandt und unschuldig -, verriet Mona, dass das ganz und gar nicht so war. „Wenn es also so ist, wie es in meinem Fall war: dass jemand mit acht Jahren das erste Mal Sex hat, mit einem Vierzigjährigen, und das ganz einfach, weil beide es gerne wollen, dann ist das okay, nicht wahr?“
„Nein“, sagte Mona.
Sie fühlte eine Kälte, die sich plötzlich in ihr ausbreitete, eine dumpfe Trostlosigkeit.
„Nein“, wiederholte sie. „Das ist nicht okay.“
„Und warum nicht?“
„Weil das Kind“, sie sprach jetzt leise, „also du, ausgenutzt wurde: weil dein Bedürfnis nach Liebe oder Zuneigung oder was auch immer sexuell ausgenutzt wurde.“
Pavel schob sein Gesicht nah an ihres und sah sie forschend an. Sie hielt seinem Blick stand, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Pavel. „Mehr nicht als diese Küchen-Psychologie? Und was, wenn ich dir verriete, dass ich derjenige war, der ihn bedrängte? Ganz einfach, weil ich geil auf ihn war?“
Jetzt nicht weinen, dachte Mona, und dann dachte sie, dass das lächerlich war: dass sie hier saß und um diesen Pavel – um das Kind, das er gewesen war, und vielleicht auch um ihn, wie er heute war, so freundlich und grausam und falsch – trauerte. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz sich zusammenzog bei dem Gedanken daran, wie dieses Kind sich anbiederte und benutzt wurde.
„Ist ja gut“, sagte sie leise. Sie stand auf. „Du hast gewonnen.“

Sie hatte ihre Jacke vergessen, darum fror sie nun in ihrem dünnen grünen Kleid. Dem Meerjungfrauenkleid. Egal, sie würde morgen bei Felix anrufen und sich entschuldigen, dass sie einfach so gegangen war. Und irgendwann in den nächsten Wochen würde sie ihre Jacke holen gehen. Dann fiel ihr ein, dass es Duncans Jacke war, und dass sich in der Innentasche die silberne Pillendose befand, die er ihr vorsorglich überlassen hatte, bis die Prüfungen vorbei waren. „Mist“, fluchte sie, „Mist, Mist, Mist.“ Wenn sie jetzt wieder zurückging und ihre Jacke holte, würde das mehr Aufsehen erregen als ihr eiliger Aufbruch von vorhin. Und Pavel würde sie lächelnd beobachten, voll mitleidiger Verwunderung. Einen Block vor Felix’ Haus kam ihr Alex entgegen, ihre Jacke über seinem Arm.
„So bekam ich wenigstens deine Adresse raus.“ Er hielt ihr die Jacke hin und sie zog sie an und tastete nach der Pillendose.
„Okay“, sagte sie. Sie war immer noch wütend auf Alex, weil er sie nicht unterstützt hatte. Aber sie war auch froh, dass sie nicht zurück in Felix’ Wohnung musste. „Danke.“

Am Morgen strich Alex mit seinen langen, schmalen Fingern über ihre Hüfte und ihr Bein, und es nervte sie nicht: sie ließ sich weiter streicheln und küssen und drehte sich irgendwann zu ihm um. Ihr Schlafzimmer war ein Chaos, nicht nur seine und ihre Kleider lagen auf dem Boden, auch zwei Weinflaschen standen da, die sie mit Duncan geleert hatte, und eine Baseballkappe lag auf dem Stuhl, von der sie nicht mehr wusste, wem sie gehörte.
Es war alles etwas viel im Moment, aber es war auch schön: wenn, wie jetzt, die Sonne durch das Fenster fiel und Streifen von Staub in die Luft zauberte, die so breit und massiv aussahen, als könnte man sich auf sie setzen und geradewegs in den Himmel über New York reiten. Natürlich würde man fallen. Aber für einige Momente wäre es wunderbar. Man brauchte nur Mut.

