25 Jahre Bodmanhaus – Literaturhaus Thurgau

Aus dem Worthaus

Das Literaturhaus Thurgau feiert seinen 25. Geburtstag. Ich gratuliere der Stiftung, dem Haus und allen, die aktiv zum Gelingen des Lebens in diesem Haus beitragen von ganzem Herzen

Dreieinhalb Jahre hatte ich die Ehre und Freude, das Programm des Literaturhauses Thurgau zu kuratieren. In dieser Zeit und lange darüber hinaus wurde dieses Haus zu meinem Herzensort. Dass es nicht nur mir so geht, beweisen die vielen Gästbucheinträge in mein digitales Gästebuch auf literaturblatt.ch:

«Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn in Island und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt» November 2020

Eva Maria Leuenberger und Pamela Mendez

«Danke für die guten Tage im Literaturhaus und das schöne Experiment, danke für deine Offenheit und den Mut, uns einfach mal machen zu lassen! Mit herzlichsten Grüssen, Eva Maria Leuenberger» November 2020

«Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor*innen und lebendiger Zuhörer*innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean, und es war mir eine Freude, gestern Abend auf dieser Insel weilen zu dürfen. Joachim Zelter» Dezember 2020

«Schon der Ort, viel beschrieben, zeigte sich an diesem Septemberdonnerstag von seiner zauberhaften Seite: ein mildes Spätsommerlicht über den Dächern, über dem Wasser, über den Wellen, flockig flatterndes Laub – und die Verzauberung drang durch die offenen Fenster in den Raum unterm Dach, mit dem Duft von Meer und Weite, mit Sonne, die auf die Gesichter sich legte. Wieder Lesung vor Menschen; Gesichter, wenn auch noch unter Masken, die ein Mienenspiel verrieten, ein Nicken, ein unter der Maske scheues Lachen, ein Augenspiel, Blicke, zustimmende Gesten, gehaltene Augenblicke, «gestundete» Zeit – Lesezeit. Ein Wunder nach der Pandemieisolation. Urs Faes» September 2021

Thomas Kunst

«So viele Schwäne wie auf dem Untersee am Bodensee sah ich wohl in meinem ganzen Leben in Deutschland nicht zusammen. Bei siebenhundertzwölf hörte ich auf zu zählen, aber auch, weil das Auto sich an seine Geschwindigkeit hielt, herzlichen Dank für alles. Es war ein Fest bei euch! Thomas Kunst» Januar 2022

«Du hast uns zusammengeführt, am Sommersee und im alte Worthaus. Der Abend hat mich gewärmt, die Worte, die verschiedenen Wortklänge haben mich gewärmt, und auch die langen Gespräche über Worte und zwischen den Worten. Ich habe den hellen Abend mitgenommen, vom See und vom Haus mit mir genommen, und einen Namen für unsere Verbindung auf der Wortbühne gefunden: Wahlverwandtschaften. Peter Weibel» Juli 2022

«Die erste Lesung zum ersten Roman vergisst man wohl nie. Umso schöner ist es, dass meine Erinnerungen daran ein wunderbares Bild ergeben, gestaltet durch die herzliche Gastfreundschaft des Literaturhauses Thurgau, durch die Zimmer aus altem Holz, Holz, das tausend Geschichten erzählt, durch die spannenden Gespräche mit Gallus, durch den Spaziergang am graublauen Rhein, die Seeluft, durch mein allererstes, so freundliches Publikum, den Apéro mit Wein, Zopf, Lachen und Gesprächen. Anja Schmitter» Oktober 2022

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür! Lukas Bärfuss» Februar 2023

Ana Marwan

«Die Anreise per Boot und Zug nach Gottlieben und der wild blühende Baum vor dem Zimmer im Literaturhaus waren ein Anfang, dem der Rest im gleichen Takt folgte. Es war eine wunderbare Lesereise, meine erste in die Schweiz. Danke! Ana Marwan» März 2023

«Nach zehnstündiger Anreise aus Berlin waren die Stunden in Gottlieben wie eine lange Umarmung. Nadja Küchenmeister» Mai 2023

«Es ist, als käme man nach langer Zeit zu Hause an, wenn man die alten knarrenden Stiegen dieses Riegelhauses hinaufsteigt, und zuoberst vom Giebel her hinausblicken kann auf diese uralte Gletscherlandschaft, dieses Gewässer, das nach 4000 Jahren einen Einbaum freigegeben hat, dieses Weltkulturerbe, den Gnadensee. Tabea Steiner» Juli 2023

Jan Wagner

«Noch sitze ich auf dem prachtvollen Holzbalkon des Gästezimmers mitten zwischen den Baumkronen, auf dem ich gestern Nacht, rauchte ich noch, stundenlang hätte rauchen mögen, und trinke einen Kaffee, ergänzt durch ein ofenwarmes Gipfeli aus dem hübschen Laden nebenan. Dauerhaft Wärme spendete allerdings Eure Gastfreundschaft, der herzliche Empfang, der von Euch gestaltete und rundum beglückende Abend; ein bißchen von diesem Wärme- und Wohlgefühl hoffe ich gen Norden, nach Berlin retten zu können. Jan Wagner» September 2023

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Alice Grünfelder» Dezember 2023

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude. Urs Faes» Dezember 2023

