Heinz Helle «Wellen», Suhrkamp

In „Wellen“ will der Erzähler glücklich sein, nie gelangweilt und immerzu anwesend. Ein Mann, der eben zum zweiten Mal Vater geworden ist und sich zwischen Momenten des Glücks und Überforderungen zurecht finden will, als Vater, Ehemann, Schriftsteller und Beobachter einer Welt, die ihn prüft.

Dass man es als Vater zweier kleiner Kinder, nimmt man denn seine Rolle als Vater in einer Gegenwart, die die Abwesenheit eines solchen nicht mehr so einfach akzeptiert, schwer haben kann, einen Roman zu schreiben, versteht sich leicht. Umso erstaunlicher, dass es Heinz Helle als Vater zweier kleiner Kinder geschafft hat, sich nicht in Fiktionen aus dem Alltäglichen wegtragen zu lassen, sondern mit „Wellen“ ein Buch präsentiert, das sich in absoluter Unmittelbarkeit mit seiner eigenen Welt auseinandersetzt. „Wellen“ ist ein Buch übers Vater-, Mann- und Schriftstellersein. Nicht wirklich ein Roman, auch wenn das Buch als solcher angeschrieben ist. Viel mehr ein Tagebuch, ein Simultankommentar zu einem Leben mitten in der Familie, zwischen Windeln, Spielzeug, Volvo, Wäscheleinen und Milchfläschchen.

Am Abend fragst du mich, warum ich dich liebe, und ich sage: „Weil du so riechst, wie du riechst.“

Heinz Helle «Wellen», Suhrkamp, 2022, 284 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43077-4

Auch wenn man „Wellen“ als Nabelschau bezeichnen kann, eine Gattung Buch, die mich mit wenigen Ausnahmen nicht fasziniert, ist Heinz Helles neustes Buch weit mehr. Mit Sicherheit eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung an seine Frau, seine beiden Kinder, seine Familie, seine Aufgaben, sein Leben, jenen Lauf der Zeit, der mit zwei kleinen Kindern so sehr von Alltäglichkeiten dominiert wird, dass sich mein verklärter Blick in die Vergangenheit und Heinz Helles Blick in seine Gegenwart mitunter heftigst streiten. „Wellen“ schildert das Leben eines Mannes in der Brandung seiner Pflichten. Kein weinerliches Reflektieren eines Mühlsteinträgers, kein Suhlen in den Niederungen menschlicher Abgründe. Der Erzähler liebt seine Welt, auch wenn sie ihn zuweilen einengt, nicht loslässt. Der Erzähler liebt seine Kinder, auch wenn sie ihn nachts vom Schlafen abhalten und die Kleine erst in den Armen der Mutter zu schreien aufhört. Der Erzähler liebt seine Frau, die ihren Kopf noch immer an seine Brust legt, die ihn an der Hand nimmt. Und der Erzähler liebt sein Schreiben, sein schreibendes Nachdenken, auch wenn er in seinem kleinen Arbeitszimmer abseits seiner Wohnung manchmal einfach zuerst zur Ruhe kommen muss.

„Und dann merke ich, dass ich darum so gerne darüber schreibe, wie ich lebe, weil ich Frieden finde in der Anordnung der Zeichen, mit denen ich versuche, nachzubilden.“

Heinz Helles Buch sind Aufzeichnungen eines Nachdenkens. Der Erzähler denkt vom Kleinen ins Grosse, vom Grossen ins Kleine. Er weiss genau, dass das, was er als Vater tut, wenn er nachts die verstopfte Nase seines neugeborenen Kindes tröpfchenweise zu befreien versucht, keine Nichtigkeiten sind, sondern die kleinen Schritte zum Grossen. Jenes Grosse, das man im Sog der Alltäglichkeiten leicht aus den Augen verliert. Jenes Grosse, das verloren gegangen ist, wenn man in den Medien von Eltern liest, die die Kontrolle verlieren. Der Erzähler ist einem Geheimnis auf der Spur. Dass der Erzähler oft und gerne philosophische Abschweifungen unternimmt und diese mit Alltäglichkeiten, Träumereien und Beobachtungen vermengt, macht das Buch auch für mich zu einem Quell vieler Überraschungen. Und dass die einzelnen Kleinkapitel fast immer mit „Und dann“, „Und als“ „Und dass“ beginnen, gibt dem Text eine Unmittelbarkeit, als würde der Erzähler sein Leben im O-Ton kommentieren.

Als ich 1985 zum ersten Mal und zehn Jahre später zum letzten Mal Vater wurde, waren viele Selbstverständlichkeiten mit denen von heute identisch. Und doch unterscheidet sich die Rolle eines Vaters, eines Mannes, eines Ehemannes in vielem diametral von der damals, auch wenn nur 40 Jahre dazwischenliegen. Vielleicht war das meine grösste Herausforderung bei der Lektüre; die Erkenntnis, wie gedankenlos ich damals meine Rolle lebte, auch wenn die Zeichen der Zeit damals Grund genug gegeben hätten, gewisse Selbstverständlichkeiten mit Schamröte aufzugeben.

Heinz Helle, geboren 1978, studierte Philosophie in München und New York und arbeitete als Texter in Werbeagenturen, bevor er Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen letzten Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», wurde er mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Er lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Julia Weber, und den beiden gemeinsamen Töchtern in Zürich.