2019

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Dieses entsetzliche Glück» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Was alles war» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anneke Novak

John Burnside „Ashland & Vine“, Knaus

Ich hörte John Burnside an der BuchBasel 2017 im vergangenen November zum ersten Mal. John Burnside ist ein schottischer Bär. Ein Mann, dessen Leben sich in sein Gesicht und in seine Stimme grub. Ein Mann, dem man alles zutraut, auch den Mut, seine Geschichte irgendwo in den USA anzusiedeln, mit Themen, die die Staaten schon mehr als ein Jahrhundert umtreiben; traumatische Kriege, Rassenhass und Bürgerrechtsbewegungen, Selbstjustiz, Drogen und Gewalt.

Jean lebt zurückgezogen in einem viel zu gross gewordenen Haus mit Zimmern, die sie längst nicht mehr bewohnt, in denen Geschichten, Erinnerungen eingeschlossen sind. Sie ist alt geworden, hackt Holz vor ihrem Haus, nicht nur, um Brennholz für den Winter zu bekommen. Ihr Leben ist am Ende. Was sie lebendig bleiben lässt, ist das stille Erinnern im Takt der Axt.

Kate ist jung, meist von Alkohol zugedröhnt oder masslos verkatert. Sie lebt bei Lauritz, einem Dokumentarfilmer, der sie in lichten Stunden durch die Aussenbezirke der Stadt schickt auf der Jagd nach Geschichten. Bis sie, obwohl die Adresse nicht auf Lauritz Liste steht, in Jeans Garten steht und die beiden Frauen ins Gespräch kommen. Jean macht Kate ein Angebot. Bleibt diese von nun an trocken, trinkt keinen Alkohol mehr, erzählt Jean ihr ihre Geschichte, ihre Geschichten. Und als wäre dies der Moment gewesen, den Kate brauchte, um von der Sauferei loszukommen, aufzuwachen, bleibt sie wirklich trocken. So trocken, dass es sogar Lauritz merkt, dass mit seiner sonst so willigen Mitbewohnerin etwas passiert.

«Wenn Menschen Geschichten erzählen, lügen sie, was die Ereignisse betrifft, aber nicht über die anderen Dinge, da lügen sie nicht – zumindest nicht absichtlich.»

Dabei zeigt es sich, dass beide, die alte Jean und die junge Kate, eine Geschichte loszuwerden haben. Beide verloren ihren Vater, Kate durch den Alkohol und Jean durch einen ungesühnten Mord an der Kreuzung «Ashland and Vine». Beide Frauen schleppen Geschichten mit sich herum, von denen sie sich nur distanzieren können, wenn sie erzählt sind, geteilt. Erst erzählt, ergeben Geschichten einen Sinn. Beide tragen Geheimnisse mit sich herum, deren Last sie niederdrückt, verunmöglichen, ein befreites Leben zu führen. Beide sind nicht nur verwundet, sondern jede auf ihre Art allein gelassen, zurückgelassen. Beide von ihren Liebsten, die ihnen am meisten bedeuteten, verlassen.

Jean wartet auf den Tod. Dass Kate in ihrem Garten erschien, war wie ein Zeichen und eine letzte Chance, vielleicht doch noch mit den Gespenstern aus ihrer Vergangenheit Frieden zu schliessen. Mit den «Mächtigen», die hinter dem Mord an ihrem Vater nie ihr Gesicht zeigen mussten, mit ihrem Bruder Jeremy, der damals auf Seiten der Alliierten in den Krieg zog, um für sein Vaterland zu kämpfen und als Gebrochener und an der Seele Verstümmelter aus diesem Krieg zurückkehrte, mit dem Verschwinden der beiden Kinder ihres Bruders, Simon und Jennifer, beide in den Wirren des Kalten Krieges, Simon als Deserteur in Vietnam und Jennifer im bewaffneten Untergrund, abgetaucht. Und mit Lee! Lee war nicht nur Jeans Geschäftspartnerin, sondern ihre grosse Liebe, die aber einen Geck heiratete und mit der Hochzeit für immer verschwand.