Illustrationen © Lea Le / Literaturhaus Thurgau

Über Empathie – für Peter Bichsel, von Peter Weibel

Ich weiss nicht, ob Peter Bichsel den bösen Satz von Elon Musk noch gehört hat, Europa wird an seiner Empathie noch zugrunde gehen – wahrscheinlich hat er ihn nicht mehr gehört oder auch nicht mehr hören wollen. Der Satz ist eine Breitseite aus der Liga der kalten Dinosaurier, der alles so radikal herunterreissen will, wofür Peter Bichsel eingestanden ist, dass er vor meinem inneren Auge nochmals von der Himmelspforte heruntersteigt und tun muss, was er immer getan hat: Dagegen-halten. Aber wir müssen ihn ruhen lassen, er hat sich mit seinem Dagegenhalten genug verausgabt, wir müssen nur seine wunderbaren Bücher wieder lesen, um zu wissen, was er dazu sagen würde. Man kann irgendeine Buchseite aufschlagen, oder eine einzelne Kolumne abrufen, eine von hunderten – es gibt keine einzige Seite ohne Empathie hinter seinen Worten. Ohne seine staunende und hartnäckige Liebe zum Menschen, auch zum queren Menschen an den Rändern, zu allem Menschlichen. Anneli war eine einfache Frau, und eine bescheidene, die überall, wo sie war, das Gefühl hatte, sie sei zu viel, sie stehe im Wege, heisst es in Peter Bichsels berühmter Meditation zu einer Mozartmesse.
Jede Geschichte ist ein Gegenentwurf zur Aussenschicht der Welt, eine Gegen-Erzählung eines staunenden Beobachters (er hat sich immer geweigert, das Staunen des Kindes zu verlieren). Wer nicht an weltliche Utopien glauben kann und will, der glaubt an gar nichts.

Ich bin mir sicher, Peter Bichsel würde den Satz von Elon Musk zerfetzen, der die kalte Brutalität der Macht blanklegt. Er würde auch alle hilflosen Versuche zerfetzen, die menschliche Solidarität stückweise loszuwerden, nur ein klein wenig, nur soweit, dass sich aus zu viel Mitverantwortung zum Beispiel für Gleich-berechtigung, für die Rechte von Minderheiten keine Nachteile ergeben sollen, und vor allem: Keine Verluste. Er hat die Anfälligkeit von Entscheidungsträgern mit bissigen Worten skelettiert: Ich weiss nicht, wer die neuen Juden sein werden, die Politik wird die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.
Und natürlich würde er auf Seite der Geschlagenen, der Verlierer stehen, zu den Siegern wollte er nie gehören, ich vermute, er liebte die Niederlagen, nur nie die Niederlage als Mensch. Er ist seinem Credo als unbeugsamer Zeitgeistpoet immer treu geblieben, und mit Bestimmtheit hat er gewusst: Die Niederlagen in Bewahrung eines empathischen Menschenbilds haben einen längeren Atem. Nicht die menschliche Empathie, aber das Loswerden der Empathie kann zugrunde richten.

Peter Weibel auf literaturblatt.ch

Zeichnung © Lea Le

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

Vera beginnt nach dem Studium ihre Arbeit in ihrer eigenen Praxis. Sie freut sich. Endlich. Veras Anfang als Hausärztin in einem Dorf in der Provinz ist mehr als ein Anfang. Es ist die Erfüllung eines Traums, der Start in ein Leben, auf das bisher alles hinzielte. Wenn da nur die Realität nicht wäre. „Kaltfront“ legt sich wie eine klamme Decke über mich. Ein literarischer Leckerbissen, an dem man kauen muss.

Als Vera zum ersten Mal in den Räumen ihrer zukünftigen Praxis die Tür hinter sich schliesst, legt sie sich irgendwann auf den Boden der noch leeren Räume. Sie liegt auf dem Rücken und ist angekommen. Hier wird beginnen, was sich aus ihrem Sein kristallisierte. Hier will sie tun, wonach ihr schon so lange dürstet. Hier will sie ihre Aufgabe als Hausärztin zu ihrem Leben machen. Ein Beginn voller Enthusiasmus, ein Beginn, der sie entlöhnen soll für all das, was sie in der Vergangenheit auf sich genommen hatte.

Es dauert auch nicht lange, bis sich ihr Kalender mit Terminen füllt. Am meisten freut sie sich auf die Fahrten ins Land, wenn sie nach den Terminen in der Praxis mit Auto und Koffer Hausbesuche macht, weil sie spürt, mit wie viel Dankbarkeit und Herzlichkeit sie empfangen wird. Bei diesen Fahrten setzt sie sich zwischendurch auf einen Stein oder eine Bank, ergibt sich dem Moment, schreibt in ihr Tagebuch, um sich danach bis in späte Abendstunden weiter jenen Menschen zu widmen, die sie ganz brauchen, so wie sie es auch selbst gerne hätte, wäre sie an ihrer Stelle. 

Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese, 2024, 100 Seiten, CHF ca. 24.00, ISBN 978-3-906907-99-4

Bist du glücklich?, fragt sie Luca, ihr Freund, der zwischendurch immer wieder für ein paar Tage zu ihr fährt. Luca ist Grafiker in der Stadt, lebt in einer virtuellen Welt, in einer ganz anderen als Vera. Vera stellt sich diese Frage nicht, denn sie fühlt sich einfach dort, wo sie glaubt hinzugehören. Sie misst das Glück an den Gesichtern ihrer Patienten. Selbst in jenen Tagen, wo im Wartzimmer das Getuschel beginnt. Als man in den Medien liest und hört, dass in der Ferne ein Virus zu wüten beginnt. Als man ihr Fragen stellt, ob das Virus auch bis nach Wolfach kommen werde.

Vera lässt sich nicht abschrecken, besucht weiterhin ihre Patienten im Spital, im Pflegeheim und in den Häusern weitherum. Und als sie sich von einem ehemaligen Studienkollegen als Helferin bei Impfkampagnen anheuern lässt, ist es nicht nur Luca, ihr Freund, der ihr Leichtsinn vorwirft. Als sich das Virus wie ein Heuschreckenschwarm über das Land legt und sie zusehen muss, wie Leben dahingerafft wird, das Leben jener Patienten, die ihr ans Herz wuchsen, sind jene, die mit Transparenten und Hassparolen vor dem Spitaleingang stehen, ihrem Zorn gegen die Medizin und den Staat Luft machen, mehr als nur Stiche in ihr Herz. Boris, ein Arzt im Ruhestand, ein alter Mann, der Vera mehr und mehr zu einem Vertrauten wird, sagt: Du musst nicht nur für die Gesundheit der Patienten, du musst auch gegen die bösen Geister kämpfen, die mit dem Virus gekommen sind. Sie heissen Ungewissheit, Fatalismus und Empörung.