Beitragsbild © Tobias Bohm/Suhrkamp Verlag

Norbert Scheuer «Mutabor», C. H. Beck

Waren Sie schon einmal in der Eifel? Weil ich alle Bücher Norbert Scheuers gelesen habe und der Autor eine meiner Lieben ist, die mich niemals enttäuschte, war ich schon so oft in der Eifel, wenn auch noch nie physisch. Norbert Scheuer schafft etwas mit seinem Erzählen, was nur wenigen gelingt: Unmittelbarkeit.

„Mutabor“, heisst das Zauberwort, mit dem sich der Kalif Chasid und sein Grosswesir Mansor in Wilhelm Hauffs Märchen von Störchen zurück zu Menschen verwandeln können, wenn die beiden nicht lachen. Das lateinische „Mutabor“ heisst „Ich werde verwandelt werden“.

Norbert Scheuer «Mutabor», illustriert mit Zeichnungen von Erasmus Scheuer, C. H. Beck, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-406-78152-0

Nina lebt in Kall im Urftland, einem kleinen Ort in der Eifel. Nina möchte verwandelt werden, sucht nach dem Zauberwort Mutabor, das sie endlich dorthin bringt, wo sie sein möchte. Weg aus der Ungewissheit, woher sie kommt, wer ihr Vater ist, wo ihre Mutter geblieben ist, weg vom Geheimnis, das sie erahnt, über das sie aber niemand aufklärt. Weg vom Ausgesperrtsein, weg von Getuschel, weg vom Makel, weg von allem, was sie an Kall kettet. Weg nach Byzanz zum Palast der Störche, eine Reise, die sie mit ihrem Grossvater, als er noch lebte, unzählige Male mit seinem durchgerosteten hellblauen Opel Kapitän angetreten und nie über die Hügel des Urftlands gekommen war. Weg auf eine der vielen Inseln Griechenlands, von der Evros, der griechische Gastwirt im Ort, immer wieder erzählte, bei dem sie nach dem morgendlichen Zeitungsaustragen ihr Geld verdient.

Nina ist allein. Warum verlässt eine Mutter ihr Kind? Warum taucht eine Mutter plötzlich weg? Wie kann man ein Kind alleine zurücklassen? Als Ninas Mutter verschwand, war Nina noch nicht volljährig, wohnte zwar schon in einer winzigen Mansardenwohnung, stand aber stets unter der Kontrolle eines Vormunds. Ihr neuster, der „Krapfen“, eine Frau, die Nina zu viel mehr zwingt, als sie geben möchte und dabei ihren Hunger nach echter Liebe und Zuneigung nur noch potenziert, ist eine der vielen, die Nina mit jeder Geste zeigen, dass sie Aussenseiterin und Randständige ist und bleibt. Die einzige im Ort, bei der sie so etwas wie Geborgenheit, ein warmes Nest findet, ist die ehemalige Lehrerin Sophia Molitor, eine Frau, die als Witwe alleine in einem grossen Haus lebt und Nina jenes Tor zur Welt öffnet, weil sie das Mädchen das lehrt, was die Schule nicht vermochte. Aber auch bei „Tante“, wie Nina Sophia liebevoll nennt, sind Fragen nach der Mutter ungeliebt. Nina spürt, dass selbst Sophia nicht mit offenen Karten spielt, Geheimnisse unter Verschluss hält. So wie Tante Sophia von ihrem Mann Eugen heimgesucht wird, so ist es der Geist Ninas Mutter, der sie nie zur Ruhe kommen lässt.

«Jeden Moment verändert sich alles und alles verändert jeden Moment.»

Einzig Paul lässt Nina hoffen. Als Nina Mädchen war, hatte Paul kein Auge für sie. Aber nun, Paul kehrte als Versehrter aus einem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zurück, hofft Nina auf Paul. Sie spürt, dass sich da etwas öffnen kann, dass sie in und mit Paul etwas finden kann, was ihr bisher verwehrt blieb. Und tatsächlich kommt es zu einer zaghaften Annäherung und irgendwann zu jener einen Nacht, die die Tür aber auch gleich wieder verschliesst. Paul entzieht sich Nina. Und Nina weiss einmal mehr nicht, wie ihr geschieht, was die Gründe sind, warum sie wie eine Leprakranke gemieden wird.

Norbert Scheuer Roman ist ungemein facettenreich und von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Kann sein, dass man sich einschüchtern lässt von der Vielstimmigkeit des Personals, von der Veielstimmigkeit des Lesegefühls, einmal dunkel, einmal hell, von den mit kryptischen Texten beschriebenen Bierdeckeln in der Schublade des griechischen Wirts, die zusammen mit Ninas Traumzeichnungen den Roman illustrieren, von Traum- und Wahnbildern, die die Geschichte permanent kippen lassen. Aber wer sich gerne von wirklicher Schreib- und Erzählkunst, von Sprachmagie fesseln lassen will, ist mit dem neusten Roman aus der Feder Norbert Scheuer wunderbar bedient.

Norbert Scheuer erzählt zwar von der kleinen Welt in Kall im Urftland, aber eigentlich von den grossen Themen des Menschseins. Von Liebe und Tod, von der Sehnsucht nach Nähe und Ferne. Auf nicht einmal 200 Seiten macht Norbert Scheuer das Kleine zur grossen Bühne. Und wer in Norbert Scheuers Roman- und Erzählwelt zuhause ist, trifft sie alle wieder, die in seinen bisherigen Romanen grosse und kleine Auftritte hatten.