John Burnside erzählt ganz behutsam aus dem Leben zweier ganz unterschiedlicher Frauen, einer jungen, die die Liebe bisher nicht finden konnte und einer alten, die sie endgültig verloren glaubt. John Burnside ist ein grosser Erzähler. Einer, der in grossen Bögen erzählt, Personen bis in ihre Feinheiten lebendig macht, der Gefühlswelten plastisch formt, einem das Personal in seinem Buch zu Freunden macht. Trotz der 400 Seiten ist «Ashland & Vine» leicht zu lesen. Burnside fesselt bis ganz zum Schluss mit der Preisgabe von Geheimnissen und lässt genauso viel verschlüsselt, um die Geschichte glaubhaft bleiben zu lassen.

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis.

Annette Mingels «Was alles war», Knaus

Susa weiss seit ihrer Kindheit, dass sie adoptiert wurde. Ein Problem wurde daraus nie, höchstens eine abenteuerliche Vorstellung darüber, was dies alles bedeuten könnte. Bis ein Brief von ihrer leiblichen Mutter eintrifft, sie werde da sein, ob es ihr passe. Mit einem Mal öffnet sich für Susa eine Tür, von der sie nicht weiss, was sich dahinter verbirgt.

Susa ist Wissenschafterin, beobachtet das Leben unter der Erde, Würmer. Sie lernt Henryk kennen mit seinen zwei Töchtern Rena und Paula. Rena und Paula haben ihre Mutter durch Krebs verloren. Während sich Susa langsam in Henryks Familie begibt und nicht nur von ihm Liebe geschenkt bekommt, trifft sie zum ersten Mal ihre leibliche Mutter Viola. Susa erfährt, dass sie eine Halbschwester und zwei Halbbrüder hat, sogar einen leiblichen Vater, der noch leben dürfte, seinen Namen und von einem Brief, ein altes Stück Papier, damals ein Versuch jenes Mannes, Violas Liebe zurückzugewinnen. Aber Susa hat ihre Familie; einen Vater, eine Mutter und eine Schwester. Eine Familie, in der sie sich ein Leben lang geborgen und aufgehoben, verstanden und geliebt wusste. Nichts müsste dazukommen, schon gar nicht ersetzt werden.

Was alles war von Annette Mingels

Susa spürt den Sog dieser einen offenen Tür, die Lust nachzusehen, was diese Tür verbirgt, was Susa gewinnen könnte. Zum einen Antworten auf viele Fragen, die sich jedes adopierte Kind auch als Erwachsener stellt. Zum andern, weil es Familie ist. Familie, dieses komplexe Etwas, das einem genauso auffangen wie an den Abgrund drängen kann. Annette Mingels lotet aus, was Familie ist, was sie ausmacht. Die Autorin zeigt, was Familie auslösen und anrichten kann. Wie viel Sehnsucht in diesem Gefüge steckt, selbst dann, wenn man sich in seinem «Zuhause» aufgehoben fühlt. Die Situation spitzt sich zu, als Susa, nun mit Henryk (und seinen beiden Töchtern) verheiratet, ein Kind bekommt. Als zur angeheirateten und einer Familie «hinter der Tür» eine eigene Familie dazukommt. All diese Familien, miteinander verzahnt, beginnen untereinander zu wirken. Susa kämpft sich durch diesen verwirrenden Alltag, der durch ihre egozentrische, leibliche Mutter, nicht leichter wird. Schon gar nicht, als ihr Stiefvater, jener Mann, der für sie immer ganz Vater war, zu sterben beginnt.