Als der Eingang zu ihrer Praxis verwüstet wird und grosse Steine durch die Fenster geworfen werden, als man sie auf allen möglichen Kanälen anonym zu beschimpfen und diffamieren versucht, wird die Frage Wie weiter? zur Existenzfrage. Aber für Vera gibt es nur den einen Weg; sie will helfen. Sie will alles in ihrer Macht Stehende tun. Sie will weitermachen, womit sie begonnen hat. Auch wenn sich die direkte Konfrontation immer deutlicher abzeichnet.

Als ich ganz zu Beginn der Pandemie auf der Strasse mit einem befreundeten Autor darüber sprach, was da auf uns zurollt und ob das einen Einfluss auf sein Schreiben hätte, meinte dieser: „Worüber soll man den angesichts dessen, was genau jetzt passiert, noch schreiben?“ Coronaromane wollte niemand lesen, denn alles was man las und sah, war eingetaucht in die Ratlosigkeit jener Gegenwart und in den Schrecken der Nachrichten. „Kaltfront“ ist kein Coronaroman. „Kaltfront» erzählt von einer jungen Ärzten, die trotz allen guten Willens zerrieben wird zwischen Angst, Zorn und Hass. Peter Weibel begleitet eine junge Ärztin, deren Kampf zur Lebensaufgabe (Man verstehe dieses Wort zweideutig!) wird. Ein Erzählen gespickt mit Tagebuchaufzeichnungen und den Verlautbarungen von Behörden, die um Erklärungen ringen. Das Protokoll einer Katastrophe, die wie ein unabwendbarer Sturm auf Vera zurollt.

Peter Weibel wertet nicht, urteilt nicht. Aber hinter seinen Schilderungen wabbert die Frage, wie es dazu kommen konnte. Nicht medizinisch, aber menschlich. Er tut das mit dem Wissen eines Arztes und der Empathie eines Freundes, eines Menschenfreundes. Wie kann es sein, dass sich Menschen derart entzweien, so unvereinbar in verschiedenen Welten Leben, dass alles Gemeinsame nichtig wird? Schon angesichts der politischen und gesellschaftlichen Debatten ein wichtiges Buch!

Peter Weibel liest an der Hauslesung vom 26. Oktober 2024 zum ersten Mal vor Publikum aus seinem neuen Buch.

Peter Weibel (1947) schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Peter Weibel im Gespräch mit Gallus Frei

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Hauslesung in Amriswil mit Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

am 26. Oktober, 18 Uhr, an der Maihaldenstrasse 11 in Amriswil

wegen beschränktem Platz unbedingte Anmeldung bis 20. Oktober unter: info[at]literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Nur noch ganz wenige Plätze!)

Eintritt, inklusive Konsumation CHF 30

Voller Idealismus nimmt Vera, eine junge Ärztin, ihre Tätigkeit in einer Landpraxis auf. Überzeugt, dass sie hier ihren Bestimmungsort gefunden hat, begreift sie ihren Beruf als Mission. Schon im zweiten Praxisjahr taucht ein unbekanntes Virus auf, das Verunsicherung, Krankheit und Tod mit sich bringt. Tag und Nacht ist Vera im Einsatz und unwillkürlich zieht sie Parallelen zu den Geschehnissen in Albert Camus Roman Die Pest. Sie wird, nach anfänglicher Verstörung, zur obsessiven Kämpferin für die Rettung von Menschen, gegen den Zerfall der Solidarität, für die richtigen Antworten in einer Zeit, wo es nur offene Fragen gibt. Die Angriffe auf ihre Person machen sie einsam. Und radikal, obwohl sie das nie gewollt hat – nur noch richtig oder falsch gibt es für sie, das gilt auch für ihre Gegner. Zerbricht sie an sich selbst oder an der Wucht der Feindschaft?

Basierend auf einer wahren Begebenheit zeigt Peter Weibel präzise und einfühlsam die Zerrissenheit der Ärztin in der Krisensituation und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die es verlernt hat, Ungewissheiten auszuhalten, und die durch Verunsicherung und kollektive Bedrohung auseinanderzubrechen droht.

Peter Weibel schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flüge»l (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Peter Weibel «Akonos Berg», edition bücherlese

Er ist geflohen. Immer wieder. Und jetzt noch einmal. Hinauf auf den Berg in der Fremde, die ihn nicht haben will. «Akonos Berg» erzählt von einer letzten Flucht, einem letzten Akt der Verzweiflung, der Hoffnung auf ein letztes Licht in einem Leben, das auszulöschen droht.

Im Jahr 2022 starben weit über tausend Flüchtlinge auf ihrer verzweifelten Fahrt übers Mittelmeer. Eine solche Zahl ist Statistik. Mit Sicherheit starben viel mehr. Sie starben auch schon vorher auf dem Marsch durch die Wüste. Oder nachher durch Krankheit, Kälte und Erschöpfung irgendwo auf der Balkanroute. Dann sitzen sie Monate später irgendwo in einem Durchgangsheim, einem Auffanglager, isoliert, nicht willkommen, zur Untätigkeit verdammt, jeder Würde beraubt, getrennt von ihren Familien, verlassen von all den Träumen und Erwartungen, für die sie einst alles Geld in ihrer Verwandtschaft erbettelten, zu Hoffnungsträgern wurden, alles zurückliessen, was ihnen in ihren Ländern geblieben war, ewig bedroht durch Hunger, Krieg und die dramatischen Klimaveränderungen. Klimaveränderungen in der Natur, aber auch in den Gesellschaften, im Umgang miteinander, im Zusammenhalt der Generationen, Klimaveränderungen der Politik.

