Heinrich Steinfest «Die Büglerin», Piper

Was bestimmt die Wendungen eines Lebens? Gibt es eine zweite Chance? Wann werden Bindungen zu Fesseln? Heinrich Steinfels hat einen berührenden und faszinierenden Roman geschrieben, in dem er sich ohne philosophischen Exkurse mit grossen Fragen beschäftigt. „Die Büglerin“ ist die Geschichte einer Frau, die sich die Konsequenz zur Strafe erklärt, die einen einzigen Satz zu ihrem Leben macht.

Tonia bestraft sich mit dem Leben, das sie führt. Sie ist Büglerin. Ihr Beruf aber ist nicht die Folge einer Notwendigkeit oder weil es keine Alternativen gab. Sie will nicht nur die Kleidungsstücke fremder Menschen glätten, sondern hofft, durch ihr Tun irgendwann jenes undurchsichtige Geschehen zu glätten, dass sie wie einen Alp mit sich trägt. Die Frau von edler, fast nonnenhafter Erscheinung, die im Souterrain wohnt, alle Verbindungen zu ihrem alten Leben mehrfach kappte, still für sich in fremden Haushalten bügelt und sich davor hütet, Menschen zu nahe zu kommen, kam weit weg, mitten auf dem Meer, irgendwo vor der Chilenischen Küste zur Welt, in der Kajüte der Yacht ihrer Eltern, zweier Wissenschaftler, die durch Zufall und Glück zu Geld gekommen waren, viel Geld.

Tonia war ein Kind des Meeres, bis zum ersten grossen Bruch in ihrem Leben. Nachdem sie acht Jahre in einem italienischen Internat in Genua die Schule besuchen musste, erreicht sie mit vierzehn die Nachricht, dass ihre Eltern bei einem Sturm ihr Leben verloren. Eine Mitteilung, bei der nur sie weiss, wie sehr der Alkoholkonsum ihrer Eltern eine Rolle gespielt haben muss.

Tonia wird Meeresbiologin, lebt in einer grossen Villa in Wien zusammen mit ihrer Halbschwester, von der sie erst erfährt, als es um das Erbe ihrer Eltern geht und passt auf auf ihre Nichte Emilie, für die weder Schwager noch Halbschwester Zeit aufbringen wollen.

So klein die Welt auf einem Schiff, so begrenzt in einem Internat, so konzentriert die Wissenschaft auf einen Stoff, so klein ist Tonias Umfeld, trotz der Weite des Meeres und des Himmels, der Unendlichkeit in der Beschäftigung mit Meeresbiologie und der Grazie ihrer Erscheinung.

Bis der zweite, noch viel grössere Bruch in ihrem Leben alles verändert, das feinmaschige Gravitationsfeld ihres Lebens vollständig zerstört und sie sich selbst zum Verschwinden bringt. Sie taucht nach Hamburg ab, wirft allen Besitz „weg“ und beginnt ihre Strafe als Büglerin ohne Bedürfnisse, ein Leben lang dafür aussitzend, im richtigen Moment nicht das Richtige getan zu haben, in der Hoffnung, irgendwann jene Rätsel zu lösen, die ihr die Erklärung dafür geben, was damals passierte.

Obwohl Heinrich Steinfels ein preisgekrönter Krimiautor ist, ist „Die Büglerin“ kein Krimi, trotz der fatalen Schüsse in einem Kino, wo auf der Leinwand Tom Cruise die Welt als Ethan Hunt rettet. Heinrich Steinfels zeichnet das Leben einer Frau, das aus den Fugen gerät, die auf die Hoffnung setzt, irgendwann wenn auch nicht das Gleichgewicht wiederzufinden, so doch zumindest ihre auf sich genommene Schuld begleichen kann.

Heinrich Steinfels erzählt witzig und vielschichtig, episch und kurzweilig, rasant und detailversessen. Er zeichnet seine Figuren fast akribisch, weil er nicht ihr Aussehen, sondern ihre Wirkung beschreibt, ihr Tun und Handeln, ihre Leidenschaften und verborgensten Geheimnisse. „Die Büglerin“ ist ein Roman, der mich eintauchen lässt und packt. Kein Wunder wurde Heinrich Steinfels schon mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert!

© Burkhard Riegels

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit «Ein dickes Fell»; 2014 stand er mit «Der Allesforscher» auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für «Das Leben und Sterben der Flugzeuge».

Beitragsbild © Sandra Kottonau