Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont #SchweizerBuchpreis 22/7

„Blutbuch“ ist ein Buch über das Woher und Wohin. Die Stimme im Buch sucht nach ihrer Herkunft, schreibt Briefe an die Grossmutter, weil sie weiss, dass alle alle Generationen mit sich tragen, aus denen die eigene Existenz gewachsen ist. „Blutbuch“ ist die Suche nach den Säften, die das Leben ausmachen.

Die Erzählstimme definiert sich weder männlich noch weiblich, was sich non-binär nennt. Sie forscht in einer Zeit, in der Vergangenheit, als es ausschliesslich das Weibliche und Männliche gab und sich alles dieser Zweiteilung zu unterwerfen hatte, mit allen Konsequenzen. Wenn die Erzählstimme in den Schichten des eigenen Daseins wühlt, wenn sie schwärmt, leidet, schreit, erklärt und forscht, vermeidet sie jede Zuordnung, schreibt „jemensch“ statt jemand, was zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, den Lesefluss aber kaum hemmt und für Kim de l’Horizon eine der unausweichlichen Konsequenzen einer nicht nur für das Schreiben getroffenen Entscheidung ist.

«Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.»

„Blutbuch“ ist die Zwiesprache mit der Grossmutter, mit seiner Grossmeer, einer alt gewordenen Frau, die zu verstummen droht, die in ihrer Demenz ihre Geschichte Stück für Stück verliert, die er nicht mehr fragen kann, deren Antworten versiegen. Mit einer Frau, die untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist, die in ihr grosses Vergessen Stücke seiner eigenen Geschichte mit in diese eine nicht zu korrigierende Leere reisst.

„Blutbuch“ ist die Suche nach der eigenen Herkunft, ein erschriebener Stammbaum. Kim de l’Horizon kostet in diesem Buch vom Blut seiner Familie, schmeckt das Verborgene, Vergessene, Verschwiegene. Jene Blutbuche im Hof ist Sinnbild für das Buch, das jede Familie schreibt, die Geschichten, von denen man sich emanzipieren kann oder die einem auf ewig im Griff behalten, nicht loslassen, ketten.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont, 2022, 336 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-8321-8208-3

Die Grossmutter des Erzählenden, die Grossmeer, ist Kim näher als die Mutter, seine – ihre Meer, von der Kim sich sein ganzes Leben lang seltsam distanziert fühlt, mit der Kim nicht redet, schon gar nicht über das Anderssein, dieses „Es“, das immer aussen vor bleibt. „Blutbuch“ ist die Liebeserklärung an eine Grossmutter, das Nachspüren an eine Nähe, die der Erzähler zur Mutter nie hatte. „Blutbuch“ ist sanfte Berührung, leises Streicheln, aber auch verzweifeltes Schreien, grelle Demonstration.
„Blutbuch“ ist die Erkundung eines Körpers, einer Selbstverständlichkeit für viele, einer schmerzhaften Konfrontation für Kim. Kim spürt sich dann, wenn der Schmerz am grössten ist. In „Blutbuch“ steckt der Kampf ebenso wie der Versuch einer permanenten Versöhnung. Warum bin ich so, wie ich bin? „Blutbuch“ ist der Literatur gewordene Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, dem eigenen Sein eine Gestalt zu geben, Kraft dort zu finden, wo andere sich der Verzweiflung ergeben. Kim de L’Horzon gibt dem Suchen eine Sprache.

«Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen: Mit dem schrecklichen Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut.»

Ich las „Blutbuch“ mit angehaltenem Atem. Der Roman ist keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass einem Bilder bis in Träume begleiten, ist gross. Kim de l’Horizons Debüt ist ein vielstimmiges Konvolut, sich aus den Zwängen einer Gesellschaft zu befreien, die alles und jedes in Schubladen pressen muss, die all dem keinen Platz lässt, was Normen widerspricht. „Blutbuch“ liest sich wie ein Drehbuch zu einem langen Akt der Befreiung. Erstaunlich, wie viel Reife in diesem Buch liegt, wie viel Sprachkunst, wie viel Mut und Kompromisslosigkeit.

Weniger erstaunlich, dass sowohl der Deutsche wie der Schweizer Buchpreis das Buch in die Shortlist, in die Endausscheidung aufgenommen haben, weil das Buch all das zur Sprache bringt, was in der aufgeladenen Atmosphäre unserer Gesellschaft wabert. Aber „Blutbuch“ ist keine Unterhaltung. Dieses Buch will Auseinandersetzung. Wer sich als Lesende dieser Auseinandersetzung stellt, wird belohnt. „Blutbuch“ ist eine Wucht.

Kim de l’Horizon gewann mit seinem Roman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022. Hier die Kurzfassung der Jurybegründung:
«Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Grossmutter, die „Grossmeer“ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.
Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess.»

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt «Blutbuch» versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. «Blutbuch» wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.

Lioba Happel «Pommfritz aus der Hölle», edition pudelundpinscher #SchweizerBuchpreis 22/6

Pommfritz heisst eigentlich Pomelius Fridericus. Wer heisst schon so. Der Name allein wäre Strafe genug. Und Pommfritz sitzt tatsächlich zur Strafe im Gefängnis. Wegen Mordes an seiner Mutter, wegen Kanibalismus. Von einer Hölle in die nächste geraten.

Das Buch sperrte sich mir lange. Nicht nur weil es sich einhändig kaum lesen lässt, nicht der Anzahl Seiten wegen, nicht weil das Buch in der Sitte des Verlags als Paperback den Weg zu LeserInnen versucht, sondern weil Lioba Happel nichts tut, um eine „schöne“ Geschichte zu erzählen. Das soll keine Kritik sein. Ich liebe Bücher, denen ich mich stellen muss, die mich herausfordern, die provozieren. Lioba Happels Roman ist nicht nur der Erklärungsversuch eines Mannes, der es schon lange aufgegeben hat, aus der Hölle zu entkommen, sondern sprachlich wie eine „Eiserne Jungfrau“, die sich während der Lektüre immer unbarmherziger in meine Gedankenwelt einsticht und Male hinterlässt.

Pommfritz sitzt im Knast und schreibt Briefe an seinen Vater. An einen Vater, von dem er nicht viel weiss, der aus seinem Leben entschwand, den er in den Briefen mit „Vatter“ anspricht, als ob in diesem Wort schon das Geräusch einer Backpfeife zu hören wäre. Pommfritz sitzt im Knast, weil er an seinem dreissigsten Geburtstag mit einem Küchenmesser ins verfettete Herz seiner Mutter gestochen hatte, weil er, nachdem sie sich nach der Leichenstarre endlich erweichen liess, mit eben diesem Messer der toten Mutter eine Fingerkuppe abgeschnitten, gebraten und verspeist hatte. Er sitzt im Knast nach einem verkorksten Leben, in dem er sich eigentlich immer nach Nähe und Liebe sehnte, aber jene Liebe nie erhielt oder eben nehmen musste, was zu kriegen war: Kommandos, Schläge und den rauchen Wind einer Welt, in der man sich nehmen musste, weil man nichts geschenkt bekommt.

„Ich habe an die Mutter geglaubt, die für mich die Welt war. Uns siehe, die Welt war öde und leer.“

Lioba Happel «Pommfritz aus der Hölle» edition pudelundpinscher, 136 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-906061-25-2

Pommfritz kann sich erst mit dem von ihm inszenierten Tod seiner Mutter von einem Fleisch gewordenen Alptraum befreien. Seine Mutter, die wie ein riesiger Fleischberg in ihrer Wohnung liegt und nicht einmal mehr den Weg auf die Toilette schafft, sich eigentlich nur noch von Grillhühnchen ernährt, die ihr vor die Wohnung geliefert werden, reduzierte ihre Zuwendung einzig auf Kommandos, nachdem ihre Reichweite für Schläge mit den Jahren immer kleiner geworden war. Selbst als Junge muss sein Leben ein schwieriges gewesen sein. Die gut gemeinten Annäherungsversuche der Pitschbauer, seiner Lehrerin, die ihm gar einmal ein Buch von Arthur Rimbaud in die Hand gedrückt hatte, macht er mit seiner lustvollen Boshaftigkeit zunichte.

Das einzige Wesen, das Pommfritz in die Nähe kommt, das einzige, das bedingt Nähe zulässt aber ebenso viel Schmerz austeilt und einstecken muss, ist Lilly, Prügellilly, eine Hure, ebenso Verlorene wie Pomelius Fridericus selbst.

„Ich lernte mit dem Schlag den Sekundenmoment der Berührung herauszufiltern und spürte so was wie Vorfreude, wenn es hiess: Komm her!“

„Pommfritz aus der Hölle“ ist wie ein Sprache gewordenes Bild in der Art von Caravaggio. Es zeigt die dunkle Seite des Menschseins gnadenlos, konfrontiert unmittelbar. „Pommfritz aus der Hölle“ aber als Sozialstudie eines Monsters abzutun, ist nicht, was dieses Buch will. Lioba Happel badet sprachlich in der Welt eines Kaputten. Wäre „Pommfritz aus der Hölle“ ein Theater, würden die ersten ihre Plätze schon nach wenigen Minuten verlassen, weil das Spektakel so gar nicht erbauen will. „Pommfritz aus der Hölle“ will nicht gefallen. Sprache und Geschichte sind so unzugänglich wie ihr Personal, die Geschichte und Lioba Happels Art zu erzählen. Lektüre wird zu Arbeit.

Erstaunlich genug, dass die Jury dieses Buch in die Liste der Nominierten aufnahm. „Pommfritz aus der Hölle“ ist eine Stimme aus den Untiefen menschlicher Existenz. Ein Buch, das einem als Nachttischlektüre in Alpträume begleiten kann. Ein Buch, das einen Kloss im Bauch zurücklassen kann, sperrig, nur schwer verdaulich.

Lioba Happel, geboren 1957, war viele Jahre in Deutschland und der Schweiz im schulischen und sozialen Bereich tätig. Sie hat sowohl Lyrik wie Prosatexte veröffentlicht und erhielt diverse Auszeichnungen, zuletzt den Alice Salomon Poetik Preis 2021. Nach längeren Aufenthalten in England, Irland, Italien und Spanien wohnt sie heute in Berlin und Lausanne.

Illustrationen © leafrei.com

Buchgeflüster #SchweizerBuchpreis 22/5

Hier flüstern Manuela Hofstätter von lesefieber.ch und ich über Bücher, die Nominierten, den Schweizer Buchpreis 2022 und überhaupt … 

Liebe Manu

Wir, die wir uns ein Leben ohne Bücher, ohne Literatur gar nicht vorstellen können, unterhalten uns mit aller Selbstverständlichkeit über ein Medium, das nicht aus unserem Leben wegzudenken ist. Dass Bücher und Literatur aber nur für einen kleinen Anteil der Gesellschaft von so unabdingbarer Notwendigkeit sind, lässt sich nicht abstreiten. Ganz offenbar können Menschen ganz gut ohne ein Buch. Aber nicht ohne Geschichten. Geschichten brauchen wir. Unsere eigene kann niemals genügen. Wir erzählen einander, die einen telefonieren oder bangen auf die nächste Montagsausgabe ihrer Lieblingsserie. Wir lassen uns im Theater oder Kino wegtragen. Selbst Musik macht Geschichten im Kopf. Dass wir jenen Erwachsenen, die den Zugang zum Buch nie fanden oder ihn irgendwann unwiederbringlich verloren, mit einem Schweizer Buchpreis das Lesen neu eröffnen, glaube ich nicht. Was da in den Medien um Bücher raschelt, rauscht und rumort, vernehmen bloss jene, die die Ohren in jene Richtung öffnen. Heisse Tropfen auf kalte Steine?

Liebe Grüsse
Gallus

 

Lieber Gallus,

wahre Zeilen, welche ich da von dir lese, ich stimme dir fast zu. Warum nur fast? Ich bin mir absolut sicher, die Leserschaft ist sich beständig am vergrössern, ich betreibe diesbezüglich ja Aufwand und halte die eben gar nicht so rare Spezies der Bibliophilen in Fotografien fest. Wenn ich am Reisen bin mit dem ÖV gerate ich eigentlich immer an Lesende jeglichen Alters und Geschlechts heran und wie da so viele Hände auf so unterschiedlichste Art Buchseiten behandeln, das bringt mich zuweilen in Ekstase. Aber gewiss, wir möchten uns hier ja austauschen mit Blick auf den Schweizer Buchpreis, ich weiss, unser unermüdliches Treiben auch hier, Bücher zu neuen Lesern zu bringen ist und bleibt meist doch nur ein sich selber Feiern, wir erreichen unseresgleichen und damit Punkt. Doch ich will nun Ausschau halten, wer liest ein nominiertes Buch unterwegs? Von wegen nominierte Bücher lesen, lieber Gallus, nach welchem hast du zuerst gegriffen? Ich nach dem «Pommfritz», wobei ich das Werk weglegen musste, Ekel hat mich ergriffen, gepaart mit einer Neugierde zugleich, bald lese ich weiter … Literatur ist Kunst und Kunst soll alles dürfen, ich kann ja entscheiden, was ich lesen will, also wer will den «Pommfritz» lesen? Würdest du, geschätzter Gallus, dieses Werk jemandem verschenken? Ich sende dir herzlichste Grüsse, auch ungeduldige das geb ich zu, denn der Austausch mit dir ist für mich das Kostbarste rund um den Schweizer Buchpreis herum.

Manu

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer #SchweizerBuchpreis 22/4

In den 60ern: Ein Kloster mit Internat hoch in den Bergen – das Kloster Maria Schnee. Arthur Goldau, elfjähriger Junge – Zögling 230. Ein Geheimnis um einen Diamanten – das letzte Stück österreichischer Monarchie. Und eine Sprache wie ein naives Fresko!

Sein Debüt von 1981 „Die Tessinerin“, die Novelle „Das Gartenhaus“ von 1989, der Umstand, dass der Autor seit der Gründung des legendären Ammann Verlags, den Egon Ammann zusammen mit seiner Ehefrau Marie-Luise Flammersfeld gegründet hatte und all die schwergewichtigen Romane und Theaterstücke, die in den letzten 30 Jahren entstanden, machen Thomas Hürlimann zu einem literarischen Schwergewicht. Erstaunlich genug, dass es dem Grossmeister bisher nicht vergönnt war, mit einem seiner Romane in der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises zu erscheinen.