Was in der Gegenwart passiert, ist logische Folge dessen, was wir uns selber eingebrockt haben, der Westen durch gnadenlose Ausbeutung, global durch grenzenlose Gier und der Süden, die Länder Afrikas als Folge dessen, was wir mit der Einteilung und Fixierung in eine erste, zweite und dritte Welt anrichteten.

Nun reibt sich die erste Welt die Augen, will nicht wahrhaben, dass das, was den Menschen in der Fremde als Paradies auf Bildschirmen präsentiert wird, nicht auch ein Teil ihrer Welt sein könnte. Man muss sich nur kräftig in die Hände spucken (ein paar Tausender hinblättern, alles zurücklassen) und sich aufmachen in eine bessere Welt. Weiss man doch, ohne Fleiss kein Preis.

Peter Weibel «Akontos Berg», edition bücherlese, mit Aquarellen des Autors, 2022, 64 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-906907-66-6

Wir reiben uns die Augen über die Entschlossenheit all dieser Menschen, die sich mit kleinen Kindern und ihren greisen Müttern und Vätern auf den Weg machen. Wir reiben uns die Augen und wollen nicht verstehen, dass sich auch sie einen schmalen Streifen des Kuchens abschneiden wollen. Wir reiben uns die Augen mit der Ahnung, dass das, was von Süden auf uns zurollt weder mit schärferen Gesetzen, besser ausgerüsteter Grenzpolizei oder grenzübergreifenden Massnahmen in den Griff zu bekommen ist.

„Akonos Berg“ erzählt von einem jungen Mann, der aus lauter Verzweiflung einen Berg besteigt, um sich selbst zu einer Fackel werden zu lassen, einem Mahnfeuer für all die Entkräfteten und Entrechteten. Ein letztes Aufbäumen hinein in den Schnee, hinauf in das Licht, weil es in seinem Dorf einst hiess; auf dem Berg stehen die Glücklichen. Weil er seine Familie verliess, seine beiden toten Schwestern, denen man das Leben stahl, seine Eltern, denen er einzige Hoffnung war.

Jonas und Sara, zwei junge Bergführer machen sich trotz unsicheren Wetters auf die Suche nach dem jungen Mann, weil es die Pflicht eines Bergführers ist, Leben zu retten, weil man nicht tatenlos zuschauen kann. Und weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, mit dem eigenen Leben ins Reine zu kommen. Hilfe als Selbsthilfe. Die beiden machen sich auf den Weg, auf einen vielspurigen Weg, auf die Suche nach einem Mann, der mit Sicherheit erfrieren, verhungern oder abstürzen wird, wenn er nicht rechtzeitig gefunden wird. Auf den Weg zu sich selbst, um sich nicht seiner Tatenlosigkeit wegen vor sich selbst entschuldigen zu müssen. Und auf den Weg zueinander, denn die beiden hatten sich aus den Augen verloren.

Peter Weibel webt Geschichten und Leben zusammen. Die verschneiten Berge, die abweisende, weisse Kälte sind mehr als Metapher. Der Autor macht die Kälte vielfach spürbar. Sie schleicht einem während der Lektüre in die Glieder, erzeugt ein tiefes Frösteln. Da schreibt ein Mann, der von den Ängsten aller weiss, der die Menschen kennt, der mit seinem Schreiben an die Ränder des Erträglichen geht.

„Akonos Berg“ ist keine Wohlfühlliteratur. Und doch ist die Geschichte mit grosser Zärtlichkeit geschrieben. Mit dem Wissen um die wahrhaftigen Dinge der Welt, ohne Pathos, mit aller Verletzlichkeit.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «MENSCH KEUN» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» und 2021 «An den Rändern». Peter Weibel lebt in Bern.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Bussmann, Weibel, Kaufmann und die Kraft der Literatur

Je 75 Jahre Rudolf Bussmann und Peter Weibel und 10 Jahre Verlag edition bücherlese – Grund genug, um mit Büchern, Gedichten und Geschichten zu feiern!

Peter Weibel und Rudolf Bussmann

Rudolf Bussmann und Peter Weibel schreiben beide seit über 40 Jahren. Beide sind mit ihren Werken tief verbunden mit dem thurgauischen Waldgut-Verlag und ihrem Verleger Beat Brechbühl, mit dem beide mehrer Werke ihres Schaffens veröffentlichten, Lyrik ebenso wie erzählende Literatur.

Seit ein paar Jahren nun sind beide in der luzernischen edition bücherlese beheimatet, den die Verlegerin Judith Kaufmann vor einem Jahrzehnt gründete. Damals kein leichtes Unterfangen, das ein mutiges Bekenntnis zum gebundenen Buch mehr als voraussetzte und heute noch immer ein Wagnis ist. So wie Schreiben und „Büchermachen» stets ein Wagnis bleibt, wird doch seit Jahrzehnten der Totengesang des anspruchsvollen Buches gesungen.

Was in der Verlagswelt leider immer wieder geschieht und mit dem Waldgut-Verlag exemplarisch zur Kenntnis genommen werden muss, berührt Lesende in der Regel nur marginal, kann aber für Autorinnen und Autoren existenziell werden. Wenn Verlage aufgekauft werden und sich ein Verlagsprogramm mit einem Schlag radikal neu ausrichtet, wenn Verlage untergehen, weil sie es nicht schafften, sich von einer einzigen Person zu emanzipieren, wenn sich in Verkaufszahlen und Resonanz nicht einstellt, was Schreibende und Verlegende nicht nur hoffen, sondern brauchen, dann offenbart sich, wie schnell ein sicher geglaubter Hafen, ein Fels in der Brandung bröckeln kann.

