Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber

Leidenschaft allein reicht nicht. Aber Genialität allein ebenso nicht. Gina, eine junge Frau, schreibt zwischen Lähmung und Selbstzerstörung, über Lebensentwürfe, die nach ihrer Erfüllung rufen. In „Die Entflammten“ prallen Welten aufeinander.

Sie kennen Vincent van Gogh mit Sicherheit. Wahrscheinlich kennen sie auch Theo van Gogh, seinen jüngeren Bruder, Kunsthändler und -sammler, ohne den sein genialer Bruder nie und nimmer jene Bilder hätte malen können, die ihn unsterblich machten. Aber wahrscheinlich lernen sie Jo van Gogh-Bonger, die Frau von Theo, erst durch den Roman von Simone Meier kennen. Eine Frau, die es sich nach dem frühen Tod der beiden Brüder zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Vincent van Goghs Bilder dorthin zu bringen, wo sie hingehören; in die grossen Museen der Welt. Vincent van Gogh war einzig und allein an seiner Malerei interessiert, unkonventionell und mit totaler Hingabe. In einer Hingabe, die gekoppelt mit seiner desaströsen Lebensweise schon früh auf eine Katastrophe hinzielte und mit dem frühen Tod seines Bruders, der ihn in jeder noch so zerstörerischen Lebensphase unterstützte, leicht ins grosse Vergessen hätte münden können. Wenn nicht Johanna van Gogh-Bonger gewesen wäre.

Simone Meier erzählt aber nicht einfach die Geschichte jener Frau nach, die die Sehnsucht nach Liebe an die Seite der berühmten Brüder brachte, der die Kunstwelt verdankt, dass jenem Künstler, der viel mehr als einfach abbilden wollte, jener Platz an den Wänden der Welt sicherte.

Über hundert Jahre später stösst die junge Kunsthistorikerin Gina auf die Geschichte dieser Frau. Sie taucht immer tiefer ein in die Biografie dreier Leben, die in ihrer Radikalität und Besessenheit auch im stummen Untergang hätten enden können. Was wäre geschehen, hätte Vincent seinen Bruder Theo nicht gehabt? Was wäre geschehen, hätte Jo das Lebenswerk beider nicht weitergeführt? Was wäre geschehen, wenn das Selbstzerstörerische des Malers, die Syphilis seines Bruders die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn mitgerissen hätte? Gina folgt einem Leben, sucht nach dieser Stimme und findet sie.

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5029-7

Gina sucht aber auch nach den Rätseln in ihrer eigenen Familie. Warum scheiterte die Ehe ihrer Eltern? Warum schafft es ihr Vater in dem kleinen Haus am Meer nicht endlich, aus den vielen Anfängen einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem der Ruhm des ersten schon seit Jahrzehnten verflogen ist? Gina zieht für eine begrenzte Zeit in das kleine Haus ihres Vaters, wohl nicht zuletzt darum, weil sie hofft, dass sie mit ihrem Schreiben die Fesseln ihres Vaters lösen kann.

Das Reizvolle an diesem Roman sind die  Prozesse der Begegnungen. Im Vordergrund steht jene zwischen Jo und Gina, zweier Frauen in ganz unterschiedlicher Zeit, obwohl doch eigentlich nur etwas mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Frauenleben liegt. Gina rutscht mit Recherche und Schreiben immer tiefer in das Leben einer Frau, die ihr Dasein nach dem Tod der van Goghs immer entschiedener in den Dienst einer Sache stellt. Eine Kompromisslosigkeit, von der die Schreibversuche ihres Vaters diametral entfernt sind und wehleidig groteske Züge angenommen haben. Je tiefer Gina forscht und sich in das Leben Johannas hineinversetzt, desto mehr schwinden Barrieren, bis Jo und Gina im letzten Teil des Buches in einen Dialog treten, der die Grenzen schwinden lässt.

Wo sind die Grenzen zwischen Eigensinn und Genialität? Wie schafft es Genialität an die Oberfläche, zwischen all die Banalitäten des Lebens? Simone Meier geht es um mehr als Aufklärung über eine Frau, die seit einem Jahrhundert im Schatten „ihrer“ beiden Männer steht. „Die Entflammten“ ist ein Buch über Entflammte, die in ihrem selbstzerstörerischen Tun alles mit sich reissen und über „Entflammte“, die das einst entfachte Feuer nie erlöschen lassen.

Interview

Was war zuerst; die Faszination für die Person Johanna Bonger, später van Gogh oder die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Suche nach einer eigenen Stimme mit dem Scheitern ihres Vaters konfrontiert?
Keine von beiden. Zuerst war Ginas Vater da. Nach meinem letzten Buch war ich frustriert, ich hatte die Ausläufer des Corona-Tiefs schwer unterschätzt, besonders in Deutschland. Man kriegt nun mal keine Sichtbarkeit hin, wenn die Buchhandlungen ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Zugänge zu Lesungen waren beschränkt und die Leute blieben vorsichtshalber lieber zuhause. Aus therapeutischen Gründen wollte ich zuerst eine Literaturbetriebssatire schreiben. Einfach um Wunden zu lecken. Das sollte man natürlich unterlassen, das habe ich relativ schnell gemerkt. Und dann kam Jo. Ganz plötzlich, aber sehr bestimmend, und ich wusste, wenn ich mich jetzt nicht ganz in den Dienst dieser Figur stelle, bin ich die blödste schreibende Person weit und breit. Gina kam erst danach, allerdings enorm selbstverständlich, und aus dem Vater wurde aus einer lächerlichen eine gute Figur.

Über ein Jahrzehnt nach dem Suizid des einen und dem Syphilistod des andern war Vincent van Goghs Kunst nur einem ganz kleinen Kreis ein Begriff. Heute werden, wenn ein Bild überhaupt zum Verkauf steht, exorbitante Summen bezahlt, die mit Kunstverstand oder Sammelleidenschaft nichts mehr zu tun haben. Doch eigentlich eine Watsche an Künstler, eine an die Kunstszene, profitiert doch die Kunst selbst nie von solchen Preisen und eine Watsche ins Gesicht all jener, deren Genialität nie an die Oberfläche gelangt.
So what? Im stillen Kämmerchen sind wir alle in irgendwas genial. Ich war mal eine geniale Blockflötistin. Aber braucht die Welt das? In den allermeisten Fällen nicht. In meinen 28 Jahren als Kulturjournalistin sind mir wohl erst zwei lebende Menschen untergekommen, von denen ich sagen würde, sie sind genial und ihre Kunst bringt uns wirklich was. Vorherrschend ist ja immer und überall solides, stabiles Mittelmass. Ich persönlich bin kein Van-Gogh-Fan, mir ist das zu aufdringlich, aber in der Beschäftigung mit ihm für das Buch habe ich verstehen gelernt, wie echt revolutionär er war und was die Menschen in ihm sehen konnten, was sie begeisterte. Tragisch für ihn, dass er das nicht erlebte, Picasso und Warhol hatten mehr von ihrem Ruhm. Aber wenn besonders Viele einen Einzelnen besonders grossartig finden, kommt es unweigerlich irgendwann zu diesen perversen monetären Exzessen, egal ob in der Kunst, im Fussball, in Hollywood oder in Chefetagen. Offenbar haben wir noch nicht gelernt, unsere Wertschätzung anders auszudrücken. 

Das Literaturhaus St. Gallen lädt ein!

Gina setzt sich einigem aus, nicht zuletzt dem Stolpern ihres Vaters, der, statt seinem einstigen Brotberuf nachzugehen, vom Leben eines erfolgreichen Schriftstellers „besessen“ ist. Muss man besessen, entflammt sein, um mit seiner Kunst eine Bühne zu finden?
Für seine Arbeit entflammt zu sein, garantiert noch lange keine Bühne, hilft aber sicher. Was ich jedoch weiss, ist, dass es kein Entkommen vor einer gewissen Besessenheit, einer Auslieferung gibt, wenn man es mit seiner Kunst wirklich ernst meint. 

Jo findet schlussendlich ihre Bestimmung in der Kunstvermittlung, mit ihrer Strategie, die Werke ihres Schwagers nicht einfach gewinnbringend zu verscherbeln, sondern den Bildern jenen Platz zu geben, der ihnen durch ihre Einzigartigkeit zusteht. Ein typisch «weibliches Prinzip»?
Ist diese Frage ernst gemeint? Ich hoffe nicht! Das Einzige, was Jo an Weiblichkeitsklischees wie diesem interessierte, war, sie aus der Welt zu schaffen. Zum Glück hatte sie dank Theo, aber auch dank ihrem späteren Umfeld ganz unweibliche Einblicke in den damals zu hundert Prozent von Männern beherrschten Kunstmarkt. Sie sah, wie man es eben nicht machen sollte. Und sie war ein totaler Kontrollfreak. SIE wollte das Narrativ bestimmen, niemand sonst. Das Praktische an Vincent van Gogh war ja nun mal, dass er schon tot war und nicht mehr von seiner Kunst zu leben brauchte, sie konnte die Nachlassverwaltung entsprechend gründlich und langfristig angehen. Und sie legte sich einen genialen Dreiphasenplan zurecht: Sichtbarkeit schaffen, Rarmachen auf dem Markt, am Mythos basteln. Die breitestmögliche Sichtbarkeit erreichte sie, indem sie Zeit ihres Lebens über 100 Ausstellungen organisierte und dabei immer darauf achtete, dass Leute, die wenig verdienten, weniger Eintritt zahlen mussten. Da war sie ganz Sozialistin, wie übrigens die meisten im Van-Gogh- und Bonger-Clan damals glühende Sozialisten waren, was in der Van-Gogh-Rezeption natürlich gerne unterschlagen wird. Am Mythos bastelte sie bei ihrer Herausgabe der Briefe der Brüder, zu der sie selbst den alles entscheidenden Essay schrieb, der das Bild von van Gogh nachhaltig prägte. Und mit dem Zurückhalten besonders beliebter Bilder vom Markt befriedigte sie einerseits die Museumsbesucherinnen und -besucher und schuf andererseits noch grössere Begehrlichkeiten bei den abgewiesenen Käufern. So kam der immer lautere «Buzz» um van Gogh zustande.

Im zweiten Teil ihres Buches mischen sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen Jo und Gina zu einem Dialog über Zeit und Raum hinaus. Eigentlich eine virtuelle Begegnung. Ist das nicht genau das, was die Literatur kann? Warum muss die Grenze des Möglichen ausgerechnet auch für die Literatur gelten? 
Mich müssen Sie das nicht fragen, ich bin eh das Schmuddelkind, das sich nicht um die Genregrenzen und die albernen Reinheitsgebote der deutschsprachigen Literaturkritik kümmert. In jeder anderen Weltliteratur ist diese Art der Kunstfreiheit, des ’magischen Realismus’, des kreativen Ausserkraftsetzens von Zeit, Raum und Konventionen völlig normal und anerkannt. Bei uns nicht.

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane «Fleisch«, «Kuss» und «Reiz». Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.

Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.

Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.

Foto © Emsland Moormuseum, Fotoarchiv

Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel, 2023, 285 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-458-64388-3

Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.

Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt. 

Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf. 

© Helga Bürster

Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.

Interview

Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung. 

Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.

eine trocken gelegte Moorlandschaft © Helga Bürster

Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es. 

Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste. 

Moorsee © Helga Bürster

Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung. 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Christoph Peters «Krähen im Park», Luchterhand

„Krähen im Park“ sticht mitten in die Zeit. Christoph Peters verwebt ein Geschehen vieler ProtagonistInnen an einem einzigen Tag, Lebensläufe, die sich manchmal streifen oder auch nur in der gleichen Stadt, ab diesem 9. November 2021 in Berlin, abspielen, meisterhaft gespiegelt in den verschiedensten Perspektiven, die Oberflächlichkeiten einer Gesellschaft am Wendepunkt entlarvend.

Zu Besuch in der Stadt meines Freundes stand ich nachts manchmal am Fenster seiner Wohnung oder auf dem kleinen Balkon, auf dem nur ein Stuhl Platz hatte. Bei Dunkelheit sah man in all die Wohn- und Schlafzimmer auf der Gegenseite, die die Sicht nicht mit Gardinen versperrten. Ich sah für eine Weile in die Leben all der mir Unbekannten, ein ins Licht gesetztes Szenario vieler gleichzeitiger Leben, die nichts miteinander zu tun hatten. Damals nahm mich mein Freund weg vom Fenster, weil er Kommentare fürchtete. 

Ganz anders Christoph Peters mit „Krähen im Park“. Er nimmt mich mitten hinein in die Leben vieler, erzählt vom erfolglosen Schriftsteller Urban, dem es seit Jahren nicht gelingt, wieder zurück in jene Spur zu kommen, die mit zwei Romanen so vielversprechend begonnen hatte. Von einer Frau Irma, einer ehemals erfolgreichen Schauspielerin, nun Influencerin, die alles versucht, nun wenigstens ihre Tochter Leonie gewinnbringend zu vermarkten. Von Joyce, einer Fluggastkontrolleurin, enttäuscht von den Männern, enttäuscht vom Leben, enttäuscht von ihrer Tochter Dina, die sich unverständlicherweise an einen Türken gehängt hat. Von Dina selbst, mit achtzehn nach dem Abitur von Emre schwanger geworden, eigentlich glücklich und doch ganz verunsichert, wie sie an diesem Tag zum Arzt geht, um sich ihrer Schwangerschaft sicher zu sein und aus ihrem Glück gerissen wird. Von Emre, dem türkischen Paketboxer, der eigentlich Dina zum Arzt hätte begleiten sollen, dem aber die Tekwando-Prüfung wichtiger ist, sich gleichzeitig aber in seinen schlechten Gefühlen windet. Von Ali Zayed, einem afghanischen Flüchtling, erst seit ein paar Stunden von Belarus kommend in der ihm vollkommen fremden Stadt, auf der Suche nach seinem Cousin… 

Christoph Peters «Krähen im Park», Luchterhand, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-630-87752-5

Was wie ein Wimmelbild erscheinen mag, ist ein sorgfältig konstruierter Teppich aus unterschiedlichsten Biographien, ganz und gar nicht wirr zu lesen, so glasklar arrangiert und inszeniert, dass ich staune, wie gut es dem Autor gelingt, die verschiedenen Charaktere auch aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Wie scheinbar Objektives aus der Sicht eines andern meinen permanenten Versuch einzuordnen unterbricht. Wie tief man in sich selbst versenkt ist und es nicht schafft, den eigenen Tunnel zu verlassen.

Zusammengehalten werden all die Leben durch den Besuch des französischen Starschriftstellers Bernard Entremont, der aus Paris angereist ist, um einen mit 30 000 Euro dotierten Literaturpreis entgegenzunehmen. Eine Veranstaltung in den Coronabeschränkungen, vielleicht die letzte ihrer Art, mit einem Schriftsteller, den man hasst oder vergöttert, der sich gelangweilt zeigt und sich über sich selber wundert, dass er nicht einfach via Leinwand ein kurzes Lächeln hätte zeigen können. Entremont (unschwer als Michel Houellebecq zu erkennen) in seinem nachlässigen Parka, dauernd rauchend, auch wenn sich sonst alle an Verbote halten, immer nach einem attraktiven Gegenüber suchend.

Die Kulturschickeria ist in heller Aufregung. Während sich die einen um jeden Preis ihre ganz persönliche Scheibe von dem Literaturspektakel abschneiden wollen, sich der geehrte Bernard Entremont sich in seiner Langeweile suhlt, geht es im gleichen Moment nicht unweit vom diesem Geschehen ums unmittelbare Überleben, knallen kleine und grosse Katastrophen.

Corona hat unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Auch wenn sich die Wellen scheinbar geglättet haben, wissen wir alle, wie dünn das Eis, wie filigran die Normalität, wie flüchtig das Glück ist. Christoph Peters Roman ist eine Gesellschaftsstudie ohne Analyse. Und doch wird klar, wie sehr wir uns in einer künstlichen Blase bewegen, die einen innerhalb, die andern auf immer ausgeschlossen. Auch wenn es Christoph Peters vermeidet zu moralisieren, schmerzt die unmittelbare Nähe all der wirklichen und eingebildeten Katastrophen. Christoph Peters verblüfft und überrascht. Sein Roman ist ein oppulentes Sittengemälde einer Zeit, die sich mit aller Macht über Wasser hält.

Interview

Es geht ihnen nicht um ihre eigenen Befindlichkeiten, aber sehr wohl um die Befindlichkeit der Welt. Ich spüre ihre Betroffenheit. Aber es ist eine in den beschriebenen Personen gespiegelte Befindlichkeit. Nicht zuletzt auch jene der Ausweglosigkeit. 
Es gab in den schwierigen Zeiten der Pandemie und mit den grossen Friedens- und Klimademonstrationen kurz davor auch die kleine Hoffnung, es würde sich etwas ändern. Ist ihr Roman auch ein Bild dessen, wie wir weiter feiern auf dem lecken Dampfer?

Soweit ich mich selbst erinnere und wenn ich dann noch die Erzählungen meiner Eltern und Grosseltern dazunehme – zwei Weltkriege, Weltwirftschaftskrise, der Verlust von allem, was sie besessen haben, im Bombenhagel -, war der Dampfer eigentlich immer leck. Die Menschen haben trotzdem gefeiert. Neulich habe ich eine Dokumentation über die 1950er Jahre gesehen: Da wurden überall Atombunker gebaut und ABC-Waffen-Trainings durchgeführt, gleichzeitig kam der Rock ’n’Roll auf – der bis dahin vermutlich wildeste Tanz der Neuzeit. Während der 1980er, als ich selbst erwachsen wurde, standen neben der weiterhin dramatischen Atomkriegsdrohung Waldsterben, Ozonloch, tote Flüsse im Fokus der Weltuntergangsszenarien. Auch wir haben damals in der permanenten Angst gelebt, die „letzte Generation“ zu sein, sind zu politischen Aktionsgruppen und Demonstrationen gegangen, aber am Wochenende eben auch in die Grossraumdisco. Da, wo im Roman gefeiert wird – bei der Preisverleihung zu Ehren des französischen Starliteraten Bernard Entremont in der Akademie der Künste und auf der halboffiziellen After-Show-Party im Haus der Schauspielerin und Salonniere, Mariann Krüger –, ist es eher der Versuch, trotz der heiklen Lage, die Rituale bougeoisen Kulturlebens aufrecht zu erhalten, beziehungsweise vorsichtig wieder aufzunehmen. Das klappt natürlich nur teilweise. Einige der Figuren interessieren sich ohnehin nur am Rande für die globale Lage, sondern sind hauptsächlich mit ihren eigenen, persönlichen Problemen beschäftigt, wie das ja auch im wirklichen Leben nicht selten der Fall ist.

Was mich an ihrem Roman auch fasziniert, sind die verschiedenen Perspektiven. Während sie stets sehr nahe an ihrem Pesonal schreiben, die Welt aus ihrer Sicht schildern, relativiert sich diese Ansicht bei einem Szenenwechsel, wenn das Licht auf eine andere Bühne gerichtet wird. Alles ist sowohl als auch, selbst bei der Person des afghanischen Flüchlings Ali Zayed, dessen Geschichte bewusst macht, dass es gleich neben Luxus, Hochglanz und kalt gestelltem Sekt um Leben und Tod geht. Es scheint ihnen um viel mehr zu gehen, als nur eine Geschichte zu erzählen.

© Christoph Peters

Ich habe versucht, eine Art Momentaufnahme der Gesellschaft im Brennpunkt und Schmelztiegel Berlin zu Beginn des 2. Corona-Winters zu zeichnen. Es gibt viele, etwa gleich wichtige Figuren aus sehr verschiedenen Milieus – Kulturschickeria, Gross- und Kleinbürgertum, Migranten, junge und alte Paare unterschiedlicher Orientierung, einige, die im Westen, andere die im Osten sozialisiert sind. Einerseits leben sie alle in ihren eigenen Welten, andererseits greifen diese Welten dann doch stärker ineinander, als man auf den ersten Blick vermuten würde, teils zufällig, teils – wenn man so will – fast schicksalhaft. Das Private wird politsch und der Politiker wird von seinen privaten Konflikten eingeholt. Für andere, wie den afghanischen Flüchtling Ali Zayed oder den Paketfahrer Emre, spielt das alles kaum eine Rolle. Der eine versucht, sich irgendwie in der Fremde zu orientieren, der andere hat eine junge Freundin, Dina, die schwanger ist, und träumt vom künftigen Familienglück. Fast alle sind auf der Suche nach etwas, das dem eigenen Leben eine Wendung zum entschieden Besseren geben könnte, wobei jeder andere Vorstellungen hat, was es sein könnte. In gewisser Weise ist der Roman auch der Versuch, aus den sogenannten „Blasen“, in denen wir uns mehr und mehr abgekapselt haben, herauszukommen und einen etwas grösseren Ausschnitt aus den vielen, extrem heterogenen Lebenswelten zu zeigen, aus denen unsere nach-postmodernen Grossstädte bestehen.

Ausgerechnet der Sohn von Professor Bernburger, der Gesundheitspolitiker mit Ambitionen ist und Verfechter einer rigorosen Impfpflicht, entpuppt sich als Coronakritiker und Anhänger kruder Verschwörungstheorien. Eine Szenerie, die wir sehr gut kennen; Familien, in denen der Coronatsunami tektonische Verschiebungen verursacht hat. Trotzdem ist ihr Roman kein Coronaroman. Und doch ist der Vius da. Ein schreibender Freund meinte einmal, es wäre unmöglich, einen vernünftigen Coronaroman zu schreiben. Mussten sie sich um eine richtige Dosierung bemühnen?

Als ich wusste, dass ich diesen Roman schreiben würde und dass er am 9. November 2021 spielen sollte, sah es noch ganz so aus, als wäre Corona bis dahin kein grosses Thema mehr. Ursprünglich wollte ich erzählen, wie das Leben nach der Krise allmählich wieder zur vor-pandemischen Normalität zurückkehrt. Als sich dann abzeichnete, dass das Virus doch hartnäckiger sein würde als erhofft, habe ich entschieden, diese zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen einfach als gegeben hinzunehmen – ein bisschen wie eine schwierige Wetterlage. Corona und die Art, wie die Figuren im Roman darauf reagieren, spielt also eine Rolle, ist aber nicht der alles determinierende Faktor. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Pandemie ja auch schon gut anderthalb Jahre und man hatte sich allmählich daran gewöhnt. Da ich diese vielen verschiedenen Protagonisten hatte, konnte ich von sehr unterschiedlichen Arten erzählen, wie die Leute mit dem Virus umgehen: Von der panischen Sorge, über gelassene Bereitschaft, sich den Regeln entsprechend zu verhalten, bis hin zu verschwörungsgläubigem Verfolgungswahn. Nicht wenige der Figuren haben aber bereits wieder oder von vorneherein ein achselzuckendes Desinteresse dem ganzen Themenkomplex gegenüber. Dadurch musste ich nicht ständig aufpassen, dass das Virus den Text vollständig unter seine Kontrolle brachte. 

Nicht zuletzt ist ihr Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb. Auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte Misanthrop und Lebemann Bernard Entremont, um den eine bunte Schar Kulturbeflissener Bücklinge macht, auf der anderen Seite Urban Fischer, ein fast vergessener Schriftsteller, dessen Selbstverständnis mehr als angekratzt ist. Auf der einen Seite ein aufgeblasener Hype um einen grossen Namen, der Aufmerksamkeit generiert, auf der anderen Seite die pure Selbstzerfleischung. Beide haben die Bodenhaftung verloren. Aber ist nicht Bodenhaftung eine Unabdingbarkeit für gute Literatur?

„Bodenhaftung“ finde ich einen eher schwierigen Begriff im Zusammenhang mit Literatur. Er suggeriert, dass Literatur eine realistische, gesellschaftspolitisch reflektierte, auf genauer Beobachtung der Verhältnisse durch einen souveränen Autor basierende Perspektive haben sollte. Diese Art des „relevanten Realismus“ ist aber nur eine von sehr vielen Möglichkeiten interessante Texte zu schreiben. Grundsätzlich kann der Blick eines Autors natürlich hauptsächlich nach Aussen gehen, sich also der möglichst genauen Wahrnehmung der menschlichen Verhältnisse um ihn herum in seiner Zeit zuwenden. Andererseits bietet aber auch die radikale Selbstbeobachtung bis hin zur völligen Isolation von Autor, Erzähler und/oder Protagonisten Möglichkeiten, Dinge aus innerseelischen Dunkelkammern und psychischen Grenzbereichen ans Licht zu bringen und gerade dadurch neue Perspektiven auf die menschliche Existenz zu öffnen. Das Imaginieren, Phantasieren, der Entwurf völlig anderer Welten und Wirklichkeiten ist eine weitere Möglichkeit, so alt wie die Literatur selbst und ebenso berechtig wie wichtig, um Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen ins Auge zu fassen oder Fluchtrouten aufzuzeigen. Daneben kann sich der Fokus auf die Sprache selbst, ihre Strukturen, Grenzen und Entgrenzungen richten und gerade dadurch neue Zugänge zur inneren und äusseren Welt ermöglichen, die verschlossen bleiben, solange der Autor am „Boden haftet“.

in der Akademie der Künste © Christoph Peters

Es gibt eine Szene in ihrem Roman, in der der Afghane Ali Zayed in einem der vielen Berliner Parks sitzt und Krähen beobachtet. Afghanische und deutsche Krähen scheinen sich genauso zu unterscheiden wie afghanische und deutsche Menschen. Aber zumindest können deutsche Krähen mit den Abfällen aus Mülleimern in Parks ganz gut leben. In vielem tönen sie nur an. Auch die Geschichte von Ali Zayed ist „nicht zu Ende erzählt“. Das Personal ihrer Romane kommt immer wieder mal vor, wenn auch mit anderem Gewicht. Was entscheidet, ob eine Figur wie Ali Zayed wieder auftauchen wird?

Die Unterschiede zwischen afghanischen und berliner Nebelkrähen sind ornithologisch nicht hundertprozentig abgesichert: Ich habe in Pakistan immer wieder grosse Schwärme dieser Art gesehen und bin einfach mal davon ausgegangen, dass in Afghanistan eher der pakistanische Typ verbreitet ist: etwas kleiner, schlanker, insgesamt eleganter im Erscheinungsbild und das Grau ein bisschen blaustichig – was gut zu den „crows which are blue“ des Edith-Stein-Mottos zu Beginn des Romans passt. Ob sich die Charakteristika der Krähen auf die Menschen übertragen lassen, sei mal dahingestellt. – Tatsächlich wandern gelegentlich Figuren von Text zu Text weiter oder tauchen nach Jahren, manchmal Jahrzehnten plötzlich wieder auf. Wie genau es dazu kommt, weiss ich nicht. Irgendwie haben alle diese Gestalten eine Art Eigenleben in meinem Kopf oder sonstwo, und dort gehen sie, auch wenn ich sie gerade nicht erzählend im Blick habe, ihren jeweiligen Beschäftigungen nach. Manche widersetzen sich gezielt den Lebensplänen, die ich für sie gedacht hatte. So ist der Yakuza Fumio Onishi ursprünglich nur Protagonist einer Kurzgeschichte, „Maneki neko“, gewesen, die im Berliner Hauptzollamt spielte und eigentlich mit seinem Tod enden sollte. Dazu kam es dann aber nicht, so dass Fumio zur Hauptfigur in „Der Arm des Kraken“ wurde, wieder mit der Aussicht, am Ende getötet zu werden. Doch er hat auch den Roman überlebt und sich nach Tokio bzw. in „Das Jahr der Katze“ geflüchtet. Aktuell agiert er vermutlich in der Unterwelt von Los Angeles. Ich würde ihm eigentlich sehr gern dabei zuschauen, aber bislang hat er mir seinen genauen Aufenthaltsort nicht verraten. Ob Ali Zayed sich noch einmal melden wird, kann ich momentan nicht sagen – ausgeschlossen ist es nicht.

Des Autors Schreibtisch © Christoph Peters

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand «Tage in Tokio» (2021) und «Der Sandkasten» (2022).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter von Felbert

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper

Mit der Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später» brannte sich Angelika Klüssendorf in meine literarischen Erinnerungen. Nicht weil ihre Romane einem Zeitgeist, dem autofiktionalen Schreiben entsprechen, sondern weil die Autorin mit der Rückkehr zu ihrem grossen Thema eine Art des Schreibens kultiviert, die trotz aller Verwundung und Entblössung die Hoffnung nie zerstört.

Wie ist es möglich, dass Menschen, die durch die Hölle gehen, trotz allem aufrecht, offen und emphatisch durchs Leben schreiten können? Wie schaffen es Menschen, die angesichts grassierender Gewalt ein Leben aushalten müssen, das Feuer brennen zu lassen, nicht aufzugeben, zu resignieren?

Angelika Klüssendorf, die mit ihrem neuen Roman «Risse» an ihre Trilogie anknüpft, kehrt zu ihrem grossen Thema zurück. Aber nicht, um an alte schriftstellerische Erfolge anzuknüpfen, sondern weil die Autorin mit «Risse» in eine neue Dimension ihrer Auseinandersetzung tritt. Angelika Klüssendorf schildert in drastischen Bildern eine verlorene Kindheit, Menschen, die der Zerstörung trotzen. Aber sie versucht auch zu ordnen. Sie reflektiert, stellt sich über ein Geschehen, das ganz offensichtlich ein halbes Leben lang Schmerz verursachte. Sie schildert die Kindheit einer Frau, die sich in sich selbst zurückzieht, mit aller Kraft sich selbst nicht verlieren will und damit auch die letzte Hoffnung, dass es aus der Hölle auch einen Ausweg geben muss.

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-492-05991-6

Wenn das «durch die Hölle gehen» eine Kindheit ist, dann schmerzt die Lektüre ganz besonders. Und Angelika Klüssendorf macht keinen Hehl daraus, dass es ihre eigene Kindheit ist. Eine in der Einsamkeit des Eingeschlossenseins, ob physisch oder psychisch. In den Ruinen einer «Familie», in der Mutter und Vater mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind, Liebe und Zuwendung fremd ist, Beziehungen in erster Linie Gefahr bedeuten, jede Regung ein Risiko birgt.
Als kleines Kind bei der geliebten Grossmutter aufgewachsen, einer Frau, mit der sie sogar das Bett teilte, unmittelbare Nähe, kam das Mädchen mit ihrer kleinen Schwester zu ihrer Mutter und einem gewalttätigen Vater. Was die beiden bei der Grossmutter an Geborgenheit und Verbundenheit erlebten, ist bei der getriebenen Mutter verschüttet und irgendwann ganz verloren. Angelika Klüssendorf erzählt, wie jenes Mädchen schon damals im Lesen, in Geschichten, in Büchern jene Welt suchte, die ihr in ihrer direkten Umgebung verwehrt blieb. Während die Mutter immer wieder mal für mehrere Tage von der Bildfläche verschwindet und die Kinder sich selbst überlässt, ist das Mädchen zum reinen Überleben gezwungen. Das Mädchen zieht sich mehr und mehr in ihren eigenen Kosmos zurück, kapselt sich auch emotional ab, «autonomisiert» sich. Auch zu ihrem Vater, zu dem sie abgeschoben wird, der als Aushilfskellner jobbt, verbindet sie bloss das Gefühl der Angst, die permanente Furcht eines Übergriffs.

«Risse» zu lesen, ist nicht einfach. Angelika Klüssendorf schmeisst einem aber nicht einfach das Schicksal einer ungeheuerlichen Kindheit vor die Füsse. Sie kommentiert ihren Weg damals aus dem Heute, setzt dem Ungeheuerlichen einen Kommentar aus der Gegenwart entgegen. Nicht dass sie sich mit dem Erlebten versöhnt hätte, schon gar nicht mit Mutter oder Vater (Schon allein diese Begriffe, Mutter und Vater, scheinen so gar nicht zu passen!), aber die Autorin gewinnt jene Distanz, die auch mir als Leser hilft. Keine Distanz, die die Kindheit damals unter Folie verpacken will, aber eine Distanz, die im eigenen Leben zu reflektieren hilft.

«Risse» ist ein ungemein starkes Buch. Geschrieben von einer Frau, die aus Verletzungen Stärke entwickelte, auch eine starke Sprache mit ungemein starken Bildern.

2 Fragen an Angelika Klüssendorf:

Ich arbeite seit Jahrzehnten als Pädagoge. Schicksale wie das von Ihnen beschriebene finden noch immer in den verschiedensten Varianten statt. Kinder, die sich selbst überlassen sind. Kinder, die nichts von dem geschenkt bekommen, was so gerne als „Familie“ idealisiert wird. Das schmerzt deshalb so sehr, weil nicht alle Kinder die Geister einer solchen Vergangenheit „besiegen“. Oder lassen sich diese Geister allerhöchstens bannen? Wie viele Menschen stecken in einem Mühlenrad fest, aus dem sie nicht aussteigen können.
Ich weiss nicht, wie viele Menschen feststecken, wie Sie selbst sagen, die Schicksale gibt es in den verschiedensten Varianten. Ich glaube, die infamsten Übergriffe, finden im Namen der Liebe statt. Denn Brutalitäten sind erkennbar, Menschen können sich ihnen stellen, wenn auch nicht als Kind. Der erste Schritt einer Befreiung wäre vielleicht, das Erkennen, das Erkennen der Muster in denen wir gefangen sind. Das sich bewusst werden, wer wir sind, die Defekte erkennen und nicht in den vertrauten Tunnel rasen, eben weil der so schön vertraut ist. Vielleicht auch das, was kaputt ist (ich sage extra kaputt, weil es an ein Spielzeug in der Kindheit erinnert und da werden ja die prägenden Grausamkeiten gesetzt, für das spätere Leben) zu akzeptieren, manches kann nicht geheilt werden, aber wir können lernen damit zu leben.

Sie schreiben auch von der Scham der Armut. Eine Scham, der die Kinder sehr oft äusserst unbarmherzig ausgesetzt sind, weil selbst Kinder untereinander alles andere als zurückhaltend sind. Zur Scham gesellt sich noch die Angst, nie davon befreit zu werden. Ein Angst, mit der sich auch viele Künstler auseinandersetzen müssen, weil es nicht reichte, sich um eine satte Altersvorsorge zu bemühen. Wird man als Verfasserin solcher Romane zu einer Klagemauer? Oder gar zu einer Anwältin?
Weder Anwalt noch Klagemauer. Allerdings ist die Armut eine Sache für sich. Wer in wirklicher Armut aufgewachsen ist, hat ein innerliches Stigma, äusserlich vielleicht nicht zu erkennen, weil es gut verborgen ist. Doch die Angst wieder arm zu sein, hat mich nie verlassen. Ich hatte lange Zeit die Vorstellung, obdachlos zu werden und meinen Gefährten die Goldfüllung in meinem Mund zu zeigen, als Beweis dafür, dass es mir einmal besser ging.

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Romantrilogie „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet. Die französische Übersetzung ihres Romans „Vierunddreißigster September“ stand auf der Longlist des Prix Femina 2022. Ihr Roman „Risse“ wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert.

Beitragsbild © Sarah Wolff.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat

In Zeiten, in denen das historische Bewusstsein mehr und mehr schwindet und man glaubt, im Internet die Wahrheit über Vergangenes zu finden, sind Autoren wie Daniel de Roulet wichtiger denn je. „Die rote Mütze“ (damals Symbol der Revolution) ist ein Stück Geschichte, das sowohl bei den Protagonisten wie beim Autor physisch ins Leben eingreift.

Mag sein, dass jede Form des literarischen Schreibens eine Art der Vergangenheitsbewältigung ist, selbst dann, wenn das Geschriebene in der Zukunft geschieht. Aber wir leben und erzählen, was wir an Geschichten und Geschichte mit uns herumtragen. Aber nicht alle, die schreiben, kann man als „politische“ oder gesellschaftspolitische AutorInnen bezeichnen. Ich begleite das Werk von Daniel de Roulet schon seit Jahrzehnten. Er ist nicht nur ein Urgestein der Schweizer Literaturszene, Daniel de Roulet ist ein Autor, dessen Geschichtsbewusstsein, sein gesellschaftpolitisches Bewusstsein stets Niederschlag in seinem Schreiben finden. Und trotzdem ist sein Schreiben weder belehrend noch von Mission durchsetzt. Aber sein Schreiben schärft das eigene Bewusstsein.

„Die rote Mütze“ ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Zum einen beschreibt er Geschehnisse vor und nach der Französischen Revolution aus einer eigenen Betroffenheit. Daniel de Roulet muss feststellen, dass einer seiner Vorfahren in jener Zeit eine mehr als nur ungute Rolle spielte, der Roman wendet sich weniger den Ursachen hin als den Auswirkungen, Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und nicht zuletzt überrascht der Roman formal.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat, 2024, aus dem Französischen von von Maria Hoffmann-Dartevelle, 168 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-066-9

Stellen sie sich vor, sie müssten feststellen, dass einer ihrer Vorfahren eine unrühmliche Rolle in der Vergangenheit spielte, vielleicht auch erst aus heutiger Sicht und obwohl man demjenigen ein Dankmal setzte. Denke man nur an all jene Namen, die erst heute im Zusammenhang mit Sklavenhandel gebracht werden.
Daniel de Roulet muss feststellen, dass auf einem goldgerahmten Stich, den er von seinem Vater erbte, ein Vorfahr mit Louis-XVI-Perücke abgebildet ist. Jacques-André Lullin de Châteauvieux war Besitzer eines Söldnerregiments, ein Menschenschinder, der einen Aufstand seiner Söldner wegen ausbleibenden Solds blutig niederschlagen liess. Aber weil Daniel de Roulet Daniel de Roulet ist, erzählt er in seinem Roman „Die rote Mütze“ nicht einfach die Geschichte jenes royalen Zöglings nach. Es geht auch nicht darum zu verstehen, wie Menschen damals funtionierten, die sich nicht vorstellen konnten, dem „gemeinen“ Volk ein Mitspracherecht oder gar die Demokrtie zuzugestehen. Daniel de Roulet erzählt von den Opfern, jenen Söldnern, die die Konsequenzen auch mit dem Leben bezahlen mussten oder nur mit viel Glück mit dem Leben davonkamen.

Samuel wächst in Genf auf, einer Stadt, die von Patrizierfamilien regiert wird und sich ganz der französischen Monarchie verpflichtet fühlt. Aber schon Samuels Vater akzeptiert die scheinbar göttliche Ordnung nicht mehr. Samuel gerät zwischen die Fronten, muss Genf verlassen, heuert als Söldner an, wird festgenommen, muss mitansehen, wie seine Kameraden gefoltert und erhängt werden und entkommt erst im letzten Moment dem sicheren Lagertod, um schlussendlich in einer Heldenparade von Festakt zu Festakt geschoben zu werden, um nach Jahren festzustellen, dass sich das Leben, das er einst mit so viel Hoffnung begonnen hatte, ein Trümmerfeld ist.

Beeindruckend an Daniel de Roulets Roman ist zum einen die Perspektive, aus der er erzählt, aber auch die Klarheit und Schlichtheit der Art seines Erzählens. Nichts ist aufgeblasen, aufgebauscht und ausgeschmückt. Daniel de Roulet vermeidet jede Form der Verklärung oder Entfremdung. Er hält sich an Fakten, lässt diese sprechen. Was sich auch formal niederschlägt, denn der Text ist im Flattersatz geschrieben (linksbündig), abgespeckt und schlank.

Ein wichtiger Einblick in ein Stück Geschichte, die sich immer und immer wiederholt!

Am 4. Februar feiert Daniel de Roulet seinen 80. Geburtstag. Herzliche Gratulation und eine tiefe Verneigung vor dem engagierten, vielfältigen und eigenständigen Werk des Schriftstellers!

Interview

Historische Romane haben ein grosses Publikum. „Die rote Mütze“ ist durchaus ein historischer Roman. Und doch unterscheidet er sich in vielem von den meisten dieses Genres. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie keine „Guten“ und Bösen“ konstruieren, die Handlung nicht emotionalisieren und aus einer ganz eigenen Perspektive erzählen. War die Form von Beginn weg klar?
Seit 1688, als die Krankheit die Schweizer Söldner traf – und nur sie – wird sie «Nostalgie» genannt (etymologisch, Die Krankheit der Rückkehr). Das war eine ansteckende Krankheit, die tödlich verlaufen konnte. 
Wenn ein Soldat eines Regimentes an ihr erkrankt war, musste man ihn nach Hause schicken, bevor er andere anstecken konnte. Ausserdem waren die Schweizer Söldner bekannt als sehr grausam im Kampf. Auf der einen Seite die Nostalgie (das Heimweh), auf der anderen Seite die Grausamkeit. Wie also diese Widersprüchlichkeit in Worte fassen? Der klassische, historische Roman vermeidet solche Widersprüche. Ich hatte verschiedene Arten ausprobiert und habe mich schlussendlich für eine Form entschieden, ähnlich wie eine Ballade, wie «Vreneli am Guggisberg». Keine Psychologie, ein objektiver Blick von aussen. Die unterbrochene Prosa entspricht, für mich, einer angelsächsichen Tradition in der die Poesie Geschichten erzählt. 

Ein politischer Autor. Stört Sie dieses Etikett? Man setzt Sie in eine Reihe mit Dürrenmatt, Frisch und Meienberg. Ist es nicht erstaunlich, dass es in der Schweizer Literaturszene nicht mehr politische AutorInnen gibt? 
Für mich ist es schwierig, dass ein Autor Stellung beziehen kann, ohne von den Gerüchten der aktuellen Zeit beeinflusst zu werden. Man kann die Literatur nicht produzieren wie Tomaten ohne Erde ‘hors-sol’.
Also ja, ich befinde mich im Jahrhundert, ich schliesse mich der Tradition deutschsprachiger Schweizer Autoren der Generation vor mir an. In der Westschweiz ist die Literatur oft intim und misstrauisch gegenüber der Politik. Für mich hat Literatur mit Aktivismus nichts zu tun. Ich schreibe keine Flugblätter, ich erzähle Geschichte und versuche diese in einen Kontext zu betten, der das literarische Feld überschreitet. Das heisst, es gibt auch engagierte Autorinnen und Autoren, die nicht den Anspruch erheben, Politik im klassischen Sinn zu betreiben, sondern die sich für Feminismus, Ökologie, etc. engagieren.

Sie waren lange Jahre Informatiker und betrieben das Schreiben neben Ihrem Brotberuf. Erst mit über 50 Jahren widmeten Sie sich ganz dem Schreiben. Wenn heute junge Menschen mit dem Traum der Schriftstellerei Ihr Schreiben intensivieren, sind das ganz andere Vorzeichen. Wie hat sich Ihr gelebter Berufsalltag auf Ihr Schreiben später ausgewirkt?
Ich habe bis 50 verdient, um es danach für die Literatur auszugeben. Mit 50 Jahren habe ich zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen. Davor habe ich nur Bücher gelesen, die etwas mit meinem Beruf zu tun hatten, keine literarischen Werke, Romane usw. Die wissenschaftliche und die literarische Welt kehren sich den Rücken zu. Ich wollte die beiden Welten versöhnen, für meine alten Kollegen schreiben, aber das ist unmöglich, diese zwei Kulturen sind zu unterschiedlich. Themen die ich behandle, wie das des Atoms, bedürfen einer wissenschaftlichen Erläuterung. Es bietet sich nicht offensichtlich an, daraus einen Roman, Literatur zu machen. Aber ich habe es versucht. Der Vorteil für mich, der ich spät angefangen habe, war, dass ich nie das Syndrom der weissen, leeren Seite hatte. Es scheint als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an inneren Bildern und erlebten Situationen. Der Nachteil des späten Beginnens ist, dass man nicht getragen wird von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die die gleichen Anliegen haben und so den Mainstream der Literatur formen. 

Wenn man in der Schule die Geschehnisse um die Französische Revolution auswendig lernt, scheint Geschichte eine logische Folge verschiedener Kausalitäten. Genau das widerlegt „Die rote Mütze“. Und nicht zuletzt ist Geschichtsschreibung stets eine Frage der Perspektive. Gerade heute wird „Geschichtsschreibung“, auch jene der aktuellen Geschichte, immer mehr in Frage gestellt. Müssen wir akzeptieren, dass sich Historie und Objektivität auf ewig streiten?
Es gibt die offizielle Geschichtsschreibung, die von den Herrschenden geschrieben wird und den Figuren der Macht folgt. Darum kann die Geschichte erzählt werden wie ein Loblied der Macht, wie eine Erfolgsstory oder eine Mythologie. Für mich muss die Literatur die Geschichte von unten her erzählen, um sichtbar zu machen, wie das Individuum, der einzelne Mensch die Geschehnisse, welche ihm durch das Handeln der Mächtigen quasi aufgezwungen wurde, erlebt hat. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Söldnertum stellt, ist, dass das Leben der Offiziere und der Inhaber der Regimente wohl gut dokumentiert ist, über das Leben der einfachen Söldner aber keine Dokumente vorhanden sind. Die Literatur muss diese Leben wiederbeleben, sogar erfinden. Historiker können sich nicht mehr mit den grossen Schlachten begnügen oder mit dem Beitritt der Kantone zur Eidgenossenschaft nicht mehr zufrieden geben. Jedes noch so kleine Leben und seine persönliche Erzählung zählt, was die voreiligen Synthesen in Frage stellt. Die Literatur lässt den Leser, die Leserin eintauchen, mittels Empathie, in die Details einer persönlichen Geschichte, die eine Epoche mindestens ebenso erfahrbar und verständlich machen wie die Liste der Französischen Könige. 

„Die rote Mütze“ ist auch die Geschichte Vertriebener, Heimatloser. Etwas, was man sich als satter Schweizer nur schwer vor Augen halten kann, obwohl das Weltgeschehen millionenfach solche Geschichten schreibt; kleine Leute, die durch die Machtgier weniger mit dem Tod im Rücken durch die Zeit gehetzt werden. Sie rütteln und schütteln uns mit Ihrem Schreiben. Packt Sie nie der Zweifel?
Ich habe mich entschieden, die Schweiz von unten zu erzählen. So habe ich auch die Geschichte der Schweizer Söldner erzählt («Die rote Mütze»). Es gab deren zwei Millionen über die Jahrhunderte. Ein Viertel davon ist nie in die Heimat zurückgekehrt. Ich erzähle auch aus der Schweiz während des 19. Jahrhunderts, gezeichnet durch die erzwungene Auswanderung («Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»). Ich erzählte die Atom-Saga («Die menschliche Simulation») und die Geschichte der Gründung des Kantons Jura («Staatsräson»). Oder dann die Geschichte meiner Generation während der Zeit des kalten Krieges («Ein Sonntag in den Bergen»). Jedes Mal frage ich mich, wofür das gut sein soll. Aber sobald meine Bücher publiziert sind, freue ich mich zu sehen, dass sie meine Mitbürger, auch ausserhalb eines gewissen, ausgesuchten literarischen Kreises, interessieren. 

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig.

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Brief an meinen Vater» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Jörg Magenau «Liebe und Revolution», Klett-Cotta

Deutschand kurz vor dem Mauerfall. Paul studiert Philosophie in Berlin, spürt dass sich etwas zusammenbraut und hat das unbedingte Bedürfnis, ein Teil dieses Etwas zu sein. „Liebe und Revolution“ beschreibt eine, aus der Gegenwart betrachtet, fast unwirklich erscheinende Zeit des Aufbruchs. 

Die Gegenwart ist unbarmherzig, das Gefühl einer kollektiven Machtlosigkeit scheint sich wie ein lähmender Virus auszubreiten. Mit den Protestbewegungen in Ostberlin vor dem Mauerfall, dem Mauerfall selbst, den Befreiungskämpfen in Nicaragua und El Salvador damals, glaubte man noch an die Macht der Revolution, die Macht der Liebe für eine Sache. Auch Paul nimmt diese Kraft mit und entschliesst sich im Sog von konspirativen Lesekreisen und aktivistischen Zirkeln nach Nicaragua zu reisen, um bei Aufbauprojekten mitzuarbeiten. Es ist der unbedingte Wunsch, Teil einer Bewegung zu werden, dazuzugehören, nicht bloss Zuschauer zu sein. Obwohl er mit Beate in Berlin zum ersten Mal das Gefühl hatte, etwas vom Gefühl der grossen Liebe gelebt zu haben, fliegt er ins Land der sandinistischen Revolution, nicht mit der Absicht, eine Waffe in die Hand zu nehmen, sondern bei Bau- und Aufbauprojekten mitzuhelfen.

«Er lebte mit der schmerzlichen Gewissheit, mit allem zu spät zu kommen, vor allem aber mit dem Begreifen.»

Nach einem halben Jahr kommt er zurück, ein Stück weit desillusioniert und von vielen seiner Hoffnungen verloren. Nicht nur, dass die Revolution in jenem fernen Land längst sandinistischen Sand im Getriebe hatte, man sich in Positionen eingegraben hatte, Parolen zu leeren Floskeln wurden. Jene Frau, die er dort kennen und lieben lernt, die im Gegensatz zu ihm zu allem entschlossen ist, die er im Bus wenigstens ein Stück weit näher an die Front begleitet, wird umgebracht und Paul, nur durch Zufall der Katastrophe entronnen, nimmt das Trauma dieser Bluttat mit zurück nach Deutschland.

Jörg Magenau «Liebe und Revolution», Klett-Cotta, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-608-98748-5

Aus Nicaragua zurück trifft er Beate wieder. Mittlerweile arbeitet sie bei der FAZ und versucht möglichst nahe an jenem Geschehen zu sein, dass Berlin kurz vor dem Mauerfall in ein brodelndes Epizentrum verwandelt. Aber so sehr Paul von den Geschehnissen in der Hauptstadt mitgerissen wurde, konfrontiert ihn Beate mit dem, was er mit seiner Reise nach Mittelamerika zurückgelassen hatte. Er, der aufbrechen, er, der sich einbringen wollte, verliess unwissend eine schwangere Frau. Beate, entschlossen, sich nicht zu einer Zurückgelassenen machen zu lassen, liess das Kind in ihrem Bauch wegmachen, eine Nachricht, die Paul erschüttert. Einmal mehr fühlt er sich nicht dort, wo man ihn gebraucht hätte, nicht bei Beate damals, nicht bei jenem Kind, aber auch nicht dort, am Nerv des Lebens.

«Dies war eine Zäsur, ein Schnitt durch die Zeit, durch den Raum. Die Mauer war ein Raumteiler aus Beton, aber auch ein Damm gegen das Verstreichen der Zeit, ein erzwungener Stillstand…»

„Liebe und Revolution“ ist eine Liebesgeschichte, eine Liebesgeschichte, die fast alle Ernüchterungen mit einschliesst. Eine sehnsüchtige Liebesgeschichte eines Mannes auf der Suche nach dem unmittelbaren Leben, nach einem Mittelpunkt, einem Platz im Leben. Paul ist auf der Suche nach dieser Liebe. „Liebe und Revolution“, auch wenn es noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert her ist seit den Geschehnissen, in die der Roman eingebette ist, ist ein historischer Roman. So wie der Aufbruch damals in Mittelamerika längst geglättet ist, so ist vom Aufbruch mit der Wende nur noch wenig zu spüren. Was damals wabberte, ist institutionel verschraubt. So wie der Aufbruch in einer Liebe schnell von Gewohnheiten in Form gebracht werden will. Jörg Magenaus Roman verschränkt nicht nur im Titel zu seinem neuen Roman Liebe und Revolution, Revolution und Liebe.

Bestechend an Magenaus Roman ist auch die Nähe, die er erzeugt. Magenau spinnt ein feines, mehrschichtiges Erzählnetz, setzt sein Geschehen sowohl in grosse, äussere Zusammenhänge, wie in jene einer ganz engmaschigen, labilen menschlichen Psyche. Man erkennt im Roman die Betroffenheit des Autors deutlich. Magenau erzählt nicht aus distanzierter Abgeklärtheit. Es ist, als ob der Roman ein 300 Seiten langer Erklärungsversuch ist; Was passierte damals? Was ist geblieben? Wenn es Wenderomane gibt, dann ist Jörg Magenau mit „Liebe und Revolution“ ein ganz besonderer gelungen!

Interview

Ich bin von ihrem Roman schwer beeindruckt. Klar, es ist ein Roman über Auf- und Umbrüche, ein Liebesroman, ein grossfomatiges Zeitbild. Aber sie tauchen in einer Art und Weise mitten ins Geschehen, die mich selbst taumeln lässt. Die mich auch ziemlich heftig reflektieren lässt, wie sehr ich im Laufe meines Lebens an meine „kleinen“ Probleme gebunden war und gar nicht erfasste, was um mich herum geschah und geschieht. Ist der Roman auch ein ganz persönlicher Versuch des Ordnens und Einordnens?
Jedes Erzählen ist ein Versuch, nachträglich zu ordnen, zu sortieren, zu konstruieren. Es kann gar nicht anders sein, weil jede Erzählung einen Anfang und ein Ende in der Zeit setzt und dazwischen nur das zur Sprache bringt, was irgendwie zur Sache gehört. Alles andere, also fast alles, wird ausgeblendet. Da das Erzählen immer erst im Nachhinein einsetzt, ist zumindest die zeitliche Distanz zum Geschehen vorausgesetzt, also eine Art Draufsicht. Das gilt auch dann, wenn die Erzählinstanz das verhindern möchte und, wie in meinem Roman, so dicht bei der Hauptfigur bleibt, dass sie nur ganz selten über deren unmittelbares Erleben hinaussieht. Eines der Themen, um die es mir geht, hat damit zu tun: Paul ist einer, der in der Zeitgeschichte drinsteckt, der dabei sein will, der aber immer im jetzt gerade gegenwärtigen Moment gefangen bleibt, ohne zu verstehen, was geschieht. Weder in der Nacht des Mauerfalls am 9. November 1989 in Berlin, noch im Jahr 1987 in Nicaragua begreift er, was um ihn herum vor sich geht und wohin das alles führen wird. Aber genau darin, in diesem Nicht-Erkennen, besteht zu weiten Teilen das menschliche Dasein, auch wenn wir uns gerne vormachen, den Überblick zu bewahren und wenigstens aufs eigene Leben bezogen Superchecker zu sein. Dabei verschlägt es einen im Leben immer wieder ganz woanders hin, als man gedacht hätte, und meistens kapiert man die politischen Zusammenhänge, in denen man existiert, erst zehn Jahre später und hat nochmal zehn Jahre später wieder eine ganz andere Einschätzung. Trotzdem leben wir unsere Leben unausweichlich in der nichtdurchschauten Gegenwart. In revolutionären Situationen wie in meinem Roman, in denen die Verhältnisse in Bewegung geraten, ist das besonders deutlich spürbar.

Paul hadert mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören, irgendwie ausgeschlossen, aussen vor zu sein. Ist das nicht ein Problem ausschliesslich der Menschen des sogenannten Informationszeitalters? Mit der Individualisierung scheint der Mensch immer mehr an seiner Bedeutungslosigkeit zu leiden. Weshalb sind wir sonst gezwungen, dauernd Selfies von uns zu machen und uns auf allen (un)möglichen Kanälen einzumischen.

Das stimmt. Mit den Möglichkeiten des Informationszeitalters wachsen auch die Illusionen der Zugehörigkeit und die Freude an narzisstischer Selbstinszenierung. All die „Freunde“ oder „Follower“, die man auf den Social Media-Kanälen gewinnt, erzeugen eine virtuelle Gemeinschaft, die nicht völlig irreal ist und die ein enormes Suchtpotential besitzt, weil sie Aufmerksamkeit verschenkt. Da zerfliessen die Grenzen zwischen sehr persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten, und es entsteht etwas Neues, das sich in seinen Folgen auch noch nicht wirklich begreifen lässt. Vielleicht in zehn Jahren. Wie verändert sich das Denken einer Menschheit, die lieber twittert als komplexe Bücher zu lesen? Sich lieber mit Einzelerregungen befasst als mit grösseren Sinnzusammenhängen? Das Gefühl der Unzugehörigkeit aber war in den 80er Jahren bestimmt nicht kleiner als heute. Für Paul, der als Student nach Westberlin kommt, ist die Unzugehörigkeit in der Stadt ebenso wie in der riesigen Freien Universität aber selbst gewählt. Diese Unzugehörigkeit ist der Ausgangspunkt für all das, was damals „Engagement“ hiess. Unzugehörigkeit bedeutet ja auch Ungebundenheit, Freiheit. Und aus dieser Freiheit heraus wächst sein Bedürfnis, an etwas Teil zu haben und die Welt zu verändern. Das gelingt ihm nicht zu Hause in Berlin, sondern in der Ferne, in Lateinamerika. Dort kann er Revolution als Teilhabe erleben, egal wie sinnvoll oder sinnlos das ist, was er tut. Das Ende des Sozialismus, das vielleicht weniger Revolution als Konkurs eines Staatsunternehmens war, kommt ihm dagegen als etwas Fremdes entgegen, das er wie ein Jahrmarktspektakel betrachtet. 

Liebe ist genauso wenig Zustand wie Revolution. Das wurde mir mit der Lektüre ihres Romans mehr als bewusst. Beide brauchen Feuer, die brennen und Hitze erzeugen. Aber kein Feuer brennt ewig. Wie viel Ernüchterung schwingt in ihrem Roman mit?

Gar keine. Ich finde, es ist ein optimistischer Roman. Dass etwas schiefgeht, in der Liebe genauso wie in der Politik, ist ja kein Argument dagegen, es zu probieren. Was Paul ausmacht, ist – bei aller Zögerlichkeit und Ahnungslosigkeit, die ihn charakterisieren – seine Bereitschaft, sich einer Situation auszusetzen, etwas zu erleben, zu lernen. Diese Offenheit zeichnet ihn aus. In Nicaragua lernt er, dass die Sache mit der Weltveränderung nicht so einfach ist, dass er aber, indem er dort ist und mitwirkt, sich selbst verändert, und dass die Selbstveränderung ja auch eine Form der Weltveränderung ist – vielleicht sogar die einzige, auf die es wirklich ankommt. So erlebt er auch die Liebe, weil zu lieben nichts anderes bedeutet als die Bereitschaft, sich verändern wollend verändern zu lassen.

Angesichts der globalen Probleme ist die fehlende Bereitschaft, wirkliche Veränderungen herbeizuführen, erstaunlich. Sei es bei gesellschaftlichen, politischen oder ökologischen Herausforderungen. Paul erscheint mir dabei exemplarisch. Paul reist nach Nicaragua, will Teil einer Bewegung werden. Wann wird aus Entschlossenheit Selbstzweck?

Paul ist gar nicht entschlossen. Das schützt ihn vermutlich. Er ist im Unfertigen, im Provisorischen, im Werden beheimatet. Aber er bewundert Entschlossenheit bei anderen in seiner Nähe, wahrscheinlich deshalb, weil sie ihm fehlt. Beate und Sigrid, die beiden Frauen, die ihn faszinieren, sind sehr viel konsequenter als er. Hartmut, der Chef der Brigade, auch. Der ist nun wahrlich ein Mann der Tat. Die Gefahr bei allen Veränderungsbemühungen, in der Liebe ebenso wie in der Revolution, besteht in der Erstarrung, im Beharren auf festen Positionen, in der Ritualisierung der eigenen Handlungen. Das erleben wir derzeit zum Beispiel bei den Klima-Aktivisten, die sich auf Strassenkreuzungen festkleben. Wenn das Ziel die Mittel rechtfertigt, ohne sie in Frage zu stellen, dann schlägt das Engagement in Selbstzweck um. Oder noch schlimmer: in Selbstbefriedigung. Dann macht man weiter, auch wenn man ahnt, dass sich das eher kontraproduktiv auswirken wird. Weil es sich besser anfühlt, etwas zu tun, als nichts zu tun. Und vielleicht stimmt das ja sogar.

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihr Roman in ihrem Umfeld ziemlich Wellen geschlagen hat. Die Generation, die beim Mauerfall zwischen zwanzig und dreissig war, ist heute im Pensionsalter. Wellen der Erinnerung, Wellen der Rechtfertigung. Warum wurde nicht, wofür man damals kämpfte!

Dafür muss man sich nicht rechtfertigen. In der Menschheitsgeschichte ist es noch nicht vorgekommen, dass das Resultat einer Bewegung den zugrundeliegenden Absichten entsprochen hätte. Das ist eben der Lauf der Geschichte, dass die Einzelnen Dinge in Gang setzen, jeder etwas anderes will, das Ergebnis aber nie dem Einzelwillen und auch nicht der schlichten Summe aller Willensanstrengungen entspricht. Was Nicaragua betrifft, so ist aus der sandinistischen Revolution die Herrschaft eines korrupten Familienclans geworden, das Land befindet sich heute in einer fürchterlichen Lage und gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Das spricht aber keineswegs gegen die internationale Solidarität und die Unterstützung der Linken in den 80er Jahren. Nur lag deren Bedeutung auf einem anderen Feld, weniger im politischen als im sozialen. Dass Solidarität dort spürbar wurde, dass Freundschaften entstanden und teilweise bis heute hielten, dass Gemeinschaft erlebbar wurde, das ist für alle Beteiligten eine wichtige Erfahrung gewesen. Paul erlebt das als Liebe zu Land und Leuten. Das ist nicht wenig, auch wenn das politische Experiment grandios gescheitert ist. Das gilt übrigens genauso für die Bürgerbewegung in der DDR und der Nachwendezeit. Auf solchen Erfahrungen lässt sich dann in anderem Kontext wieder aufbauen. In meinem Roman kommt immer wieder die „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss vor als zentrale Lektüre in jenen Jahren. Weiss beschreibt gut marxistische Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und als endlose Kette von Niederlagen der Unterdrückten. Und er fragt danach, warum trotzdem aus allen Niederlagen so etwas wie Hoffnung resultiert. Das hat, meine ich, etwas mit der Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit zu tun, mit Zusammengehörigkeit, mit Solidarität. Oder, individuell betrachtet, eben mit Liebe. Deshalb heisst das Buch auch so, „Liebe und Revolution“. Die Liebe steht dabei ausdrücklich an erster Stelle. 

Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Bei Klett-Cotta erschien die literarische Reportage «Princeton 66» und zuletzt sein erster Roman «Die kanadische Nacht» (2021).

Beitragsbild © Olaf Kuehl

Annette Mingels «Der letzte Liebende», Penguin

Eine Frage, mit der sich die Literatur wie keine andere Kunstgattung immer und immer wieder beschäftigt; Was ist wichtig im Leben? Wonach streben wir? Wo liegt der Kern unseres Daseins. Annette Mingels beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Der letzte Liebende“ einmal mehr ganz direkt mit diesen Fragen. Mit Fragen, die wir uns irgendwann fast alle stellen werden.

Annette Mingels Roman erzählt die letzten Monate der Ehe von Helen und Carl Krüger – Helen ist todkrank und wird im Laufe des Romans sterben – und die ersten Monate nach ihrem Tod. «Der letzte Liebende“ erzählt aus der Sicht des eremetierten Professors, der mit seinem Ruhestand alles andere als seine innere Ruhe gefunden hat. Von einem Mann, der mit existenzieller Not konfrontiert wird und mit der Tatsache, dass gewisse Dinge uneinholbar verloren sind, Türen verschlossen bleiben.

Die Ehe zwischen Helen und Carl war schon lange nicht mehr das, was man sich unter einer funktionierenden Ehe vorstellt. Schon früh begann das Fundament zu bröckeln, nicht nur weil vorest der Kinderwunsch verwehrt blieb, sondern vor allem deshalb, weil Carl es nicht lassen konnte, aussereheliche Beziehungen entstehen zu lassen, nicht zuletzt in der Machtposition eines Professors einer Uni. Beziehungen, die sich nicht verheimlichen liessen. Selbst als sich mit dem Adoptivkind Lisa doch noch so etwas wie Familie einstellte. Irgandwann wurde Helens Leidensdruck so gross, dass sie Carl vor ein Ultimatum stellte. Aber selbst Carls Entscheidung gegen seine Geliebte rettete weder Ehe noch Familie. Helen zog sich in die oberen Stockwerke des grossen Hauses zurück. Man traf sich höchstens noch zufällig. Und als Helen krank wurde und ihre Ablehnung ihrem Ehemann gegenüber immer mehr zur Aversion, kippte auch Carls längst ramponierte Beziehung zu seiner Tochter Lisa in blanke Abneigung. Helens Sterben, ihr Tod gab Carl keine Möglichkeit mehr, an etwas Konstruktives anzudocken. Er hatte es verpasst.

«Ob das, was er fühlte, Einsamkeit war oder nur Erschöpfung, wusste er selbst nicht.»

Annette Mingel «Der letzte Liebende», Penguin, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-328-60295-8

Was sich nach dem Tod seiner Frau in Carl ausbreitet, hat schon lange zuvor begonnen. Eine lähmende Einsamkeit. Er weiss um seine Fehler, aber die Adressatin für eine aktive Wiedergutmachung, wenn sie dann überhauptmöglich wäre, ist tot. Carl weiss um seine Versäumnisse. Die Autorin beschreibt subtil, wie sehr sich Carl nur mühsam aus seiner Egozentrik herausschälen kann. Wäre da nicht Lisa, die selbst mit ihrem eingeschlagenen Berufsweg ihre Abneigung Carl gegenüber verdeutlicht; nur ja keine akademische Karriere! Helen stirbt und Carl droht damit noch viel mehr zu verlieren, als „nur“ eine Weggefährtin.

Bis ihm ein ehemaliger Kollege ein Romanmanuskript in die Hand drückt, in dem die Hauptperson ziemlich genau die Züge von Carl trägt. Ein Roman, den Karl mit ebensoviel Ekel wie Entrüstung liest. Bis Carl dem Sohn seiner Tochter, seinem Enkel, eine Reise in Carls Herkunftsland verspricht und sich auf dieser Reise in die Vergangenheit Perspektiven verschieben. Bis allen Teilnehmenden dieser anstrengenden Reise klar wird, dass sich hinter den Geschichten andere Geschichten verbergen und nur diese Geschichten klären können.

«Womöglich hatte er sein ganzes Leben lang etwas Entscheidendes übersehen.»

Annette Mingels erzählt nicht einfach von einem „alten, weissen Mann“, von Rollenbildern, die zaghaft aufbrechen und von Szenen einer kaputten Ehe. Es braucht unsäglich viel, bis Carl seine alte Schale aufbricht. Und von genau diesem langsamen Aufbrechen erzählt dieser Roman. Als Leser schüttelte ich immer wieder einmal den Kopf, tat mich schwer mit den Reaktionen dieses Mannes. Aber genau das will Annette Mingels; Auch wenn sie dem alten, weissen Mann dann doch noch entgegenkommt, will die Autorin keine rührselige Geschichte erzählen. Wann werden Schalen zu Rüstungen? Warum kann man sich nicht mehr aus seiner Rolle befreien, auch wenn man offenen Auges in die Katastrophe schreitet?

Ich mag den Protagonisten, weil Annette Mingels ehrlich und unmittelbar erzählt. Weil sie den Mann in seiner grenzenlosen Einsamkeit nicht schont. Und weil sie selbst diesen Mann mag. Ein absolut lesenswertes Buch!

Das Haus, das die Autorin von 2009 bis 2012 bewohnte, Myrtle Lane, NJ

Interview

Es hätte doch auch eine emeritierte Professorin sein können. Oder bot sich der „alte weisse Mann“ als ideale Projektionsfläche an?
Tatsächlich wurde ich zur Figur des Carl durch eine konkrete Begegnung inspiriert; für ein anderes Projekt interviewte ich einen emeritierten Professor, der auf verblüffende Weise gleichzeitig modern und in alten Privilegien verhaftet war. Es hätte tatsächlich auch eine emeritierte Professorin sein können – nur wäre es dann ein anderes Buch geworden, eines über eine „alte weisse Frau“, die ja tatsächlich auch das Gegenstück zum „alten weissen Mann“ ist und in vielfältiger Weise in Interaktion zu selbigem steht. Sie kommt im Roman nur indirekt vor – in Form von Carls Ehefrau Helen. Ihre Geschichte zu erzählen, könnte tatsächlich spannend sein.

Es muss im langen Leben von Carl unendlich viele Signale gegeben haben, die seine Egozentrik verdeutlichten. Aber er wollte sie weder sehen, hören oder spüren. Er wollte sein Leben leben, geniessen, seine Möglichkeiten ausschöpfen. Erst die Gewissheit der Endlichkeit, zuerst das Sterben und dann der Tod seiner Frau, dann die Angst vor totaler Einsamkeit bringen Carl dazu, sich millimeterweise aufzutun. Leben wir nicht in einer Zeit, in der die eigene Befindlichkeit alles andere relativiert? Hätten wir wirklich ein gemeinschaftliches Bewusstsein, würde uns die Gegenwart nicht grün und blau schlagen.
Ja, Carl hat die Signale gesehen und bewusst ignoriert, weil sie ihm dabei im Weg standen, das zu tun, was ihn glücklich machte. Er selbst würde sofort zugeben, dass er ein Egozentriker (gewesen) sei, aber dies sofort mit dem jedem Menschen zustehenden individuellen Glücksstreben entschuldigen. Erst als seine Möglichkeiten im hohen Alter immer geringer werden und ihm ausserhalb seiner Familie nicht viele Menschen bleiben, lässt er die Erkenntnis und auch ein Bedauern darüber zu, wie rücksichtslos er gewesen war. Was allerdings nicht bedeutet, dass er es – gäbe es ein nächstes Mal – besser machen würde. Trotzdem mag ich Carl – vor allem, weil er sich nicht einredet, es gut gemacht zu haben. Er ist sich seiner Fehler bewusst und weiss, dass die Zuneigung und Fürsorge seiner Tochter Lisa unverdient ist.

Carl, die Familie, sie machen eine Reise. Auch wenn die Reise nicht das brachte, was sich jeder erwartete, war die Reise, schon die Entscheidung dazu, ein erster Schritt, einer aus der Komfortzone. Eigentlich ist doch Mut der Schlüssel zu so vielem! Ist man als Schriftstellerin mutig? Man kann ja seine ProtagonistInnen agieren lassen.
Ja, das sagen Sie sehr richtig: man lässt seine ProtagonistInnen agieren – und das im ganz wörtlichen Sinne: Wenn ich einmal zu schreiben angefangen habe, entwickeln sich die Figuren oft in einer auch für mich unvorhergesehenen Weise und bekommen so etwas wie ein Eigenleben. Von daher ist mein Schreiben, glaube ich, oft mutiger als ich selbst.
Den Mut, den es dann von mir als Autorin noch braucht, ist der, mich mit einer Veröffentlichung der Kritik auszusetzen. Darüber hinaus bin ich, fürchte ich, nicht besonders mutig. Aber es gibt natürlich überall da, wo eine solche Veröffentlichung tatsächlich Mut erfordert, weil nicht nur Kritik, sondern auch Bestrafung droht – in repressiven Systemen – durchaus sehr mutige Autorinnen und Autoren.

„Schon seit einigen Jahren hatte er das Gefühl, dass er kaum noch gesehen wurde“, steht ziemlich am Anfang ihres Buches. Nicht ungewöhnlich für einen Mann, der sich während seiner Berufszeit stets im Mittelpunkt sah. Aber zugleich ein symptomatischer Satz für unsere Zeit, in der sich eine Influenzerin die Lippen zu Ballons aufblasen lässt und man um jeden Preis den Mount Everest besteigt, in der man dauernd Selfies von sich macht oder es zum Lebensziel werden kann, wenigstens einmal im Fernsehen zu erscheinen. Carl zieht sich nicht zurück, er wird abgedrängt. Brauchen wir um jeden Preis Aufmerksamkeit? Wo bleibt die Bescheidenheit?
Carl hatte durch seinen Beruf und durch seine relative Attraktivität eine Position, in der ihm fast automatisch Aufmerksamkeit zuteil wurde; sie war sogar wesentlicher Bestandteil dessen, was er an seinem Beruf liebte. Die ungeliebte Emeritierung und das Alter nehmen ihm nun das, was ihm viel bedeutete. Für mich ist er nicht jemand, der um jeden Preis auffallen will und seine 15 Minuten Ruhm braucht, aber er ist durchaus angewiesen auf Anerkennung und positive Resonanz, vielleicht auch, weil er diese innerhalb seiner Familie – auch selbstverschuldet – nicht erhält. Bescheiden muss er sich zwangsläufig; Bescheidenheit ist aber nicht seine stärkste Tugend. In diesem Punkt steht er wohl im Einklang mit unserer Gesellschaft.

Mit ihrem Roman setzen Sie die Familie auf ein Podest. Als Familienmensch sollte mir das gefallen. Und doch bröckelt dieses Fundament, dieses Ideal. Nicht zuletzt deshalb, weil dieses Ideal aus dem Fokus geraten ist. Nicht verwunderlich bei all den grassierenden Problemen, die sich nicht mehr ausblenden lassen. Wo Carl am Ende ihres Romans steht, ist in der Schwebe. Wo ich am Ende meines Lebens stehe, weiss ich nicht. Aber das Wissen um die Kraft der Familie werde ich dann brauchen. Ist das Schreiben eine Schärfung des Bewusstseins um die Frage: Was ist wichtig?
Ja, ich glaube, die Frage nach dem, was uns wichtig ist, bildet für die meisten Schriftsteller und Schriftstellerinnen den Resonanzboden ihres Schreibens und tritt in diesem in verschiedenster Weise immer wieder zutage. So liegt eigentlich all meinen Büchern eine grundsätzlich humanistische Betrachtung des Individuums zugrunde –  seiner Möglichkeiten und Grenzen, seiner Liebesbegabung und seiner Fehlbarkeit. Der enge Kosmos der Familie lässt all dies in besonderer Weise zutage treten; wie unter einem Brennglas zeigen sich hier die menschlichen Stärken und Schwächen.

Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg und schloss mit einer Promotion in Germanistik ab. Von 1997 bis 2009 lebte sie in der Schweiz; neben der deutschen besitzt sie die schweizerische Staatsbürgerschaft. In der Schweiz hatte sie Lehraufträge an den Universitäten Neuenburg und Fribourg, ausserdem am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Von 2009 bis 2011 lebte sie in Montclair (USA), anschliessend in Hamburg. Von 2018 bis 2021 lebte sie in San Francisco, seitdem bei Berlin. Für ihre Bücher erhielt Annette Mingels zahlreiche Stipendien und Werkbeiträge. Für ihr Buch “Was alles war” (Knaus, 2017) ausserdem den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders 

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer

Nina Jäckle ist eine absolut faszinierende Erzählerin. Ihre Art des Geschichtenerzählens richtet sich nach Innen, ohne den Blick auf das Darüberhinaus zu verlieren. „Verschlungen“ ist ein Tauchgang in die Psyche einer Frau, die sich verzweifelt zu befreien versucht.

Im Heute wünschen wir uns Nähe und verabscheuen Dichtestress. Ganz offensichtlich wird der Akt der menschlichen Annäherung ein immer problematischerer, gespickt mit Fallgruben und bösen Überraschungen. Im Zug aber suche ich lieber ein freies Abteil und pfropfe Kopfhörer in die Ohrmuscheln, um mehr als deutlich zu signalisieren: „Ich will nicht“.

In Nina Jäckles neuntem Roman „Verschlungen“ geht es um eine in die Jahre gekommene, namenlose Frau. Sie wohnt abgeschieden und völlig zurückgezogen in einem kleinen Haus im Wald. Ihre Mutter und ihre Schwester hat sie verloren, die einzigen Personen in ihrem Leben, die eine Rolle spielten. Seit zwei Jahren versucht sie sich zurechtzufinden. Sie sucht ihren Platz, ihren Stand, ihre Mitte, ein Selbstbildnis, das nicht ständig massregelt, schimpft und straft, denn Ewa, ihre eineiige Zwillingsschwester, hat sie alleine zurückgelassen. Sie, die in tausendfachen Schwüren versprach, stets zu teilen, sie nie zu verlassen, im absoluten Gleichschritt durchs Leben zu gehen, als wären sie in zwei Körpern geborene Siamesische Zwillinge.

Libelle, Zeichnung © Renata Jäckle

«Wie kannst du nur ablassen von mir, wie kannst du es wagen, unsere Verträge zu missachten, keiner wird uns je küssen, keiner wird uns je berühren. Das haben wir uns auf immer geschworen.»

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer, 2023, 160 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-520-77101-8

Sie und ihre Schwester Ewa blieben bis ins Erwachsenenalter bei ihrer Mutter und begleiteten sie bis in den Tod. Eine Art des Begleitens, die schon lange zuvor ein Distanzieren geworden war, denn je älter die Zwillinge geworden waren, desto unergründlicher und fremder wurden sie für eine Mutter, die sich mehr und mehr ausgeschlossen fühlen musste. Und weil es durch Erbschaften für die Zwillinge nie nötig wurde, sich mit anderen Menschen einzulassen und die beiden sich schworen, sich nie von Männern berühren zu lassen, weil diese nur zur Bedrohung ihrer Einheit werden würden, genügten sie sich selbst, auch wenn diese Genügsamkeit durch Schwüre, Drohungen und einem permanenten Hinundher zwischen Abstossung und maximaler Nähe verkettet werden musste.

«Das Zusammengehören also ist wie eine chronische Krankheit.»

Ewa, zwölf Minuten später zur Welt gekommen, schien die immer Stärkere, Dominantere, Herrschendere zu sein – die bessere Variante. Was sich ein Leben lang zwischen den beiden abspielte, war und ist eine Mischung aus Selbstzerstörung und Selbstzersetzung. Jedes noch so kleine Fünkchen Eigenständigkeit wurde zum Akt grösster Kraftaufwendung und selbst der Schnitt im Finger in Kindertagen, ein kleines Unterscheidungsmerkmal, wird zur offensichtlichen Bedrohung.

«Geborgenheit bezahlt man mit Enge.»

Nun, die Mutter gestorben und sie seit zwei Jahren von einem Teil ihrer selbst abgeschnitten, amputiert und unheilbar verwundet, versucht die Erzählerin mit Verbannungen sich selbst zurechtzufinden. In Rückblenden, die sich lesen, als würde die Protagonistin in ihr Spiegelbild erzählen und Einsprengsel aus ihrem geheim geführten Tagebuch, öffnet sich das Psychogramm einer Eingeschlossenen, die verzweifelt versucht zu verstehen. Es braucht genau jenes Verstehen, um aus dem Gefängnis, der allumfassenden Umklammerung ausbrechen zu können. Nina Jäckle schreibt meisterlich, fesselt nicht nur mit der Ungewissheit, was aus Ewa geworden ist, sondern mit der Intensität ihrer Sprachkunst und der Tiefenschärfe ihres Erzählens. In „Verschlungen“ liegt derart viel Verblüffendes, dass ich während der Lektüre im Staunen versank.

Ameise, Zeichnung © Renata Jäckle

Interview

Ich bin überwältigt von Deinem neuen Roman, von Deiner Sprache, der Konstruktion, der Erzählweise und Deinem Mut. Du beschreibst eine Innenwelt, einen verzweifelten, lebenslangen Ausbruchsversuch. Die Sprache deshalb, weil der Sound das Zerstörerische, die Hilflosigkeit, die Angst miteinschliesst. Die Konstruktion deshalb, weil du Deinen Erzählperspektiven absolut treu bleibst und all jenen Verlockungen, denen ich erlegen wäre, widerstanden hast. Die Erzählweise darum, weil Du in Tiefen abtauchst, die mich schwindeln lassen und den Mut, weil Du durch Auslassungen meiner Lust nach Aufklärung entgegenwirkst. Alles geplante Absicht?
Geplante Absicht kenne ich beim Schreiben nicht. Nachdem ich merke, dass mich etwas thematisch interessiert und ich also erste Sätze dazu bilde, gerate ich in eine Stimmung. An dieser Stimmung entlang lasse ich meine Figuren denken und tun. Ich habe auf meinem Schreibtisch einen kleinen Lautsprecher und ich höre zum Schreiben, und natürlich passend zu dieser Stimmung, Musik. So entsteht nach und nach eine Playlist, eine Sammlung von Stücken, die in gewisser Weise am Tonfall des Textes mitwirken, Tag für Tag. Musik, die vielleicht sogar textliche Bewegungen mitgestaltet. Ich schreibe nicht planvoll, ich nehme niemanden an die Hand, ich führe niemanden von einem geplanten A nach einem geplanten B. Ich sammle Kleines auf, um Generelles darin abzubilden. In dieser dauererregten Zeit versuche ich, das Konzentrierte, die leisen Gedanken aus leiser Sprache mit einem eher reduzierten Plot dem Oberflächentrubel unserer Zeit entgegenzusetzen. Natürlich birgt dies das Risiko des Überhörtwerdens. Darüber denke ich aber nicht mehr nach, denn das Einflüstern ist meins, nicht das Ausrufen.

Wir leben in Zeiten von grassierender Einsamkeit und bedrohlichem Dichtestress. Dein Roman beleuchtet genau dies aus absolut überraschender Perspektive und in einer derartig beklemmenden Intensität, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine solche Geschichte so einfach ersonnen ist. Dein Roman übersteigt ein Mass der Einfühlsamkeit, die mich rätseln lässt. Wie bist Du eingetaucht?
Alles ist ersonnen. Das ganze Buch, von vorne bis hinten. Gespeist natürlich. In meinem Leben gibt es Rückzug und Einsamkeit und eine sehr enge Beziehung, es gibt in meinem Umfeld Falter und streunende Katzen, es gibt das Haus und windschief gewachsene Bäume. Es gibt Elfen-Krokusse und es gibt auch die Frage danach, „was man als gegeben gelten lassen, was man als gegeben anerkennen muss. Und so macht man sich auf die Suche nach dem Vorgegebenen und ebenso nach der definierbaren eigenen Form. Man versucht zu komponieren, auf dass man Urheber der Melodie des geführten Lebens werde…“

Heuschrecke, Zeichnung © Renata Jäckle

Der Name der Ich-Erzählerin wird nicht ein einziges Mal genannt. Das ist absolut konsequent, denn sie erlebt sich als eineiig, monozygot. Auch wenn ihr ganzes gemeinsames Leben mit ihrer Zwillingsschwester ein permanenter Versuch der Absetzung war, wenn auch nur in kleinen Aktionen. Du bist in den Körper der Erzählerin hineingeschlüpft und erzählst in der ersten Person.
Meine Protagonistin hat deshalb keinen Namen, weil es aus der Erzählperspektive heraus nicht plausibel wäre, ihn zu erwähnen. Und weil es mir unter Umständen nicht gelungen wäre, so lückenlos sie zu sein, wenn ich sie mit einem Namen ausgestattet hätte, der nicht der meine ist. Das „Ich“ wäre mir wohl dann wie eine Lüge vorgekommen. Aber Letzteres ist lediglich Spekulation.

„Verschlungen“ ist vieles, auch ein Roman über die Sehnsucht nach Individualität. Entspricht die rein menschliche Sehnsucht nach Individualität, nicht eigentlich einer völligen Selbstüberschätzung?
Natürlich ist „Verschlungen“ ein Text über die Sehnsucht nach Individualität. (Ich weiss nicht, ist es Selbstüberschätzung oder vielmehr der rührend verzweifelte Wunsch nach Bedeutung?) Auch schreibe ich über Obsession. Darüber, besessen zu werden und besessen zu sein, darüber, an einer Abhängigkeit von einem anderen Menschen zu erkranken, ich schreibe über den selbstzersetzenden Versuch, sich von einem Menschen abzuwenden, der genetisch mit dir vollkommen übereinstimmt. “Ich weiss nicht, und vermutlich werde ich es niemals wissen, bin ich denn nun durch dich das Doppelte, oder bin ich die Hälfte von eins?“, fragt sich jene ohne Namen, und ich kann es ihr nicht wirklich beantworten, tendiere aber zur Hälfte. Der Versuch, sich selbst in aller Ruhe und auch Brutalität auseinanderzunehmen, um sich dann in aller Ruhe neu zusammenzusetzen, also eine radikale „Selbstersetzung“ durchzuspielen, hat mich enorm gereizt.   

Ich danke Nina Jäckle für alles!

Teil 2

Teil 3

GzD-Gallus-Frei-final Nina Jäckle wurde 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf und begann früh, Hörspiele zu schreiben; es folgten Erzählungen und Romane, mit gehörigem Erfolg: Nina Jäckle erhielt u. a. den Tukan-Preis, den Evangelischen Buchpreis, den Italo-Svevo-Preis, die Förderung des Deutschen Literaturfonds sowie die Stipendien der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo und des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia. Bei Klöpfer & Meyer erschienen zuletzt die Romane «Der lange Atem» (2014) und «Stillhalten» (2017).

Renata Jäckle, 88, studierte an der Kunstakademie Braunschweig und ist gelernte Grafikerin, sie lebt in Hamburg. Sie malt sowohl grossformatig in Mischtechnik auf Leinwand als auch in kleinerer Form mit Tusche.

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Setzkastentexte auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © privat

H. D. Walden (Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani

Es ist noch gar nicht lange her, als die Wege in den Wäldern leer blieben und der blaue Himmel ohne einen einzigen Kondensstreifen. Damals glaubte ich naiv an eine neue „Zeitrechnung“, eine Zäsur.  In der Zeit davor wurden Stimmen nach einer Umorientierung im Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten immer lauter und eine junge schwedische Aktivistin faszinierte mit ihrer Unerschrockenheit selbst die Hartgesottenen.

Vom Gefühl des Aufbruchs ist nichts geblieben, dafür einem fatalistischen Gefühl der Resignation gewichen. Warum soll man sich an den Köstlichkeiten der Gegenwart nicht bedienen! Nicht Geiz ist geil, sondern Trotz. Die Wälder sind wieder voll mit Turnschuhen und der Himmel ebenso mit Kondensstreifen Richtung Happytime.

Damals zwang uns ein klitzekleines Virus zu Alternativen. Es zwang uns, Prioritäten zu überprüfen. Genauso wie die Abertausenden von Demonstrierenden, die auf den Strassen lautstark ein Umdenken forderten. Von dem allem ist wenig geblieben. Von Pandemien will sich niemand mehr die Pläne durchkreuzen lassen und den Klimaprotest überlässt man jenen mit Klebstoff an den Händen!

D. H. Walden (alias Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani, 2021, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-86971-242-0

Als der Virus wütete, zog sich der Schriftsteller Linus Reichlin in eine Hütte im Wald zurück. Nicht aus Verzweiflung, aber mit Sicherheit, um Abstand vom grassierenden Wahnsinn zu bekommen. In das kleine Haus einer Freundin, in die stille Welt des Ruppiner Wald- und Seengebiets. Ein paar Wochen, nicht wie der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau, der 1854 in seinem Buch „Walden“ zwei einsame Jahre im Wald beschrieb, seinen Versuch, aus einer Welt auszusteigen, in der die Folgen der Industrialisierung und zunehmenden Distanz zu einem wahren, echten und naturnahen Lebens für den Autor immer schwerer auszuhalten war.

Linus Reichlins Buch ist kein Bericht eines Aussteigers, sondern das Protokoll eines Erwachens. Im Wald alleine mit sich selbst beginnt der Autor zu sehen. Der Wald ist nicht mehr nur Kulisse und „Naherholungsgebiet“. Linus Reichlin lernt den Stimmen des Waldes zu lauschen. Tiere sind nicht mehr nur Staffage, sondern Gegenüber. So sehr, dass er Namen geben muss, mit ihnen spricht und zu verstehen versucht. Glücklicherweise ist „Ein Stadtmensch im Wald“ weder Lehrstück noch Anklage, weder Romantisierung noch Überzeichnung. „Walden“ von Henry David Thoreau damals wurde zum Kultbuch einer ganzen Bewegung, in der Literaturgeschichte zu einem Massstab des „nature writings“.

Linus Reichlin beschreibt ohne den Ansporn, in diesem Stück Welt im Wald ein alternatives Leben zu finden. Seine Zeit im Wald ist eine Selbstbesinnung, ein vorsichtiger, manchmal unbeholfener Versuch, sich mit den Regeln und Gesetzmässigkeiten der Natur zurechtzufinden. Auch wenn etwas mehr Auseinandersetzung wünschbar gewesen wäre, weil das Buch so schnell zur netten Nachttischlektüre werden kann, liest sich das illustrierte Büchlein mit Genuss. Vielleicht ist ein solches Büchlein ein Anfang.

Interview

Als Reichlin-Leser ging das Buch zuerst an mir vorbei. Erst als ich für Ihren aktuellen Roman „Der Hund, der nur englisch sprach“ im Netz recherchierte, stiess ich auf „Ein Stadtmensch im Wald“ bei dem aber der Name H. D. Walden auf dem Cover geschrieben steht. Den Link zu „Walden“ von H. D. Thoreau erschloss sich schnell. Aber warum steht nicht ihr Name auf dem Buchdeckel?
Das hängt damit zusammen, dass in derselben Saison ein anderes Buch von mir im selben Verlag erschien. Der Verlag hielt es deshalb für besser, das eine Buch unter Pseudonym zu veröffentlichen. Ausserdem wollten meine Verleger durch die Wahl des Pseudonyms einen Bezug zu H.D. Thoreau herstellen – worüber man sich streiten kann. Denn mein Buch ist ja keine Zivilisationskritik, sondern ein Bericht über eine Naturerfahrung. 

Sie bedienen mit Ihrem Buch eine Sehnsucht vieler; für einmal, wenn auch nur zeitlich beschränkt, aus dem Trott und gewohntem Umfeld ausbrechen. Irgendwie sind Ferien ausserhalb der Wohnung ja auch stets ein solches Experiment. Aber viele nehmen dabei allen erdenklichen Luxus mit, um doch nicht verzichten zu müssen, worauf man glaubt, nicht verzichten zu können. Aber liegt nicht genau in der Reduktion, im Verzicht die einzige Chance, verschlossene Türen zu öffnen?
Wenn man sich die Situation unserer Vorfahren anschaut, über einen langen historischen Zeitraum, sieht man, dass die allermeisten dieser Menschen auf die geringsten Annehmlichkeiten verzichten mussten und unter ständigem Mangel litten. Erst seit etwa 100 Jahren können wir es uns überhaupt leisten, auf die Idee zu kommen, dass Verzicht uns Türen öffnen könnte. Es steht natürlich jedem frei, auf Luxus und fliessendes warmes Wasser zu verzichten in der Hoffnung, dadurch eine nützliche Erfahrung zu machen. Ich hingegen bin der Meinung, dass wir soviel Luxus wie nur möglich so lange geniessen sollten, wie es ihn noch gibt – und ich glaube nicht, dass unser Wohlstand ewig währen wird. Mit meinem Buch wollte ich nicht Verzicht predigen, sondern einen Städter schildern, der die ihm zuvor eher unbekannte Natur kennenlernt – ohne dass er deswegen das Leben in der Natur für erstrebenswerter hält als das Leben in der Stadt.

Es scheint nicht, dass von Beginn weg die Absicht bestand, aus dem coronabedingten Abenteuer ein Buch zu machen. Wenn dem so ist; wann merkt man, wann merken Sie, dass aus einem begonnen Schreibexperiment ein Buch werden will?
Sie haben recht, die Absicht, aus meiner Erfahrung ein Buch zu machen, entstand erst, als ich schon nicht mehr unter Hirschen, Waschbären und Rehen lebte. Die Gründe sind auch ganz unromantisch: Als professioneller Schriftsteller und Journalist lebe ich davon, über meine Erfahrungen zu berichten. Es folgte also zunächst ein Essay für das Magazin des Tages-Anzeigers über das Leben im Wald, und aus dem Essay wurde ein Buch. 

Alle Ihre Romane, auch der aktuelle „Der Hund, der nur englisch sprach“ haben eine starke philosophische Komponente. Ausgerechnet in diesem Buch halten Sie sich aber aus meiner Sicht ganz ordentlich zurück. Thoreau hielt sich bei seiner Kritik an der Gesellschaft gar nicht zurück. Sie wollten auch kein Coronabuch schreiben.
Zu meinen schönsten Erlebnissen im Wald gehörte das Anlegen einer Futterstelle, mit der ich – nebenbei gesagt – die Wildschweine und Hirsche von den Kirrplätzen der Jäger weglocken wollte: Eine kleine, vielleicht naive Rebellion gegen die Auswüchse des Jagdwesens. Jedenfalls gelang es mir, sozusagen ein gutgehendes Waldrestaurant zu eröffnen, wo sich nachts Wildschweinmütter und ihre Frischlinge, Hirsche, Marder, Dachse usw. trafen. Über eine Wildkamera konnte ich diese Tiere beobachten, und sie wuchsen mir mit der Zeit ans Herz. Ja, daran war nichts Philosophisches, das stimmt. Es war einfach nur das, was es war. Ich bin sicher, hätte Thoreau sich wirklich mit der Natur beschäftigt, anstatt – übrigens nicht in der Wildnis, wie immer gesagt wird, sondern in einem bequemen Landhaus ein paar Meilen ausserhalb der nächsten grossen Stadt – sein Buch zu schreiben, wäre er zu einem differenzierteren Urteil über die Zivilisation gekommen.  

Ist jener Linus Reichlin, der mit Sack und Pack in den Wald zog, ein anderer als der Linus Reichlin heute?
Ich glaube, während der Pandemie waren wir alle ein wenig anders? Es war, im Nachhinein betrachtet, eine sehr merkwürdige Zeit, und insofern bin ich heute sicherlich ein anderer als damals. 

Ist nicht jedes Buch, jedes Eintauchen in einen Stoff eine Art Reise in eine unbekannte Gegend, einen Wald mit Stimmen und ganz verschiedenen Bewohnern?
Das ist tatsächlich das für mich Faszinierende am Schreiben: Wenn einem die Wirklichkeit nicht genug ist, kann man sich hinsetzen und sich in einer Geschichte verlieren. Das ist allerdings leider eine Ansicht, die aus der Mode gekommen ist. Früher entführten die Schriftsteller ihre Leser in andere, fremde Welten, und die Leser folgten ihnen neugierig. Mir scheint, dass heute eher die Schilderung der bereits bekannten, alltäglichen Welt verlangt wird. Der Roman als Selfie der Leser, sozusagen. Oder um es etwas überspitzt zu sagen: Komme ich nicht drin vor, interessiert mich der Roman nicht. Also leider das Gegenteil einer «unbekannten Gegend», wie Sie es nannten.  

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019), «Señor Herreras blühende Intuition» (2021) und zuletzt «Der Hund, der nur Englisch sprach» (2023). 

Rezension «Manitoba«

Beitragsbild © Birgit Juergens

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazz Band», FVA #SchweizerBuchpreis 23/11

Im Nationalsozialismus galt Jazz als entartete Musik, wurde systematisch diffamiert, MusikerInnen verfolgt und drangsaliert. Das gleiche System setzte Jazz aber für propagandistische Zwecke ein. So spielte die Mr. Goebbels Jazz Band bis zum Untergang des NS-Regimes auf dem Propagandasender – eine skurrile, wahre Geschichte!

Nicht dass der Nationalsozialismus die Propaganda erfunden hätte, aber wie niemals zuvor wusste eine politische Bewegung die systematische Manipulation einer ganzen Gesellschaft derart auszunützen wie jene unter dem Hakenkreuz.

Joseph Goebbels, bedingungsloser Wegbegleiter und Wegbereiter Adolf Hitlers, von 1933 bis zum Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches im Mai 1945, war Propagandaminister und damit Schlüssel- und Schaltzentrale bis in jede Form der Äusserung, auch in jene der Kultur. Was an Meinungsäusserungen oder Verlautbarungen zu Volk und Elite überspringen sollte, wurde von einem ganzen Apparat geleitet und gelenkt. Und wer nicht in dieses feinmaschige Netzwerk passte oder sich gegen Regeln, Auflagen und Weisungen stemmte, hatte dies leicht mit Lagerhaft, Folter oder dem Tod zu bezahlen. 

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazzband», FVA, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-627-00306-7

Das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda wusste sehr genau, wie und womit die Massen gefüttert werden mussten, um die Ziele einer totalitären Diktatur verwirklichen zu können. Bis in die Literatur, die Musik und den Rundfunk. In seinem Roman „Mr. Goebbels Jazz Band“ erzählt Demian Lienhard von der Big Band, die im reichsdeutschen Rundfunk mit schmissigen Melodien Nachrichten und politische Statements zu untermalen hatte, in englischer Sprache, dem Geschmack des „Feindes“ angepasst, über den Äther bis in die Stuben jener Länder, die noch nicht zum Deutschen Reich gehörten.
Eine „wahre“ Geschichte, die aufzeigt, wie schizophren totalitäre Regime funktionieren, wenn es darum geht, den Interessen einer Ideologie zu dienen.
Während Abertausende von Juden, Homosexuellen und Andersdenkenden schnurstracks in die Vernichtungszentralen transportiert wurden, spielten in der Mr. Goebbels Jazz Band auch Juden und Homosexuelle, Männer, die sonst niemals die Gräuel dieser Zeit überlebt hätten.

Demian Lienhard wählte für die Geschichte den Roman im Roman, denn der bislang noch unbekannte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler soll den Moderator William Joyce und die Musiker der Band „schriftlich“ begleiten und ihre Geschichte mit einem Roman dokumentieren. In einem tausendjährigen Reich würde es genug Publikum geben, um von der Strahlkraft dieser Truppe zu erzählen.
Aber Fritz Mahlers Aufgabe ist schwierig, denn die Musiker, die genau wissen, wie dünn das Eis ist, auf dem sie spielen, misstrauen dem Schreiberling mehr als deutlich. Mahler ist wie sie geordert, dem Ministerium verpflichtet. Ist Mahler ein Spitzel?

Demian Lienhard beschreibt mit Genuss all jene Mechanismen, die das Konstrukt aufrecht halten, ebenso das Misstrauen und den fortwährenden Kampf um Positionen. Aber die eigentliche Kunst dieses Romans ist weder die Geschichte selbst noch die beschriebene Kulisse. Demian Lienhard versteht es meisterlich, seinen Roman im Sound jener Zeit zu erzählen. Demian Lienhard spielt ein Instrument in den Klängen jener Zeit. Er spielt mit einer Figur, die perfekt auszublenden versteht, was das System mit ihm macht, dass er sich an eine Ideologie verkaufte, zum einen im Glauben, auf dem Rücken dieser aus der Bedeutungslosigkeit gehoben zu werden, blind für das, was wirklich passiert. Der Blick über die eigene Nasenspitze hinaus ist mehr als nur vernebelt.

Demian Lienhards Roman ist ein Sprachkunstwerk, bei dem ich aber nicht sicher bin, ob all die LeserInnen, die nur der Unterhaltung wegen zu einem Buch oder Tablet greifen, nicht enttäuscht darüber sind, das der Schriftsteller allen Verlockungen einer actionangereicherten Erzählweise widerstehen konnte. „Mr. Goebbels Jazzband“ ist eine Spiegelung all jener Geschichten, die bis in die Gegenwart durch Opportunismus den Scheuklappen jene Grösse geben, sich getrost den scheinbar aufrechten Gang zu bewahren.

Interview

Dein Roman ist vordergründig die wahre Geschichte einer Jazzband, die im nationalsozialistischen Machtapparat eine klar definierte Rolle zu spielen hatte, ebenso jene des Moderators am Rundfunkmikrophon und jene des begleitenden Schriftstellers. Ganz offensichtlich ging es dir aber um viel mehr. Zum einen um die Auswirkungen eines grossen Versprechens, um grenzenlosen Opportunismus, der aber auch Leben retten kann zum andern um Musik, auch um den Sound einer Sprache.
Ist es die Nähe zur Musik, die Verwandtschaft von Sprache und Musik, die Dich an den Stoff band?
Mich haben zunächst eher die drei Hauptwidersprüche der Geschichte angezogen. Das NS-Propagandaministerium, das selbst hochstehenden Jazz produzieren lässt, obwohl es selbst täglich zur Ächtung dieser Musik beiträgt. Eine Big Band, die aus Musikern verschiedenster Herkunft zusammengestellt wird, darunter auch Juden und Homosexuelle – also genau jene Minderheiten, die laut NS-Ideologie vernichtet gehören. Und dann ein Radiomoderator, der sich selbst als englischen Nationalisten und Faschisten begreift, aber knapp sechs Jahre für die Nazis und gegen England arbeitet. Diese Bruchlinien haben mich zuerst angezogen, hier habe ich Reibung und Spannung gespürt. Mir ging es also zuerst um die Menschen und das System. Die Tatsache, dass Musik in dieser Geschichte aber eine sehr wichtige Rolle spielt, war dann aber für die Ästhetik des Romans sehr wichtig.

Deine Geschichte spiegelt sich auch in der Gegenwart. Alle und alles ist ständig der Manipulation ausgesetzt. In allen totalitären Staaten prostituiert sich Sprache und Musik – die Kunst. Aber selbst in einer „freien Gesellschaft“ ist niemand gefeit vor den Verlockungen. Ich kann mit dem bisher glücklosen Schriftsteller Fritz Mahler sehr gut mitfühlen. Endlich Aussicht auf Erfolg. Wo kippt Anpassung in kalten Opportunismus?
Ich glaube, dass das die entscheidende Frage des Romans ist, und zwar bei Fritz Mahler genauso wie bei den Musikern. Wenn auch die Motive unterschiedlich sind, arbeiten doch beide für das Fortbestehen eines menschenverachtenden Regimes. Mir war es wichtig, diese Fragen zur Disposition zu stellen; die Beantwortung der Fragen möchte ich jedem Leser selbst überlassen.

eine Werbepostkarte der Ciro Bar an der Rankestrasse 31 in Berlin Charlottenburg, in der die ersten beiden Kapitel des 2. Teils des Romans spielen

Jene Jazzmusiker, die ausserhalb dieser künstlich geschaffenen „Glocke“ niemals so hätten spielen können, hätten wegen ihrer „Zugehörigkeit“ wohl auch nur schwerlich die NS-Zeit überlebt. Ganz am Schluss Deines Romans resümierst Du die Schicksale der an der Geschichte beteiligten ganz kurz. Was entschied darüber, wer bei deinem Roman Gewicht erhalten sollte?
Nicht alle Musiker waren gleich lange dabei, manche stiessen später dazu oder verliessen die Band aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst war mir deshalb wichtig, Musiker mit der grössten Kontinuität auszuwählen – meistens waren sie es auch, die die bedeutendste Rolle in der Band spielten. Zweitens wollte ich möglichst unterschiedliche Figuren haben; das fängt bei der Herkunft an und hört beim Instrument, das jemand spielte, auf. Drittens war aber auch die Quellenlage ein entscheidendes Kriterium. Hier war das Gefälle enorm, und im Zweifel habe ich mich für die Musiker entschieden, über die ich am meisten herausfinden konnte.

Besteht nicht die Gefahr, dass bei einer solchen Geschichte die historischen und politischen Hintergründe zur Kulisse werden?
Diese Gefahr besteht auf jeden Fall, und zwar bei jedem historischen Stoff. Mir war es ein grosses Anliegen, nicht einfach einen Marketing-Gag zu schreiben. Da es in dem Roman im engeren Sinn um Kunst und Diktatur geht, wollte ich das auch verhandeln, und zwar nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf einer ästhetischen Ebene. Mitunter daher auch die Entscheidung, der Band, die unter Aufsicht eines totalitären Regimes Musik produziert, einen Schriftsteller gegenüberzustellen, der zwar freiwillig, und doch nicht ohne Zwänge und Druck ein Auftragswerk über diese Band schreiben soll.

Dein Roman erzählt zwei Jahrzehnte. Jene beiden Jahrzehnte, die der Beginn von einem Jahrtausend hätten werden sollen, einer Ewigkeit. Wie niemals zuvor in der Geschichte der Zivilisation erfahren wir die Endlichkeit einer Welt, unserer Welt. Inwieweit ist „Mr. Goebbels Jazz Band“ eine Parabel?

„Mr. Goebbels Jazz Band“ zeigt mitunter verschiedene Formen des Opportunismus und seine Folgen. Hier könnte man aus meiner Sicht den Roman auch als Parabel lesen. Der Schriftsteller Fritz Mahler, dem es vor allem um Erfolg geht, legt dabei einen anderen Opportunismus an den Tag als die Musiker, die damit vor allem ihr Leben retten. Und doch steht bei beiden zur Diskussion, inwiefern man sich mit der Arbeit für ein totalitäres Regime mitschuldig macht an dessen Fortbestehen. Es ist unmöglich, diese Fragen abschliessend zu beantworten; mir ging es vor allem darum, sie aufzuwerfen. 

Demian Lienhard, geboren 1987 in Bern. Studium der Klassischen Archäologie, der Latinistik und der Hispanistik in Zürich, Köln und Rom. Sein erster Roman »Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat« (FVA 2019) stand auf der Shortlist des Klaus-Michael-Kühne-Preises für das beste deutschsprachige Debüt und wurde 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Für seine Recherchen an seinem zweiten Roman »Mr. Goebbels Jazz Band« (FVA 2023) lebte er längere Zeit in Galway, London, Berlin und Bern.

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Illustrationen © leafrei.ch