„Der Rote Diamant“ ist ein Monolith. Wer sich an den Farben der Sprache ergötzen kann, wem die Verspieltheit und fast kindliche Unbeschwertheit Vergnügen bereiten, wer nicht in jedem Buch, auf Biegen und Brechen mit der Keule den Gegenwartsbezug eingehämmert braucht – der lese diesen literarischen Diamanten. Der Roman entspringt purer Schreiblust, ist von jemandem geschrieben, der sich einen Deut um Strömungen, Moden und Aktualitäten kümmert, der sich an nichts und niemanden anzuhängen braucht, der nur „einfach“ erzählen will.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer, 2022, 32 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-10-397071-5

Ein Junge wird von seiner Mutter nach einer abenteuerlichen Fahrt in einem Kloster weit oben in den Bergen parkiert. Noch ein paar Ermunterungen und die Mutter hat ihn in den kalten Mauern zurückgelassen, in einer Erziehungsstätte, die all dem widerspricht, was  man in der Gegenwart unter „Individualismus“ und „Kompetenzorientierung“ auf die Fahnen von Erziehung und Schule geschrieben hat. Das Kloster Maria Schnee ist eine Galeere, in der man die Zöglinge im Takt eines Klosters durch das Halbdunkel von Tradition und Konformität steuert. Selbst in diesem Halbdunkel soll alles ausgeleuchtet, überwacht, gleichgeschaltet und nivelliert sein. Aber Arthur ist nicht der einzige Junge in den dicken Mauern des Klosters, der sich zusammenrottet, der eine Nische sucht, nicht zuletzt in den Jahrzehnte alten Gerüchten um einen sagenumwobenen Diamanten, den man nach dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie in einem Winkel des Klosters, im Schutz der Schwarzen Madonna in Sicherheit gebracht hatte.

„Ich hatte Angst vor der Freiheit.“

Im Kloster, in dem man alles tut, um dem Ewigen Tag zu huldigen, in dem alles Rütteln an versperrten Pforten nach Innen und Aussen der Verbrüderung mit der Ewigen Sünde gleicht, in der jedes Heimweh, jeder Fluchtgedanke im Keim erstickt werden soll, ist oberstes Gesetz: Gefässe sollen sie werden, ausgehöhlt und glatt geschliffen vom Ewigen Tag: Vasen.

Und doch gibt es sie, die Nischen: Ganz oben im Dachstuhl der Kathedrale. Eine ehemalige Bauhütte, grob gezimmert, ausser Acht gelassen. Dort treffen sich Viper, Alpha Wickie, Beau, Clown Giovanni, Primus Lenin, Ultimos Nebel, rauchen den ein oder anderen Joint und debattieren sich hinter das Geheimnis jenes Roten Diamanten. Bis es zu diesem einen Moment kommt, bis dieser ominöse Stein sein Geheimnis lüftet, verstreicht viel Zeit. Viel mehr als die Gang oben im umgekehrten Schiff der Kathedrale ahnen kann.

Jahrzehnte später, mittlerweile ist nicht nur das Kloster ein Ort des Zerfalls geworden, treffen sich die einen wieder in den toten Mauern der ehemaligen Schule. In den Ruinen des Klosters lüftet sich das Geheimnis im Schall und Rauch eines letzten Showdowns, im Herz jenes Klosters, das mit allem, was Tradition und Beständigkeit ausmachte, zu einem Nekropol einer erloschenen Vergangenheit wurde.

„Der Rote Diamant“ ist als Buch ein schillernder Diamant. Eine eigenartige Mischung aus klösterlicher Schauergeschichte, Abenteuerroman, aufgemotztem 5-Freude-Kinderroman, (Alp-)Traumgeschichte und Entwicklungsroman. Wer Bücher unter dem Gesichtspunkt liest, was sie einem und der Zeit zu sagen haben, kann nach der Lektüre durchaus ratlos zurückgelassen werden. Wer Bücher liest, um einem Sound zu lauschen, der Fabulierkunst zu folgen, wer einfach nur Freude hat an starken Farben, intensiven Eindrücken, einer theatralischen, nicht wirklichen Welt, der lese „Der Rote Diamant“ und lese in den aufschäumenden Bildern eines Mannes, der einst selbst in den Mauern eines Kloster zur Schule ging, die Geister nicht loswird, daran aber ganz und gar nicht zu Grunde geht! Im Gegenteil: In den Trümmern spriesst es!

Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln und studierte in Zürich und an der FU Berlin Philosophie. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb er die Romane «Heimkehr», «Vierzig Rosen» und «Der große Kater» (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen «Fräulein Stark» und «Das Gartenhaus» sowie den Erzählungsband «Die Tessinerin». Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Nach vielen Jahren in Berlin lebt er wieder in seiner Heimat.

Beitragsbild © leafrei.com

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese #SchweizerBuchpreis 22/3

Ein alter Mann, eine Kaninchenpistole, ein Polizist und doch kein Krimi. Thomas Röthlisberger beweist, dass man mit sämtlichen Ingredienzen eines Krimis nicht unweigerlich einen solchen daraus entstehen lassen muss. „Steine zählen“ ist ein Roman über das Erstarren in Sackgassen.

Matti wohnt in einer in Schräglage geratenen Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees im Süden Finnlands, weit ab vom Schuss. Ausser einem Hund gibt es keine Tiere mehr auf dem Hof. Die letzten waren ein paar Hühner, die der Fuchs holte. Der Maschendrahtzaun ist niedergerissen und rostig. Matti sitzt in der Küche mit seinem besten Freund, dem Alkohol und zerdrückt die toten Fliegen auf seinem zugestellten Küchentisch. Irgendwie ist auch er eine der Fliegen, die das Leben zerquetschte. Von seiner Kraft ist nichts geblieben. Und seit seine Frau Märta den Hof verliess, ihn selbst hatte sie schon lange verlassen, sind nicht nur die Flaschen auf dem Küchentisch stehen geblieben. Und weil er, der kaum mehr etwas ohne seine Brille sieht, das Gewehr in die Hand nahm, als sich Märta davonmachte, das Gewehr, das eigentlich bloss auf den Fuchs wartete, der sich auch ohne Hühner noch immer auf dem Gelände herumtrieb, und sich ein Schuss löste, von dem Märta nicht wissen konnte, wie nah die Kugel an ihr vorbeisauste, taucht auch noch die Polizei auf. Henrik, der lokale Polizeibeamte.

Von Matti Nieminen ist nicht viel geblieben. Ein verkorktes Leben, ein Körper, der zu nichts mehr taugt, eine Frau, die ihn verliess, ein Sohn, der nur auftaucht, wenn er Geld braucht und die Gewissheit, dem verkrusteten Panzer nie mehr entfliehen zu können. Selbst der Hund zieht vor ihm den Schwanz ein.

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese, 2022, 176 Seiten, CHR 30.90, ISBN 978-3-906907-55-0

Aber auch für Märta, die Frau, die vierzig Jahre an seiner Seite aushielt, ist die Flucht vom Hof keine Befreiung. Die hätte Jahrzehnte früher stattfinden sollen, wahrscheinlich schon vor der überstürzten Heirat mit Matti, der ihr Jahre nachgestiegen war, den sie nicht wollte, dann aber haben musste, weil in ihr etwas wuchs, das nicht sein durfte. Sie ist im Gästezimmer ihrer Schwester gestrandet, die ihr die Katastrophe schon immer prophezeite und nie an die Redlichkeit jenes Mannes glaubte, der schon damals dem Alkohol näher stand als den Menschen. Eigentlich hätte es Pekka sein sollen, damals. Aber Martas Eltern, ihr Vater polterten unmissverständlich. Und als sich Pekka mit dem ganzen Dorf anlegte und mit Protz und Pomp im Dorf auftauchte, als man ihn in seiner Bank unlauterer Geschäfte überführte, war die Sache gelaufen, aller Versprechen zum Trotz.

Und da ist noch Olli, Märtas Sohn, das Kind, mit dem sie schon bei der Trauung mit Matti schwanger war, von dem niemand wissen durfte, nur der Arzt, der ihr eine „Frühgeburt“ diagnostizierte. Auch Olli schaffte es nicht. Vierzig und im Elend, manchmal bekifft, machmal nur betrunken, ohne Arbeit, von seiner Freundin sitzen gelassen. Matti wusste immer, dass Olli nicht das Resultat seiner Manneskraft war. Olli lebt von der Sozialhilfe und wenn das Geld zu gar nichts mehr reicht, macht er sich zum Hof in der Nähe des Vehkajärvi-Sees auf, in der Hoffnung, dass ihm seine Mutter etwas zusteckt. Von Matti gibt es nichts, schon gar kein Geld.

Am Schluss des Romans liegt Matti in einer Blutlache vor seinem Haus im Dreck. Er lebt noch. Und Hendrik, der Polizist, muss herausfinden, ob es wirklich ein Suizidversuch war.

Thomas Röthlisbergers Roman „Steine zählen“ ist hartes Brot. Wer wie Matti alt ist und ahnt, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, resümiert. Aber in Mattis Leben gibt es bloss Steine. Die auf dem Hof kickt er weg, wenn er nicht mit dem Stock nicht hängen bleibt. Aber eigentlich bleibt jeder Stein. Steine in der Erinnerung, Steine im Herzen, Steine im Bauch. Als ob nie mehr richtig Licht in das Leben jenes Mannes dringen würde. Ein finnischer Winter. Irgendwann bleiben die Chancen aus, dem Leben eine andere Richtung zu geben. Irgendwann hat die Ödnis einem im Würgegriff.
Thomas Röthlisberger schreibt sich in ein Setting hinein, dass sich wie eine Seelen-Dystopie liest. Und Thomas Röthlisberger kann es!!!

Interview

Hätte Ihr Roman nicht auch im Toggenburg oder im Kandertal spielen können? Warum der finnische Süden? Was verbindet Sie mit Finnland?
Eine Frage, die ich häufig zu hören bekomme (Schliesslich habe ich bisher bereits vier Romane geschrieben, die «dort oben» spielen, der letzte liegt über 15 Jahre zurück). Aber die Frage ist sicher berechtigt – ich habe gerade bei «Steine zählen» nach der ersten Niederschrift versucht, die Geschichte aus dem Norden herauszulösen. Naheliegend wäre für mich aus familiärer Hinsicht das Emmental gewesen. Ich machte mir eine Liste mit den Namen der finnischen Protagonisten und der Örtlichkeiten und gab ihnen hiesige Namen. Aber die Landschaft funktionierte als Hintergrund und Kulisse nicht, und die Menschen, die plötzlich wie bei Gotthelf hiessen und sich durch eine enge Voralpenlandschaft bewegten, erinnerten mich an eine Art Heimatliteratur, mit der ich mich nie wirklich anfreunden konnte. Die Charaktere, die ich in den (engen) Weiten Finnlands angetroffen hatte, liessen sich weder mit ihrem Naturell, noch mit der Landschaft hierher verpflanzen. Die Liste, die ich angefertigt hatte, öffnete mir die Augen und räumte radikal mit den eigenen Zweifeln auf (ich vernichtete die Liste deshalb sehr rasch wieder).
Schon nach dem ersten Aufenthalt in Finnland wusste ich, dass da noch mehrere folgen würden. Was mich mit Finnland verbindet? Sibelius, Alvar Aalto, Kaurismäki, die Leningrad Cowboys und Nightwish. Aber ganz abgesehen davon reicht ein Blick auf den Buchumschlag an, diese einmalige Stimmung an den Sommerabenden, das reicht, um eine seltsame, melancholische Sehnsucht auszulösen. Aber dann gibt es auf der anderen Seite des Sees das dunkle Ufer, den Wald, der das Licht verschluckt und wo, wie man ahnt, Menschen wohnen, die nicht nur wegen diesem Sonnenuntergang hier leben. Trotzdem figuriert Finnland an der Spitze, wenn es darum geht, welche Staatsbürger im eigenen Land am glücklichsten sind …

Matti ist ein Gespenst seiner selbst geworden. Einsam, eingeschlossen, ausgeschlossen. Wenn er über den Platz vor seinem Haus schlurft, kickt er Steine weg, Steine, die aber irgendwie immer wieder da sind. Die Steine in seinem Leben sind zu unverrückbaren Felsbrocken geworden. Ist Schreiben nicht auch eine Form von Steine zählen?
Literatur ist häufig Arbeit im Steinbruch, ein Suchen nach dem optimalen Stein, ein Darstellen und Verschieben von eigenen und fremden Steinen und Klötzen. Verbunden mit Frust nach längerer Schinderei, aber auch mit Freude über den unerwarteten Fund eines Edelsteins.

Ihr Roman spielt im ungleichseitigen Viereck Matti-Märta-Olli-Henrik. Eine Familie, die nie wirklich eine Familie ist, toxisch – und ein Polizist, der nichts lieber als zu seiner Familie möchte, der genau weiss, wie zerbrechlich Familienglück sein kann. „Steine zählen“ ist ein Familienroman, eine Geschichte darüber wie sehr Konventionen, Traditionen und Ängste das Leben bedrängen, einen Menschen in unumkehrbar Enge treiben können. Kratzen Sie mit Strategie am „Idyll Familie“?
Beim Schreiben zeichnet man ja häufig gewisse Vorfälle und Charaktere überspitzt. Und man benötigt üblicherweise auch eine grössere Anzahl selber gelebter Jahre, um zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Aber Strategie? Eher nein. Oder unbewusst. Einflüsse aus der eigenen Familie, Aufgeschnapptes aus der Umgebung – es muss sehr vieles zusammenkommen, bis das Rezept stimmt. Und ja: Wer vom Leben erzählt, kann nicht nur Gutes berichten.

Bei einem Krimi wären das Verbrechen und die Motive, das Rätsel um die Ermittlung im Zentrum. In „Steine zählen“ sind es Innenwelten, die menschlichen Abgründe, die Unumkehrbarkeit der Zeit. Matti erscheint böse, Olli unrettbar und Märta verbrüht. Wann wird Verwundung unheilbar?
Eine schwierige und individuell sehr unterschiedlich zu beantwortende Frage: Wahrscheinlich wenn der Urheber der Verwundung selber infolge Verwundung agiert, wenn Grenzen überschritten werden und Verzeihung keine Option ist.

Es gibt das Leben in den Köpfen und Herzen. Und es gibt das „richtige Leben“, wie Märta es bezeichnet, jenes, das sich einem entgegenstellt, das Pläne zunichte macht. Warum ist Märta 40 Jahre lang geblieben? Ist das die Generation unserer Eltern und Grosseltern? Oder passiert das auch heute noch?
Konventionen als Ursache waren über Jahrhunderte hinweg Hemmnisse. Dass man wider Willen ein vorgeschriebenes Leben akzeptieren muss, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne wirkliche Zukunft, ist nach wie vor aktuell. Und ich nehme da unser eigenes Land nicht aus … Da kann der Rückzug in ein inneres (Kopf- und/oder Herz-) Leben Ausweg oder Kraftort sein.

Buchtrailer

Thomas Röthlisberger, ­geboren 1954, lebt in Bern, hat seit 1991 mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind «nur die haut schützt den schläfer» (Gedichte, 2009), «Zuckerglück» (Roman, 2010) und «Die letzten Inseln vor dem Nordpol» (Erzählungen, 2014) und «Das Licht hinter den Bergen» (Roman, 2021). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.

Illustrationen © leafrei.com

Schweizer Buchpreis 2022 – die nominierten Bücher #SchweizerBuchpreis 22/2

Zum 15. Mal wird der Schweizer Buchpreis vergeben. Ein Preis, der das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren auszeichnet.

Ziel des Schweizer Buchpreises ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Ein Ziel, das bei den Debatten rund um diesen Preis immer wieder vergessen wird. Keine Schriftstellerin, kein Schriftsteller wird ausgezeichnet, sondern Bücher. Fünf Bücher stehen zur Wahl, fünf Bücher, die in diesem Jahr unterschiedlicher nicht hätten sein können. Fünf Bücher von Autoren, die einen bislang kaum auf dem Radar jener LeserInnen, die sich an Bestsellern orientieren, die andern von Autoren, die sich längst ins helvetische Bewusstsein eingebrannt haben. Schön, das es das gibt, auch wenn damit Schwergewicht gegen Neuling, Tradition gegen Aufbruch, Vielgenannt gegen Überraschung antritt.

Als offizieller Begleiter des Schweizer Buchpreises kommentiere ich auf meiner Webseite meine ganz persönliche Einschätzung, rezensiere die nominierten Bücher, führe Interviews und bin im Austausch mit den beiden weiteren Literaturblogs lesefieber.ch und eselsohren.ch.
Ganz besonders freuen würde ich mich über ihre Einschätzung, liebe Leserinnen und Leser: Welchem Buch geben Sie Ihren Vorzug? Schreiben Sie eine Mail unter «Kontakt«! Vielen Dank!

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese
Südfinnland: Henrik Nyström, der lokale Polizeibeamte, fährt hinaus zu einer Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees. Auf der Polizeistelle ist ein Anruf eingegangen, der alte Matti Nieminen habe auf seine Frau Märta geschossen, die ihn nach vierzig Jahren Ehe verlassen wolle. Auch Olli, der Sohn der Nieminens, ist auf dem Weg zum Elternhaus, weil er wieder einmal in Geldnöten steckt und sich einen Zuschuss der Mutter erhofft. Als der Polizeibeamte auf dem Hof eintrifft, findet er den alten Matti auf dem Schotterplatz vor dem Haus in einer Blutlache liegend. Aber Nieminen ist nicht tot. Und die Schusswunde scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Was war hier vorgefallen? War Olli bereits hier gewesen, dem Nyström auf der Herfahrt begegnet war, oder hatte Arto die Finger im Spiel, der Schwager, den Matti tödlich hasst? Oder gar Pekka, der frühere Liebhaber von Märta, der seit Jahren als verschollen gilt?
Ein tiefgründiger Roman über das Menschliche und das Unmenschliche, die oft so nahe beieinanderliegen, dass die Grenze erst erkennbar wird, wenn es zu spät ist.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer
«Pass dich an, dann überlebst du», bekommt der elfjährige Arthur Goldau zu hören, als ihn seine Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier, wo schon im September der Schnee fällt und einmal im Jahr die österreichische Exkaiserin Zita zu Besuch kommt, wird er zum «Zögling 230» und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten.
Doch das riesige Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen, sondern ewig zu kreisen scheint, birgt ein Geheimnis: Ein immens wertvoller Diamant aus der Krone der Habsburger soll seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt sein. Während Arthur mit seinen Freunden der Spur des Diamanten folgt, die tief in die Katakomben des Klosters und der Geschichte reicht, bricht um ihn herum die alte Welt zusammen. Rose, das Dorfmädchen mit der Zahnlücke, führt Arthur in die Liebe ein, und durch die Flure weht Bob Dylans «The Times They Are a-Changin'».

Lioba Happel «POMMFRITZ aus der Hölle», edition pudelundpinscher
Pommfritz, der Ich-Erzähler des neuen Romans von Lioba Happel, schreibt an seinen Vatter in den Emmentälern, den er vor langer Zeit einmal zu Gesicht bekommen hat, aus der Hölle seines Lebens. Er berichtet von der Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Grillhühnchen und Pommes verschlingenden Mutter verbringt; von den Besuchen der Angelina vom Sozialamt, einem Wesen zwischen Rosenduft und Formularfrust, und wie die Mutter sie in die Pfanne haut; von härtesten Prüfungen unter den Jugendlichen in der Spezialschule; von seiner Liebe zur Prügellilly, deren schlagkräftige Zärtlichkeit die der Mutter noch übertrifft; und von der Einzelhaft im Gefängnis, wo er auf der untersten Stufe der Verbrechen steht denn er hat seine Mutter getötet und danach verspeist naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger. Pommfritz, der in Lachen ausbricht, wenn sich die Hölle auftut, ist ein Anti-Held, wie es in der Literatur nicht viele gibt, ein unglückseliges Monster. Lioba Happel, die 2021 den Alice-Salomon-Poetik-Preis erhielt, ist eine Dichterin des Randständigen. In ihrem halsbrecherischen Roman an der Grenze zum Gesagten und Sagbaren spannt sie ein schwankendes Erzählseil über den Abgrund des Schweigens. Auch der Briefeschreiber Pommfritz bekommt keine Antwort. (Jan Koneffke)

Simon Fröhling «DÜRRST«, Bilgerverlag
Ein waghalsiger Roman, der den Bogen von James Baldwins »Giovanni’s Room« zu Fritz Zorns »Mars« und bis hin zu Édouard Louis’ »Im Herzen der Gewalt« spannt.
«DÜRRST»–  Simon Froehlings zweiter Roman entführt uns nach Athen, Kairo, Edinburgh, Berlin und Zürich, hinein in die Landschaft eines exzessiven, auseinanderbrechenden Lebens. In der paradoxen Realität scheinbarer Freiräume der Besetzer-, Kunst- und Schwulenszene mäandernd erzählt Simon Froehling den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern von stupender Schönheit.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont
Die Erzählfigur in «Blutbuch» identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.
Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Illustrationen © leafrei.com

Noch eine Bemerkung zu den Illustrationen in den Beiträgen zum Schweizer Buchpreis: Die junge Illustratorin Lea Frei zeichnet seit 2019 Cover und Porträts der Nominierten für die Beiträge auf literaturblatt.ch. Die Künstlerin veredelt damit die Beiträge auf dieser Webseite, sie gibt Büchern und AutorInnen und nicht zuletzt dem Schweizer Buchpreis einen ganz individuellen Auftritt. Herzlichen Dank!!!

Wer soll den Buchpreis 2022 gewinnen? Eine Umfrage auf literaturblatt.ch #SchweizerBuchpreis 22/1

Zwar werden die 5 Nominierten des Schweizer Buchpreises 2022 erst im September bekannt gegeben, aber vielleicht haben Sie Lust, Ihren ganz bestimmten Buchtitel zu «nominieren». Bis im August werde ich alle eingegangenen Mails sortieren und ein ganz eigenes Ranking veröffentlichen.

an info@literaturblatt.ch

Die Leseliste für die Jury des Schweizer Buchpreises 2022 steht: 58 Verlage haben insgesamt 88 erzählerische oder essayistische Werke eingereicht. 40 der teilnehmenden Verlage haben ihren Sitz in der Schweiz, 15 in Deutschland und fünf in Österreich. Von den eingereichten Titeln stammen 52 aus dem aktuellen Frühjahrsprogramm, 23 werden im Herbst erscheinen und 13 sind bereits seit vergangenem Herbst auf dem Markt.

Die Bekanntgabe der Shortlist mit den fünf nominierten Büchern erfolgt am Mittwoch, den 21. September 2022. Die Preisverleihung findet am Sonntag, 20. November 2022 um 11.00 Uhr im Theater Basel statt.
Aber vielleicht haben Sie schon viel früher Lust, ihr favorisiertes Buch hervorzuheben. Machen Sie mit in dieser kleinen Umfrage.

Und wenn Sie noch ein, zwei Sätze zu Ihrer Wahl formulieren, dann wird eine Auswahl dieser Statements in der Berichterstattung zum Schweizer Buchpreis 2022 erscheinen.

Machen Sie mit!

Erste Resultate:

Rebekka Salm «Die Dinge beim Namen» 1 Stimme
«Diese Treffsicherheit! Die Perspektiventreue, der Einfallsreichtum, die Blitze an Witz! Die Schuldigen sind die Opfer der Opfer der Schuldigen. Ein Meisterinnenwerk eines Erstlings – schön, toll, raffiniert.»

Urs Mannhart «Gschwind». 1 Stimme
«Unbedingt zu feiern ist dieser Roman über einen Hochstapler im Bodenschatz-Ausbeuter-Milieu, dieser Page-Turner über einen Schelm im Betriebswirtschaftsmodus.»

Karl Rühmanns «Die Wahrheit, vielleicht.» 5 Stimmen
– «Weil das Buch aufzeigt, wie mächtig die Sprache ist. Weil es laut und leise zugleich ist. Und weil es Felipe und die junge Frau verdienen.»
– «Karl Rühmann zeichnet mit wunderbar präzisen Pinselstrichen ein dennoch komplexes und mehrschichtiges Bild; die Macht der Sprache und die Finesse der Worte werden in einer spannenden Geschichte auf den Punkt gebracht. Gerade als ebenfalls mehrsprachig aufgewachsene Person kenne ich die Schwierigkeit und Schönheit des Jonglieren mit Worten zwischen Kulturen.
Absolute Lesefreude!»
– «Karl Rühmann wird mit jedem Buch noch besser. Eine Geschichte, die auf mehreren Ebenen intellektuell und emotional beschäftigt. Karl Rühmann schafft es dicht und bilderreich zu schreiben und der Leserin trotzdem Raum zu lassen für eigene Bezüge und Gedanken.» 

literaturblatt.ch gratuliert: Martina Clavadetscher ist Schweizer Buchpreisträgerin 2021 #SchweizerBuchpreis 21/12

Laudatio für Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» (Lenos Verlag)

Wenn die «kleiderlosen Frauen» Werkstatt zwei verlassen und in den Hängeraum kommen, sind sie «genauso, wie sein sollen». Die Körper anatomisch korrekt, die «Haut haarlos, / die Finger- und Fußnägel weiß bemalt, / gewisse Körperstellen auffallend und ausgeprägt». Makellos, findet Ling, die Arbeiterin mit dem makellosen Punktestand.  

Wir sind im südöstlichen China, inmitten einer Art Frauen-Manufaktur, und damit ist nicht gemeint, dass Frauen am Fliessband stehen. «Lebensecht» sollen die Puppen sein, die hier fabriziert werden, und seit die Firma vor allem in die Köpfe investiert, seit die Puppen das Sprechen und Denken, ja sogar etwas menschliche Fehlbarkeit erlernen, werden die Maschinen immer authentischere Menschenimitate.

Wenn die Frauenkörper bei Ling eintreffen, streicht sie zur Kontrolle an Beinen und Rumpf entlang, «sauber und glatt» muss alles sein. Mit den Fingerkuppen tastet sie über die Schultern, den Halsansatz, entfernt überflüssige Fetzen. Sie fasst in den Anus, misst die «Länge der Öffnung mit dem Kontrollstock», «dreht das Objekt um, greift in die Vagina», und wenn sich, während wir all das lesen, in uns ein Unbehagen regt, eine Beklemmung, vielleicht sogar ein tiefes Unrechtsempfinden, dann hat unsere empathische Solidarität mit der Puppenfrau längst eingesetzt. Wir haben sie schon vermenschlicht, noch ehe sie zusammengebaut ist. Martina Clavadetschers Roman wird viele weitere Male unsere Gewissheit bei der Unterscheidung von Mensch und Maschine irritieren.

Das liegt auch an Iris. Denn sie ist es, die wir in Manhattan von ihrer «Halbschwester Ling» erzählen hören (und die sich im Erzählen Stück für Stück von ihrem Mann und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen lossagt). Und am Kern, im Zentrum des Buches, stossen wir auf Ada im alten Europa: Ada Lovelace, die erste Programmiererin der Welt, der in der patriarchalen Gesellschaft der verdiente Ruhm verwehrt war. Clavadetscher also hat über Zeiten und Kontinente hinweg drei Geschichten von drei Frauen ineinander verschachtelt, die unterschwellig miteinander in Resonanz treten. 

Das Erzählen selbst gehört zu den grossen Themen dieses Buches. Gleich am Anfang steht ein Erzählerinnenwettstreit zwischen Iris und den beiden Damen mit den anspielungsreichen Namen Wollstone und Godwin (Mary Shelley lässt grüssen). Fortwährend beobachten wir die Figuren beim Verfertigen ihrer Geschichten. Und in welche Sprache und Form Clavadetscher das alles verpackt, ist das eigentliche Ereignis dieses Romans. Der aus Zeilenumbrüchen und sprachlichen Kippfiguren einen Lese-Thrill erzeugt. Der bis in kleinste Details von Klang und Rhythmus durchkomponiert ist. Der seine komplexe Architektur in eine durch und durch sinnliche Sprache hüllt. 

«Die Erfindung des Ungehorsams» ist ein kunstvoller Text über künstliche Intelligenz jenseits der handelsüblichen Anti-Technik-Dystopie. Ein feministischer Empowerment-Roman von grosser literarischer Originalität. Und eine Hommage an die urmenschliche Kraft des Erzählens und Erfindens.

Im Namen der Jury gratuliere ich Martina Clavadetscher zu so viel Ungehorsam gegenüber dem literarisch Konventionellen und zur Nomination für den Schweizer Buchpreis 2021.

Daniel Graf



Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2021? #SchweizerBuchpreis 21/11

Am 7. November werde ich im Theaterfoyer in Basel sitzen, im Gegensatz zum vergangenen Jahr glücklicherweise wieder mit und im Publikum. Ein paar Reihen vor mir, in der ersten Reihe, werden die Nominierten sitzen, Martina Clavadetscher schon zum zweiten Mal, Veronika Sutter, Thomas Duarte und Michael Hugentobler. 

Eine eigenartige Situation, denn Punkt zwölf Uhr wird eine Sprecherin der Jury die Bühne betreten, ein Couvert hervornehmen und die Preisträgerin oder den Preisträger verkünden, auf die oder den dann Sekunden später die Blitzlichter der Presse regnen, wo sich Mikrofone sammeln und Medienbeiträge aus dem Moment gestampft werden. Mit einem Augenblick verschwindet das Interesse für jene, die «zurückbleiben». Man fotografiert zwar noch einmal alle zusammen, aber dann wird es mit einem Mal ziemlich ruhig um jene, die es nicht sein sollten. Man lädt zwar noch einmal zum gemeinsamen Essen ein, lässt Gläser klingen, aber die Namen der Nichtprämierten rutschen weg, werden zwar nicht gleich vergessen, verschwinden aber hinter der Strahlkraft des einen Namens.

«Ist das die dort vor dem Blumenbouquet? Die mit den hochgesteckten Haaren?»
«Wen meinst du? Die mit den Geschichten?»
«Nein, die mit den Puppen ohne Köpfe. Du hast es doch gelesen. Diesen verrückten Roman, der in der Zukunft spielt, aber eigentlich doch eben jetzt.»
«Ach ja, von der mit dem bündnerisch klingenden Namen. Doch, doch. Und die andere sitzt gleich daneben. Die mit den Geschichten.»
«Geschichten? Als ob das Geschichten wären. Das ist Geschichte. Und viel mehr als einfach Frauengeschichte.» 

Alles vergebens? Das ganze Brimborium bei dreien nur Schall und Rauch? Bei weitem nicht. Es gab Publicity für vier Autor:innen. Bei vier Bücher stiegen mit Sicherheit die Verkaufszahlen. Und wenn künftig Bücher der vier erscheinen, ist doch mit Sicherheit die Wiedererkennung stärker. Wenn es nicht zehn Jahre dauern sollte, bis ein neues Buch der Hervorgehobenen auf den Verkaufstischen liegt, werden sich einige erinnern oder zumindest die Verlage. Auch für sie sind solche Scheinwerferaktionen wichtig. Hand aufs Herz: Kannten Sie vorher den Verlag Edition 8? Literarische Perlen wachsen nicht nur in grossen Verlagen heran. (In der Lyrik schon gar nicht.)

Weil ich schon öfters bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises im Publikum sass, musste ich auch schon beobachten, wie Enttäuschung spür- und sichtbar wurde. Da trösten auch Ermunterungen nicht, kein Blumenstrauss, schon gar kein Schulterklopfen. Und doch sind die Nicht-Preisträger:innen keine Verlierer:innen. Viele Lesende sind auf vier Namen aufmerksam geworden, die ihnen andernfalls vielleicht entgangen wären. Das eine Buch gewinnt ein Etikett, die drei anderen, jene mehr als deutliche Ermunterung, unverzagt in ihrem Schrieben weiterzumachen, zumal es Martina Clavadetscher beweist, dass man auch eine zweite (ja sogar eine dritte) Chance bekommen kann.

«Hast du Feuerland gelesen?»
«Klar doch. Der Mann kann Feuer legen!»
«Der Mann hinter dem Buch oder einer der Männer im Buch?»
«Sie alle. Halt Männerbücher!»
«Das vom Polizeiposten auch?»
«Klar doch. Ein Bekloppter und ein Polizist. Frauen sind dort nur Randerscheinungen.»
«So ganz verstanden habe ich den Roman nicht.»
«Den vom Wörterbuch oder den vom Buchhalter?»
«Eigentlich was von beiden. Die Tatsache, dass es Männern ganz offensichtlich schwerer fällt.»
«Was?»
«Pst – das Couvert!»

Mein Tipp: Ohne dass es für mich ein klar favorisiertes Buch geben würde, ohne dass ich mir einbilden würde, dass mein Blick in die Zukunft ein sicherer sein würde, habe ich doch auch im letzten Jahr danebengetippt. Mein Tipp hat auch nichts mit meiner eigenen Wertung zu tun. Ich glaube, dass die Romane von Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler den Preis unter sich ausmachen werden. Die Umfrage bei SRF gibt Martina die besten Karten. Meine ganz persönliche Rangliste entspricht der Reihenfolge der oben abgebildeten Bücher von links nach rechts.

Ich gratuliere allen vier, denn die vier Namen beweisen eindrücklich, wie vielfältig die Schweizer Literaturszene ist, erst recht neben den Namen, die immer und immer wieder genannt werden. Die Vielfalt zeigt sich sowohl sprachlich, inhaltlich wie formal. Schweizer Literatur braucht sich hinter keiner falschen Bescheidenheit zu verstecken. Auch wenn ich wie jedes Jahr meine ganz persönlichen Favoriten vermisse!

Sondersendung auf Radio SRF2 Kultur

Illustration © leafrei.com

Liebe Manu, lieber Gallus, Teil 2 #SchweizerBuchpreis 21/10

Liebe Manu
Ein «fresh-up»? Da ist der Schweizer Buchpreis noch nicht einmal 15 Jahre alt und schon sollte man ihn aufhübschen? Noch nicht einmal volljährig und schon ein Lifting? Der Nobelpreis für Literatur ist 120 Jahre alt. Ein greises Ding! Kein Wunder sind dort die Strukturen wacklig und Stimmen laut, die nach Erneuerung rufen. Klar, die beiden Preise sind in nichts zu vergleichen, zumal beim Nobelpreis ein Name gefeiert wird und beim Schweizer Buchpreis ein Buch, das sollte so sein. Wahrscheinlich liegt genau dort die Schwierigkeit des Buchpreises. Hinter jedem Buch steht ein Name. Und Namen von Schwergewichten in der Literaturszene wiegen eben doch viel mehr.
Und doch hätte auch ich „Verbesserungsvorschläge“, auch wenn mich niemand danach fragt (ausser du). Beim Österreichischen Buchpreis gibt es neben dem eigentlichen Buchpreis einen Debütpreis. Das entschärft das Nebeneinander von Schwergewichten und Einsteiger:innen doch beträchtlich. Zudem finde ich eine Shortlist mit nur 5 Namen kläglich. Im Vergleich zu unseren Nachbarn macht das den Eindruck, als hätten wir nicht mehr zu bieten. Ist das helvetische Bescheidenheit oder die Schüchternheit der Neutralen? Der Jahrgang hätte noch mehr zu bieten gehabt? Was meinst du?
In ein paar Tagen mache ich eine Auszeit in einem kleinen Häuschen im Misox. Ich werde lesen und schreiben. Hoffentlich auch unter der Sonne. Besuchst du mich?
Liebe Grüsse Gallus

Lieber Gallus,
vorneweg, nichts täte ich gerade lieber, als mit dir im Misox dem Verfärben der Natur zuzuschauen. Ich habe gerade viele Auftritte zum Glück, daher kann ich nicht einfach die Koffer packen und auch der Schulbetrieb der Kinder verlangt mir einiges ab. Was du schreibst, gefällt mir, einen Debütpreis würde ich absolut begrüssen.
Von wegen Debüts, ich habe nun den Duarte wie die Sutter gelesen und gestehe, ich bin beeindruckt. Welchen Eindruck hast du von Duartes Erzählperspektive? Eine Buchhändlerin, welche schreibt, gab es schon oft, aber Veronika Sutter wagt sich sogar an Geschichten und verwebt diese gleich untereinander, gelungen? Ich möchte bald die Besprechung zu «Grösser als du» schreiben, aber je länger ich mich mit Büchern beschäftige, desto schwieriger gestaltet sich das für mich, ich befürchte immer, den Werken auch nicht nur annähernd gerecht zu werden. Du klingst immer so souverän, wenn du schreibst, lieber Gallus, fliesst deine Feder leicht oder haderst du auch manchmal?
Sonst denke ich, ist der Schweizer Buchpreis selbstbewusst und gelassen aufgestellt, er zieht sein Ding durch und kann sich sehen lassen neben den «grossen» Nachbarn. Ich freue mich auf deine Antwort, beame mich in Gedanken mal eben zu dir und hirne daran herum, ob wir uns nicht doch noch real treffen könnten vor der Verleihung …
Herzlich Manu

Liebe Manu
Das Tessin ist leider schon längst Geschichte. Aber es waren wunderschöne Tage, eingetaucht in Literatur, ins Schreiben und die Lektüre. Wir beide sind Streiter (*) für das gute Buch, Missionare in Sachen Literatur. Aber so wie Lucky Luke bei seinen Abenteuern stets alleine in den Sonnenuntergang reitet, so ist man es auch in Sachen Literatur. Seien es die Schreibenden, die in ihren Stuben, an ihren Tischen, mit Griffel oder Tasten an ihren Texten schleifen, seien es jene, die die Fanfaren blasen, die Tafeln hochhalten. Leider demonstrieren die Menschen nicht für das gute Buch, für den heissen Atem der Kultur. Was wird dereinst bleiben in der Zukunft? Woran erinnern wir uns? Was von der Vergangenheit wird bleiben? Die Kultur!
Ich hadere nicht beim Schreiben. Je länger ich es tue, umso leichter scheint es mir zu fallen. Ich hadere viel mehr mit mir selbst. Vor allem dann, wenn mich Freunde auf mein Schreiben ansprechen und nicht verstehen können, was ich an dem „Schund» so gut finde. Ich habe einen Sohn, der fast ausschliesslich russische Klassiker liest und für das, was ich lese, nur ein müdes Lächeln übrig hat. Ich hadere, wenn ich mit Schreibenden zusammensitze und sie mich bitten, jetzt mal ganz ernsthaft zu erklären und zu erläutern. Ich hadere manchmal, wenn ich eine Lesung organisiere von Schreibenden, die mir am Herzen liegen, alles da ist und fast niemand kommt. Ich hadere manchmal, wenn ich ein Buch nach 50 Seiten resigniert zur Seite lege und Tage später eine hymnische Rezension lese. Doch, doch, ich hadere oft.
Aber letzthin lud mich ein schreibender Freund in die Kronenhalle in Zürich zum Essen ein. „Für all das, was du für die Literatur tust“, meinte er. Da haderte ich nicht.
Bei der letztjährigen Buchpreisrunde staunte ich über die Experimentierfreude der beiden Frauen bei den Nominierten, über die Bücher von Dorothee Elmiger und Anna Stern. Und prompt erhielt Anna Stern den Preis, was mich zum einen überraschte und zum andern für den Preis einnahm. Gemessen an der Experimentierfreude müsste Thomas Duarte den Preis bekommen. Aber diese eine Qualitätsmerkmal kann wohl nicht jedes Mal das Zünglein an der Waage sein. Vielleicht ist es dieses Mal die Farbenfreude!
Wir treffen uns bald. Und dann stossen wir an; auf die wackeren Streiter:innen für die Literatur!
Herzlich Gallus

Lieber Lucky Luke, lieber Gallus,
wir haben uns kürzlich getroffen, das war wunderschön, dich einmal näher kennenzulernen und beisammen sein zu dürfen. Deine Texte haben für mich einen absolut literarischen Sound und ich könnte mir gut vorstellen, ein Buch von dir in den Händen zu halten, und ich wäre gewiss nicht die einzige Leser:in. Wirst du das auch oft gefragt, ob du nicht ein Buch schreiben willst? Mich fragen das die Leute fast wöchentlich und ich winde mich dann immer ein wenig um eine klare Antwort herum. Gewiss habe ich seit Kindesbeinen an bereits eine beachtliche Anzahl von Büchern geschrieben. Die meisten zum Glück für die Umwelt nur in meinem Kopf, einige wenige fürs Altpapier. Jetzt ist eine Buchhändlerin mit ihrem ersten Wurf für den Schweizer Buchpreis nominiert – nicht schlecht, so durchstarten zu dürfen. Aber so geht es ja auch Herr Duarte. Bald sehen wir uns und wir werden wissen, wer den Preis bekommt. Ich war in ein paar Buchhandlungen unterwegs und traf auf wenig bis gar keinen Raum für die Nominierten, dies hat mich doch erstaunt und ich denke an deine Zeilen, es ist tatsächlich oft eine krass einsame Sache für Literatur einzustehen. Dabei finde ich die vier Werke wirklich allesamt herausragend und absolut lesenswert wie auch lesbar für eine breite Leserschaft. Ich darf ja seit einiger Zeit noch alle zwei Monate eine Radiosendung rund ums Buch für ein digitales Radio liefern, jetzt ist dieser Kanal beachtet und wirft sogar etwas ab, Leidenschaft des Gründerpaares trägt Früchte, leider aber müssen diese Gründer nun aus gesundheitlichen Gründen ihre Arbeit und ihr Radio aufgeben. Ich werde vielleicht im Dezember meine letzte Sendung für den Kanal machen und habe beschlossen, die vier Nominierten dann vorzustellen. Vielleicht passiert ja noch ein Wunder und es übernimmt jemand den Radiokanal.
Gallus, noch ein paar «heisse» Fragen im Endspurt um den Schweizer Buchpreis an dich: Was stört dich an Helvetismen im Buch einer Schweizer Autorin? Was würdest du tun, wenn man dich in die Jury bitten würde nächstes Jahr? Kannst du ein Werk nennen, das anstelle von Krachts Platz nominiert hätte sein sollen? Es gibt ja eben keine Verlierer am Sonntag in Basel, hoffen wir auf viele Besucher:innen und eine eindrückliche Veranstaltung. Ich freue mich auf Basel!
Herzlich, Manu

Liebe Manu
Ob ich ein Buch schreiben könnte? Die Frage ist, ob ich ein Buch schreiben sollte. Ich denke nicht. Ich weiss sehr gut, wo meine Grenzen liegen. Ich lese immer wieder Bücher, die mir mehr als deutlich vor Augen führen, wo meine Fähigkeiten aufhören würden, dass es mir schlicht am Talent fehlt, oder zumindest an der Überzeugung, ich hätte welches. Klar, ich schreibe auch. Klar war da einmal vor vielen Jahrzehnten ein Wunsch, eine Sehnsucht. Aber lieber kein Buch als eines, für das ich mich schämen müsste. Und lieber kein Buch, als um jeden Preis (wörtlich) ein Konstrukt zum Erscheinen bringen. Es gibt genüg Bücher, auf die die Welt verzichten könnte. Ich bin Leser, das genügt, braucht es doch neben jenen, die schreiben, auch jene die lesen. Es sollten ja auch nicht alle reden. Es braucht Zuhörer:innen – und zwar gute, aufmerksame.
Was mich an Helvetismen stört? Nichts. Sie stören mich nur dann, wenn sie zufällig auftauchen, wenn ich das Gefühl habe, sie sind durch ein Lektorat geschlüpft, wenn sie nicht Programm, klare Absicht sind.
Juryarbeit für den Schweizer Buchpreis? Eine solche Anfrage würde mich durchaus reizen. Vor allem die Diskussionen in der Jury, die Art und Weise, wie andere an ein Buch herangehen, schmecken, riechen und kosten. Aber ich glaube, dass ich absagen müsste. Es würde meine Kapazitäten wohl übersteigen, lese ich doch als Webseitenbetreiber und Veranstalter schon einiges neben einem Brotberuf, der auch nach 37 Dienstjahren nicht ohne grosses Engagement zu leisten ist.
Ein fünftes Rad am Wagen? „Offene Fenster, offene Türen“ von Hansjörg Schertenleib wäre … hätte, hätte, Fahrradkette
Auf, auf, an die BuchBasel!
Gallus