Der Abend im Literaturhaus Thurgau war aber alles andere als gegenseitiges Wundenlecken und Bedauern. Die Verlegerin Judith Kaufmann genauso wie die beiden gestandenen Dichter; sie alle strahlen in der Kraft eines Tuns, das weit über Selbstverwirklichung und Selbstinszienierung hinausgeht. Sie alle beweisen mit ihrem Tun und Schaffen wie sehr Leidenschaft für ihre Kunst zum Segen all jener wird, die zu geniessen verstehen, die das Geschenk der Literatur entgegennehmen.

So las Peter Weibel aus seinem Erzählband „An den Rändern“, Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe aus diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann. Und Rudolf Bussmann aus seinem Roman „Der Flötenspieler“, einem Roman, in dem einer nicht nur vor seinen Aufgaben flieht, auch vor sich selbst, all den Unerklärlichkeiten, dem Scheitern, seiner Psyche, in der er sich verliert. „Der Flötenspieler“ ist ein Abenteuer, ein literarisches, hellsichtiges Abenteuer, dem ich auch 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung abenteuerliche LeserInnen wünsche!

«Es war eine wunderbar stimmige literarische Geburtstagsfeier, die das Bodmanhaus für Peter Weibel und mich bereithielt, mit Gallus Frei als wachem Moderator, einem konzentrierten Publikum und einer munteren Schar beim Apéro. Der herrliche Sommerabend tat ein Übriges, die Gäste tüchtig zu verwöhnen. Herzlichen Dank allen Beteiligten und auch der Fotografin Sandra Kottonau.» Rudolf Bussmann

«Der Abend hat mich gewärmt, die Worte, die verschiedenen Wortklänge haben mich gewärmt, und auch die langen Gespräche über Worte und zwischen den Worten. Ich habe den hellen Abend mitgenommen, vom See und vom Haus mit mir genommen, und einen Namen für unsere Verbindung auf der Wortbühne gefunden: Wahlverwandtschaften.» Peter Weibel

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Robert Bussmann & Peter Weibel, zweimal 75 Jahre Leben, zweimal 40 Jahre Literatur!

Das Literaturhaus Thurgau lädt die beiden Dichter Rudolf Bussmann und Peter Weibel zusammen mit ihrer Verlegerin Judith Kaufmann zu einem Geburtstagsabend ein. Ein Feiertag für alle drei Gäste und ein Feiertag für die Literatur!

Rudolf Bussmann und Peter Weibel feiern in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag. Beide sind von Literatur durchtränkt. Beide schreiben Romane, Erzählungen, Gedichte. Und weil ihr Verlag, die edition bücherlese, heuer ihr 10jähriges Jubiläum feiert, waren dies Gründe genug, um mit Literatur und Gespräch Rudolf Bussmann, Peter Weibel und Judith Kaufmann zu feiern.

Beide Dichter, werden sowohl Passagen aus ihrer Prosa lesen wie Gedichte, die in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben wurden. Gemeinsam mit der Verlegerin Judith Kaufmann tauchen wir in den Kosmos zweier Dichter ein, denen die Leidenschaft für Literatur eine breite Spur ins Leben zeichnet.

Ein paar Stimmen:

«Ungerufen»: Hier versammelt Rudolf Bussmann an die hundert Gedichte, die in sechs Abteilungen eine breite Vielfalt an lyrischen Formen präsentieren. Der Autor lässt sich ganz auf Bilder ein, die ihm ungerufen begegnen. In der Stille erreicht ihn nur leise das Nachklingen des alltäglichen Lärmens. Gemeinsam ist diesen Gedichten eine poetische Beweglichkeit, die unterschwellig immer auch eine leise Melancholie verrät. Trotz und Demut heben sich gegenseitig auf. Der Autor hält sich, wie es einmal heisst, an all das, was ihm beim Anfassen zerfiel.
Beat Mazenauer in Viceversa 14

«Ein Duell»: Eingebettet in die Auseinandersetzung zweier Schweizer Freunde beschreibt Rudolf Bussmann auf ebenso erschütternde wie zurückhaltende Weise die letzten Lebensmonate der DDR-Autorin Irmtraud Morgner, mit der er selbst liiert war und deren Werk er postum herausgegeben hat.
Charles Linsmayer

«Der Schmetterling schläft»: Peter Weibel hat sich stets des Menschen und des Lebens angenommen. Die Worte, die er in seinen Büchern wählt, wirken wie heilende Hände. Seine Sprache ist wie Poesie, sie schafft wunderbare Bilder und ist von einer Poesie und einer Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht.
Dieter Langhart, St. Galler Tagblatt

«Schneewand»: Ein intensives Lektüreerlebnis, das mit kraftvollen Bildern existenzielle Fragen aufwirft.
Babina Cathomen über Peter Weibel, Kulturtipp

Rudolf Bussmann, 1947 in Olten geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte. Nach der Promotion bildete er sich zum Gymnasiallehrer aus und war an verschiedenen Berufs- und Höheren Fachschulen tätig. Er schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und ist als Herausgeber und Übersetzer tätig. Zuletzt erschienen: „Das andere Du“ Roman (2017), „Ungerufen“ Gedichte (2019), „Herbst in Nordkorea. Annäherung an ein verschlossenes Land“ (2021) und «Der Flötenspieler» (1991/2022). Rudolf Bussmann leitet Schreibseminare und Lesezirkel, er lebt in Basel.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. 2019 «Schneewand«, 2021 «An den Rändern» und im kommenden Herbst die Erzählung «Akontos Berg». Peter Weibel lebt in Bern.