In einem Interview erzählte Annette Mingels, dass vieles von «Was alles war» aus ihrem eigenen Leben stammt. So der Umstand, dass auch sie ganz jung adoptiert wurde und dass sie mit diesem Buch ihre Familienerfahrungen und den Tod des Stiefvaters mit hineinnimmt. Das spüre ich in dem Roman, der an der Nähe zu den Protagonisten fast zu zerschellen droht. Der Roman nimmt ungeheuer viel mit. Einzelne Handlungsstränge, die im Roman nur «Nebenschauplätze» sind, hätten genügt, um Stoff für einen Roman selbst zu sein. So ist es auch die Geschichte von Susa und Henryk. Beide berufstätig, jeder darum bemüht, sich nicht aufzugeben. «Was alles war» ist auch ein «Entdeckerroman». Susa macht sich auf in ein unbekanntes Land, z. B. zu ihrem Bruder Samuel, den sie trifft und zu dem sie sich, obwohl sie ihn nicht kennt, geschwisterlich hingezogen fühlt. Eine Reise, die sie letztlich bis nach Amerika führt.

Ein Buch über Annäherung und Konfrontation. Annäherung an neue Konstellationen, an fremdes Leben, mit dem man sich trotzdem unerklärlich verbunden fühlt. Annäherung an sich selbst und diesen unstillbaren Hunger nach Familie. Konfrontation mit einer unbekannten Mutter, einem bunten Vogel, einer unbekannten Familie, ihrer Vergangenheit und möglichen Zukunft. Konfrontation mit neuem Leben und mit dem Tod – und letztlich mit sich selbst. Ob man (be)stehen bleibt oder ob all der Realitäten einbricht.

Annette Mingels macht es mir nicht leicht. Ihr Schreiben ist weit weg vom chronologischen Protokollieren einer Fahrt ins Unbekannte, auch wenn ein Teil des Buches wie ein Tagebuch geschrieben ist. Annette Mingels belohnt mich mit Tiefe, Witz und Humor.

Annette Mingels liest aus ihrem Roman «Was alles war» am 22. September im Bodman-Haus, dem kleinen, feinen Literaturhaus in Gottlieben am Seerhein, unweit von Konstanz. Ich bin gespannt, ob sich auch männliche Leser trauen. Familie ist keine Frauensache!

Geboren 1971 in Köln. Studium der Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Von 1997 bis 2009 lebte Annette Mingels in der Schweiz, danach für zwei Jahre in Montclair (USA). Seit 2011 lebt sie mit ihrem Mann und den drei Kindern in Hamburg.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

 

Margaret Atwood «Hexensaat», Knaus

Margaret Atwood, fasziniert und ergriffen von William Shakespeares Stück «Der Sturm» (The Tempest) schrieb mit «Hexensaat» einen wuchtigen und gleichzeitig verspielten Roman. Ich spüre die Freude, die Lust der Autorin, mit dem Inhalt, den Bildern des Dramas zu spielen. Dabei setzt sie den Inhalt des 1611 fertig gestellten Theaters nicht einfach in eine Gegenwart. Sie spielt mit dem Text, spielt mit Ebenen und zuweilen auch mit den ihr ausgelieferten Protagonisten.

Felix ist dort, wo er sein will. König in seinem Reich, Theaterdirektor des Makeshiweg-Festivals. Ein Ziel, für das er einen hohen Preis zu zahlen hatte. Zuerst verliess ihn seine Frau nach nicht einmal einem Jahr Ehe in Folge einer aggressiven Infektion. Und dann verlor er Miranda. Seine einzige Tochter starb mit drei Jahren an einer Meningitis. Und ausgerechnet seine Weggefährten, darunter sein Geschäftspartner Tony, der damals noch mit vielen Tränen am Grab seiner Tochter stand, katapultiert ihn von seinem Theaterthron. Felix, untröstlich, bis aufs Mark zerfressen von Wut, Zorn und Enttäuschung verbannt sich selbst «auf eine Insel». Er taucht ab in eine heruntergekommene Hütte, in der er sich in seinem Schmerz suhlt und nur langsam, versteckt hinter einem buschigen Bart und einem neuen Namen neuen Tritt gewinnt. Eine shakespearsche Intrige zwingt Felix auf «eine Insel», ihn allein mit seinen Erinnerungen an seine geisterhaft tote Tochter Miranda. «Seht her, ich leide!» Schnell wird deutlich, dass da auf einer zweiten Ebene das Drama des auf eine Insel geflüchteten Fürsten Prospero und seiner Tochter Miranda nacherzählt wird. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem selbst gewählten Exil bietet sich Felix eine Stelle an einer Justizvollzugsanstalt an. Schweren Jungs soll mit einem Bildung-durch-Literatur-Programm eine Möglichkeit mehr zur Resozialisierung geboten werden. Unter seiner Maske, von nun an Mr Duke genannt, studiert Felix mit der illustren Truppe Theaterstücke ein, die er nicht direkt vor Publikum aufführen lässt, sondern in einem multimedialen Projekt umsetzt. Bis in ihm der Plan reif genug ist, um sich mit dem Drama «Der Sturm» an seinen intriganten, ehemaligen Mitstreitern zu rächen.
«Hexensaat» ist aber mehr als der Roman einer Rache, eines Mannes, der sich an der Sehnsucht nach Vergeltung hoch hangelt. Margaret Atwoods Roman ist derart kunstvoll gestrickt und verwoben, dass ich den Eindruck bekomme, die Autorin hätte die Ideen zur Umsetzung ebenso lange mit sich herumgetragen wie Felix seinen akribischen Plan zur Rückkehr auf seinen Thron. Margaret Atwood erzählt Prosperos Rückkehr auf den Thron gleich auf mehreren Ebenen, auf der einen offensichtlich, auf den anderen versteckt, verborgen, bis zum grossen Finale wartend. Felix nennt sich im Gefängnis in seiner Arbeit mit den Häftlingen Mr Duke (Herzog). Dabei scheint alles auf die Inszenierung dieses einen Stückes «Der Sturm» hinzuweisen, ein Stück, das erst zur Umsetzung kommt, nachdem Felix sich in seiner neuen Umgebung, der Justizvollzugsanstalt, ganz sicher fühlt.
Ich nehme nicht nur teil am Absturz und der langsamen Rückkehr des Gedemütigten und Vergessenen. Ich nehme teil an einer grossen Inszenierung in einem Gefängnis, so wie Prospero auf der Insel. Margaret Atwood nimmt die Schar Häftlinge mit, macht sie zur Truppe, die Welttheater macht. Und dabei entwirft und erzählt sie so kunstvoll, so virtuos, dass die kanadische Meisterin aus dem sonst schon filigranen Stoff tektonische Platten aufeinander prallen lässt. Im Klappentext des bei Knaus erschienen Romans steht: «Der Sturm» ist eigentlich ein frühes Multimedia-Stück. Ich bin sicher: Würde der Barde heute leben, so würde er alle Special Effects nutzen, welche die Technologie inzwischen zu bieten hat. Ausserdem war das Stück für mich besonders verlockend, weil Shakespeare hier so viele Fragen einfach offen lässt. Was für ein – anstrengendes! – Vergnügen es doch war, sich damit auseinanderzusetzen.
Eine geniale Inszenierung des Dramas in meinem Kopf! Dämonen werden heraufbeschworen, um den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Unser Dasein ein mehrschichtiges und vielkammeriges Gefängnis, aus dem es auszubrechen heisst. Jedem seinen Plan, der irgendwann seine Blüten tragen soll.

Nichts an diesem Buch ist altbacken, spröde oder weltfremd. Margaret Atwood transformiert William Shakespeares Stoff gleich vielfach, ohne ihn unnötig aufzublasen. Grosse Literatur einer grossen Schriftstellerin. Ich verneige mich tief.

Margaret Atwood, geboren 1939, ist unbestritten eine der wichtigsten Autorinnen Nordamerikas. Ihre Werke liegen in über 20 Sprachen übersetzt vor und wurden national wie international vielfach ausgezeichnet. Neben Romanen verfaßt sie auch Essays, Kurzgeschichten und Lyrik. Margaret Atwood lebt in Toronto. «Hexensaat» wurde übersetzt von Brigitte Heinrich.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen: «Die steinerne Matratze»