Nach der Lektüre schiebe ich „Mutabor“ zu all meinen Norbert-Scheuer-Schätzen in meinem Bücherregal, mit Wehmut darum, weil Norbert Scheuer so sehr mein Herz bewegte.

Norbert Scheuer liest am Dienstag, den 20. September 2022 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neuen Roman «Mutabor», obwohl im gedruckten Programm der Roman «Winterbienen» angekündigt wird.

Illustration von Erasmus Scheuer aus dem Roman «Mutabor» von Norbert Scheuer – mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, «Am Grund des Universums» (2017) und «Winterbienen» (2019), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, zum Bestseller sowie ausserdem in viele Sprachen übersetzt wurde. Er erhielt dafür den Wilhelm-Raabe-Preis 2019 und den Evangelischen Buchpreis 2020.

Urs Mannhart mit Rapacitanium und einer Kuh im Literaturhaus Thurgau

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Urs Mannhart zu Gast im Literaturhaus Thurgau!

Als ich Urs Mannhart am Bahnhof Tägerwilen/Gottlieben abholte, erklärte er, er fühle sich gar nicht richtig „ausgestiegen“, irgendwie „durch den Wind“, denn eben habe er das zweiseitige Interview mit ihm in der NZZ gelesen. Er habe wohl damit gerechtet, habe man ihm doch den Text zum Gegenlesen zugesandt. Aber es sei doch irgendwie unwirklich, für ein Buch an dem er ein paar Monate mit aller verfügbaren Intensität geschrieben habe, nun derart viel und prominente Aufmerksamkeit zu erfahren. An seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ habe er mehrere Jahre geschrieben, ein mehrfaches an Energie investiert und die Resonanz lasse sich nicht vergleichen.

So waren beide Bücher des Autors auf dem Tisch, auch wenn er nur das eine mitgenommen hatte; sein Roman über einen Mann, der sich an den Fronten seines alltäglichen Kampfes verliert, dem die Erde buchstäblich unter den Füssen wegbricht und das Essay über Lentille, eine Kuh im Stall jenes jurassischen Kleinbauern, bei dem er zwei Tage in der Woche zweimal 10 Stunden arbeitet. So unterschiedlich die beiden Bücher in ihrer Erzählweise und Schauplätzen sind, das eine in der Welt eines teslafahrenden Kravattenträgers, das andere in einer, die nach Stall und Tieren riecht, so zeugen beide von der unbändigen Lust eines Schriftstellers, sich ganz in eine Welt hinein zu begeben. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in die Schublade von Ökoromanen, ist aber ebenso Gesellschaftskritik wie das Essay „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“. Beides sind Bücher, die mich zur Selbstreflexion zwingen ohne jemals einen moralischen Zeigefinger zu schütteln. Beides sind Bücher, die sanft darauf hinweisen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, dass es naiv ist, weiterhin mit der Überzeugung zu leben, alles sei möglich.

Pascal Gschwind, der Protagonist aus dem Roman, ein Mann der eigentlich alles hat, eine neue Stelle in einem erfolgreichen Rohstoffkonzern, ein sattes Salär, eine Villa am Thunersee, das teuerste Teslamodell in der Garage und bald auch ein neues Boot, ein bisschen grösser als jenes seines Nachbarn, eine attraktive Frau, die sich mit Yoga verwirklicht und einen Sohn, der bislang stets tat, was man von ihm erhoffte, muss feststellen, dass sich die Erde nicht in jene Richtung dreht, die stets der Sonne zugewandt ist. Alles wankt. Das Beben erschüttert nicht nur ihn, sondern alles, was ihn ausmacht. 

Urs Mannhart, der an gleich zwei Veranstaltungen im Literaturhaus Thurgau mit seinem Schreiben im Zentrum stand, verstand es, in seiner ehrlichen und unmittelbaren Art, die BesucherInnen in seinen Bann zu ziehen. Zuerst im Format „Literatur am Tisch“, in einer kleinen Runde, die alle seinen Roman bereits gelesen hatten, die sich in einer Auseinandersetzung mit dem Buch bis in die Feinheiten seines Schreibens vorwagten. Und danach in einer klassischen Lesung im Scheinwerferlicht, vor einem Publikum, das dem Autor in äusserster Konzentration hinein in seine Geschichte folgte.

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“

Beitragsbilder © Philipp Frei

Sommerfest im Literaturhaus Thurgau

«Der Wod» mit Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger und «Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

Frédéric Zwicker, Karl Rühmann, Urs Faes, Peter Stamm, Usama Al Shahmani, Michael Hugentobler, Annette Hug, Stefan Keller, Jochen Kelter, Dragica Rajčić Holzner, Annina Haab, Zsuzsanna Gahse, Ivna Zic, Lubna Abou Kheir, Michael Fehr, Thomas Kunst, Christoph Luchsinger, Christine Zureich, Christian Uetz, Charles Linsmayer, Silvia Tschui, Klaus Merz, Isabella Krainer, Lea Frei, Marianne Künzle, Sasha Filipenko, Nora Bossong, Peter Weibel, Rudolf Bussmann, Simone Lappert, Andreas Bissig

Das waren die Gäste in der vergangenen Spielzeit: Prosa, Lyrik, Musik, Installation, Illustration

Die Quellen, aus denen ein Literaturhaus schöpfen kann, sind unermesslich. Das, was kommen wird, wird nicht nur die Besucherinnen und Besucher der einzelnen Veranstaltungen begeistern, sondern auch all jene, die etwas von ihrer Kunst in diesem Haus zum besten geben werden.