Die edition bücherlese wurde 2013 von Judith Kaufmann gegründet und verlegt überwiegend belletristische Werke von Schweizer AutorInnen. Als junger Verlag veröffentlichte die edition bücherlese in den letzten Jahren einige Debütromane, etwa von «Knochenlieder» von Martina Clavadetscher oder «Balg» von Tabea Steiner, aber auch Bücher von bereits etablierten Schreibenden wie Rudolf Bussmann oder Peter Weibel. Der Verlag ist seit 2018 in Luzern beheimatet. Blick in den Verlag (video, youtube)

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Peter Weibel «An den Rändern», edition büchelese

Ein Erzählband eines Schriftstellers, der ein Leben lang als Arzt arbeitet, seit Jahrzehnten in der Geriatrie, dort wo gestorben wird. Ein Erzählband, der in Bildern von Erlebnissen an den Rändern des Lebens, an den Rändern des Seins erzählt, nicht nur mit Worten. Peter Weibel malt mit feinem Pinsel, transparenten Farben Szenen, die nicht durch Kontur gewinnen, sondern durch das Fluid, das sie erzeugen!

„An den Rändern“ lag eine ganze Weile da; auf dem Nachttischen, in der Bibliothek, auf dem grossen Tisch im Wohnzimmer, am Schluss auf dem Arbeitstisch in der Gästewohnung des Literaturhauses Thurgau. „An den Rändern“ hat mich lange begleitet, weil ich die Geschichten nicht trinken wollte wie ein Glas Wasser. Viel mehr wie einen Trank, eine Art Medizin, ein Heilmittel, das mir verspricht, dass selbst dort, wo es zu Ende geht, ein Zauber sein kann, dass selbst dort etwas beginnen kann, dass es meine Sichtweise ist, die aus Grenzerfahrungen Abgründe macht.

„Manchmal muss man an die Grenzen gehen, wenn alles nur noch ein Warten auf die allerletzte Grenze ist.“

Peter Weibel «An den Rändern», edition bücherlese, 2021, 144 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906907-44-4

Ich traf Peter Weibel im Sommer 2020 in Bern. Ich war in der Stadt und rief ihn an, ob er Zeit für ein Treffen habe, obwohl wir uns höchstens vom Hörensagen kennen. Ich wartete auf der Münsterplattform, einem kleinen Park über der Aare, bis ich ihn mit Pfeife und wildem, weissen Haarschopf und einer Tasche an den Schultern in die Menschen schreiten sah. Wir kannten uns gleich, obwohl das letzte Treffen Jahre zurücklag und am Schluss einer Lesung eine Signatur lang dauerte. Als wären wir Freunde. Peter Weibel ist unmittelbar, lässt keinen Zweifel, dass sein Bemühen das eines Mannes ist, der keine Lust verspürt, in Spielchen das Gegenüber abzutasten. So sind auch seine Geschichten; unmittelbar und direkt, ehrlich und durchtränkt von gelebter Empathie.

„Die Liebe ist der letzte Hort der Utopie.“

Was ich damals nicht wusste; Peter Weibel malt. Nicht erst, seit die Arbeit als Arzt etwas weniger geworden ist (Andere wären schon ein Jahrzehnt pensioniert!), sondern schon lange. Ein Tun, das auch in die Geschichten in seinem Erzählband einfliesst. Und Peter Weibel erzählt wie er malt. Es sind nicht Zeichnungen mit harten Konturen, klaren Linien, die abbilden, was man sieht. Es sind Aquarelle mit fliessenden Übergängen, auslaufenden Farbflächen, Farben, die ineinanderfliessen. So wie seine Geschichten, die keine Szenerie nachzeichnen wollen, sondern ein Gefühl, eine Ahnung, eine sich ausbreitende Erkenntnis.

„Nicht alles, was wir sehen, können wir greifen, und nicht alles, was wir greifen wollen, können wir sehen, aber manchmal sehen wir durch die Zeit hindurch.“

Ich las „An den Rändern“, als hätte mir der Autor seine Hand auf meine Brust gelegt, um meinen schnellen Atem, meine Ängste zu bannen. Es sind Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe zu diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann.

„Man kann nicht schreiben, ohne den Schmerz zu kennen.»

.. und ein wunderschön gestaltetes Buch mit Aquarellen des Autors!

Interview 

Dein Erzählband ist ein Buch des Innehaltens. Es sind Momente der intensiven Reflexion. Fällt dir das im Alter leichter oder muss es eine Eigenschaft des literarischen Schreibens sein?
Ich glaube, das Alter verändert den Schreibprozess bei jedem von uns, und bei jedem anders – bei mir vielleicht: Die Arbeit an der Verdichtung; Versuche, eine rythmische Prosaform zu finden, die leicht sein kann, auch wenn sie Schweres mittragen will, die zugleich reflektiv und bildkräftig sein soll. Auf mein eigenes Alter bezogen: Die kreative Kraft lässt nach, die Erfahrung erleichtert den Prozess der literarischen Gestaltung.

Du schreibst. Du malst. Wo liegen die Unterschiede in diesen beiden kreativen Tätigkeiten? Wo die Gemeinsamkeiten?
Schreiben und Malen: Schreiben als Profession – Malen als pure Freude; Aquarellieren als Poesie des Augenblicks… Aquarellieren ist etwas sehr Augenblick-bezogenes; selten gelingt der grosse Wurf mit dem Pinselstrich, dem auslaufenden Wasser, meistens aber nicht, und du kannst nicht mehr korrigieren… Die Knochenarbeit, die ja zum literarischen Gestalten gehört, kennt das Aquarellieren nicht.

Du beschreibst viele Begegnungen mit Menschen, die eine Krankheit, das Alter, Geschehnisse an den Rand gebracht haben. Du schreibst behutsam, weit weg vom Pointenzwang. Wenig Effekt, dafür viel Tiefe, viel Empathie. Lehrte dich das dein Beruf als Arzt?
Natürlich prägt mein Erstberuf als Arzt den Zweitberuf des Schreibenden («Der Zweitberuf als kritische Instanz des ersten»). Es ist wie bei Kurt Marti, der in seinen «Leichenreden» – und nicht nur da! – im literarischen Wort gestaltet, was er als Theologe auf der Kanzel nicht aussprechen konnte. Im kurzen Essay «Die literarische Sprache beginnt dort, wo die medizinische endet» habe ich vor kurzem versucht, ein paar Gedanken zur Verbindung von Medizin und Literatur festzuhalten.

