Amir Hassan Cheheltan «Der Zirkel der Literaturliebhaber», C. H. Beck

Wie leicht ist man versucht, beim Blick in den Nahen Osten, in den Orient, in den Iran nur den grau-braunen Schleier zu sehen, den die Medien, die Geschichte, die Zerstörung, die Kriege in den vergangenen Jahren über das Land legten. Allzu leicht beschränkt sich das Bild auf Figuren wie den Schah Reza Pahlavi oder den Ajatollah Chomeini, der nach dem Sturz des Diktators zehn Jahre iranisches Staatsoberhaupt war oder Mahmud Ahmadineschād, einer der fundamentalistischen Präsidenten, die in der Drohgebärde gegen den Westen, den Iran zu einem Atomstaat machten.

Dabei ist der Iran einer der Wiegen der Kultur, wie Marco Polo berichtete; das Paradies, in dem Milch, Honig, Wein und Wasser fliessen, üppig in Vegetation und Kultur, reich an irdischen und geistigen Schätzen.

Davon erzählt Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Roman „Der Zirkel der Literaturliebhaber“. Amir Hassan Cheheltan, der trotz seiner unverhohlenen Kritik an der iranischen Führung, der grassierenden Ungleichheit und der Bevormundung von SchriftstellerInnen, noch immer in Teheran lebt, schildert ein kleines Stück seiner eigenen Geschichte und ein grosses Stück der Geschichte seines Landes.

Amir Hassan Cheheltan «Der Zirkel der Literaturliebhaber», übersetzt von Jutta Himmelreich, C. H. Beck, 2020, 252 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-406-75090-8

Über drei Jahrzehnte lang war das Gästezimmer in der Wohnung seiner fiktionalen Eltern Schauplatz wöchentlich stattfindender Literaturzirkel. Jeden Donnerstag besuchten die Cheheltans acht Gäste, um mit den Eltern und später auch mit dem älter werdenden Sohn über Literatur zu sprechen, Verse zu rezitieren, abzutauchen in die Jahrhunderte lange klassische, persische Literatur: Rumi, Haffs, Saadi, Ferdowsi, alles Namen, die wie Fixsterne am „persischen Literaturhimmel“ stehen und für mich (bislang noch) völlig unbekannt sind.
Mit den immer tiefgreifender werdenden Veränderungen in der iranischen Politik und Gesellschaft der Achtziger Jahre, nach dem Sturz von Schah Reza Pahlavi und der Machtergreifung der fundamentalistischen Ajatollahs wird der Zirkel im Gästezimmer der Familie immer mehr zu einer Insel, einem letzten Rückzugsort, der „Ruhe, Liebe und Frieden bot“. Aber selbst diese Insel ist nicht vor den langen Armen des Geheimdienstes SAVAK geschützt.

Amir Hassan Cheheltan erzählt am Beispiel dieses Zirkels, was mit der einst aufgeschlossenen Kultur nicht nur im 20. Jahrhundert passierte. Er leuchtet in eine Tradition, eine Literatur, die sich selbst im Vergleich zur europäischen um ein Vielfaches weiser, freizügiger, lustvoller, komischer, gar subversiver gab, auch der offiziellen Sittenlehre und den gesellschaftlichen Zwängen im eigenen Land gegenüber.

Amir Hassan Cheheltan erzählt, wer den Erzähler in die Welt der Fantasie, des Erzählens einführte, von einer Grossmutter, die ihn mitnahm, Fragen mit Geschichten beantwortete. Von Eltern, die die Revolution und ihre Folgen zu ignorieren versuchten, in der Hoffnung, sich so zu retten. Von einem Vater, der eigentlich nur die Literatur liebte und das Leben in der Familie über Jahrzehnte auf den Abend am Donnerstag ausrichtete. Von den Abenden in der Leidenschaft verinnerlichter Literatur. Davon, wie sehr die politisch immer enger werdenden Zustände im Land immer unvereinbarer werden mit dem, was die Literatur an Offenheit, Freiheit und Freude offenbart.

Wer „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ liest, spürt nach, was es heisst, in der Literatur der eigenen Kultur aufzugehen. Die dortige Kultur ist von Geschichten durchzogen, Geschichten ein Schatz, der von Generation zu Generation weitergetragen wird. Sie sind im Gegensatz zur westlichen Tradition weit mehr als bloss Unterhaltung oder Kunstwerk.

„Der Zirkel der Literaturliebhaber“ ist ein Tor zu einer anderen, fremden Welt. Amir Hassan Cheheltan sein mutiger Türöffner!

Amir Hassan Cheheltan und seine Übersetzerin Jutta Himmelreich erhielten den Internationalen Literaturpreis 2020 für «Der Zirkel der Literaturliebhaber». Von Jurymitglied Verena Lueken heisst es in der Begründung:

„Dies ist ein Buch, das sich nicht von den Absteckungen der Zuschreibung ‚Roman‘ beeindrucken lässt. Ein Buch, das auf den Erinnerungen des Autors aufgebaut, also als autobiografisch im weiteren Sinn zu verstehen ist, ausser: dass der Autor seine eigene Jugend um 15 Jahre etwa verschoben hat, nämlich in die Zeit der Islamischen Revolution 1978, als er selbst bereits Anfang Zwanzig war. Im Zentrum steht die Literatur, vor allem die klassische persische, aber nicht ihre offizielle Lesart. Sondern ihre subversiven Strömungen, ihre homoerotischen, ihre pornografischen Anteile. Es ist also in mehrfacher Hinsicht ein doppelbödiges Buch, was sich auch in der Sprache spiegelt, die Jutta Himmelreich im Deutschen mal blumig, mal sarkastisch, mal völlig nüchtern übersetzt – eine Coming-of-Age-Story aus Teheran, ein literaturhistorisches Seminar, ein Nachfabulieren althergebrachter Erzählungen, eine Geschichte der historischen Umbrüche und Katastrophen, und das alles in einem Buch, das, wie alle Bücher Cheheltans der vergangenen Jahre, in seiner Originalsprache bis auf weiteres nicht erscheinen wird.“

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, studierte in England Elektrotechnik, nahm am Irakkrieg teil und veröffentlichte in Teheran bislang Romane und Erzählungsbände. Zwei Jahre hielt er sich wegen der Bedrohung durch das Regime mit seiner Familie in Italien auf. Sein Roman «Teheran, Revolutionsstrasse» erschien 2009 als Welt-Erstveröffentlichung auf Deutsch, es folgten «Teheran, Apokalypse» und «Teheran, Stadt ohne Himmel» inzwischen liegt die gesamte Teheran-Trilogie bei C.H.Beck vor. Zuletzt erschien hier sein Roman «Der Kalligraph von Isfahan». Cheheltan veröffentlicht Essays und Feuilletons in der FAZ, der SZ, der ZEIT und anderswo.

Jutta Himmelreich studierte Romanistik, Amerikanistik und Ethnologie in Frankfurt, Tucson, Arizona und Paris. Sie ist seit 1985 als Übersetzerin und Dolmetscherin in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Farsi tätig.

Beitragsbild © Verlag C.H.Beck

Norbert Scheuer «Winterbienen», C. H. Beck

Nicht alle in Kall in der Eifel mögen Norbert Scheuer. Und nun hat er es endlich getan, endlich «etwas Gutes» über Kall, die Gemeinde in der Eifel, geschrieben. Dabei erzählt Norbert Scheuer, dessen Bücher sich tatsächlich stets um diese Gemeinde drehen, immer von der Welt, vom Hin- und Hergerissen-Sein. Dass er mit «Winterbienen», seinem neusten Roman, einmal mehr auf einer Long- oder Shortlist zu einem grossen Preis steht, verwundert mich nicht.

Egidius ist Bienenzüchter. Neben gelegentlichen Nachhilfestunden in der städtischen Leihbibliothek in Latein ist das seine einzige offizielle Einnahmequelle in einem kleinen Städtchen in der Eifel. Die Situation ist gespannt, der Krieg 1944 für die einen verloren und die andern kurz vor der letzten siegreichen grossen Gegenoffensive. Egidius ist Epileptiker, was für den parteistrammen örtlichen Apotheker Grund genug wäre, den Bienenzüchter zu verraten, denn seit die Nationalsozialisten an der Macht sind, gelten nicht nur Epileptiker als unwertes Leben. Euthanasie kostete Zehntausenden ihr Leben.

Während Bienenvölker nur als Kollektiv funktionieren und sich Egidius fast väterlich um seine Völker kümmert, zerfällt das Tausendjährige Reich zusehends. Man macht in der Umgebung des Städtchens Jagd auf desertierte Wehrmachtssoldaten und abgeschossene amerikanische Soldaten und brüstet sich in den Gasthäusern des Städtchens damit, ordentlich aufgeräumt zu haben. 

Egidius erwartet seinen nächsten Auftrag als Flüchtlingshelfer. Während der Krieg immer unkontrollierter tobt, gibt es noch immer Verzweifelte, die über die nahe Grenze nach Belgien fliehen wollen, weg vom Epizentrum faschistischer Gräuel. Das, was Egidius für seine Fluchthilfe bekommt, braucht er, um die Medikamente beim Apotheker zu bezahlen, die ihm ein einigermassen erträgliches Leben garantieren, die die Anfälle erträglich machen und seine Einschränkung verstecken lässt. Egidius packt Flüchtlinge auf die Ladefläche seiner Kutsche und tarnt diese als zu transportierende Bienenvölker. Ein gewagtes Unternehmen an all den Kontrollen vorbei. Zumal sich Egidius als Frauenversteher- und verführer im Städtchen wohl Freundinnen macht, aber auch Feinde.

„Das Volk schrumpft zwangsläufig, denn um die kalte Jahreszeit zu überleben, braucht es nicht so viele Bienen.“ Ein Bild, das auch für die letzten Monate des sterbenden Dritten Reiches passt. Während Heerscharen von jungen und alten Männern, den Landsern, in einen sinnlosen Endsturm geschickt wurden, Minderjährige zu Kindersoldaten wurden, in Radio und Zeitungen die unmittelbare Nähe des Endsieges prophezeit wurde, starben Deutsche in Städten, Kellern, Schützengräben, U-Booten und Schiffen wie die Fliegen. Eine kalte Jahreszeit!

Der Krieg wird immer unmittelbarer. Bombentreffer, Treffer von Tieffliegern. Egidius Fluchthilfe immer riskanter. Eine junge Frau verliert ihr Neugeborenes nach seiner Fluchthilfe, weil sie vergewaltigt wird und niemand merkt, dass im Rucksack auf ihrem Rüchen ein kleines Kind versteckt ist. Ein Professor stirbt in einem seiner zur Flucht präparierten Transportbienenstöcke. Es droht Verrat überall. Seine Medikamente werden immer knapper, seine Anfälle und Aussetzer immer häufiger. Das Grosse und Kleine kollabiert.

Norbert Scheuer interessiert sich im Kleinen für das Grosse. Sein Roman ist vielschichtig, feinfühlig und von grosser Intensität. Aufgebaut wie das Tagebuch eines Bienenzüchters und -forschers, auf den Spuren von Ambrosius Arimond, einem seiner Vorfahren aus dem 15. Jahrhundert, nimmt mich Egidius Arimond an der Hand und führt mich durch das Urftland, die Gegend um die Gemeinde Kall in der Eifel, zu einer Zeit, als Köln bereits in Schutt und Asche lag und das grosse Sterben apokalyptisch wurde.

Grosse Literatur mit tiefer Wirkung, geschrieben mit einem sensorischen Gefühl für ein Leben in einer Endzeit.