Silvia Tschui mit ihrem Roman «Der Wod»

Urs Faes schrieb zum 20. Jubiläumsjahr unseres Literaturhauses:
„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben ist immer beides.

Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden und Hörenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.»

Zusammen mit Urs Faes machte ich manchen Spaziergang. Schreiben und Lesen in diesem Haus ist ein Geschenk. Nicht nur für Urs Faes. Mit allen Gästen, die hier wirken mit denen ich ins Gespräch kam, schwärmen diese von den Besonderheiten, der Magie dieses Ortes. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Schriftstellerin Mercedes Lauenstein, die sich zum Schreiben für ein paar Wochen in diesem Haus einquartierte. Sie erzählte davon, wie sehr dieses Haus zu einem Resonanzraum werden kann, Empfindungen verstärkt, dem Stillen eine Stimme geben kann.
Vielleicht wirkt ja noch etwas von dem Geist, den Emanuel von Bodman vor mehr als 100 Jahren erwirken wollte, gingen doch damals schon Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse in diesem Haus ein und aus. Es sollte ein Ort der Begegnung sein, ein Ort der Muse, ein Ort des gegenseitigen Beschenkens.

Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger

Das Literaturhaus Thurgau ist ein Leuchtturm in der Literaturlandschaft Schweiz. Ein unverzichtbarer, ein weit in die Ferne leuchtender.

Auch wenn mich im Gespräch mit durchaus Leseinteressierten immer wieder die Überraschung trifft, dass viele von der Existenz dieses Hauses gar nicht wissen, bin ich überzeugt, dass wir in diesem Kanton mit diesem Haus allen Grund hätten, uns mit geschwellter Brust in der Kulturlandschaft Schweiz zu positionieren. Nicht nur weil die Bodman-Stiftung und der kleine Kanton Thurgau seit 22 Jahren ein eigenes Literaturhaus tragen, sondern weil die Liste derer, die in diesem Haus lasen, für mich als Literaturliebhaber und -geniesser mehr als beeindruckend ist. Weil ich jedes Mal, wenn ich im Haus oder ums Haus bin, wenn ich Menschen durch die Räume führe, wenn sich alles aufs Wort fokussiert, spüre, dass dieser Ort, dieses Haus ein Kraftort ist.

Klar wünschte ich diesem Haus mit jeder Veranstaltung ein volles Haus, ein Publikum, das sich auf Abenteuer einlässt. Klar weiss ich, dass mit den Geschehnissen in den vergangen zwei Jahren viele, vor allem ältere Stammgäste dieses Hauses, aus lauter Vorsicht den Weg nach Gottlieben nicht mehr so oft oder gar nicht mehr auf sich nehmen. Umso mehr danke ich ihnen, die sie hier sind und mit uns dieses kleine Sommerfest feiern. Dass sie hier sind und dem Haus mit jedem Besuch die Ehre erweisen, auf dass es seinen Platz in der Kulturlandschaft rechtfertigen kann, auch wenn Medien kaum Notiz von dieser Quelle nehmen.

«Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

An diesem Sommerfest bieten wir ihnen ein ganz besonderes Geschenk, nicht nur Speis und Trank, sondern Literatur in vielfacher Form und Musik. Um 20 Uhr mit Lesung und Konzert mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger, die ihnen bereits eine Kostprobe gaben und bis 20 Uhr mit dem Textkiosk, mit und von Laura Vogt und Karsten Redmann. Laura Vogt, die mit ihrem letzten Roman „Was uns betrifft“ schon einmal Gast hier war und Karsten Redmann, der mit dem Erzählband „An einem dieser Tage“ Vorfreude auf seinen Roman schürt, schreiben für sie im «Textkiosk“ Texte. Besuchen sie den Tisch mit den beiden SchriftstellerInnen. Erstehen Sie sich kostenlos ein Unikat, ein literarisches Kleinod, ein ganz besondere Erinnerung an den denkwürdigen Sommer 2022. Seien Sie mutig! Zwei, drei Wörter an die beiden und ihr Schreibmaschinengeklapper geht los. Und natürlich dürfen Sie den beiden über die Schulter gucken. Wenn hat man schon die Gelegenheit, SchriftstellerInnen bei ihrer Arbeit zuzuschauen!

Zum Schluss, liebe Gäste, möchte auch ich danken. Zum einen der Bodman-Stiftung, seinen Stiftungsräten, bei der Kulturstiftung Thurgau, dem Kulturamt Thurgau, bei Sandra Merten, der Buchbinderin im Erdgeschoss für die Betreuung der Webseite und die Freundlichkeiten allen Gästen des Hauses gegenüber. Ganz besonders aber Brigitte Conrad, die für dieses Haus viel mehr als eine Sekretärin ist. Brigitte Conrad ist das Rückgrat dieses Hauses. Ich verneige mich.

Und dann ganz zum Schluss: Das neue Programm ist in Druck. Wenn Sie es erhalten, tragen Sie es hinaus zu all jenen, die nicht einmal wissen, dass in Gottlieben der Nabel der Muse zu finden ist. Und vergessen sie nicht: Das aktuelle Programm bietet im September drei ultimative Highlights!

Geniessen Sie die Perlen!

Gallus Frei-Tomic, Programmleiter Literaturhaus Thurgau

Samstag, 20. August, Sommerfest im Literaturhaus Thurgau: «Der Wod» mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger & «Textkiosk» mit Laura Vogt und Karsten Redmann

Jeden Sommer feiert das Literaturhaus mit einem Sommerfest die Literatur, die Bodman-Stiftung, all die Zugewandten und FreudInnen – und sich selbst. Auch Sie sind eingeladen zu Speis, Trank und einem ordentlichen «Gutsch» Kultur mit:

Silvia Tschui – «Der Wod» mit Philipp Schaufelberger – Text, Sound und Gesang

In «Der Wod» (Rowohlt 2021) erzählt Silvia Tschui die Geschichte einer schweizerisch-deutschen Unternehmerfamilie, die von einem lange zurückliegenden Sündenfall bis in die Gegenwart verfolgt wird. Tschui, die 2019 für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert war, berichtet von Geheimdienst-Agenten und Nazi-Widerständlern, von Berner Künstlerkreisen und Hell’s Angels – und nicht zuletzt vom Wod, dem Jäger einer norddeutschen Sage, der den Figuren dieser Familiensaga immer wieder als Personifikation der Angst erscheint. Das reichhaltige Personal ihres vielstimmigen neuen Romans präsentiert die Autorin in einer etwas anderen Form, nämlich mit Lesung, Gesang und Zufallsgenerator, begleitet von Philipp Schaufelberger an der Gitarre.


„Textkiosk“ mit den SchriftstellerInnen Laura Vogt und Karsten Redmann

Laura Vogt und Karsten Redmann schreiben Texte auf Bestellung. Ob kurze Briefe, Gedichte, kleine Geschichten – stets hantieren sie mit kunstvoll gedrechselten Satzgirlanden; allzeit das verbale Risiko suchend. Andere jonglieren mit bunten Bällen, wir werfen Worte in die Luft und wirbeln sie wild herum. Bei „Textkiosk“ heisst es: Jeder Text ein Unikat. Und alle Texte zusammen ergeben eine wunderbare Erinnerung an Ihr Fest. Mal surreal, mal witzig, mal tiefgehend, mal Dada; alles ist möglich. Neue literarische Welten zu erschaffen ist ihrer täglich Brot.

Der Anlass ist kostenfrei!

«so viel gefüll» Simone Lappert und Andreas Bissig, eine Performance

Es sollte ein Abenteuer sein, ein Experiment. Ein solches könnte scheitern, das Abenteuer in einem Fiasko enden. Aber da ich sowohl die Lyrikerin Simone Lappert wie den Musiker und Komponisten Andreas Bissig kannte, beide schon erlebt hatte, wusste ich, es würde klappen.

Ich hörte Simone Lappert mit ihrem ersten Gedichtband am Internationalen Lyrikfestival 2022 in Basel. Ich hatte mir ihren Gedichtband «längst fällige verwilderung» schon länger besorgt, wollte mit der Lektüre aber so lange warten, bis ich den Sound ihrer Stimme in meinem Kopf haben würde. Ich wusste, Gedichte und Stimme würden sich unauslöschlich miteinander verzahnen. Was dann auch wirklich geschah, was noch immer geschieht, wenn ich ihren Gedichtband zu Hand nehme und darin lese. Jetzt noch viel mehr, nach mehrmaliger Lektüre, nach einer Performance mit der Bassisten Martina Berther an den Solothurner Literaturtagen 2022 und nun nach der einen im Literaturhaus Thurgau mit dem Saxophonisten Andreas Bissig.

Eindrücke aus dem Prozess:

Simone Lappert beweist, dass Lyrik weit weg sein kann von vergeistigter, intellektuell verstiegener Wortkunst, die sich mehr verschliesst als offenbart. Simone Lappert Gedichte sind Sinn-Bilder, sinnlich im wahrsten Sinne des Wortes, atmosphärisch dicht, mit Worten und Sätzen gezeichnet, die sich wie Fahrten durch innere und äussere Landschaften anfühlen, manchmal gar in Breibandmanier, durch die Waagrechten der Zeit und die Senkrechten des Seins. Bilder voller Leidenschaft, Liebeserklärungen an Sprache, Klang, das Bild, den Moment und das Gefühl.

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

 

lieblingsmensch

ich stürze mich in deinen brombeerblick,
will wurzeln schlagen hinter deinen ohren,
wo du nach katze riechst und sommerfell,
ich will moosraufen und mohnwälzen mit dir
und ohne adresse hausen am hang.
ich will all deine schatten streicheln,
in deinen dunklen ecken singen,
ich will dir sämtliche monde kaufen,
eine veranda und einen schaukelstuhl,
ich will dich einatmen und aussprechen,
mich rau reden an dir.

Die beiden KünstlerInnen Simone Lappert und der Saxophonist Andreas Bissig kannten sich bis zur Begrüssung am Morgen dieses gemeinsamen Tages nicht. Es gab wohl die eine oder andere Absprache. Aber als ich die beiden nach einem Begrüssungskaffee am Seerhein in ihre Arbeit entliess, war es ein Abenteuer, ein Weg ins Unbekannte. 

Andreas Bissig verstand es vorzüglich, den Text mit seiner Musik zu unterstreichen. Sie beide, Simone Lappert und Andreas Bissig, sind keine KünstlerInnen der lauten Töne, sehr wohl aber der feinen Zwischentöne, der Untermalungen, der filigranen Klang- und Wortkasskaden.

«Auszug aus meiner Improvisations-Partitur für den gemeinsamen Auftritt mit Simone Lappert vom 8. Juli 2022: Zeit, dunkel, knacken -> Auto-Groove -> leise, zerzaust, warm -> (stop) -> Moon-Raggae -> Glühmotten -> […] -> Rückblende, optimistisch -> (stille) -> AUSRASTEN […] Herzlichen Dank an alle für die inspirierenden Begegnungen.» Andreas Bissig

 

2013

es ist nur noch ein leises da:
hinter dem zaun das haus und die geschrumpften zimmer,
die hierarchie der birken leicht verschoben,
zwischen den zweigen lücken, die es damals schon gab.
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten,
und was kümmert den Hasel sein wachsender schatten,
was die hagebutte der fortgang der zeit,
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre auf der abgespielten haut.

 

Simone Lappert «längst fällige verwilderung», Diogenes, 2022, 80 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-257-07189-4

«In Simone Lapperts Lyrik vermoosen Gedanken und leuchtet der Mond siliziumhell. Die Liebe schmeckt nach Quitte, die Katastrophe nach Erdbeeren, und die Dichterin fragt sich, fragt uns: sag, wie kommt man noch gleich ohne zukunft durch den winter? Gedichte über Aufbrüche, Sehnsüchte, Selbstbestimmung und die fragile Gegenwart. Alle Sinne verdichten sich, aller Sinn materialisiert sich in diesen Texten voller Schönheit, Klugheit und Witz.»

literaturblatt.ch und das Literaturhaus Thurgau danken der Autorin und dem Diogenes Verlag herzlich für die Erlaubnis, zwei Gedichte aus dem Band «längst fällige verwilderung» veröffentlichen zu dürfen.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau, Gallus Frei / Literaturhaus Thurgau

„längst fällige verwilderung“ Die Dichterin Simone Lappert und der Musiker Andreas Bissig in einem Experiment

Freitag, 8. Juli, 19.30 Uhr – die Performance im Literaturhaus Thurgau

„Simone Lapperts erster Lyrikband legt einen brodelnden Untergrund frei.“

Simone Lappert (1985) war mit ihrem letzten Roman „Der Sprung“ 2019 auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis. Schon bei den Lesungen zu diesem Roman machte sie auf den Literaturbühnen im In- und Ausland klar, dass es ihr bei der Präsentation ihrer Spracharbeit nicht um blosse Wiedergabe geht. Simone Lappert macht ihre Sprache zu Ausdruck, zu Gestik, zu Lautmusik. Da bringt eine junge Frau Atmosphäre zum Wabern!Schon alleine deshalb konnte man nur gespannt sein auf ihren aktuellen Lyrikband „längst fällige verwilderung“. Und was Simone Lappert schreibt, euphorisiert!

Zusammen mit Andreas Bissig (1985), der sich als Musiker, Komponist, Sound- und Gamedesigner profiliert und seit 2017 an der Hochschule Luzern unterrichtet, experimentieren die zwei einen ganzen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Sie steigen, ohne je miteinander gearbeitet zu haben, in dieses Unternehmen ein und präsentieren abends die Performance! Ein Abenteuer!

«Eine transdisziplinäre Kooperation ist für mich immer auch eine Begegnung, ein künstlerisches Experiment, ein Dialog zwischen verschiedenen Ausdrucksformen. Im besten Fall neugierig und ergebnisoffen.» Simone Lappert

Simone Lappert, Schriftstellerin und Dichterin ist auch Mitorganisatorin der Basler Lyriktage, an denen jedes Jahr der Basler Lyrikpreis vergeben wird. Simone Lappert weiss aus vielfacher Erfahrung sehr genau, was mit solchen experimentellen Gefässen zu erreichen ist. Allen Gästen an diesem Freitag wird ein einmaliges, nicht zu wiederholendes Kunststück der Extraklasse geboten!

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Bussmann, Weibel, Kaufmann und die Kraft der Literatur

Je 75 Jahre Rudolf Bussmann und Peter Weibel und 10 Jahre Verlag edition bücherlese – Grund genug, um mit Büchern, Gedichten und Geschichten zu feiern!

Peter Weibel und Rudolf Bussmann

Rudolf Bussmann und Peter Weibel schreiben beide seit über 40 Jahren. Beide sind mit ihren Werken tief verbunden mit dem thurgauischen Waldgut-Verlag und ihrem Verleger Beat Brechbühl, mit dem beide mehrer Werke ihres Schaffens veröffentlichten, Lyrik ebenso wie erzählende Literatur.

Seit ein paar Jahren nun sind beide in der luzernischen edition bücherlese beheimatet, den die Verlegerin Judith Kaufmann vor einem Jahrzehnt gründete. Damals kein leichtes Unterfangen, das ein mutiges Bekenntnis zum gebundenen Buch mehr als voraussetzte und heute noch immer ein Wagnis ist. So wie Schreiben und „Büchermachen» stets ein Wagnis bleibt, wird doch seit Jahrzehnten der Totengesang des anspruchsvollen Buches gesungen.

Was in der Verlagswelt leider immer wieder geschieht und mit dem Waldgut-Verlag exemplarisch zur Kenntnis genommen werden muss, berührt Lesende in der Regel nur marginal, kann aber für Autorinnen und Autoren existenziell werden. Wenn Verlage aufgekauft werden und sich ein Verlagsprogramm mit einem Schlag radikal neu ausrichtet, wenn Verlage untergehen, weil sie es nicht schafften, sich von einer einzigen Person zu emanzipieren, wenn sich in Verkaufszahlen und Resonanz nicht einstellt, was Schreibende und Verlegende nicht nur hoffen, sondern brauchen, dann offenbart sich, wie schnell ein sicher geglaubter Hafen, ein Fels in der Brandung bröckeln kann.

Der Abend im Literaturhaus Thurgau war aber alles andere als gegenseitiges Wundenlecken und Bedauern. Die Verlegerin Judith Kaufmann genauso wie die beiden gestandenen Dichter; sie alle strahlen in der Kraft eines Tuns, das weit über Selbstverwirklichung und Selbstinszienierung hinausgeht. Sie alle beweisen mit ihrem Tun und Schaffen wie sehr Leidenschaft für ihre Kunst zum Segen all jener wird, die zu geniessen verstehen, die das Geschenk der Literatur entgegennehmen.

So las Peter Weibel aus seinem Erzählband „An den Rändern“, Geschichten, die nur jemand schreiben kann, der weiss. Keine Tinkturen, keine Rezepturen, keine Kuren und keine Therapien, sondern dass uns letztlich nur die Liebe aus diesem mehr oder minder langen Stück Leben retten kann. Und Rudolf Bussmann aus seinem Roman „Der Flötenspieler“, einem Roman, in dem einer nicht nur vor seinen Aufgaben flieht, auch vor sich selbst, all den Unerklärlichkeiten, dem Scheitern, seiner Psyche, in der er sich verliert. „Der Flötenspieler“ ist ein Abenteuer, ein literarisches, hellsichtiges Abenteuer, dem ich auch 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung abenteuerliche LeserInnen wünsche!

«Es war eine wunderbar stimmige literarische Geburtstagsfeier, die das Bodmanhaus für Peter Weibel und mich bereithielt, mit Gallus Frei als wachem Moderator, einem konzentrierten Publikum und einer munteren Schar beim Apéro. Der herrliche Sommerabend tat ein Übriges, die Gäste tüchtig zu verwöhnen. Herzlichen Dank allen Beteiligten und auch der Fotografin Sandra Kottonau.» Rudolf Bussmann

«Der Abend hat mich gewärmt, die Worte, die verschiedenen Wortklänge haben mich gewärmt, und auch die langen Gespräche über Worte und zwischen den Worten. Ich habe den hellen Abend mitgenommen, vom See und vom Haus mit mir genommen, und einen Namen für unsere Verbindung auf der Wortbühne gefunden: Wahlverwandtschaften.» Peter Weibel

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Leidenschaft für Politik – ein Abend mit Nora Bossong

„Demokratie ist nicht perfekt, und wir leben mit ihr nicht in der besten aller möglichen Welten; wir leben nur in einer der besten unter den bislang ermöglichten.“ Nora Bossong

Ganz zu Beginn stand eine Anfrage eines Verlags, ob Nora Bossong ein Buch über Demokratie schreiben wolle, denn das Thema beschäftigt die Autorin nicht erst mit diesem Buchprojekt, sondern weil sie sich immer wieder in politische Diskussionen, sei es nun schriftlich oder auf Bühnen, pointiert einmischt. Jetzt erst recht, wo man sie nach Veröffentlichung ihres Buches und dem Ausbruch des Ukrainekriegs immer wieder in prominente Gesprächsrunden einlädt.

Wer sich mit Literatur auseinandersetzt, wird in den letzten fast 20 Jahren unweigerlich mit dem Namen Nora Bossong konfrontiert. Sei es als Dichterin, von der 2018 der Lyrikband „Kreuzung mit Hund“ bei Suhrkamp erschien, Lyrik, die sich wie ihr ganzes Schreiben, mit der Welt verzahnt. Sei es als Romancier von der 2006 ihr Debüt „Gegend“ Wellen schlug oder 2019 „Schutzzone“, ein Roman, der im gleichen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Aber Nora Bossong ist auch Kolumnistin, Essayistin und Sachbuchautorin mit den Büchern “Rotlicht“ oder „auch morgen“.

Nora Bossong mischt sich ein, bringt sich ein, nun seit bald 20 Jahren mit wacher und deutlicher Stimme weit über den Literaturbetrieb hinaus, nimmt zu aktuellen Fragen weit über Deutschland hinaus Stellung, argumentiert mit einer Stimme, die nicht zu überhören ist.

Nora Bossong «Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens», Ullstein, 2022, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-550-20200-1

Nora Bossong sprach für ihr Buch „Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens“ mit über zwei Dutzend ExponentInnen aus Politik, Forschung und Kultur, mit der Generation der heute (ungefähr) 40-jährigen, die nicht nur in Deutschland mehr und mehr das Ruder, Verantwortung übernehmen. Auch weil die Autorin selbst dieser Generation angehört, war die Auseinandersetzung mit dieser Altersgruppe, die sich zwischen „grauer Realpolitik“ und der Generation Greta Thunberg einzubringen versucht, das ideale Betrachtungsfeld, nicht zuletzt deshalb, weil es angesichts der zu bewältigen Aufgaben nur funktionieren kann, wenn sich die Gesellschaft des Werts einer funktionierenden Demokratie bewusst ist. So verknöchert die Strukturen der einen Generation erscheint, so schrill und laut gebärdet sich ein Teil der Fridays for Future-Generation. Eben jene Generation der „Geschmeidigen“ muss es sein, die verbinden soll, die die Ängste und Sorgen einer jungen Generation ebenso ernst nehmen muss, wie das Bewahrende des Gegenübers.

mit Moderatorin Cornelia Mechler

Nora Bossong ist überzeugt, dass in den jungen „MacherInnen“ nicht nur das realpolitische Tagesgeschäft und die Sorge um Wahlen spielt, sondern ebenso Visionen in eine mögliche Zukunft. Dies beweisen doch Koalitionen der Gegenwart, die in der Vergangenheit nie möglich gewesen wären. Nur Zusammenarbeit und die Fähigkeit sich an gemeinsamen Zielen zu orientieren gekoppelt mit dem ungebrochenen Glauben an die Demokratie kann mehrheitsfähig werden.

«Ein atmosphärischer Raum, ein aufmerksames Publikum und eine anregende Moderatorin auf der Bühne. Danke für den schönen Sommerabend in Gottlieben, der stimmig mit Aperó und Generationsgesprächen ausklang.» Nora Bossong

Engagierte, denkende, handelnde und reflektierende Menschen wie Nora Bossong machen Hoffnung!

Beitragsbilder © Literaturhaus Thurgau

«Schweigen ist keine Option» Sasha Filipenko mit «Die Jagd» im Literaturhaus Thurgau

Der Veranstaltungssaal unter dem Dache des Literaturhauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Gewiss, das Thema, die Kulisse, die Geschichte seines neuen Romans «Die Jagd» ist intensiv mit den Geschehnissen des Krieges in der Ukraine verwoben. Aber der Roman macht auch schmerzhaft deutlich, wie sehr Gegenwehr im Abgrund enden kann.

Als ich in der Vorschau des Diogenes-Verlags Ende 2019 den Namen Sasha Filipenko las und die Vorankündigung seines ersten auf deutsch erscheinenden Romans „Rote Kreuze“, war meine Neugier gross: Ein Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber und Fernsehmoderator schreibt einen Roman, der die russische Geschichte eines ganzen Jahrhunderts zum Thema macht. 2020 musste Sasha Filipenko seinen damaligen Wohnort St. Petersburg mit seiner Familie verlassen, Russland verlassen.

Mit seinem zweiten Roman „Der ehemalige Sohn“ traf ich den Schriftsteller mit seiner Familie im Sommer 2021 in den Walliser Bergen am Literaturfestival Leukerbad, als er im idyllischen Garten eines Hotels aus der Geschichte eines jungen Mannes las, der nach 10 Jahren Koma in einer Stadt, einem Land, in Minsk, in Weissrussland aufwacht, das nach immer weiteren Verhärtungen einer undemokratischen Ein-Mann-Regierung immer mehr in die Isolation rutscht. So gar keine Idylle in der Sonne der Walliser Berge.

Dass Sascha Filipenko zusammen mit Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen und Anya Schutzbach Kuratorin des Literaturhauses Wyborada St. Gallen, Gäste auf der Bühne in Gottlieben waren, freut mich ganz besonders. Und dass diese Veranstaltung auf so viel Interesse stiess und das zahlreiche Publikum trotz des literarischen Überangebots an diesem Wochenende im Kanton Thurgaus den Weg ins Literaturhaus fand, freut den Veranstalter gleichermassen wie den Autor, der nicht müde wird im Kampf darum, dass seine Bücher nicht einfach als spannende Geschichten gelesen werden.

So erzählte Sasha Filipenko nicht nur aus seinem Buch, sondern aus seinem wirklichen Leben, das sich in vielem kaum von dem unterscheidet, was das Buch in erschreckender Manier erzählt. Zum Beispiel von seiner Frau, deren Mutter in Russland nicht glauben wollte, das ein Plakat mit der Aufschrift «No war» in einer russischen Stadt zu einer Verhaftung reicht. Also reiste Sasha Filipenkos Frau Masha nach St. Petersburg und stand mit einem Plakat mit der Aufschrift «Meine Mutter hat behauptet, dass man mit einem Plakat mit der Aufschrift NEIN ZUM KRIEG nicht verhaftet wird» – um postwendend von Polizisten abgeführt zu werden.

Ganz besonders bedanken möchte ich mich für die unkomplizierte Kooperation zwischen den Literaturhäusern Wyborada St. Gallen und Thurgau. Anya Schutzbach stürzte sich mit Begeisterung in die Organisation und las an diesem Abend die deutschen Passagen aus dem Roman „Die Jagd“. Grosser Dank gebührt Ulrich Schmid, der sich mit Sicherheit und grosser Kompetenz in die Doppelaufgabe eines Moderators und Übersetzers gab.

Rezension «Die Jagd» und «Rote Kreuze«