Corona spielt in deinen Erzählungen eine marginale Rolle, ist aber da, mehr als ein hintergründiges Rauschen. In vielen Gesprächen mit Schreibenden kam die Frage immer wieder, wie und wann sich das Virus auch in der Literatur wie ein Sediment ablagern wird. Auch ein Sediment in dir?
Die Corona-Zeit hat mich natürlich sehr geprägt, in vielen Bereichen. In zwei Erzählungen habe ich versucht, der Verstörung eine literarische Form zu geben; einmal die erschütternden Erfahrungen in den Pflegeheimen, wo ich selbst arbeite, einmal die zeitlose Botschaft von Camus› Pestroman, die über Nacht mit Wucht zurückgekehrt ist; «Menschen haben Angst und werden klein, andere werden gross und lassen die Angst zurück».

© Peter Weibel / Aquarell

„Il n’y a pas de soleil sans ombre, et il faut connaître la nuit.“ Ein Satz von Camus. Mit ihm endet eine deiner Geschichten. Albert Camus scheint sich in der Gegenwart als wiederentdeckte Stimme aufgeschwungen zu haben. Wie sehr lässt du dich von anderen in deiner kreativen Arbeit beeinflussen?
Keiner und keine von uns lebt und schreibt ja in einem hermetischen Innenraum, wir alle sind geprägt von literarischen Erfahrungen, von Vorbildern, Leitfiguren. Bei mir sicher Böll, Christa Wolf, Büchner, und vor allem Albert Camus – er war für mich die erste Ikone der Literatur, als ich noch tief in der Schule steckte, und sein Pestarzt die erste Ikone der Medizin.

Ein Thema in einigen deiner Geschichten ist das Alter und das Gefühl, als alter Mensch nicht mehr ernst genommen zu werden. Ist das eine Erfahrung der Gegenwart?
Alte Menschen haben ja oft einen grossen – und ja verkannten – Lebensreichtum, der weiterfliessen könnte und selten weiterfliessen kann: Die lächelnde Lebensdistanz, das Schweben und Schaukeln der Dinge, das Durchschauen von Lebens-Täuschungen… In der Erzählung «Altern» habe ich versucht, einem dieser Alternden, denen ich täglich begegne, eine Stimme zu geben.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlich er regelmässig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017). Für die Texte «Hannah» und «Kocherpark» wurde er beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2019 «Schneewand» (edition bücherlese).

Beitragsbilder © Ayse Yavas

Peter Weibel «Schneewand», edition bücherlese

Warum setzen sich Menschen Gefahren aus? Warum begeben sich Menschen an jene Grenzen, die über Leben und Tod entscheiden können? Was passiert in solchen Grenzsituationen? Ist es die Sehnsucht nach der ultimativen Nähe? Peter Weibel nimmt mich in der Erzählung «Schneewand» hinauf auf einen Berg, mitten in einen Sturm, ins unsägliche Weiss tagelangen Schneetreibens. Warm anziehen!

Myriam ist hoffnungsvolle Cellistin mit politischem Bewusstsein, Kathrin Ärztin und Mutter zweier Kinder, Leon Lehrer, immer wieder an der Grenze, an seiner Aufgabe zu zerbrechen. Sie sind alle nah dran, jeder auf seine Art.

«Der Schnee war nie so gewesen. Nie wie der Schnee an diesem Morgen: Bestürzend, feindselig, fremd.»

Leon kennt die Berge, man vertraut seinem Berggängerurteil. Und als sich seine Wetterbedenken verflüchtigen, machen sich die drei auf den Weg hinauf auf den Berg, in eine Hütte weit oben, in der sie euphorisiert übernachten, um am nächsten Morgen festzustellen, dass sich das Wetter doch nicht so entwickelte, wie vorausgesagt wurde. Es schneit. Und weil es am frühen Morgen nur die Optionen gibt, schnell den Abstieg zu wagen oder in der Hütte abzuwarten, wagen es die drei. Sie trauen sich ins Weisse, stapfen durch den Schnee hinab, um irgendwann festzustellen, dass es ein Fehler war, dass man durch Lawinen, Erfrieren oder einen Absturz das Leben riskiert. Sie kämpfen sich zurück und finden zu ihrem Glück einen Rettungscontainer, der ihnen für einige Tage das Überleben sichert.

«Die Verzweiflung spaltet, weil der Widerstand nicht eindeutig ist, weil es keine klare Antwort darauf gibt.»

Menschen sitzen fest. Ausgerechnet in der Weite der Natur wird einem die eigene Endlichkeit unmittelbar vor Augen geführt. Menschen sitzen fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück, keine Entscheidung, nur das Warten und die Hoffnung. Was es zum Überleben braucht, reicht für vier, fünf Tage. Man teilt auf, nicht nur das, was zum Essen bleibt, sondern auch den Schlaf. Um nicht einfach hinüber- und abzugleiten. Man stapft durch den Schnee vor dem Container, jene wenigen Meter hin und her, die einem für eine gewisse Zeit die Wärme in die Glieder zurückgeben.
Aber vor allem stellt man sich Fragen. Die drei im Container in der sich immer weiter ausdehnenden Zeit und ich als Leser, der mir während der Lektüre die Wolldecke bis unters Kinn ziehe. Was bleibt vom Leben?

«… aber es gab keinen Lehrgang für die Ohnmacht auf der Rückseite des Wissens.»