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, und «Am Grund des Universums» (2017). Sein Roman «Überm Rauschen» (2009) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war 2010 «Buch für die Stadt Köln».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

„Zeugnis ablegen“, ein Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu

Michael Kleeberg verbringt zwei Monate als Writer in Residenz im Literaturhaus Lenzburg. Eine einmalige Gelegenheit, um zwei schreibende Schwergewichten über ihre Arbeit sprechen zu hören. Der berlinkritische Hauptstädter, weit gereiste Michael Kleeberg und der aus Rumänien stammende, leidenschaftliche Geschichtenerzähler Catalin Dorian Florescu.

Zwei vor Publikum einzuladen, um herauszufinden, was so unterschiedlich Schreibende verbindet. Mich Literaturverliebten dabeizuwissen, wenn der Mann spricht, der mit „Der Garten im Norden“ vor 20 Jahren ein Buch schrieb, das in meiner Bibliothek so lange ich lebe einen Sonderstatus geniesst. „Der Garten im Norden“ strahlt noch immer aus, was er vor zwei Jahrzehnten an unvergesslichen Leseeindrücken hinterliess. So wie „Jakob beschliesst zu lieben“ 2011 von Catalin Dorian Florescu! Zwei Reliquien in meinen Bücherregalen.

Beide schrieben in ihrer Anfangszeit Theater, eine von vielen Parallelen in den Leben der beiden. Michael Kleeberg über den RAF-Terror, Catalin Dorian Florescu ein Stück in der Empörung über die Schreckenszeit im Ceaușescu-Rumänien. Aber weder das eine noch das andere wurden aufgeführt, schon gar nicht eine Komödie über den RAF-Terror in einer Zeit, als die Agitatoren in gewissen Kreisen Helden waren.

«Ein fantastisches und hartes Jahrhundert zwischen dem Schwarzen Meer und der amerikanischen Metropole New York. Ein Roman voller Tragik und Komik, eine literarische Reverenz an die Fähigkeit des Menschen, sein Glück zu suchen, zu überleben und allen Widrigkeiten zum Trotz zu lieben.»

Kleeberg übersetzt vom Französischen und Englischen ins Deutsche, reist viel und gerne, was sich auch in seinem letzten Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ niederschlug, ein Roman, der niemanden geringeren als „der Idiot“ von Dostojewski zum Paten hat.
In Catalin Dorian Florescus Romanen dreht sich alles um Sehnsucht nach Freiheit. Im Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ treffen sich zwei nach den Terroranschlägen von 9/11 in New York und erzählen sich im Schutz eines Theaters ihre Geschichten. Florescu ist durch und durch Geschichtenerzähler. Ein Mann, der zu sprudeln beginnt, sobald ihm Zuhörer ihre Aufmerksamkeit schenken. Etwas, was man Florescu gerne entgegenbringt, denn er „rauscht“, stichelt, schwärmt und legt ein Panorama aus, ufert zuweilen aus, selbst dann, wenn man ihn zu mässigen versucht. Er schwelgt in seinen Bildern und Geschichten, die er mit sich herumträgt, wie kein anderer in der CH-Literatur.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg verarbeitete in seinem Roman „Der Idiot des 21. Jahrhundert“ 15 Jahre Erfahrungen mit dem Mittleren Osten. Seinen Ursprung nahm der Roman, als Michael Kleeberg vor vielen Jahren im Iran am Grab des iranischen Nationaldichters Hafis (1315 – 1390) stand, bei seinem Mausoleum, zusammen mit Tausenden Menschen mit ihm. Lauter Menschen, die dort die Verse des Dichters aus dem 14. Jahrhundert rezitierten, eines Mannes, der in jenem Land noch viel höher angesehen ist als Goethe in Deutschland oder Shakespeare in England. Gedichte, die damals in vollendeter Poesie Widerstand aussprachen. Worte, die heute fassen, was sich im Iran wegen fehlender Opposition niemand offen auszusprechen traut. Worte, die mit Hafis einen unantastbaren Paten haben. Eine Stimme für die sonst Stummen. Angetan von der Lektüre Goethes „Der fernöstliche Diwan“ schrieb Michael Kleeberg mit „Der Idiot des 21. Jahrhunderts ein Panorama durch das Ost-West-Verhältnis, durch die Zeit. Seine Erfahrungen, die untrennbar mit dem Mittleren Osten verzahnt sind, über die Geschehnisse dort, die sich mit Europa verbeissen und darüber wie das über Jahrhunderte labile Verhältnis zwischen den beiden Polen gerade jetzt geprägt ist von maximaler Distanz angesichts grösstmöglicher Nähe durch Internet und soziale Medien.

Sowohl Kleeberg wie Florescu sind Schriftsteller, die, bevor sie mit dem eigentlichen Erzählen und Schreiben beginnen, tief in ihre Themen hineintauchen, umfangreich recherchieren, um Wahrhaftigkeit zu generieren. Noch viel mehr aber, um das Erzählen glaubhaft, das Erzählen auf der Wahrheit abstützen zu können. Erfindung muss legitim sein, ihr Erzählen damit ein Recht bekommen. Recherche bilde den Boden, mehr als nur Kulisse. Sie prägt das Geschehen, den Weg einer Geschichte und nicht zuletzt eine Arbeitsethik. Literatur ist mehr als Behauptung. „Ein gut sitzender Anzug“, so Florescu, in dem man sich sicher schreibend bewegen kann. Recherche ist Suchen und Vergessen zugleich. Was von der Suche bleibt, wirkt durch die physische Anstrengung des Schreibens in den Text. Aus Wissen wird Intuition. Recherche ist der Erhalt der Würde jener Personen, von denen erzählt wird, selbst wenn sie „erfunden“ sind.

Ein Roman ist immer Findungsprozess, das Resultat unzähliger Spuren, die mit Hilfe der Recherche und Sprache eine literarische Spur durch die Zeit geben. „Ich will Zeugnis ablegen“, meinten beide, Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

© Lothar Köthe

 

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde  er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

© Martin Walker

Rezension von «Der Nabel der Welt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Freiheit ist möglich» auf literaturblatt.ch

 

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Ulrich Woelk «Der Sommer meiner Mutter», C. H. Beck

Im Juli 1969 stecken die Amerikaner ihre Fahne in den staubigen Sand des Mondes. Die ganze Welt schaut zu. In jenem Sommer, «dem Sommer meiner Mutter» wird der Mond für den elfjährigen Tobias zum Sinnbild totaler Veränderung, denn in jener Nacht implodiert sein Weltbild, wird eine grosse Schuld geboren.

Im Sommer 1969 wankt Deutschland in den Nachbeben der Hippiezeit, der sexuellen Befreiung, mehr oder weniger unterschwelliger Rebellion und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. In diesem wirren Sommer findet der elfjährige Tobias in seinen neuen Nachbarn und der um ein Jahr älteren Rosa, jene erste Liebe, die sich unweigerlich und unauslöschlich ins Bewusstsein eines jeden brennt.

45 Jahre später ist aus Tobias ein Astrophysiker geworden, der an der Rosetta-Mission auf den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko mitarbeitet. Rosa und er hatten sich im Sommer 1969 gefunden und wieder verloren. So wie eine Sonde und ein Komet. Rosa wurde Schriftstellerin. Und der Zufall wollte es, dass Tobias eines Tages bei einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse im Publikum der Schriftstellerin sitzt und schlussendlich mit der Bitte um eine Signatur vor ihr steht.

Tobias wäschst in einem beschaulichen Quartier auf, am Stadtrand von Köln. Sein Vater leitender Angestellter, seine Mutter Hausfrau. Zu Beginn des einen Sommers, als die Jeans in Köln landete, ziehen in das leer gewordene Haus gleich in der Nachbarschaft Herr und Frau Leinhard mit ihrer zwölfjährigen Tochter Rosa ein. Er Professor für Philosophie mit langen Haaren, sie Übersetzerin mit Batikhemd und Jeans. Leinhards sind Kommunisten, glauben an die baldige Befreiung des Kapitalismus und aller anderen Fesseln. Rosa trägt ihren Namen nach der Kämpferin Rosa Luxemburg. Tobias Vater glaubt an die Möglichkeiten der Technik und die Wirksamkeit von E605 im Kampf Läuse und anderes Ungeziefer im Garten. Und Tobias Mutter?

Während Apollo 11 sich anschickt den erdnahen Trabanten für die Menschheit zu annektieren, wird aus der Begegnung von Rosa und Tobias eine junge und unsichere Liebe. Rosa, neu in der Stadt und noch nicht sozialisiert, und der eigenbrötlerische Tobias hören zusammen die Schallplatten der Familie Leinhard; Doors, Bob Dylan, Janis Joplin. Eine ganz andere Welt als das, was in der ZDF-Hitparade über die Mattscheibe flimmert. Rosa wird zum Schlüssel in eine andere, fremde Welt. Auch in die Welt der Liebe, der Berührungen, der Entdeckungen eines Sommers, die seine Welt bisher in seinen Grundfesten erschüttert.

Die beiden Familien freunden sich aller Gegensätze zum Trotz an. Man lädt sich gegenseitig ein, besucht die Kirmes, die Mütter mit den Kindern gar eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Während sich die Eltern annähern, gibt es genügend Raum für Rosa und Tobias, dem nahe zu kommen, was Erwachsensein bedeutet; «Es» zu tun. Tobias, gleichermassen angezogen wie verunsichert, sieht die Welt mit andern Augen. Auch das fragile (Un-) Gleichgewicht seiner Eltern, die Fassaden der Erwachsenen. Er verliert mehrfach die Unschuld – und auch seine Familie.

«Der Sommer meiner Mutter» beginnt mit einem Paukenschlag – und der ganze Roman bebt weiter im Aneinandereiben von tektonischen Platten. Scheinbar leicht erzählt beschriebt der Roman die harte Landung auf dem Planet Erde, die historische Bruchkante zwischen dem biederen Nachkriegsdeutschland und dem Aufbrechen in neue Welten.

Ein Mailinterview mit Ulrich Woelk:

Ich erinnere mich gut, an die gestatteten und illegalen Stunden vor dem Fernseher, als sich Apollo 11 auf seine Mission zur Eroberung des Mondes machte. Damals war ich sieben. So wie zwei Jahre später die Niederlage von Muhammed Ali gegen Joe Frazier. So wie viele Erzählungen beginnen mit „Damals, als“. „The Eagle has landed“, meldete Armstrong am 20. Juli 1969. Aber in Tobias Familie riss ein unsichtbares Riff ein nicht wieder zu verschliessendes Loch im Rumpf seiner Familie. Trotzdem schildern sie nicht die Geschichte des Opfers. Aber die Geschichte von Schuld. Ist Schuld unheilbar?

Schuld bleibt. Man kann, wenn man schuldig geworden ist, nur auf Vergebung hoffen, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Was meinen Roman angeht, muss man allerdings hinzufügen, dass sich mein Erzähler schuldig fühlt für etwas, wofür er nicht verantwortlich ist. Er ist ja noch viel zu jung, als die Dinge geschehen, die schließlich so traurig enden. Er ist elf, als sich seine Mutter das Leben nimmt, und dass er in diesem Drama eine so entscheidende Rolle spielt, das ist … ja, was ist es eigentlich? Zufall, Schicksal, ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Umstände? Ich will das gar nicht entscheiden. Als Autor ist es mein Ziel, meine Geschichten zu erzählen, aber nicht zu erklären. Das Leben erklärt uns ja auch nicht, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen selbst dahinterkommen. 

„Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit“, mahnt Tobias Vater seinen Jungen. Ausgerechnet er, der seinen Jungen immer zur Wahrheit mahnt. „Der Sommer der Mutter“ ist der Roman einer Entzauberung. Ist Schreiben der Kampf um die Rückkehr der Verzauberung?

Nein, das denke ich nicht. Für das Schreiben – mein Schreiben – ist gerade die Erfahrung der Entzauberung fundamental. Aber ich fand es schön, für „Der Sommer meiner Mutter“ in die späten Sechzigerjahre und meine Jugend zurückzukehren. Das war beim Schreiben manchmal eigenartig. Man entwickelt bei einer so intensiven Beschäftigung mit einer Zeit automatisch eine Art von Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der einstigen Kindheit und Jugend. Der Unschuld. Dem Leben ohne Verantwortung. Da denkt man dann schon mal schnell, diese Zeit war unbeschwerter als unsere heutige Welt der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsdramen, kulturellen Verwerfungen und terroristischen Bedrohungen. Aber das stimmt nicht. Die Sechziger Jahre waren die Zeit des kalten Krieges und der Angst vor einem neuen heissen oder atomaren Krieg. Damals hat man die politische Lage als genauso undurchschaubar und bedrohlich empfunden wie heute. Und dennoch bildet sich um diese Jahre beim Schreiben manchmal so eine gewisse Patina von temporaler Heimat. Aber wie gesagt: Als Autor weiss ich immer, dass die Rückkehr in dieses „Paradies“ unmöglich ist.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Tobias schreibt die Geschichte seiner Mutter mehr als 45 Jahre später, nachdem er seine erste grosse Liebe Anna wiedersieht. Der Roman ist keine Wiedergutmachung. Aber nebst vielen anderen Facetten auch die Geschichte einer Frau, die an der „Wahrheit“ zerbricht, nicht zuletzt an der Schonungslosigkeit ihres einzigen Kindes. Ist dieses Buch auch ein „Grabstein“?

Aber nein, für wen denn? Zunächst einmal: Es ist nicht autobiographisch. Eine Verbindung zu meiner eigenen Mutter ist aber, dass diese viel zu früh gestorben ist. Da war ich noch zu jung, mich zu fragen, wer ist meine Mutter eigentlich? Solche Fragen stellt man sich erst später, aber da lebte meine Mutter nicht mehr. Was ich sicher glaube, ist, dass sie Fähigkeiten und Begabungen hatte, die sie nie verwirklicht hat, und das ist es, was sie mit meiner Romanheldin verbindet. Einmal hat sie Noten aufs Klavier gestellt und angefangen Mozart zu spielen. Da war ich völlig verblüfft, das hatte sie noch nie getan. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Wie es aber wirklich in ihr aussah, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Da kommt dann die Fantasie des Schriftstellers ins Spiel. Als Autor interessieren mich diese Mütter der sechziger Jahre sehr. Sie haben ihre Jugend und Sozialisation in den Fünfzigern erlebt, einer äußerst prüden, konservativen und konfliktscheuen Zeit mit einem ganz engen Rollenverständnis. Für die gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger Jahren waren sie im Grunde schon zu alt und zu etabliert. Umso spannender ist es, wie sie damit umgegangen sind. Sie standen ja in einem Konflikt. Es ging bei dem Ruf nach Freiheit ganz zentral auch um die Emanzipation der Frauen, und dem hätten sich diese Mütter und Frauen ja eigentlich sofort anschließen müssen. Das ist aber keineswegs geschehen, weil das ihr bisheriges Leben infrage gestellt hätte. Wie sollten sie sich also verhalten, und was konnten sie wagen?

Liebe als ein Geheimnis mit mehr als sieben Siegeln. Ihr Buch ist vieles, auch eine ganz zarte Liebesgeschichte, bei der sie er meisterlich schaffen, an sprachlichen Untiefen vorbeizusegeln. Wird eine Liebe, wie sie damals sein konnte, heute erst recht entzaubert? 1969 war alles möglich. Heute schlägt die Endlichkeit mit aller Heftigkeit zurück.

Das ist eine sehr schwierige Frage. War denn 1969 in der Liebe wirklich alles möglich? Zum Beispiel erotisch? Die sechziger Jahre waren die Zeit der sogenannten sexuellen Revolution, also dem gesellschaftspolitischen Ruf nach einer freieren Moral. In der Praxis, soviel wissen wir inzwischen, hat das aber meistens nicht besonders gut funktioniert, aber gerade das macht es erzählerisch reizvoll. Der Punkt ist ja: Das, was die sexuelle Befreiung wollte, war grundsätzlich richtig, nur konnten es selbst deren Befürworter damals nicht so ohne weiteres leben. Unsere Einstellung zur Sexualität ist nunmal kein Schalter, den man per Knopfdruck von gehemmt auf frei umstellen kann. Das ist ja viel tiefer in der Persönlichkeit verankert.
So gesehen sind die freiesten Figuren in meinem Roman – und das ja durchaus auch erotisch – die beiden Kinder. Für sie ist die Liebe noch in jeder Hinsicht wirklich geheimnisvoll. Sie nähern sich ihr, ohne zu wissen, wohin sie das führt. Vielleicht setzt Liebe immer ein gewisse Mass an Unwissen voraus – das könnte sein. Und je älter man wird, umso schwieriger wird es, sich darauf einzulassen. Daran hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren wohl nicht so viel geändert. Der Unterschied ist aber, dass wir heute sehr frei darin sind, unterschiedliche Erfahrungen zu machen. Das ging in der engen Welt der Sechziger nicht. Und daran scheitert die Mutter des Erzählers.

Ist Schreiben, ein Roman, ein Gedicht nicht der Start einer Sonde in die Unendlichkeit des Seins?

Das auf jeden Fall. Ich habe gerade eine E-Mail aus Australien bekommen. Ein Deutscher hat dort auf einem Markt für gebrauchte Bücher zwischen all den englischen Thriller-Paperbacks ein Exemplar meines Buches „Sternenklar“ entdeckt und gekauft. Wenn Bücher reden könnten, würde es mich wirklich interessieren, wie das dahin gekommen ist. Auf jeden Fall hat es dem Käufer sehr gut gefallen, und er hat mir diese E-Mail geschrieben. Und es muss ja nicht gleich Australien sein. Im Moment bekomme ich viele – zum Glück sehr erfreuliche – Rückmeldungen von Lesern von „Der Sommer meiner Mutter“. Wie weit und wohin die „Sonde“ dieses Romans noch reisen wird, weiß ich nicht. Ich weiss nur, sie ist unterwegs, und das ist ein gutes Gefühl.

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, «Freigang», erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

Buchtrailer

Webseite des Autors

Rezension von «Nacht der Engel» von Ulrich Woelk auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

José Eduardo Agualusa, ein Geschichtenzauberer in Zürich

José Eduardo Agualusa, der zu den bedeutendsten afrikanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt, las im Literaturhaus Zürich zusammen mit seinem Übersetzer Michael Kegler aus seinem 2017 erschienenen Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ (C. H. Beck).

„Überwinden wir unverdauliche Geschichte durch obsessives Vergessen oder obsessives Erinnern?“

Warum reist man vom Rand der Schweiz nach Zürich, um einem Autor aus Angola zu lauschen? Weil in jenem Urlaub vor ein paar Monaten im Ruheraum des Hotels beim Lesen etwas geschah, was bei der Lektüre von Büchern nur ganz selten geschieht; das Gefühl gänzlichen Durchdrungenseins. Als ob beim Lesen Resonanzräume ins Schwingen kommen, die von Sprache sonst kaum je bewegt werden. Ein Gefühl des Erkennens.

Eine Frau will nicht mehr aus einer Wohnung, einem Haus. Unter dem Schutz ihrer Schwester lebt sie, von Panikattacken (Agoraphobie) geplagt, in Luanda in Angola, in einer turbulenten, gewaltigen Zeit, während und lange nach dem Bürgerkrieg. Sie mauert sich buchstäblich ein, nachdem sie das Schicksal, die Zeit, die Schwester und der Schwager alleine gelassen hatten. 30 Jahre in einer Wohnung ganz oben unter dem Dach, weit über dem Geschehen, eingeschlossen in einen vergessenen Hohlraum zwischen den Welten.

José Eduardo Agualusa lebte langen selbst in der Stadt Luanda, in Zeiten grosser Intoleranz. Die Hauptrolle in seinem Roman spielt nicht die Frau, die der Realität entflieht, die sich 30 Jahre eingemauert versteckt, sondern das Haus mitten in einer Stadt, einem Land, das auseinanderbricht. Auf Grund von Drohungen, die gegen José Eduardo Agualusa ausgesprochen wurden, dachte er immer mehr darüber nach, wie es wäre, wenn er seine Wohnung für lange nicht mehr verlassen würde, um sich vor allen Unbill zu verstecken.

Auch Ludo im Roman ist eine Frau, die sich versteckt, sich vollkommen zurückzieht, sich nicht nur mit Ziegeln zumauert, sondern mit Angst und Vorurteilen. Am meisten interessierte Agualusa die Frage nach der Angst, einer Schattierung von Vorurteilen. Ludo verändert sich in ihrer jahrzehntelangen Verborgenheit, bis ausgerechnet ein Kind, kindlicher Entdeckergeist, der Hunger, die alt gewordene Frau befreit.

Ein vielschichtiges Buch über Abgrenzung, das Errichten von Mauern, aktueller denn je. „Das Haus der Beneideten“ steht mitten in einer Stadt. In der Wohnung unter dem Dach schiesst Ludo in ihrer Verzweiflung durch die Wohnungstür, weil Männer sich daran machen, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Ludo schiesst, trifft einen der Männer, während der andere flieht. Sie zieht den Toten in die Wohnung, verscharrt ihn in einem der Gartenbeete auf dem Dach und mauert die Türe zu mit Ziegeln, die für einen Pool bereitliegen. „Jetzt sind nur noch wir da“, sagt sie zu Fantasma, ihrem Hund.
 Sie bleibt 30 Jahre hinter ihrer selbst gebauten Mauer, auf einer Insel über der Realität.

Das Haus widerspiegelt die Geschichte Angolas seit der Unabhängigkeit, hinein in den Marxismus und mit dem fast gleichen Personal weiter in den Kapitalismus hinein. Der Reichtum des Präsidenten José Eduardo dos Santos, das gutbürgerliche Leben im „Haus der Beneideten“, wurde vom Marxismus eingenommen und später von der angolanischen Bourgeoisie zurückerobert, beobachtet von Ludo, von Fenster zu Fenster, von Stockwerk zu Stockwerk. Das Buch ist voller Figuren, voller Geschichten, durchsetzt von der magischen Erzählkraft des Autors und seiner Herkunft, ein Buch, das jedem Protagonisten „eine zweite Chance geben soll“. Ein Buch über die absurdesten Momente, die man sich nur vorstellen kann, über Absurditäten, auf die der Mensch ganz lapidar reagiert. Je absurder, desto wahrscheinlicher.

José Eduardo Agualusa interessiert das Böse, was in Menschen und Räumen geschieht, wenn alle Regeln, Gesetze und Konventionen ausser Kraft gesetzt werden. „Ich will verstehen.“

Der Abend im Literaturhaus Zürich mit José Eduardo Agualusa, seinem Übersetzer Michael Kegler und dem Schauspieler Armin Berger war eine Offenbarung!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für „A General Theory of Oblivion“.
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Rezension von «Eine allgemeine Theorie des Vergessens» auf literaturblatt.ch

José Eduardo Agualusa studiert das Literaturblatt mit der Rezension zu seinem Roman «Eine allgemeine Theorie des Vergessens». Foto: Michael Kegler

Daniel Magariel «Einer von uns», C. H. Beck

Familie kann zur Hölle werden. Aber Familie ist Familie. Vater bleibt Vater. Bruder bleibt Bruder. Und wenn der Hass auf die Mutter und Ex-Frau, die Angst vor der Polizei den Ort der vermeintlichen Sicherheit zum Gefängnis macht, werden aus Banden Fesseln, aus Verzweiflung Resignation. Trotzdem strotzt der Roman «Einer von uns» von Kraft – nicht zuletzt von der Kraft der Sprache.

«Einer von uns» ist keine leicht verdauliche Kost. Es schnürt einem während des Lesens die Kehle zu. Nicht nur wegen der über zwei Brüder hereinbrechenden Gewalt eines drogensüchtigen, vollkommen unberechenbaren Vaters, sondern weil eine ungebrochene fatale Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Liebe die beiden Brüder aushalten lässt, was für mich als lesenden Zeugen beinahe unerträglich ist. Genau das ist die literarische Qualität dieses Romans. Nicht der Voyeurismus, nicht der Rapport eines Martyriums, sondern die feine, exakte Beschreibung jener hellen und finsteren Zwischenräume inmitten absoluter Verzweiflung, familiärer Apokalypse und kindlicher Freude, wenn zwischen all den Ausbrüchen Momente der Entspannung, naiver Hoffnung aufblitzen.

Der eine Bruder, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ist zwölf. Sein älterer Bruder ein paar wenige Jahre älter. Gerade so alt, dass er mit dem Geld, das er im Supermarkt verdient, die Familie über Wasser halten kann. Eine Familie, die vom Hass auf Mutter und Ex zusammengehalten wird. Von einem Hass, der immer wieder vom Vater geschürt wird. Ein Hass, der die Brüder bei der Kampfscheidung die Mutter mit Falschaussagen um das Sorgerecht brachte. Ein Hass, der alles zerstören sollte, was die beiden Brüder zurück zur Mutter bringen könnte. Hass geschürt von einem Vater, der mit seinen Jungs alles hinter sich zurücklässt, von zuhause aus zu arbeiten versucht und nicht davon zurückschreckt, seine Söhne für alles Mögliche und Unmögliche zu instrumentalisieren.

Obwohl der Vater zwischendurch alles tut, um Zweckoptimismus zu erzeugen und sich Momente scheinbarer Idylle wie Hoffnungsschimmer abzeichnen, werden die Ausbrüche und Übergriffe des Vaters immer unberechenbarer, immer einschneidender, immer zwiespältiger. Daniel Magariel zeigt, dass Familienbanden fatalistisch zusammenschweissen können, dass die Angst vor dem Verrat, die Ungewissheit einer leeren Zukunft bewegungsunfähig macht. Die Brüder sind mehr als nur Leidensgenossen. Sie sind allein, von der Welt abgeschlossen, angekettet von einem Vater, der seine Söhne zu Komplizen macht, sie bei der Scheidung zu Falschaussagen zwang, die ihm das Sorgerecht brachten, den Söhnen aber immer wieder aufbrechendes Schuldgefühl und die Unmöglichkeit einer Rückkehr.

© Foto: Lucas Flores Piran

Daniel Magariel stammt aus Kansas City. Er hat einen B.A. von der Columbia University und einen M.F.A. von der Syracuse University, wo er Cornelia Carhart Fellow war. Er hat in Kansas, Missouri, New Mexico, Florida, Colorado, und Hawaii gelebt. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Frau in New York. «Einer von uns» ist sein erster Roman.

Der Übersetzter Sky Nonhoff ist Kulturjournalist, Autor («Die dunklen Säle», «Don’t Believe the Hype») und Kolumnist beim MDR. Er hat u. a. Romane und Erzählungen von Jonathan Coe, Gay Talese und Dennis Lehane ins Deutsche übertragen. Für C.H.Beck übersetzte er u. a. Caitlin Doughtys «Fragen Sie Ihren Bestatter» (2016) und Souad Mekhennets «Nur wenn du allein kommst».

Titelfoto: Sandra Kottonau

José Eduardo Agualusa „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, C. H. Beck

Ein Roman wie ein verschlungenes Wurzelwerk. Ein Roman, dessen Autor einem unweigerlich zum Freund wird, weil er mich verzückt, in Trance versetzt. Darf man überschwänglich sein? Ich bin es. Dieser Roman ist ein Meisterwerk. Er protzt nicht. Dafür ist er schlicht genial.

Es sind die ineinander verschlungenen Geschichten um Ludovica, ein lichtscheues Wesen. Perlenschnüre, die sich ranken und winden, jede einzelne ein Schmuckstück. Eine Art literarische Fuge, die aber derart natürlich gewachsen scheint, dass er für mich rätselhaft bleibt, wie ein Autor mit absolut unverkrampfter Leichtigkeit so schreiben kann. Ein Werk voller Überraschungen, bunter Charakteren. Ein Feuerwerk an Fantasie und sprachlicher Kreativität. Ein Buch, an dessen Ende man mit Verwunderung und Wehmut zurückblättert, überall noch einmal hineinliest, weil man erahnt, wie viel man der Spannung wegen überlesen hat oder sich erst erschliesst, wenn einem das grosse Ganze am Schluss der Lektüre bewusst wird. Ein Kunstwerk.

Angola in den Jahren des Umsturzes. Die Kolonialmacht Portugal zieht sich aus dem Land zurück und Chaos und Willkür bricht aus. In einem Hochhaus in der obersten Etage mitten in der Stadt wohnen Orlando und Odete. Kurz bevor die Unruhen ausbrechen, nehmen sie Lidovica, Odetes Schwester, bei sich auf. Nicht nur weil sie sich künftig um den Haushalt kümmern will, sondern weil Ludo seit dem „Unfall“ mit der Welt draussen nicht mehr zurechtkommt. Ein lichtscheues Wesen, der man den Panzer raubte.

Eines Abends, kurz bevor sich die drei ins Mutterland Portugal absetzen wollen, bleibt Ludo für einen Abend allein in der Wohnung zurück. Auch am Morgen danach. Orlando und Odete kehren nicht zurück, dafür die Panik in Ludos Leben. Nachdem Fremde am Telefon etwas zurückfordern, von dem Ludo keine Ahnung hat, findet sie beim verzweifelten Suchen in den Sachen ihres Schwagers einen Revolver. Ludo schiesst durch die geschlossene Tür, als drei schwarz gekleidete Männer durch die Türe rufen. Ludo schleppt den Toten hinauf auf die Dachterrasse, wo Orlando einen Garten anlegte, vergräbt die Leiche und mauert die Tür zur Wohnung zu, mit Backsteinen und Mörtel, aus dem ein Pool hätte werden sollen.

Ludo bleibt fast drei Jahrzehnte eingeschlossen in der Wohnung hoch über der Stadt. Zusammen mit Fantasma, einem Albino-Schäferhund, weggeschlossen von allem, mehrfach nahe am Hungertod.

Die Geschichte bleibt aber nicht hinter der zugemauerten Wohnungstür. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, nimmt Ludo Einfluss in das Geschehen in der Stadt. Revolutionäre, Folterer, Täter und Opfer kreuzen sich in einem Staat, der sich über die Jahrzehnte stets neu zu erfinden versucht. Ein Gewirr aus Geschichten und Handlungssträngen, das leicht leserlich bleibt und schlussendlich scheinbar spielend die Entwirrung findet.

Nach fast dreissig Jahren schlägt ein kleiner Junge mit einer Spitzhacke die Mauer von innen auf. Alles, war in der Wohnung aus Holz war, selbst der Parkettboden, ist weg. Und weil auch kein Papier mehr für Ludos Aufzeichnungen da war, sind alle Wände in der leeren Wohnung mit Kohle vollgeschrieben. „Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein.“

Diese 188 Seiten sind literarischer Hochgenuss. Ein Roman mit einem grossen Herz, viel Melancholie und dem tiefen Glauben, dass Liebe und Leidenschaft die grössten Geschichten schreiben. Eines der Bücher, die man auf die Insel mitnehmen will. Wie schade, kann man Ludovica nicht in die Arme nehmen. Aber lesen, lesen!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für «A General Theory of Oblivion».
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Michael Kegler, Übersetzer angolanischer, brasilianischer, mosambikanischer, portugiesischer und anderer portugiesischsprachiger Literatur. Herausgeber der Website www.novacultura.de über Literatur und Musik des portugiesischen Sprachraums. Mitglied der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

Titelfoto: Sandra Kottonau

August 2018: Catalin Dorian Florescu liest in Amriswil!

Die Reihe der Hauslesungen wird fortgesetzt. Mitte August liest Catalin Dorian Florescu aus seinem bei C. H. Beck erschienen Erzählband „Der Nabel der Welt“ und seinem Essayband „Die Freiheit ist möglich“ aus dem Residenz Verlag. Die Veranstaltung beginnt wie immer mit einem Apéro um 11 Uhr. Auf die Lesung folgt ein Gespräch mit dem Autor und im Anschluss, wieder bei einem Glas Wein, ist Platz für ganz persönliche Gespräche. Ein Büchertisch steht zur Verfügung!

Genauere Informationen folgen. Eine Anmeldug ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich! info@literaturblatt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Rezension von „Der Nabel der Welt“ auf literaturblatt.ch

Catalin Dorian Florescu „Der Nabel der Welt“, C. H. Beck

Catalin Dorian Florescu, der 2011 mit „Jacob beschliesst zu lieben“ den Schweizer Buchpreis gewann, legt seinen ersten Erzählband mit Geschichten vor, die über einen Zeitraum von 16 Jahren entstanden sind. Erstaunlich genug, dass der Band trotz allem den Eindruck eines Ganzen vermittelt. Ein Strauss an Fabulierkunst und Einsichten über Heimat und Fremdsein.

Wer Florescu als Erzähler noch nicht entdeckt hat, dem bietet sich hier die Chance. Und wer wie ich mit Hunger auf jeden neuen Florescu wartet, der wird mit mundgerechten Leckereien, zum Beispiel zum Vorlesen, nachts vor dem Einschlafen, belohnt. Aber keine süssen Geschichten, sondern Texte, die durchaus zu Träumen werden können. Und wer dann wie ich, einmal vom Florescu-Virus infiziert eine Lesung des Meistern besucht, wird staunen. Nicht nur über die Sprachkunst, die Vitalität des Autors oder die Präsenz auf der Bühne, die Nähe zum Publikum, sondern über das unerschöpflich scheinende Reservoir an Geschichten, das der Mann in sich birgt. Auch wenn man mit Recht behaupten kann, dass Catalin Dorian Florescu immer vom „Gleichen“ erzählt, seinem Thema; dem inneren und äusseren Konflikt zwischen Ost und West, dem Niedergang Rumäniens, der Flucht und der ewigen Suche nach einem Ankommen, dem Verlust von Heimat, dem Verlust von Familie.

Seine Erzählungen im Band „Der Nabel der Welt“, wie alle seine Romane, gründen im Schmerz drüber, eine Heimat verloren und nie wirklich einen Ersatz dafür gefunden zu haben. Im Schmerz darüber, dass das Leiden und die Trauer nicht weniger werden, selbst nach der Flucht ins vermeintliche Paradies. Im Schmerz darüber, dass die Sehnsucht bei all denen bleibt, die nicht gehen, nicht fliehen können oder wollen, die ausharren, längst desillusioniert nach immer wieder angekündigten Wendungen.

Florescu erzählt mit sprudelndem Witz, intelligent und gekonnt. Keine Spur von Bitterkeit, denn der Autor weiss, welch nie versiegende Quelle der Inspiration seinen beiden Seelen entspringt.

Im kommenden März erscheint im Residenz Verlag ein Essayband von Catalin Dorian Florescu: „Die Freiheit ist möglich“, über Verantwortung, Lebensinn und Glück in unserer Zeit – aus der Reihe „Unruhe bewahren“, in der schon Olga Flor und Illja Trojanow Beiträge veröffentlichten. „Wir leben in einer hysterischen Zeit, die zwar materiellen Wohlstand und unablässige Kommunikation gewährleistet, das Individuum aber mit seinen Gefühlen der Vereinzelung allein lässt. Doch nach dem Scheitern der grossen politischen Utopien sehnen wir uns umso mehr nach Glück, Verbundenheit und Nähe, sind aber in einem fragmentierten, beschleunigten Alltag gefangen.“ (aus der Vorschau des Residenz Verlags)

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.