Ganz oben auf dem Berg, ganz weit weg von allem, eingeschlossen in den Schnee sind Myriam, Kathrin und Leon Gefangene. Alle Euphorie ist weg, dafür unter jedem Gedanken nackte Angst. Im Alltag weiss man vielleicht, dass das Leben endlich ist. Aber in Situationen, in denen man unmittelbar mit dem möglichen Ende konfrontiert wird, in denen der Alltag zu einer Erinnerung, einem Traum, zu Sehnsucht werden kann, stülpt sich Innerstes nach aussen. Man beginnt zu fragen, Bilder steigen auf. Myriam beginnt von Siniša Glavašević zu erzählen, jenem jungen Mann, der in Vucovar fürs Radio Geschichten für das Leben schrieb, während draussen Bomben fielen und Häuser explodierten. Leon erzählt von seinem schwindenden Glauben an die Zukunft, dem tiefen Schmerz einer Trennung und Kathrin als Ärztin von einer sterbenden Patientin, gleich alt wie sie, deren Kinder verständnislos am Bett standen.

«Die Worte blieben lange im Raum hängen, wie Eiskristalle … an der offenen Tür, an den Wänden, auf den Kleidern.»

Peter Weibel erzählt knapp und dicht. Mag sein, dass die Erzählung durch seine Gestrafftheit manchmal etwas überladen wirkt. Als ob das Konzentrat von allem im Gegensatz zu dem unendlichen Weiss des fallenden Schnees, dem Heulen und Pfeifen des Sturmes den Lesegenuss überreizen würde. Nichts desto trotz ist Peter Weibel eine mehr als beeindruckende Schilderung einer Extremsituation gelungen, die mich mitzieht bis an die Grenzen der Existenz. Dorthin, wo die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden.

Ein kleines Interview mit Peter Weibel:

Eine Erzählung über eine Grenzerfahrung. Drei BergängerInnen eingeschlossen in Sturm und Schnee und die Angst, nie mehr zurück in den Alltag zu gelangen. Je mehr wir von den Gefahren wissen, desto mehr lockt sie. Man springt von Klippen, stürzt sich von Brücken, hangelt sich ungesichert durch den Fels. Warum braucht das der Mensch?
Die Grenzerfahrung. Ihre literarische Gestaltung ist die zentrale Linie des Textes; es gibt dazu einen bedeutenden Satz von Karl Jaspers; Wir werden wir selbst, wenn wir auf Grenzsituationen offenen Auges zugehen. Wir erfahren uns selbst an den Rändern, nicht in der Mitte des Lebens – dabei sind die Grenzsituationen, die uns zu Menschen machen, nicht die gesuchten Grenzsituationen beim Sprung von Klippen oder Brücken – es sind diejenigen, in die wir hineingeworfen werden, ohne sie gesucht zu haben: eine hereinstürzende Katastrophe, eine Epidemie (Camus’ Pest) – oder eben: ein unvorhersehbares Eingeschlossensein in Nebel und Schnee.

Je weiter man sich vom Alltag entfernt, je stärker wird die Sehnsucht nach ihm. Noch ein Paradox?
Die Entfernung vom Alltag und die Sehnsucht nach Alltag in der zu weiten Entfernung von ihm ist ein Paradox – und in dieser Dualität liegt wohl ein Dilemma unserer Existenz: Wir müssen uns von Alltag entfernen können, um ihn zu erkennen – aber wenn wir uns zu weit entfernen (oder entfernen müssen, zum Beispiel durch eine Krankheit), wird das Erkennen zum Schmerz über etwas Verlorenes.

Sie flechten in ihre Erzählung das Schicksal von Siniša Glavašević ein, der während der Schlacht um Vukovar während des Kroatienkriegs von serbischen Freischärlern umgebracht und verscharrt wurde. Oder jenes von Vedran Smailović, der als Cellist von Sarajevo in die Geschichte einging. Hinter diesen beiden, die sich in Grenzsituationen begaben, steht ihr Kampf für die Menschlichkeit. Entsteht der Drang, sich in Gefahr zu begeben durch die Sehnsucht nach Bedeutsamkeit?
Menschen wie Siniša Glavašević und Vedran Smailović (oder Izet Sarajlić, der in den Kriegsbunkern in Sarajevo Gedichte gegen den Krieg auf Papierservietten geschrieben hat) sind die einzigen Helden, die ein Krieg hervorzubringen hat. Sie sind es nicht aus Hunger nach Bedeutsamkeit, sondern weil sie in ihrer Menschlichkeit keine andere Wahl haben (Sisyphos!). Myriam spricht es in der Erzählung einmal aus: Klänge (oder Worte) können die Welt nicht verändern, sie können das Verderben nicht aufhalten – aber sie können die Welt wärmen.

Wir entfernen uns immer mehr von dem, was Leben ausmacht. Ist ihre Erzählung der Versuch, mich als Leser aus meiner latenten Betäubung zu wecken?
Es wäre vermessen, jemanden durch Literatur wecken  zu wollen. Literatur, Sprache ist nicht dazu da, belehren zu wollen – sie ist dazu da, Fragen zu stellen.

Jedem Kapitel ihrer Erzählung sind Zitate vorangestellt. Solche von grossen Schriftstellern, aber auch von solchen, denen das Vergessen droht. Zum Beispiel Walter Matthias Diggelmann oder Ludwig Hohl. Wie fanden sie den Weg in ihre Erzählung?
Die Zitate. Sie sind mir wichtig, weil sie zum Nach-Denken auffordern (im Lektorat haben wir beschlossen, jedem Kapitel ein Zitat voranzustellen). Jedes Zitat soll einen inhaltlichen Kern eines Kapitels vorauswerfen, der im Text zwischen den Zeilen steht. Und natürlich ist es auch eine Hommage an die AutorInnen, die mir alle viel bedeuten. Die meisten verwendeten Texte sind in meinem Kopf gespeichert, einzelne habe ich bewusst auf ihre inhaltliche Botschaft hin gesucht.

Foto © Ayse Yavas

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmässig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, etwa mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013), dem ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017) und verschiedenen Essaypreisen. Peter Weibel lebt in Bern.

Rezension von «Der Schmetterling schläft» (Waldgut Verlag) auf literaturblatt.ch

Rezension von «Mensch Keun» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau