Michèle Minelli «Chaos im Kopf», Jungbrunnen

Michèle Minelli hat schon mit ihrem ersten Jugendroman „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ keinen Wohlfühlroman, kein Geschichtchen geschrieben. Als Roman mitten aus dem Kampfgebiet Familie zeichnete die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ als „Buch des Monats Oktober 2018“ aus. Ihr neuer Roman „Chaos im Kopf“ steht dem Vorgänger in nichts nach!

Das Fenster meines Arbeitsplatzes öffnet sich direkt zum Eingang meines Schulhauses. Und selbst wenn das Fenster geschlossen ist, kann ich den Gesprächen der Jugendlichen unter meinem Fenster zuhören. Die Nische unter diesem Fenster ist abends und an Wochenenden zu einem regelrechten Treffpunkt geworden. Manchmal sind die Gespräche und Brunftlaute derart deutlich und penetrant, dass das Zuhören unvermeidlich wird und mich von meiner Arbeit wegreisst. Dann sitze ich da und höre nur mehr zu, staune darüber, wie weit ich mich von der Welt der Jugendlichen entfernt habe, obwohl ich mit Kindern arbeite, kippe weg in Erinnerungsfetzen meiner eigenen Jugend, um unsicher darüber zu werden, ob damals wirklich alles so ganz anders war.

Zu glauben, dass die Welt von Jugendlichen noch weit weg vom Ernst des Lebens sei, ist fatal. In so unsicheren Zeiten wie diesen noch viel mehr, wo Jugendliche schlicht nicht mehr wissen, wie und wo sie sich austesten sollen. Wie sehr das Leben einer Jugendlichen bedrohlich werden kann, beschreibt Michèle Minelli in ihrem neuen Jugendroman „Chaos im Kopf“. Doch „Jugendroman“ ist ein Etikett. „Chaos im Kopf“ ist ein Fenster in eine Welt, die allzu leicht und allzu schnell unterschätzt und mit Vorurteilen verzerrt wird. Umso wichtiger und hilfreicher, dass es Autorinnen wie Michèle Minelli gibt, die mit derart viel Empathie und Unmittelbarkeit eine Welt eröffnen können, die sich in der eigenen Erinnerung verklärt. 

Michèle Minelli «Chaos im Kopf, Antonia – vierzehn-dreiviertel», Jungbrunnen, 2021, 220 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7026-5954-7

Antonia ist vierzehn-dreiviertel, noch eintausendeinhundertsiebzig Tage, bis sie sich volljährig aus den Fesseln ihrer Mutter, ihrer Familie, ihrer Rolle losreissen kann. Angi, ihre Mutter, demonstriert ein ganz eigenes Verständnis von Fürsorge, Mutterpflichten und Nestwärme. Ihre Mutter versetzt Antonias Reitstiefel zu Geld und öffnet einem neuen Lover die Wohnung. Man macht ihr die Schule zum Spiessrutenlauf mit der wiederholten Aufforderung endlich ernst mit der Suche nach Schnupperstellen. Charlie, der Neue ihrer Mutter, rückt ihr mit unmissverständlichen Unzweideutigkeiten auf die Pelle und ihre Freundin Emmi wendet sich als mutierte Streberin mit einem Mal von ihr ab. Alles wankt. Alles droht in einem endlos scheinenden Chaos zu versinken. Dabei will sie nur das eine; ihren Platz in einer Familie, die sie trägt und eine Perspektive für ihren grossen Traum. Antonia möchte Filmregisseurin werden. 

Aber wer Filmregisseurin werden will, braucht das Gymnasium, gute Noten, Lehrpersonen, die daran glauben und, wenn es den Papa nur als Erinnerung gibt, wenigstens eine Mutter, die mitträgt. Aber Angi hat ganz anderes im Kopf, als die fürsorgliche Mutter zu spielen, weder für Antonia noch für ihre beiden Schwestern, schon gar nicht für ihre kleine Schwester Pippa. Antonias Mutter ist eine notorische Leugnerin und Lügnerin, die alles nach ihrer Fasson drückt, die Vergangenheit und wenn nötig auch die Zukunft. Sie ist von sich als Künstlerin überzeugt, wenn nicht an Resultaten gemessen, dann ganz sicher als Lebenskünstlerin. Dass sich ihre Kinder nach der Pflichtschulzeit aus den Fängen des Staates lösen sollen, ist Maxime. Und seit Charlie, der Neue, in der Familie mitmischt, ist der Gang durch die Zeit erst recht hochexplosiv.

Irgendwann sitzt Antonia auf dem Dach einer alten Ziegelei, restlos verzweifelt, von ihren Ängsten umzingelt. Mit fast fünfzehn erwartet die Welt einen Plan. Aber selbst wenn man einen solchen hat und man noch eine Ewigkeit von der Volljährigkeit entfernt den Kampf ganz alleine ausfechten soll, braucht man Beistand, Zuneigung, ganz wörtlich verstanden. Michèle Minelli beschreibt einen Kampf, den Kampf mit jenen Ängsten, die einem zu lähmen drohen, die einem in Situationen zu treiben vermögen, die keinen gangbaren Ausweg mehr andeuten. Antonia merkt, dass sie ausbrechen muss. Dass dieser Ausbruch nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Dass es ein Kampf um viel mehr ist, als eine geregelte Ausbildung und einen festen Platz in der Welt.

Interview

Erwachsene bilden sich sehr oft ein, dass ihre Probleme viel die schwergewichtigeren seien als die von Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt darum, weil viele vergessen und verdrängen, was sie einst so sehr beschäftigte, weil sich der Mantel der Verklärung über die Kindheit legt, je älter man wird. Probleme, die die Existenz bedrohen, können nie miteinander verglichen werden. Warum tun wir es doch?

Das aktuellste Problem ist immer das schwerste. Das gilt bei Erwachsenen wie bei Kindern oder Jugendlichen gleich. Aber nicht nur neue Probleme stellen uns vor Rätsel, auch Probleme, die andauern. Und so geht es Antonia in dieser Geschichte: Zu ihrem andauernden Problem – der Lernfeindlichkeit in ihrem Elternhaus – gesellen sich neue Probleme dazu. Bis es ihr zu viel wird. Weshalb wir Probleme miteinander vergleichen, weiss ich nicht sicher. Meine Vermutung ist, dass in einem ernsthaften Vergleich der Versuch liegen könnte, eine Art Ordnung zu schaffen. Und was in einer irgendwie gearteten Ordnung seinen Platz findet, lässt sich bestimmt auch lösen; Ordnung ist der erste verheissungsvolle Schritt zur Lösung hin. Wenn da aber nur Chaos ist, wie bei Antonia, schwindet der Glaube an Lösung.

Was muss man sich als Schriftstellerin oder Schriftsteller bewahren, um mit Büchern wie dem deinigen so punktgenau den Nerv der Zeit zu treffen, zumal dein Blick aus deinem Arbeitszimmer alles bietet, was es zur Idealisierung braucht?

Um Antonias Geschichte schreiben zu können, musste ich mir die Erlaubnis geben, den Kontakt zu meinem eigenen Lebensgefühl als Jugendliche wieder aufzunehmen. Es war gewissermassen eine Tür, die ich aufgestossen habe, zurück zu einer jugendlichen Intensität des Fühlens. Dieses jugendliche Fühlen war bei mir geprägt von Impulsivität und einem unbedingten Drang, mein Leben zu gestalten. Wenn ich heute in einem von mir gestalteten Leben angekommen bin, birgt das auch die Gefahr der Verklärung – und die führt immer in Kraftlosigkeit. Insofern muss ich mir als Schriftstellerin meine Ambiguitätstoleranz bewahren, auch mir selber gegenüber – und diese ständig weiterentwickeln.

Warum hat es Kinder- und Jugendliteratur so schwer, sich neben der Erwachsenenliteratur zu etablieren, zu emanzipieren? Müssten wir nicht aufhören, in Kategorien zu denken, weil gute Literatur sich nicht vom Adressaten unterscheidet?

Frauenfelder Woche März 2021

Die Ansprüche, die von aussen an Kinder- und Jugendliteratur gestellt werden, sind immens. Es scheint, als haben viele scheinbar gescheite Erwachsene einst ein Korsett geschnürt, in das die Literatur für junge Menschen unbedingt zu passen habe. Sie muss pädagogisch wertvoll sein, eine Lehre oder Moral vermitteln, politisch korrekt sein, sprachlich gut aber nicht zu schwierig sein … – alles antiquierte Vorstellungen, denen ich mich in ihrem totalitären Anspruch nicht unterwerfen mag. Die Frage könnte man also auch so stellen: Warum haben es Kinder und Jugendliche so schwer, sich neben Erwachsenen zu etablieren und zu emanzipieren? 

Dein Roman ist eine latente Familientragödie; drei Töchter, eine alleinerziehende Mutter, ein mehr oder weniger übergriffiger Liebhaber der Mutter, Schule, die mehr fordert als fördert – und alles gekoppelt mit viel Angst. Eine Kindheit lang versucht man die Kinder vor aller Angst zu bewahren, um sie dann als Jugendliche mit ihren Ängsten vielfach alleine zu lassen. Wäre Angst an sich nicht ein guter Schutzmechanismus?

Angst ist eine überlebenswichtige Gefährtin. Aber sie darf nicht zur Anführerin werden und ausschliesslich allein entscheiden. Gegen sie zu kämpfen wäre falsch. Sie als Teil eines inneren Teams wahrzunehmen, ihr ein Mitspracherecht und eine Zuhörfähigkeit zu geben, würde schon viel helfen. Die Angst der Eltern, von den Problemen der Kinder überwältigt zu werden, braucht ebenso ihren Platz wie das Zutrauen, es gemeinsam zu schaffen und das Vertrauen, dass die Kinder ihre Schritte, wenn selbstgewählt, auch verkraften.

Antonia kann sich in keinem Moment auf ihre Mutter verlassen. Antonia sagt über ihre Mutter: „Sie lügt, sie betrügt, und sie verschluckt die Wahrheit wie ein schwarzes Loch die Sterne.“ Sie hasst ihre Mutter. Ist dann der Kampf nicht aussichtslos? Wenn man immer wieder beschwört, wie wichtig die Familie sei – gibt es einen Weg zurück? 

Ich glaube nicht, dass Antonia ihre Mutter hasst, aber sie hasst das, was die Mutter tut: Lügen. In den wenigen Momenten, in denen sich Antonias Mutter selbst schutzlos zeigt, finden die beiden zu einer unmittelbaren Nähe zu einander. Diese Nähe und das Verständnis füreinander ist wie ein Raum, der immer da ist, der aber leer bleibt, wenn sich die beiden nicht trauen, sich gewissermassen nackt zu zeigen, eben so, wie sie sind: unvollkommen, ängstlich, suchend – und dem Anderen im Innersten eben doch das Beste wünschend.

Gab es in unmittelbarer Vergangenheit ein Buch, das dich nicht losgelassen hat? Und warum?

Ich lese sehr viel und meist zwei Bücher parallel. Ein fast physisches Erlebnis boten mir die Geschichten von Clarice Lispectors Erzählband «Aber es wird regnen» (Penguin), und in seiner erzählerischer Konsequenz gefangen nahm mich «Die Parade» von Dave Eggers (Kiwi). Und ein freies, umwerfendes und psychologisch ehrliches Kinderbuch ist für mich «Betti Kettenhemd»,  von Albert Wendt (Jungbrunnen) – ein Buch, das ich am liebsten immer bei mir tragen wollte.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.

Bei lector books erscheint fast zeitgleich Michèle Minelli Roman «Kapitulation»: Fünf kunstschaffende Frauen, die einst überzeugt waren, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur wollen. Heute sind sie auf dem Boden der Realität angekommen: Sie können, sie wollen, sie werden übersehen und gehen vergessen. Bei einem Wiedersehen nach 18 Jahren loten die fünf ihre Möglichkeiten aus, reden über verpasste Chancen, lachen und trinken. Bis in dieser entspannten Runde die Idee aufkommt, einen Flashmob zu veranstalten, bei dem sich alle Frauen in Luft auflösen. Was vier der Frauen wieder vergessen, nimmt eine von ihnen todernst.
Buchtaufe mit «Kapitulation» (und einem Seitenblick auf «Chaos im Kopf») im Literaturhaus Thurgau am 29. April 2021! Moderation: Gallus Frei

Rezension zu «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Anne Bürgisser

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos

Mag sein, dass Reisen abenteuerlich werden können. Dann, wenn man bekanntes Terrain verlässt, wenn man diesen einen Schritt über den Rand hinaus wagt. Wenn man nicht mit Sicherheit weiss, was sich jenseits des Bekannten befindet. Was für Reisen gilt, gilt noch viel mehr für Beziehungen. Werner Rohner schreibt in seinem neuen Roman „Was möglich ist“ über Menschen, die den Schritt über solche Grenzen wagen, meist in mehrfacher Hinsicht.

Werner Rohner hätte am Wortlaut St. Gallen vor Publikum gelesen, wenn es geklappt hätte. Wenn Sie trotzdem online verfolgen wollen, was Wortlaut digital anzubieten hat, dann besuchen Sie die Webseite hier.

„Was möglich ist“ lotet aus. Werner Rohner beweist sich als Seismograph. In seinem Roman erzählt er drei Geschichten von Frauen und Männern, die in ihren Beziehungen diesen einen Schritt wagen. Den Schritt über die Grenze, über die Konvention, über die Vernunft hinaus, in unbekanntes Terrain. Dabei geht es Werner Rohner nicht um die Frage, ob der Schritt glückt, nicht einmal darum, ob er nachvollziehbar ist. Werner Rohner begibt sich ganz nah an sein Personal, spürt ihnen nach, dem Mut, der Hoffnung, der Verzweiflung, dem Zweifel. „Was möglich ist“ zeigt, was möglich ist, dass in Beziehungen Abenteuer stecken, reisen in unbekanntes Terrain, weit über Grenzen hinaus.

Edith ist über sechzig und arbeitet eine Ewigkeit im selben Café. Dort sitzen Menschen und erzählen ihre Geschichten. Einer davon ist Christoph, jünger als sie, Bademeister. Christoph versuchte einer leblos im Wasser treibenden Frau das Leben in den Brustkorb zurückzupumpen. Es sollte nicht sein. Die Frau blieb liegen. Aber nicht nur auf dem Betonboden der Badeanstalt, sondern auch in den Bildern in Christophs Kopf. Edith, eine Frau mit feinem Gespür, kommt Christoph näher. So nah, dass das Zusammensein mit dem Mann Türen wieder aufreisst, von denen Edith glaubte, sie hätten sich für den Rest ihres Lebens geschlossen. Christoph gibt ihr zurück, was sie aufgeben hatte, obwohl da vor Jahrzehnten einmal eine Familie war. Chris und Edith fahren weg, in ihrem alten Saab über Spanien bis nach Marokko, wo Chris mit Ediths Erspartem ein Haus in einem kleinen Dorf gekauft hat. Eine neue Existenz, ein neues Leben. Was sich für beide paradiesisch anfühlt, entpuppt sich aber doch als Fata Morgana, zumindest für Edith, die das neue Leben zwar geniesst, ihre Rolle als Geliebte, als Hausbesitzerin und Gastgeberin. Aber Edith fährt zurück, zurück in ihr altes Leben.

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos, 2020, 379 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-007-3

Vera ist schwanger. Eingeladen an eine Kongress in New York nimmt sie ihre Freundin Nathalie mit. Nathalie hat zwei Kinder, die sie für die paar Tage bei ihrem Mann zurücklässt und Vera ebenfalls einen Ehemann, der nicht verstehen kann, dass sich Vera schwanger in ein Flugzeug setzt. Was aus der Ferne wie eine Geschäftsreise aussehen soll, ist aber schon bei den Vorbereitungen zur Reise und im Flugzeug erst recht ein Versprechen für viel mehr. Vera und Nathalies Freundschaft ist mehr. Vera fühlt, dass zusammen mit ihrer Freundin etwas aufbricht, das bisher nur schlummerte. In der monumentalen Stadt auf der anderen Seite des Ozeans beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die im Rausch alles auszublenden vermag, lässt ein Leben aufkeimen, das sich aber mit dem Flugzeug zurück nicht ins alte Leben zurücktransportierten lässt. Die Versprechen bröckeln.

Michael ist Schriftsteller. Sein Freund Lorenz bittet ihn, seine Frau Lena, die ohne ihre Kinder mit einem Mal, wie aus dem Nichts, nach Neapel abgehauen ist, zur Rückkehr zu bewegen. Mit einem Typen. Lena und Michael kennen sich schon lange. Und weil Michaels Schreibe ins Stocken geraten ist, fährt er in die Stadt am Vulkan. Lena zu finden ist nicht schwierig. Sie versteckt sich nicht, auch nicht den Mann mit Bauch an ihrer Seite. Auch der eine alte Geschichte. Michael wird zu einem Verbindungsmann. Lena ist ausgebrochen, in der Schwebe. Sie weiss genau, dass das Angefangene in Neapel keine Dauer hat und das Alte zuhause so keine Zukunft. Michael bietet ihr und ihren beiden Kindern eine vorübergehende Bliebe in seiner Wohnung an. Bloss ein Zimmer, aber immerhin. Und mit einem Mal steht Michael mitten drin.

Drei Frauen, die es wagen, alles aufzugeben, allen Sicherheiten zu entsagen, die einen Neuanfang provozieren, ausreissen und abreissen lassen. Die Geschichten sind nicht nur thematisch miteinander verbunden. Sie spiegeln sich ineinander. Und sie treffen sich sogar ganz kurz im Café, in dem Edith während Jahrzehnten servierte. Aber die Geschichten spiegeln sich auch in mir, mit Sicherheit in allen, die sich auf diesen äusserst gelungenen Roman einlassen. Denn diesen einen Schritt, zumindest die Möglichkeit, den Gedanken darum, den Traum, die Idee tragen die meisten mit sich herum. Dass Werner Rohner daraus kein abgehobenes Abenteuer macht, ist die grosse Qualität dieses Romans.

Interview:

War da von Anfang an ein Plan? Ein Buch mit drei Geschichten, die sich auf verschiedene Arten berühren und spiegeln? 

Da war kein Plan zu Beginn, da war Edith, die zu erzählen begonnen hat. Dabei hat sie im Café Uetli gesessen. Um sie herum andere Menschen, denen sie ab und zu einen Café brachte. Und auch die hatten ihre Geschichten. Und manche davon haben sie mir dann auch noch erzählt.

Edith, Vera und Lena brechen aus. Sie tun das, was viele als Plan, Absicht, Vorsatz, Wunsch und Traum ein Leben lang unerfüllt mit sich herumtragen. Als ich einmal während einiger Monate im Spital arbeitete und eine Frau fragte, warum sie das Foto ihres eingesargten Mannes auf dem Nachttischen stehen habe, sagte sie: „Heiraten sie spät oder nie. Tun sie erst alles andere!“ Warum tun wir uns so schwer auszubrechen und nehmen lieber Magengeschwüre und Burnouts in Kauf?

Es fehlt an Vorbildern (im Gegensatz zu Magengeschwüren und Burnouts), an Geschichten, die anders erzählt, anders gewertet und verstanden werden.

Außerdem brauchen Ausbrüche Anlauf – das dauert –, Gelegenheit und Mut. Glück halt. Und nicht zuletzt ein Umfeld, welche die Ausbrüche mitträgt, oder zumindest nicht dagegen angeht.

Und dann ist ein Ausbruch ja je nachdem auch nicht eine einmalige Sache. Muss man wieder und wieder tun, durchhalten, aushalten, Unsicherheit zu- und den Ausgang offenlassen können.

Alle deine Protagonistinnen leben in der Angst, dass sie für ihr Glück büssen müssen. So sehr, dass sie den Ausbruch auf die eine oder andere Weise „ausklingen» lassen. Muss man sich mit dem Konfuziuszitat „Der Weg ist das Ziel“ trösten?

Also nach Konfuzius versteh ich das das ja nicht als Trost, sondern als Glück. Und ich glaub, das haben auch Edith und Vera und Lena unterwegs gefunden. Sind dann aber oft wo gelandet, wo sie nicht damit umgehen konnten.

Aber ihre Geschichten sind ja nicht zu Ende. Ich hab nur aufgehört, sie weiter zu erzählen.

Es sind Ausbrüche und es sind Varianten eines Kontrollverlusts, die du beschreibst. Dabei lernen wir schon kleinen Kindern im Kindergarten, Ausbrüche und Kontrollverlust zu vermeiden. Büssen wir damit auch einen Teil unserer Kreativität ein, weil Kreativität immer Ausbruch und Kontrollverlust ist?

Fällt mir Patrick Findeis ein, der gesagt hat, Schreiben sei eine Mischung zwischen totalem Kontrollverlust und alle Fäden in den Händen halten. Kreativität trägt immer beides mit, sonst ist es Chaos.

Ist „Schreiben“ ein kontrollierter Ausbruch?

Ich glaub, es ist eher eine Möglichkeit mehr. Es ersetzt ja nichts, aber es fügt was hinzu. Sowohl für mich als Schreibenden, als auch für die Lesenden. Und hat eine Wechselwirkung mit dem anderen Leben – und diese Wirkung ist, glaub ich, kaum voraus- oder abzusehen, und damit auch kaum kontrollierbar.

Welches Buch hat sich in jüngster Vergangenheit tief in dein Herz eingebrannt und warum?

„Ich hab› gelebt Mylord“ von Simone Berteaut. Es ist eine Art Biografie von Edith Piaf, geschrieben von ihrer Halbschwester, die vielleicht auch einfach eine Bekannte war. Das aber ist egal; das Buch hat so einen tollen Sound, und im Hintergrund Edith Piafs Musik, dass man das Leben so stark spürt, dass ich oft weinen musst. Manchmal so sehr, dass ich die Buchstaben nicht mehr sehen konnte.

© Christoph Oeschger

Werner Rohner, geboren 1975, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Längere Schreibaufenthalte in Rom, Langenthal und Los Angeles. Er veröffentlichte Texte in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, für die er mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, und schrieb drei Theaterstücke. Sein erster Roman «Das Ende der Schonzeit» erschien 2014 und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert. Zusammen mit Katja Brunner veröffentlichte er 2018 das Buch «Wie weit du genetisch vom Raubtier entfernt bist». «Was möglich» ist ist sein zweiter Roman.

Werner Rohner mit «Was bleibt» auf der «Plattform Gegenzauber»

Beitragsbilder © Werner Rohner

Fabian Neidhardt «Immer noch wach», Haymon

Alex ist dreissig. Nach immer grösser werdenden gesundheitlichen Problemen erhält er von einem Arzt die Diagnose Krebs; ein Tumor im Bauch mit Metastasen. Alex ist am Ende. Und weil er nicht seine ganze Umgebung mit an ein Ende mit Schrecken führen will, zieht er sich in ein Sterbehospiz zurück, ohne irgend jemandem zu sagen, wo sich dieses befindet.

Aber bei folgenden Untersuchungen, die erst gemacht werden, nachdem Alex schon ein paar Wochen im Hospiz ist und von Attacken gebeutelt auf sein Ende wartet, stellt man fest, dass die Diagnose damals ungenau war, der Tumor wohl da, aber die Auswirkungen nicht zwingend und direkt zum Tod führen müssen. Alex wird wieder auf dem Hospiz entlassen. Etwas, was sonst nie vorkommt, auf jeden Fall nicht aufrecht.

Was tut man mit einem Leben, das einem wieder zurückgeben wird, dass nun doch nicht kurz vor seinem Ende steht? Wohin mit sich, wenn man seine Freunde, seinen Platz, seine Liebe verlassen hat, um nie mehr zurückzukehren? Im „Abspann“ seines Romans schreibt Fabian Neidhardt, er habe durch Zufall in einem aufgeschlagenen Spiegel (36/2014) die Überschrift „Abschied ohne Ende“ gelesen und dann die Geschichte eines Mannes, der sich mit Krebs im Endstadium in ein Sterbehospiz begab, dieses aber nach ein paar Wochen wieder verlassen musste, nachdem deutlich wurde, dass er „Opfer“ von Fehldiagnose und Verwechslung war. Eine wilde Geschichte. Hätte es die Notiz am Ende des Buches nicht gegeben, die ich beim Blättern im Roman schon nach den ersten Seiten der Lektüre entdeckte, hätte ich den Roman wahrscheinlich gar nicht zu Ende gelesen. Zu trivial wäre mir die Geschichte gewesen, beinahe wie ein Groschenroman. Ich las Fabian Neidhardts Roman weiter, weil ich wissen wollte, wie der Autor mit dem Plott umgehen, wie glaubhaft er die Geschichte schildern würde. Und auch darum, weil Fabian Neidhardt seine Geschichte von Beginn weg nicht allzu sehr aufbläst und mit Neben- und Zusatzschauplätzen versieht, die vieles an der Geschichte glaubhaft machen und mich durch das Buch ziehen.

Fabian Neidhardt «Immer noch wach», Haymon, 2021, 268 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7099-8118-4

Alex verlor als Kind seinen Vater durch Krebs. Und weil er damals zuschauen musste, wie dieser „verendete“, war ihm mit einer fast identischen Diagnose klar, dass er sein Sterben seiner Umgebung nicht zumuten will. Seine Mutter verstummte nach dem langen und qualvollen Sterben seines Vaters, reagierte auch Jahre später nicht auf Alex Fragen, auch dann nicht, als ein neuer Mann ins Leben seiner Mutter trat und dieses auch nachhaltig beschädigte, als sich herausstellte, dass Alex Mutter nur Affäre war. Alex Mutter stirbt, Alex verliert seine Familie. Alles, was ihn hält, ist Bene, sein Freund, den er seit seiner Sandkastenzeit mit sich weiss und Lisa, die er bei einem Festival kennenlernt und die Monate später vor seiner Wohnung steht und um Asyl bittet. Alex, Lisa und Bene werden Freunde, gar mehr, denn was zwischen den dreien passiert, lässt sich nicht so leicht in Freundschaft oder Liebe einordnen. Und als die drei zusammen einen Traum verwirklichen und an einer Kreuzung in der Stadt in den Räumen einer ehemaligen Metzgerei das Café „Türrahmen“ eröffnen. Alles entwickelt sich prächtig, bis Alex hinter der Theke zusammenbricht und seine Freunde ihn ins Spital bringen.

Der Roman lässt sich in drei Teile gliedern. Im ersten Teil muss sich Alex mit der Diagnose und seinen Konsequenzen auseinandersetzen, mit den Fragen seines Sterbens. Im zweiten Teil ist Alex ein „Gast“ im Sterbehospiz, einer der Erwartenden und begegnet den Kerzen, die vor den Zimmern der Verstorbenen brennen. Und im letzten Teil des Romans ist Alex auf Reisen, nicht mit der Liste der Dinge, die er noch tun will, sondern mit der Liste der Dinge, die all jene nicht mehr tun konnten, die Alex im Hospiz sterben sah. Alle drei Teile sind durchsetzt von Erinnerungen an seine Vergangenheit und Gegenwart, an die Begegnungen mit den Menschen, die sein Leben ausmachen.

Zugegeben, das Urteil über die Lektüre drohte immer wieder ins Negative zu kippen. Vielleicht wäre ein Lektorat gut bedient gewesen, wenn man die Handlung abgespeckt hätte. Die Fehldiagnose allein, die Rückkehr in ein verlassenes Leben, das Wiederauftauchen dort hätte für Fragen und Dramatik gereicht. Trotzdem ist Fabian Neidhardt Roman gute Unterhaltung und des Autors Schreibe ein Versprechen!

Interview

Du bist in etwa so alt wie dein Protagonist, der nach Untersuchungen erfahren muss, dass er wohl nicht mehr lange leben wird, dass sein Tumor im Bauch ein tödlicher ist. Meist sind Sterben und Tod in deinem Alter weit weg. Ich erinnere mich zumindest an meine Zeit zwischen 30 und 40. Ist dein Denken und Handeln dem Sterben und Tod gegenüber ein anderes geworden?
Ich habe meine halbe Jugend auf einem Friedhof verbracht, weil das Haus meiner Eltern dort steht. Und schon relativ früh war ich auf Beerdigungen meiner erweiterten Familie. Ich glaube, dass sich mein Handeln und Denken durch die Arbeit an dem Roman vertieft haben. Aber wäre nicht schon vorher ein Interesse und Auseinandersetzen da gewesen, hätte ich diese Geschichte so nicht verfolgt und ausgearbeitet.

Du warst für deinen Roman eine Woche lang in einem Sterbehospiz. Erstaunlich genug, dass man dich an einen solchen Ort lässt, da die Menschen dort ja wohl nur ungern zu Recherchezwecken „verwendet“ werden. Aber du schaffst es, das letzte Sein dort mit grossem Respekt zu schildern. Kein Mensch bezweifelt die Notwenigkeit solcher Institutionen. Aber sind sie nicht auch die Zeichen einer Zeit, in der man sich mit dem Sterben und dem Tod nicht auseinandersetzen will?
Total. Und Zeichen eines Systems, in dem für Effektivität auf Menschlichkeit verzichtet wird.

Mit einem Mal steht Alex sein ganzes Leben noch einmal offen. Das alte hat er zurückgelassen. Ein neues steht mit fast allen Optionen offen. Und doch kehrt er zurück, obwohl von seiner eigentlichen Familie ausser Erinnerungen nichts mehr geblieben ist. Warum ist es unrealistisch zu glauben, man würde dann einen absoluten Neustart beginnen?
Einerseits finde ich, dass in dem alten Leben eben doch viel geblieben ist: Seine selbstgewählte Familie, sein Lebenstraum und Menschen, denen er wichtig ist. Andererseits finde ich es überhaupt nicht unrealistisch, dass Menschen genau diesen Neustart beginnen. Im Gegenteil: Wie viele Menschen haben beispielsweise Kriegswirren genau dafür verwendet? Allein in der Geschichte meiner Familie ist das mehrfach passiert. Aber für Alex ist es nicht der Weg.

Während den Tagen, in denen du selbst das „Leben“ in einem Sterbehospiz begleitet hast, ist dir eine Person ganz offensichtlich speziell ans Herz gewachsen. Jemand, der als Imago auch in deinem Roman vorkommt. Wie war die Annäherung nicht als „Sterbender“, sondern als Schreibender?
Emotional aufwühlend und nachhaltig beeindruckend. Eine Woche lang bin ich Abends nach Hause gekommen, habe meiner Freundin erzählt, was ich erlebt habe, habe mich in den Schlaf geweint und bin am nächsten Morgen wieder hingegangen. Mehrmals befand ich mich in Situationen, in denen ich meine persönliche Grenze überschritten und das in den Momenten auf eine journalistisch distanzierte Art realisiert habe. Wie du ja selbst anmerkst, hatte ich nicht nur dieses erstaunliche Glück, dass die Hospizleitung mich hat eine Woche lang mitarbeiten lassen, sondern dass auch fast alle GästInnen und alle Menschen, die dort arbeiten, sehr offen mit mir umgegangen sind. Im Gegenzug habe ich aber auch alle Fragen, die mir gestellt worden sind, sehr offen beantwortet. Vielleicht ist das die kurze Antwort auf deine Frage: Indem ich diesem Vertrauensvorschuss mit sehr viel Vertrauen entgegengetreten bin, oft schmerzhaft offen. 

Bist du wie dein Protagonist ein Mensch der Listen?
Nein. Doch, klar, manchmal schon. In einigen Momenten helfen mir Listen, das Chaos in meinem Kopf in eine Struktur zu bringen und Dinge zeitweise auszulagern. Aber haben nicht alle Menschen ein Fable für Listen? Wenn man sich all die Top-Listen im Internet ansieht, könnte ich das meinen.

Gibt es ein Buch, das dich in den letzten Wochen und Monaten nicht in Ruhe gelassen hat? Und warum?
Irgendwo auf jeden Fall das nächste, das ich schreiben möchte. Und dann, weil mich die Geschichten nachhaltig beeindrucken, die Kurzgeschichten von Ted Chiang, dessen Gesamtwerk Ende 2020 erstmals komplett auf Deutsch im Golkonda Verlag erschienen ist. Ich habe einige von ihnen schon auf englisch gelesen und freue mich nun auf die deutsche Version. Weil Chiang in kurzen Texten unglaublich krasse Gedanken und Ideen verarbeitet und die, die ich gelesen habe, mein Denken verändert haben.

© Daniel Gebhardt

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 als erster von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, lebt in Stuttgart. Nach dem Volontariat beim Radio studierte er Sprechkunst und Kommunikationspädagogik an der staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart und Literarisches Schreiben am Literaturinstitut Hildesheim. Bis Mai 2019 absolvierte er die Ausbildung zum Storyliner bei der UFA Serienschule in Potsdam. Seit 2010 sitzt er als Strassenpoet mit seiner Schreibmaschine in Fussgängerzonen und schreibt Texte auf Zuruf. 2019 entwickelte er den Prosaroboter, der auf Knopfdruck Geschichten ausdruckt. 2020 ist er Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

«Die Vielleicht-Ära», ein TEDx-Beitrag

Fabian Neidhardts Blog

Beitragsbild © Sara Dahme

Annina Haab «Bei den großen Vögeln», Berlin

Ali ist ihre Grossmutter. Und weil Ali nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück in ihr Zuhause kann und man sie in einem Altersheim platziert, beginnt ihre Enkelin zu schreiben. Sie will festhalten, was noch lebt, was noch da ist. All die Geschichten aufschreiben, die Ali ausmachen, die Ali mit sich herumträgt, die Ali zu der gemacht haben, die sie ist, auf die sie nicht verzichten kann, die ihr das Sterben und der drohende Tod wegnehmen will.

„Ali ist ein Code, drei Buchstaben, damit ich nicht Oma sagen muss oder Grossmutter.“

Wenn Menschen sterben, schliessen sich Türen endgültig. Was an Abdankungen in ein paar Minuten das Leben eines Menschen umreissen soll, ist nie und nimmer das, was der Tod hat abreissen lassen, was jenes Leben ausmachte. Dann sitzen wir Angehörige in den Bänken, lauschen und wissen, dass vieles unwiederbringlich mit in der Grube zugeschüttet ist. Die Schriftstellerin Annina Haab gibt einer Erzählerin eine Stimme, die sich mit allen Mitteln dem Vergessen und Verschwinden entgegenstellt. Die Enkelin besucht ihre Grossmutter immer wieder, will möglichst viel von dem bewahren, was die innige Beziehung zu ihrer Grossmutter ausmachte, diese beinah kumpelhafte Zweisamkeit, die etwas Verschwörerischen an sich hatte. Aber die Grossmutter verstummt immer mehr. Zum einen schwindet die Kraft, zum andern schliesst sich die Tür zu den Geschichten schon deshalb, weil sich die Grossmutter weigert, ihre eigene Geschichte so ernst und wichtig wie ihre Enkelin zu nehmen.

Annina Haab hat ein ungeheuer zartes und anrührendes Buch geschrieben. Ein Buch, das ganz leicht ins Sentimentale hätte abdriften können. Aber Annina Haab schaffte es mit erstaunlicher Sicherheit, nicht in erster Linie ein Buch über ihre Grossmutter zu schreiben, ein Leben aus der Vergangenheit dem Vergessen zu entreissen, sondern ein Buch über einen Abschied. Über die immer grösser werdende Distanz, die lange vor dem Sterben beginnt. Über Nähe, die ganz langsam verloren geht und darüber, dass das Schreiben vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten ist, einem Menschen über seinen Tod hinweg nahe zu bleiben, ihn nicht loslassen zu müssen.

Annina Haab «Bei den grossen Vögeln», Berlin, 2021, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-8270-1427-6

Sie weiss einiges über Ali. Von einer Kindheit auf dem Bauernhof, von der Reise als Jugendliche nach England, nach London in die Dienste von Familien. Ali erzählt von ihrem Leben in der Enge, einem Leben, das fast nur aus Arbeit bestand, ihrem Pelzmantel, den sie monatelang abstotterte, der ihr den Zugang in die „Gesellschaft“, in das Leben dort erleichtern und nicht sofort als Haushalthilfe erkennbar machen sollte, von ihren Ersparnissen, die sie sich von einem Fremden abknöpfen liess und Jahre später wie aus dem Nichts wieder an sie zurück gelangten. Es sind Bruchstücke, das was man erzählt, wenn man sich nahe ist, Zeitinseln aus einem Meer, das unendlich scheint. Die Enkelin will festhalten, weil ihr mit dem Sterben ihrer Grossmutter ein Leben zu entgleiten beginnt, das ihr näher als alle anderen ist.

Sie geht durch die verlassene Wohnung ihrer Grossmutter, als wäre es ein verlassenes, nur vorübergehend verlassenes Leben einer Frau, die nur eben mal schnell weg ist. Sie besucht Ali im kleinen Altersheim, im Zimmer, das sie mit einer anderen Frau teilt, die fast immer unter einem Berg von Decken im Bett am Fenster liegt. Sie lebt mit dem Riss in sich selbst, weil sie ihre Grossmutter am liebsten zu sich nehmen würde, aber an den Realitäten scheitert und in der Zeit zögert, in der es noch möglich gewesen wäre, es Ali aber gar nicht gewollt hätte. Sie hadert mit dem Bewusstsein, dass ihr vieles, alles aus den Händen genommen wird, dass sie zur Zurückbleibenden verurteilt ist.

„Bei den grossen Vögeln“ ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch einer jungen Frau über ihre Grossmutter, auch wenn es das auch ist. Der Roman spiegelt, was in der Erzählerin passiert, das Pendeln zwischen Schmerz, Trauer, Ergebenheit und zärtlicher Liebe. Und nicht zuletzt zwingt der Roman mich als Leser zu Fragen an mich selbst: Was will ich in meiner letzten Zeit in meinen Händen behalten? Was soll von mir zurückbleiben? Ist das erzählt, was mich ausmacht oder lasse ich so hilflos zurück, wie es meistens ist? Lebe ich mit dem Bewusstsein, das mein Leben endlich ist?

“Bei den grossen Vögeln“ ist kein grosser, schwarzer Vogel, aber ein Buch, das sich über viele andere zu diesem Thema hinausgehoben hat.

Interview

Der grosse Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch schrieb und sang ein Lied mit dem Titel „Komm, grosser schwarzer Vogel“, ein düsteres Lied über Todessehnsucht. Ihr Debüt „Bei den grossen Vögeln“ ist ein Nachgesang über eine grosse Liebe; die Liebe zwischen Enkelin und Grossmutter. So gar kein Buch über den Tod. Auch kein Erinnerungsbuch. War das Buch eine Notwendigkeit? 

Das Lied kenne ich nicht, die Vögel sind für mich auch gar nicht so sehr mit dem Tod assoziiert. Ich denke, dass das Schreiben als Prozess für mich eine Notwendigkeit war. Dass daraus jetzt ein Buch wird, ist für mich eher eine erfreuliche Zugabe. Ich finde es aber durchaus nötig, dass über Menschen, wie die Ali im Text, mehr geschrieben wird, dass also nicht nur Heldengeschichten erzählt werden, sondern auch von jenen geschrieben wird, die sozusagen kleine Geschichten leben. 

Sie sind noch jung. Ich bin bald 60. Sie haben sich beim Schreiben dieses Buches ganz intensiv mit dem letzten Lebensabschnitt auseinandergesetzt, wenn man so will, exemplarisch an Ali der Grossmutter. Hat sich Ihre Sicht auf Ihr eigenes Leben, auch auf Ihr eigenes Sterben verändert? 

Mit meinem eigenen Sterben habe ich mich nicht besonders auseinandergesetzt, für mich war und ist die Auseinandersetzung mit dem Sterben der anderen wichtig, mit der Position derjenigen, die weiterlebt. Es ging mir also eher um den Abschied und den Verlust, aber auch um eine Reflexion verbreiteter Erzählweisen und Darstellungen des Todes.
Die Sicht auf das eigene Leben verändert sich wahrscheinlich zwangsläufig, wenn man sich mit hochbetagten Frauen beschäftigt. Ich bin sehr glücklich, durfte ich so manches von ihnen lernen. 

Ist Ihr Buch auch eine Aufforderung, sich mit dem letzten Schritt eines jeden Lebens mehr auseinanderzusetzen?

Ich denke nicht, dass ich je den Wunsch verspürt habe, mit dem Text irgendwen zu etwas aufzufordern. Ich glaube aber, dass es durchaus sinnvoll wäre, sich mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen. Oft, so scheint mir, wird ein wenig daran vorbeigeschielt oder verhüllend darüber gesprochen. Gerade bei den Darstellungen und metaphorischen Ausdrücken müssen wir sehr genau hinschauen und prüfen, ob sie zutreffend sind oder doch eher Ausflüchte, um in einer gefahrenfreien Zone bleiben zu können. 
Allgemein fände ich es gut, den Tod und die Krankheit, die Gebrechen, die Abweichung von der (ideellen) Norm junger gesunder Körper nicht an den Rand der Gesellschaft oder des Blickfeldes zu schieben, sondern sie sichtbar zu machen und die Diversität der existierenden Körper und Zustände anzunehmen und auch zu verteidigen.

Weil Ihr Buch keine Anekdotensammlung ist, kein Erinnerungsbuch, sondern eine Liebeserklärung, eine Verneigung, eine sprachliche Zärtlichkeit, liest es sich anders; Sie schaffen es, die Spur vorbei an Sentimentalitäten zu halten. War das schwierig?

Danke, das freut mich zu hören. Ja, das fand ich sogar sehr schwierig und in vielen Momenten zweifelte ich auch, ob es denn geglückt sei. Es ist ja ein schmaler Grat, auf dem ich wandeln wollte. Ich bin eine Befürworterin von Pathos und auch hier finde ich es vor allem wichtig, auf der Hut zu sein, um keine Vorurteile weiter festzutreten. Das gilt aber für den Zynismus genauso, eine Haltung, die zwar oft souveräner scheint, es aber nicht unbedingt ist.

Obwohl das Altersheim, in dem Ali die letzte Zeit ihres Lebens verbringt, ein ganz kleines ist, wird sie von „Einsamkeit zerfressen“, etwas, das auch mit vielen Besuchen nicht verhindert werden kann. Das Abgeschnittensein vom alten Leben, vom Leben draussen (etwas, was in Coronazeiten dramatische Züge bekommen hat!), von einem wirklichen Zuhause. Wie wollen Sie alt werden?

Nun ja, am liebsten schon eingebettet in eine soziale Struktur, die mir dieses Zuhause ist, aber wer auf intensive Pflege angewiesen ist, hat oft keine Wahl mehr. Dass noch im familiärsten Heim die Einsamkeit grassiert, verweist auf ein strukturelles Problem; dass von den Pflegenden zu viel verlangt wird, dass kaum Zeit für zwischenmenschlichen Kontakt bleibt, dass sie chronisch überarbeitet aber unterbezahlt sind. Wie müssen unbedingt über die Bedingungen und den Stellenwert von Care-Arbeit reden, und über patriarchale Geschlechterverhältnisse. In erster Linie möchte ich also erleben, dass da ein Umdenken stattfindet, und zwar sofort, bevor ich alt werde. Ansonsten kann ich mir nur wünschen, so humorvoll, offen und unkompliziert wie beispielsweise die Ali zu werden, ich glaube, dann wär ich ganz schön stolz auf mich.

Ganz am Schluss des Buches danken Sie. Da erscheinen gewichtige Namen: Ruth Schweikert, Friederike Kretzen, Zsuzsanna Gahse oder Antje Rávik Strubel. Ein Indiz dafür, dass Schreiben nicht einfach „das stille Brüten im Kämmerchen» ist. Und doch erstaunt die Dichte an grossen Namen. Wie verändert die Auseinandersetzung den Text?

Ich denke, das Bild von der Literatur als einsames Geschäft wird oft und gerne bemüht, weil es vielen Leuten gefällt, sich so darzustellen, und ja, während ich schreibe, bin ich selber auch allein, aber während ich über Texte nachdenke zum Glück nicht. Die „Dichte an grossen Namen“ hat etwas damit zu tun, dass ich in verschiedenen (institutionellen) Kontexten meinen Text besprechen durfte. Mir hat vor allem die konstante Begleitung von Friederike Kretzen geholfen, die sich mit grosser Ernsthaftigkeit auf meinen Text eingelassen hat und auch bereit war, über noch so kleine Details mit mir nachzudenken. Aber auch viele andere haben meinen Prozess beeinflusst. Ich finde es eine grosse Chance und Bereicherung, mit anderen über Texte zu sprechen, die am Entstehen sind, auch einige Freundinnen und Geschwister von mir haben den Text in einer ersten Fassung gelesen und wichtige Anstösse gegeben. Das Einbeziehen anderer Meinungen lehrte mich, dass nichts festgeschrieben ist, dass es sich lohnt, alles noch einmal zu hinterfragen und nur stehen zu lassen, was man begründen kann. Es zeigte aber auch, dass zu jeder Szene zehn verschiedene Meinungen möglich sind. 

Ein Buch, das Sie in den vergangenen Monaten gepackt hat?

«Kassandra» und viel weiteres von Christa Wolf. Und einmal mehr die Reden von Audre Lorde.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Privat / Piper Verlag

Andreas Schäfer «Das Gartenzimmer», DuMont

Häuser bergen Geschichte und Geschichten. Andreas Schäfer lässt in seinem neuen Roman „Das Gartenzimmer“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Haus bauen, das erste Haus eines jungen, aufstrebenden Architekten. Fast hundert Jahre später wird es von einer Maklerin zum Verkauf angeboten. Andreas Schäfer breitet aber nicht einfach die Geschichte eines Hauses aus, sondern das, was Mauern Geschichte und Geschichte schlucken und was von all dem auf Bewohnerinnen und Bewohner einwirken kann.

Der junge, später Weltruhm erlangende Architekt Max Taubert baut 1909 am Rande Berlins ein neoklassizistisches Landhaus für einen Professor und seine Ehefrau. Ein Haus, das ganz anders wirkt als alle anderen Häuser, die in dieser Zeit gebaut werden, nichts vom verspielten Jugendstil. Der Lichteinfall in den Zimmern, die Harmonie in der Halle, dem Mittelpunkt des Hauses, der Eindruck von Aussen, das Haus würde über dem Boden schweben. Max Taubert ist damals noch Angestellter in einem Architektenbüro und dieses Gefühl „Ich baue ein Haus“ wird für den jungen Idealisten ein Rausch. Auch für den Bauherrn, Professor Adam Rosen und seine Ehefrau Elsa ist das Haus mehr als die Hülle eines neuen Kapitels in ihrem Leben. Das Ehepaar leidet unter dem Verlust ihres Sohnes. Max Taubert soll mit seinem jugendlichen Elan etwas von dem zurückgeben, was sie durch den Tod ihres Sohnes verlieren mussten.

In den Neuzigerjahren entdeckt Frieder Lekebusch das schon lange leer stehende Haus, kauft es zusammen mit seiner Frau Hannah und renoviert es aufwändig zurück in den Zustand, als es Jahrzehnte zuvor unter Rosen zu einem Angelpunkt von Kultur und Gesellschaft wurde. Vor allem seine Frau steigert sich regelrecht in das „Kleinod der Vormoderne“, kauft Möbel, die genau passen und macht die Villa zu einem Mekka für Architekturfreaks und Max-Taubert-Fans, dem Architekten, der später in der ganzen Welt eine neue Ära mitgestalten sollte. Das Kommen und Gehen in diesem Haus und ein Brief, den ein Journalist dem Sohn des Hauses übergibt, ein Brief der damaligen Besitzerin Elsa Rosen, vergiften das Leben im Haus aber so sehr, dass auseinanderbricht, was in der perfekten Hülle hätte gedeihen sollen.

Andreas Schäfer «Das Gartenzimmer», DuMont, 2020, 352 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-8321-8390-5

Schon vor Beginn des grossen Krieges bekam die Witwe Rosen Besuch von Alfred Rosenberg, einer treibenden Kraft im Naziregime zur Germanisierung besetzter Ostgebiete und der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Das Haus am Rande Berlins sollte eine ganz spezielle Rolle erlangen, sollte Hülle werden für einen der Orte, an denen der Beweis geliefert werden soll, dass die arische Rasse allen anderen überlegen ist und die Rechtfertigung liefert, alles unwerte, minderwertige Leben auszulöschen. Und als gegen Ende des Krieges Bomben auch Berlin trafen, richtete Rosenberg im Gartenzimmer der Villa einen ganz speziellen Ort der grausigen Maschinerie des Nationalsozialismus ein.

Romane, die Geschichten von Häusern erzählen, die Häuser zu eigentlichen Protagonisten machten, gibt es einige, denke ich nur schon an „Die Villa“ von Hans Joachim Schädlich. Andreas Schäfer erzählt aber weit mehr als die Geschichte eines Hauses. Was macht die Hülle eines Hauses mit seinen BewohnerInnen? Wirken Geschichten aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart? Wieviel Kulisse ist das, was man in Dutzenden von „Schöner-Wohnen-Heftchen“ als Idylle, Ideal und Selbstverwirklichung in Hochglanz präsentiert bekommt? Kann man am Erbe eines Hauses zerbrechen? Kann man ausblenden, was an einem Ort, in einem Zimmer geschah?

„Das Gartenzimmer“ ist raffiniert erzählt, überrascht und zieht mich als Leser in einen unwiderstehlichen Sog. Nicht einfach weil die Geschichte dramaturgisch gekonnt konstruiert ist, sondern weil Andreas Schäfer mich mit seiner Sprachkunst zu bezaubern weiss, weil er mich mit der Lektüre in eigene Reflexionen zwingt, weil sich durch ein perfektes Mass an Abstand und Nähe sein Personal nie entblösst, weil er keine Übermenschen, keine Helden, keine Verlierer, nicht einmal Bösewichte schafft. Das Böse schleicht sich versteckt ein. Wie in all den Grimmmärchen, in denen vom einen Zimmer gewarnt wird, vor dem man sich hüten soll, es je zu öffnen. „Das Gartenhaus“ belehrt nicht, deckt mich nicht zu mit Rechercheverarbeitung. Dieser Roman ist wahrhaft Kunst und alles andere als künstlich!

Hervorragend!

Ein Interview

Als Mieter lebte ich mit meiner Familie immer wieder in Mauern, die Geschichte und Geschichten erzählten. Einmal besichtigten wir gar ein Jugendstilhaus, in dem es nicht einmal möglich gewesen wäre, an den bemalten Wänden Bilder aufzuhängen. Heute leben wir, ins Alter gekommen, in einer Neubauwohnung. In einer Wohnung, die nach nichts ruft, die keine Verantwortung generiert, die uns lässt, die nichts mit uns macht. Beides ist gut. Kann „Schöner wohnen“ zur Manie werden?

Natürlich kann eine übertriebene Gestaltung der eigenen Lebensräume zur Manie werden und – wenn man sein Herz zu stark an die Dinge hängt – schädlich sein oder sogar, wie im Fall des „Gartenzimmers“, auch unheimliche Dimensionen annehmen. Die eigene Wohnung, das eigene Haus ist vielerlei: Erst einmal ein Ort des Schutzes und – Sie sprachen davon – ein Ort der Familie oder einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft. Daneben sind Häuser auch Projektionen und Traumorte und Spiegel des realen und eines gewünschten Selbst. Man kann Räume auf eine gute Art einrichten und beleben, genauso aber auf ungute, wenn es vor allem darum geht, dass Gäste die Herkunft (also auch den Preis) bestimmter Möbel erkennen. Dann wird der eigene Lebensraum zur Luft abschnürenden Statusbühne. Hannah, die neue Bewohnerin der Villa Rosen, hat eigentlich Angst vor dem Haus, weil sie keinerlei künstlerisches Gespür hat. Deshalb stürzt sie sich auf die äusseren Aspekte, auf Tauberts Ruhm und den Stolz, in einem bedeutsamen Baudenkmal zu leben. Sie richtet das Haus ein, um es zu zeigen, darüber verliert sie einen lebendigen, unmittelbaren und auch handfest pragmatischen Umgang mit den Räumen, in denen die Familie lebt. 

Im Gartenzimmer passiert Unvorstellbares. Laden wir Mauern nicht auf, weil wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung leben? Warum wird das Geburtshaus Adolf Hitlers zur Belastung, die Statue eines Südstaatengenerals zu Provokation? Warum sind sie nicht einfach Relikte aus der Vergangenheit, Überbleibsel?

Natürlich leben wir mit der Sehnsucht nach Bedeutung, ich würde sogar sagen, mit der Notwendigkeit nach Zusammenhängen. Dinge sind erst einmal nur Dinge, aber sie können in unterschiedlichen Kontexten auch etwas Magisches oder Dämonisches erhalten; das hängt (unter anderem) von ihrem Symbolcharakter ab. Die Statue eines Südstaatengenerals ist deshalb noch immer von heikler Bedeutung, weil der Rassismus in der U.S-amerikanischen Gesellschaft nicht überwunden ist, sondern – wir sahen vor ein paar Wochen die schrecklichen Bilder von der Stürmung des Kapitols – noch immer wirkt, im Verborgenen und in immer hemmungsloser präsentierter Sichtbarkeit. Wäre der Rassismus überwunden, wäre die amerikanische Gesellschaft innerlich befriedet und vereint, würde die Statue tatsächlich zu einem Relikt aus der Vergangenheit werden, ihre Bedeutung würde zurücksinken in den Bereich des nur noch historisch Relevanten, nach dem Motto: Seht, was für Probleme wir früher hatten. Vom Kampfding würde es zur Mahnung werden und dann vielleicht irgendwann nahezu völlig bedeutungslos. Auch die Zeit spielt dabei eine Rolle. Dennoch glaube ich, dass es kontaminierte Orte oder auch Gebäude gibt. Man kann die Villa am Wannsee, in dem die Vernichtung der Juden beschlossen wurde, nicht als gewöhnliches Wohnhaus benutzen. Das Unvorstellbare, das an diesem Ort beschlossen wurde, bestimmt zu Recht noch immer unser kollektives Gedächtnis. So etwas verbietet sich einfach, im Moment und sicher noch für sehr viele Generationen. 

Der Architekt Max Taubert hat eine Mission, das Ehepaar Rosen, das die Villa baut, das Ehepaar Lekebusch, dass die Villa in der Gegenwart zu einem Mekka der Architektur macht. Ich habe eine Mission als Literaturvermittler, Sie mit Sicherheit die Ihrige auch. Gieren wir alle nach Bedeutung?

Gier, das klingt mir etwas zu negativ und nach Verurteilung eigener, im Prinzip guter Impulse. Ich denke, jeder kann und (sollte vielleicht sogar) seine Aufgabe finden, etwas, das ihn erfüllt und glücklich macht und das im besten Fall auch andere erfreut oder hilft und dabei – wenn es um Kunst geht – einen Lichtstrahl ins Dunkle lenkt, etwas sichtbar macht, was sonst vielleicht im Verborgenen bleibt (obwohl es da ist). Etwas schöpfen, Erkenntnis und Freude weitergeben – das sind die natürlichsten Vorgänge überhaupt. Selbstverständlich spielen dabei auch nicht ganz so hehre Motive eine Rolle: Ruhm, Erfolg, Reichtum, Eitelkeit, Geltungssucht. Aber zugleich sind die Ströme, in die wir uns begeben, grösser als wir selbst, zumindest grösser als ein persönliches Ego, zumindest ist das meine Erfahrung. Als Beispiel: Vielleicht sagt jemand als junger Mensch: Ich möchte ein berühmter Künstler, Wissenschaftler, Forscher oder ähnliches werden. Möglicherweise wird er angetrieben von Ruhmsucht, von der Idee eines grandiosen Selbst. Vorher muss er aber von etwas berührt worden sein, von der Schönheit und der Tiefe eines Kunstwerks oder der Genialität einer Erfindung. Diese Berührung hat etwas Ursprüngliches. Und wenn unser junger Mensch es ernst meint und sich auf die Spur dieses Ursprünglichen begibt, wird ihn der mühsame Prozess und die Notwendigkeit dabei offen zu bleiben, schon auch Demut lehren. Um beim Roman zu bleiben: Hannah Lekebusch schafft es nicht, den Zugang zu diesem Ursprünglichen zu finden, deshalb führt ihre Mission bald zu etwas Schalem, pathologisch Besessenem. 

Wo lag der Ursprung Ihres Romans, die erste Idee?

Als wir als Familie vom Zentrum Berlins in einen Aussenbezirk zogen und ich unsere Tochter täglich zur Schule in das vornehme Dahlem fuhr, war ich verzaubert von der Atmosphäre – beeindruckende Häuser in parkähnlichen Grundstücken, daneben die vielen Forschungszentren und die Freie Universität, an der ich vor Jahrzehnten studiert hatte. Eine Atmosphäre von Reichtum, Ruhe, aber auch Geist, verbunden mit einer starken Geschichtspräsenz (vielleicht wegen der Ruhe auf den Strassen?). Dahlem wurde noch in der Kaiserzeit als Villenkolonie und Wissenschaftsstandort mit vielen Kaiser-Wilhelm-Instituten gegründet, dort forschte zum Beispiel Albert Einstein bis zu seiner Emigration. Aber Dahlem war eben auch der Lieblingsbezirk von Nazigrössen. Ich wollte ein Buch schreiben, das in Dahlem spielt. Erst als zweites kam die Idee, von dieser reichen Atmosphäre, von dem Schönen und dem Schrecklichen anhand eines Hauses zu erzählen.  

Der Roman erzählt fast hundert Jahre Geschichte. Sie verlieren sich nicht in Details, bleiben stets auf der Spur. Die Fülle an Personen und Geschichten hätte genug Potenzial, um auszuschweifen. Nur schon die Geschichte eines Architekten, der nach seiner Formensprache sucht. Die Geschichte eines Fabrikanten von Generika, der sich mit einem Haus mit Bedeutung ein Original schenken will. Gab es einen Plan ins Schreiben oder sind Sie so sehr diszipliniert, dass der Roman wie ein perfekt gebautes Haus erscheint?

Das Buch und seine Struktur waren nicht sofort da, sondern entstanden in langwierigen Prozessen. Sehr früh war zum Beispiel klar, dass ich auf drei Ebenen erzählen würde, aber wie genau die Ebenen ineinander greifen würden – das stellte sich erst während des Schreibens heraus. Ich mache mir Pläne, habe einzelne Szenen und Handlungsabläufe im Kopf, aber vieles konkretisiert sich erst im Akt des Schreibens (ah, so handelt Figur x oder y also!), was dann wieder Überarbeitungen des Vorherigen zur Folge hat. Auch das Haus habe ich so beim Schreiben immer wieder aus den unterschiedlichen Perspektiven entstehen lassen. Natürlich hatte ich früh einen Grundriss, doch zum Beispiel die Einrichtung der einzelnen Räume zeigte sich erst, als diese oder jene Figur sich länger in ihnen aufhielt – also aus der Notwendigkeit, in einer ganz konkreten Erzählsituation sehr konkret zu werden. 

Welches Buch ist Ihnen in letzter Zeit hängengeblieben? Und warum?

Gerald Murnane «Die Ebenen», Bibliothek Suhrkamp, 2017, 152 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22499-1

Ich lese schon seit einigen Monaten Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ich hatte es als Student gelesen und mache jetzt ganz neue, mich unendlich begeisternde Erfahrungen. Wie langsam Proust unvergessliche Figuren entstehen lässt, im Wechselspiel aus Idealisierung und hochstehender Erwartung (Apropos Bedeutungssucht!) und schmerzhafter Enttäuschung; wie genau er Emotionen nachlauscht und ihnen dabei immer wieder neue Facetten abgewinnt. Proust macht glücklich, weil seine Sätze einen immer wieder daran erinnern, was Literatur zu leisten vermag. Gerade lese ich auch „Die Ebenen“ des australischen Autors Gerald Murnane. Es handelt im wahrsten Sinn von so gut wie nichts. Ein junger Filmemacher kommt ins Outback und versucht die Feinheiten eines kargen Graslandes festzuhalten und zu dokumentieren (zum Beispiel den blaugrünen Dunst über der Ebene) und gerät dabei in eine geradezu kafkaeske Anderswelt. Grossartig.  

Andreas Schäfer, 1969 in Hamburg geboren, wuchs in Frankfurt/Main auf und lebt heute als Schriftsteller und Journalist mit seiner Familie in Berlin. Bisher veröffentlichte er die Romane «Auf dem Weg nach Messara», wofür er u. a. den Bremer Literaturförderpreis erhielt, «Wir vier» (2010), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war und mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, und zuletzt «Gesichter» (2013).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Mirella Weingarten

Sandra Künzi «Die Hülle», Der gesunde Menschenversand – Das Interview mit Beat Mazenauer

Sandra Künzi «Die Hülle», Eine Erzählung, Der gesunde Menschenversand, essais agités, 2021, Taschenbuch, 88 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-03853-994-0

Nach einem schönen Wandertag im Spätwinter werden die Erzählerin und ihre Freundin Charlotte von finsteren Gesellen überfallen. Während sie Charlotte kidnappen und in eine Kneipe entführen, flüchtet die Erzählerin und wird vom Gemeindeschreiber persönlich angefahren. Welche Tragweite dieses Erlebnis hat, erfährt die Erzählerin erst später, als Charlotte sie bittet, für sie in eine Rolle zu schlüpfen. Sie soll als Burkaträgerin in einer Talk Show auftreten. Offenkundig spielt sie ihre Rolle bar jeglicher Gottesfurcht derart gut, dass niemand den Betrug erahnt. Sie wird immer wieder in Gesprächsrunden eingeladen, doch irgendeinmal fällt auch ihr die gewünschte Antwort nicht ein.
Sandra Künzis Erzählung verarbeitet auf amüsante, literarische Weise die Diskussion rund um die “Burka-Initiative”, die am 7. März 2021 in der Schweiz zur Abstimmung gelangt.

«Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch.»  Sandra Künzi

Interview mit Sandra Künzi von Beat Mazenauer, Germanist und Historiker, Literaturkritiker und freier Autor

Beat Mazenauer: «Die Hülle» hast du vor zwei Jahren geschrieben, lange vor der Burka-Initiative. Weshalb hast du damals dieses Thema aufgenommen?

Sandra Künzi: Die konkrete Idee zu der «Hülle» entstand im Herbst 2017, nachdem am 15. September 2017 die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» mit 105’553 gültigen Unterschriften eingereicht worden war. Ich fand die damalige Diskussion absurd. Es geht in dieser Diskussion im Grunde gar nicht um die Burka, den Niqab oder den Islam, sondern um unsere Projektionen und Ängste. Der Ganzkörperschleier bietet sich geradezu als Projektionsgefäss an. Man weiss nicht, was unter diesem „ Tuch“ steckt; aber interessanter im Grunde ist, dass man es offenbar auch gar nicht genauer wissen will. Diesen Eindruck hat man in der gesamten Diskussion: Sie wird emotional geführt, dabei rückt in den Hintergrund, worum es eigentlich geht. Die Gleichsetzung von Islam mit einem Verhüllungszwang ist absurd und fremdenfeindlich. Von diesen Ängsten und Projektionen handelt meine Erzählung.

Es geht um die Freiheit, heisst es im Zusammenhang mit der Burka immer wieder, von allen Seiten. Geht es wirklich um die Freiheit, oder ist das bloss vorgeschoben?  

Ja, es ist interessant, dass die Freiheit sowohl von den Befürwortern wie auch den Gegnerinnen der Initiative ins Feld geführt wird. Freiheit bedeutet offenbar für jeden und jede etwas anderes. Beide haben Recht mit den Freiheiten, auf die sie sich berufen: Die Freiheit der Kleiderwahl, wobei eine Burka aus meiner Sicht kein Kleidungsstück ist. Die Freiheit der Religion und ihrer Symbole. Die Freiheit… hmm welche nochmal? Ah, genau, das Egerkinger Komitee erfindet eine neue Freiheit, nämlich jene des „das Gesicht zeigen“. Es gehöre „in aufgeklärten europäischen Staaten wie der Schweiz zu den zentralen, unveräusserlichen Grundwerten des Zusammenlebens, sein Gesicht zu zeigen“. Solche Sätze sind natürlich unglaublich reizvoll für eine Autorin. 

Du verbindest in der Erzählung Mediensatire und Burka-Tragen. Worin liegt für dich der enge Zusammenhang? 

Wir erinnern uns an die fortschreitende Zentralisierung der Medien z.B. im sogenannten TA-Media-Mantel, der seit 2018 die regionalen Redaktionen frisst, was gerade auch für die Kulturberichterstattungen und generell für die Medienvielfalt ein Problem ist. Dieser „Mantel“, also eine Hülle, ist natürlich nicht dasselbe wie die Burka oder der Niqab, aber die Symbole ähneln sich. Inhaltlich passen die Themen zusammen, weil die Medien natürlich der Kampfplatz dieser emotional geführten Abstimmung sind und weil sie manchmal auch mitverantwortlich sind für ins Feld geführte Unsachlichkeiten. Interessant ist auch, dass sich die Medien bemühen, „echte“ NIqabträgerinnen vor die Kameras zu bekommen, aber dennoch immer „nur“ Konvertitinnen finden. Und auch davon eigentlich nur etwa zwei. So sehr wir uns bemühen die Hülle zu heben, es gelingt uns nicht. 

Du gehst am Rande auch auf den Fall des Fake-Journalisten Relotius ein: Ist das für dich ein journalistischer Burkaträger?  

Hmm…. ich möchte die Burka nicht als „Verheimlichungs-Instrument“ verstanden haben. Ich bin keine Islamwissenschaftlerin, ich kenne die genaue Geschichte der Burka oder des Niqab nicht. Aber sicher habe ich die Figur Klaus aus meiner Erzählung an den Fall Claas Relotius angelehnt, weil Relotius verhüllte. Aus dem Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum Fall Relotius geht hervor, dass er geschickt vorging. Es war wohl nicht ganz offensichtlich, dass er in seinen „Reportagen“ lügte oder Fakten zurechtbog. Das machte die Geschichten gerade so gut oder vielleicht sogar so „echt“.  Gleichzeitig wollte man ihm schnell glauben und ihn wenig hinterfragt haben. Des Kaisers neue Kleider? Oder Baron von Münchhausen? Es hat nichts mit der Ganzkörperverhüllung zu tun, die Fundamentalisten unter dem Titel Islam für Frauen fordern. Sondern unsere Projektionen in die „Hülle“, die Burka stehen im Zusammenhang mit den Projektionen in die Texte von Relotius. In beiden Fällen glaubt man nur, was man will und man sieht nur, was man glauben will. 

Deine Erzählung «Die Hülle» thematisiert ein aktuelles politisches Thema als Erzählung. Denkst du, dass solche Texte dabei mit helfen können, die politische Diskussion wieder anregender zu gestalten?

Das hoffe ich natürlich. Aber eigentlich müssen wir einfach lernen, wie eine sachliche Debatte geht. Dafür gäbe es auch Kurse, aber wenn Literatur mithelfen kann …

Bist du in der Sache gänzlich entschieden – oder ist das erzählerische Format auch für dich selbst eine Form der differenzierten Auseinandersetzung?

Ich bin gegen die Verhüllung, vor allem weil es meistens die Frauen trifft. Aber ich stimme trotzdem gegen diese Inititative. Man kann gegen die Burka oder den Niqab sein und trotzdem Nein stimmen. Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch. Als Muslimin wird man da in eine ganz blöde Ecke gedrängt, die mit der realen Religion vermutlich nicht viel zu tun hat. Und ja, diese Erzählung war auf jeden Fall mein Weg, mich in diesen Ambivalenzen zurecht zu finden. 

Die Reihe «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit» pflegt den kritischen Essay. Sie führt aktuelle Diskurse, spürt verborgene Themen auf und setzt überraschende Ideen in die Welt. Sie ist offen für ein bewegliches Nachdenken über Fragen der Zeit. Zugrunde liegt ihr eine eigens für die Reihe entwickelte Schreibsoftware, die Texte mit einem automatisierten Verfahren in Buchform bringt. Diese Software ermöglicht es, die Texte schnell, variabel und in unterschiedlichen Formaten zu präsentieren und sie in der Schweiz zu drucken. Die Reihe «essais agités» wurde von «alit – Verein Literaturstiftung» initiiert und erscheint in Buchform beim Verlag Der gesunde Menschenversand. Sie wird begleitet von einer Chapbook-Serie, die on demand bestellt werden kann.

Sandra Künzi, geboren 1969, Autorin, Musikerin und Juristin. Künzi schreibt für Bühne, Radio, Papier und tritt alleine oder mit ihrem Spokenword-Duo Künzi&Frei auf. Künzi ist Käptn der legendären Autorinnenreihe «Tittanic», deren gleichnamige CD 2009 im Verlag Der gesunde Menschenversand erschien. 2013 veröffentlichte derselbe Verlag ihr Buch «Mikronowellen». Sie ist Mitbegründerin des Berner Lesefestes «Aprillen». Als Präsidentin von t. Theaterschaffende Schweiz und Mitglied der verbandsübergreifenden Taskforce Culture engagiert sie sich für Kulturschaffende und Veranstaltende. Sie lebt in Bern.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Yves Thomi

Jürgen Bauer «Portrait», Septime

Bin ich der, der ich sein möchte? Sehen mich meine Mitmenschen, meine Vertrauten so, wie ich mich selber sehe? Welches Bild macht man sich von mir? Wie sehr verstecke ich mich hinter einer Fassade, hinter Pappkulissen? Jürgen Bauer geht in seinem neuen Roman „Portrait“ genau diesen Fragen und vielen mehr nach. Ein kunstvoll konstruierter Einblick in die verwundeten Seelen der Gegenwart.

Das Buch erzählt von Georg, der nach dem Krieg irgendwo in der österreichischen Provinz in einem Bauerndorf aufwächst, zusammen mit seinem älteren Bruder und seiner Mutter, die nach dem Krieg nicht mehr hofft, dass ihr Mann wieder auftaucht. Georg ist anders als sein Bruder, aber wenigstens ein Junge, der auf dem Hof mitanpacken kann, jetzt wo alles auf der Schultern der Mutter liegt und sie zu erdrücken droht. Aber Georg ist nicht wie sein Bruder, auch nicht wie seine Mutter. Er wird auch nicht, was sich die Mutter erhoffte, ganz anders wie der Bruder, der wirklich anzupacken weiss. Georg ist gut in der Schule, ein Einzelgänger, vom Onkel ans Gymnasium geschickt, vom Onkel, der im Hintergrund gerade so viel hilft, dass der Hof mit der Mariedl und den beiden Söhnen nicht untergeht. Georg bleibt weg, studiert an der Universität in Wien, wird ein „Städter“ und taucht kaum mehr auf auf dem Hof, auf dem sich die Mutter abrackert und der Bruder ohne Frau und Familie bleibt.

Das wäre schon Stoff genug; die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn, der Alp eines verschwundenen Vaters, der aus der Sicht des Sohnes ein Held des Widerstands ist, aus der Sicht der Mutter ein Versager, einer der seinen Mund nicht halten konnte, der seine Familie im Stich liess. Aber Jürgen Bauer erzählt viel mehr, denn „Portrait“ erzählt nicht direkt von Georg, der sich in der Stadt lieber Schorsch nennt. Jürgen Bauer erzählt die Geschichte, das Leben des verlorenen Sohnes im ersten Teil des Romans aus der Sicht seiner Mutter, im mittleren Teil aus der seines Liebhabers Gabriel und im letzten aus der seiner Ehefrau Sara. Sie alle drei erzählen ihre Geschichte und die Geschichte Georgs. Mariedl aus der Sicht einer verbitterten und hart gewordenen Frau, der nichts geschenkt, aber alles genommen wird. Gabriel aus der Sicht Georgs Liebhabers, eines Wiener Strichjungen, der wie ein Streunender durch sein Leben hechelt, immer auf der Suche nach dem Kick. Und aus der Sicht seiner Ehefrau Sara, die Georg heiratet, weil sie beide die verzweifelte Liebe verbindet, weil Georg eine Frau braucht, um die Fassade in der Hauptstadt aufrecht erhalten zu können und weil Sara einen Mann braucht, der ihr Sicherheit gibt, der sie achtet, den sie formen kann.

Jürgen Bauer «Portrait», Septime, 2020, 305 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-902711-93-9

Jürgen Bauer öffnet in seinem facettenreichen Roman derart viele Räume, dass ich als Leser förmlich hin- und hergepeitscht werde. Nicht zuletzt deshalb, weil Jürgen Bauer die drei Teile in genau dem Ton erzählt, der zu den drei Erzählenden passt. Georgs Mutter Mariedl ist bis auf die Knochen verbittert und enttäuscht. Ihre Sprache, ihr Gestus ist hart, hölzern. Da schwingt nichts mehr mit von Liebe,Verständnis, Fürsorge oder Hoffnung. Das Leben ist blosser Kampf, nichts als harte Arbeit, weit weg von allem, was an Liebe erinnert. Sie macht auch nie einen Hehl daraus, dass sie das Leben ihres jüngeren Sohnes missraten findet, so wie das Leben ihres nichtsnutzigen Ehemannes, der in den Wirren des Krieges verschwand.
Georgs Liebhaber Gabriel wächst auch auf dem Land auf, entflieht diesem, weil er genau weiss, dass er mit seinem Schwulsein nur in der Stadt, in der Hauptstadt das findet, wonach der permanente Durst ihn treibt. Gabriels Sprache ist schnodderig, ungehemmt, seine Gedanken kreisen zumindest in seiner ungestümen Jugend nur um das Vergnügen, den nächsten Rausch. Wien ist sein Tummelplatz, auch wenn man ihm in den 70ern in den Wiener Gassen ungehemmt nachschreit, solche wie ihn hätte man gescheiter alle vergast.

Und Sara? Sara ist Bankierstochter, ursprünglich aus reichem Haus in Amsterdam, in Wien hängen geblieben, weil sie sich eine Karriere als Opernsängerin erhoffte, es aber nie reichte, zum einen weil ihr Aussehen den Massstäben nicht entsprach, zum andern aber auch ihre Stimme. Und weil Sara genau merkt, dass Georg in seinem Leben eine Stütze, einen Halt, Rückendeckung braucht, weil er Karriere macht und ihn sein Kippleben zwischen Laster und Fassade zu zerreissen droht, ist sie die, die sich als Ehefrau anbietet. Sie erzählt als die Gebildete, die Frau, die alles unter Kontrolle zu halten versucht, weil sie aus Erfahrung weiss, wie tief man fallen kann.

„Portrait“ schildert das harte Leben einer Alleingelassenen im Nachkriegseuropa, das bittere Dasein aller nicht Heteros in den 70ern und 80ern, erst recht, als die „Schwulenpest“ Aids all jenen in die Hände spielte, die schon immer wussten, was richtig und falsch ist und den Leidensweg einer Frau, die nie dort ist, wo sie sein will, der der Kampf um Sicherheit, ihr Kampf um ihr Leben wird.

Sie alle erzählen von Georg. Einem Mann, der sich nach nichts mehr sehnt, als dort zu sein, wo man ihn nimmt, wie er wirklich ist, den Ort aber nie findet. Der es nie schafft, als „verlorener Sohn“ zurückzukommen, der sich immer verstecken muss, nie genügt, nie ankommt. „Portrait“ ist harte Kost, ein Sittengemälde der jüngsten Vergangenheit. Virtuos geschrieben, ganz nah am Leben, unmittelbar!

Interview

Sie erzählen Georgs Geschichte, ohne direkt von ihm selbst zu erzählen. Seine Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven, aus der Sicht jener, die ihm am nächsten kommen. Georg ist aus verschiedenen Perspektiven aber nicht immer der selbe Georg. So wie wir selbst aus der Perspektive aller, die uns kennen oder von uns wissen, ganz verschieden sein können. Selbst die Sicht auf sich selbst kann mit einem Mal zu wanken beginnen, durch Lebenskrisen, markante Einschnitte. Ist jede Person nur ein Konstrukt aus Wahrnehmung und Inszenierung?

Selbstgemalte Kleinigkeiten – im Lockdown anlässlich des Buches gemalt © Jürgen Bauer

Es ist eine uralte Frage, ob es das Ich überhaupt gibt – und wenn ja, welches Ich. Da braucht man nicht bis zu Kleists «Amphytrion» zurückgehen. Ich wollte es eine Nummer kleiner haben … Ausgangspunkt des Romans war die Beobachtung, dass selbst engste Freunde und Familienmitglieder völlig unterschiedliche Beschreibungen widergeben, wenn sie einen Menschen portraitieren sollen. In «Portrait» ist das ins Extrem getrieben: Ein Mann, der selbst nicht mehr weiss, wer er ist, weil er der Welt zu lange so viele verschiedene Gesichter präsentiert hat. Und das kombiniert mit der Frage, ob wir überhaupt von anderen Menschen erzählen können – oder insgeheim doch immer von uns selber reden, wenn wir ein fremdes Leben widergeben. Ob das heisst, dass wir alle nur Konstrukt und Inszenierung sind? Ich tu mir schwer mit so allgemeinen Aussagen. Bei «Portrait» ist es jedenfalls so, und es hat einen riesen Spass gemacht, das zu schreiben – mit all den literarischen Verwirrungen, die man daraus basteln kann. 

Geschichten vom Widerstand während des Nationalsozialismus kennen wir. Georgs Mutter, die erste, die in Ihrem Roman von ihrem missratenen Sohn erzählt, ist eine vom Leben gestrafte Frau. Verbittert und vernarbt. Ihr Mann, untergetaucht, weil er „den Mund nicht halten konnte“, liess sie damals schwanger mit Hof und Familie allein. Eine Frau, die sich selbst nach dem Krieg noch gestraft fühlte. Das zeigt sich auch in der Erzählstimme. Gab es da ein reales Vorbild, einen Sound im Ohr? Mit Jahrgang 1981 muss eine solche Stimme wie aus einem anderen Jahrtausend „klingen“.

Notizbücher © Jürgen Bauer

Die Stimme Mariedls klang beim Schreiben nie fremd, im Gegenteil! Meine Grosseltern väterlicherseits hatten einen Bauernhof im Burgenland, in einem kleinen Dorf. Ich kenne den Klang, die Redensweise. Meine Grossmutter, andere Verwandte, Dorfbewohner – sie alle habe ich «angezapft». Und musste dennoch viel recherchieren. Es gibt, den Archiven sei Dank, viele Bücher, auch Ton- und Videoaufnahmen von alten Bäuerinnen. Mir war es extrem wichtig, die Stimmen der drei Erzähler genau zu treffen. Ich hasse Bücher mit verschiedenen Ich-Erzählern, die schlussendlich alle wie die Autorin oder der Autor klingen. Es war die Hauptarbeit im Schreibprozess, die Stimmen zu entwickeln.

Georg ist schwul. Er wächst nach dem Krieg in einem Dorf auf, in dem ein solches Anderssein mehr als bloss ein Makel ist. Dazu die Ablehnung und das Gefühl des permanenten Nicht-Genügen, dass von seiner Mutter über ihn gegossen wurde. Da muss unweigerlich ein Trauma wachsen. Er lernt in Wien Gabriel kennen. In einer Stadt, die seine Feindschaft der Homosexualität gegenüber ganz offen und in aller Hässlichkeit zeigt. Noch immer ist die Stigmatisierung des „Ungewöhnlichen“ tief im Menschen verankert, auch wenn eine gewisse Öffnung zu spüren ist. Glauben sie an eine Gesellschaft, in der Menschen als das geschätzt werden, was sie sind?

Ich weiss nicht, ob wir je für das geschätzt werden, was wir wirklich sind. Wir spielen meist Rollen – und die sind gesellschaftlich geprägt. Sogar die Befreiung der Schwulen und Lesben war ja nur möglich, weil diese Gruppen plötzlich für ihre Kaufkraft geschätzt wurden – ökonomische Gründe spielen bei gesellschaftlicher Anerkennung ja immer eine Rolle! Wer Geld hat, wird geschätzt. Wie schon Pollesch sagt: «Liebe ist kälter als das Kapital.» Aber der Roman zeigt ja nicht nur die Ablehnung, sondern auch die anarchische, lustvolle, verspielte Schwulenszene der siebziger Jahre. Es hat Spass gemacht, die wilden Aktionen, Bälle, Proteste zu beschreiben, den Zusammenhalt und Streit der Szene. Wir werden vielleicht nicht von allen akzeptiert für das, was wir sind – aber von manchen schon. Und Qualität ist besser als Quantität. Für alles andere muss man kämpfen – und die besonders Bornierten reizen, provozieren, ihnen metaphorisch ins Gesicht schlagen, wie mein Erzähler Gabriel sagen würde.

Georg tut fast alles, um seine Fassade aufrecht zu halten. Das tat schon seine Mutter auf ihre eigene Weise. Das tut Georgs Freund Gabriel und Georgs Frau Sara. Künstler tun es sehr oft auch. Man pflegt das Klischee des Übermenschen. Schwäche, Unsicherheit, Zweifel kaschiert man gerne mit dicker Fassade. Selbst Schriftstellerinnen und Schriftsteller tun es mit jovialer Geste am Fernsehen, in Talkshows oder im Feuilleton. Belügen wir uns selbst?

Jürgen Bauers Kunstwand als Inspiration © Jürgen Bauer

Ich habe das Gefühl, dass es in Zeiten von Social Media und medialer Dauerpräsenz eine Gegentendenz gibt. Die dauernde Selbstentblössung, das Zu-Markte-Tragen der eigenen Verletzungen, das Zu-Geld-Machen des eigenen Lebens inklusive aller Verletzungen. Es wurde fast zum Imperativ: Sei du selbst, zeige dein Innerstes. Nicht umsonst ist der Buchmarkt voll mit Authentizitätsliteratur, mit Ich-Büchern. Das wollte ich nicht bedienen. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Entwicklung, Masken als Schutz und Selbstschutz zu nutzen. Extreme sind selten gut – und die Figuren in «Portrait» kämpfen darum, zwischen Verlust des Ichs und völliger Selbstentblössung einen Weg zu finden, den sie leben können. Sara zum Beispiel gelingt das ja ganz gut, den Umständen entsprechend.

Sara heiratet Georg. Eine Ehe als gegenseitige Sicherheit, als Rückendeckung, Eckpfeiler einer perfekten Kulisse. Und gleichzeitig akzeptiert Sara die Lüge, weil sie weiss, dass sie zum Gefüge ihrer Ehe gehört, ein Teil des Fundaments ist. Wir verbinden Lüge mit Unwahrheit, dabei baut jede und jeder an seiner Lebenslüge. Ist die Lüge nicht Teil des menschlichen Seins? Viel mehr als eine lasterhafte Sünde?

Ich habe nichts gegen die Lüge. Man kann in der Gesellschaft nicht ohne Lüge leben. Wenn man immer man selbst ist, erträgt man die Verletzungen irgendwann nicht mehr. Lügen können helfen, Schmerz zu vermeiden – und anderen Schmerz zu ersparen. Und manchmal macht das Lügen, das Maskenspiel, das Vortäuschen ja auch einfach nur Spass. Wie immer macht die Dosis das Gift!

Welches Buch hat sie in den letzten Monaten aus den Socken gerissen? Und warum?

Annie Ernaux – «Die Scham»
Weil sie ein riesen Einfluss für mich war. Weil sie die eigene Psyche seziert – und dazu die ganze Gesellschaft. Weil sie über Klasse schreiben kann, wie das nur Franzosen hinkriegen, neben ihr Didier Eribon, Eduard Louis usw…

Gabriele Kögel – «Gipskind»
Weil es Parallelen zu meinem Roman gibt, der dann doch ganz anders ist. Weil sie mich zum Weinen gebracht hat, ohne kitschig zu werden. 

 Christoph Szalay – «Raendern»
Weil er Heimat definiert und seziert, weil die Sprache dieses Textes zwischen Lyrik und Prosa einfach der Wahnsinn ist.

 Und noch viele andere: Sandra Gugic, Helena Adler, Dennis Cooper – dessen „Die Schlampen“ zum Beispiel ist ein wildes, dreckiges Gegenbeispiel zu den gerade so beliebten „braven“ Romanen über schwules Leben von zumeist heterosexuellen Frauen 😉

© Daniel Schönherr

Jürgen Bauer wurde 1981 geboren und lebt in Wien. Im Septime Verlag erschien sein Debütroman «Das Fenster zur Welt» und drei weitere Romane. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auserdem auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch «No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky» in der Edition Steinbauer. Jürgen Bauer erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, 2014 unter anderem ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. 

Rezension von «Ein guter Mensch» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige», Dumont

Johanna von Kastilien war Königin von Kastilien, Aragón und León. Als sie 1555 starb, hatte sie fast 50 Jahre in einem Kloster verbracht. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil das Leben sie in jene Isolation getrieben hatte – nicht die einzige Isolation, die die Frau erdulden musste. Mit „Die Wahnsinnige“ schrieb Alexa Hennig von Lange einen beeindruckenden Roman über ein exemplarisches Opfer der Geschichte.

Königin oder König sein. Uneingeschränkt regieren über Land und Untertanen. Ein Reich nach eigenem Gutdünken formen und gestalten. Eine beinahe kindliche Illusion! Johanna von Kastilien wurde 1479 in Toledo geboren, war Tochter von Königin Isabella I, die drei Jahrzehnte lang, bis zu ihrem Tod 1504 auf der spanischen Halbinsel gestreng und mit eiserner Hand regierte. Mutter Isabella beschäftigte sich viel mehr mit ihren Aufgaben als Regentin und führte die Inquisition ein, als dass sie eine liebende und sorgende Mutter gewesen wäre. So sehr ihr Leben in die Zwänge einer Königin eingespannt war, so sehr machte sie das Leben ihrer Tochter Johanna zu einer ungebrochenen Folge von Fremdbestimmung und Zweck. Nicht verwunderlich, dass Johanna schon früh als introvertiert, sensibel und verschlossen galt.
Sehr jung verheiratete man sie aus strategischen und politischen Gründen mit Philipp dem Schönen. Eine Ehe, die durchaus mit heftigen Gefühlen füreinander einherging, aber auch mit ebenso leidenschaftlicher Eifersucht, denn ihr Gemahl Philipp nahm den Treueschwur alles andere als ernst. Johanna gebar in der Folge sechs Kinder. Kinder, denen sie eigentlich eine gute Mutter sein wollte, denen sie all das geben wollte, was ihr ihre eigene Mutter verweigerte. Aber weil Johannas Wesen unberechenbar zu sein schien, sperrte man sie in die Festung La Mota in Kastilien, weit weg von ihren ersten Kindern, die in Flandern bei Gouvernanten am Hof ihres Ehemannes aufwuchsen.  

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige» Dumont, 2020, 208 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8321-8127-7

Alexa Hennig von Lange setzt mit ihrem Roman in jenen Tagen ein, in denen Johanna klar wird, dass die Festung La Mota nicht Zwischenstation ist, sondern ein Gefängnis, sie die Geisel der Politik ihrer Mutter. Dass man sie im ganzen Land „Die Wahnsinnige“ nennt, ist ebenso Strategie wie Verurteilung. Wen wundert es aus heutiger Sicht, wenn man Regentin ohne Macht ist, von seinen Kindern, der Liebe abgeschnitten, mehr bewacht als umsorgt und von den Priestern ihrer Mutter zur Beichte gedrängt und bedrängt.

Aber warum einen Roman schreiben, der im ausgehenden Mittelalter spielt? „Die Wahnsinnige“ ist ein Roman über das Leben einer Frau in den Zwängen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Solche Schicksale sind mit dem Mittelalter nicht verschwunden. „Die Wahnsinnige“ ist der Roman über eine starke Frau, die alles daran setzt, aus den ihr vorbestimmten Wegen auszubrechen, die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen will und daran scheitert. Auch solche Geschichten sind Tatsache in der Gegenwart. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, einer jungen Mutter, die bereit ist, alles daran zu setzten, nicht in die Fussstapfen anderer treten zu müssen. Eine Geschichte der Emanzipation. Bin ich, was ist will? Lebe ich jenes Leben, das es sein sollte? Was zwängt und bedrängt mich, damit ich bleibe, wo ich bin?

Johannas Rolle als Königin war ein Fluch, hat ihr Leben zu einem einzigen Martyrium gemacht. Alexa Hennig von Langes Roman ist fiktionale Geschichte. Ich als Leser begleite das Leben Johannas derart nahe, dass es schmerzt. „Die Wahnsinnige“ ist ein universales Muster des Scheiterns. Alexa Hennig von Langes Johanna ist knapp über zwanzig und leidet an all dem, was das Leben einer jungen Frau traumatisch machen kann. Johanna von Kastilien lebte ein Leben lang auf dünnem Eis mit der ständigen Angst einzubrechen, unsäglich weit weg von den Menschen, die ihr am Ufer dieses kalten Sees zuschauen.

„Ich glaube, ich wär eine gute Regentin.“

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman «Relax» 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane «Risiko» (2007), «Peace» (2009), «Kampfsterne» (2018) und «Die Weihnachtsgeschwister» (2019). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Marcus Höhn

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin

Annette Mingels schrieb mit „Dieses entsetzliche Glück“ einen Episodenroman. Fünfzehn Geschichten, fünfzehn Leben. Leben, die oftmals ganz nah aneinander vorbeischrammen, sich für kurze Zeit mehr oder weniger begegnen. Leben, denen man aus verschiedenen Perspektiven begegnet, als würde man von Person zu Person springen und sich durch den Kosmos einer Kleinstadt tragen lassen. Grossartig gezeichnet!

Hollyhock liegt irgendwo in Virginia. Aber Hollyhock liegt überall, genauso in Schlesien oder im Thurgau, irgendwo, etwas abseits, ziemlich weit weg von der nächsten grossen Stadt und in der letzten Zeit ganz ordentlich gewachsen. Eine Kleinstadt, in der alle alle kennen, in der nur wenig verborgen bleibt, und wenn es aufbricht, dann weil es ein Leben lang moderte. 

«Ich bin zurück», flüsterte er, und als ihre Augenlider flatterten, lehnte er sich dicht neben sie, einen Arm um sie geschlungen, als könnte er sie beide auf diese Weise retten.»

Man lebt während Jahrzehnten in einer Beziehung, um dann irgendwann festzustellen, dass es das falsche Leben war, dass man austreten will. Nicht weil Hass, Enttäuschung oder Verzweiflung alles verändert, sondern weil mit dem Auszug der Kinder die alles bestimmende Aufgabe genommen wurde, die Aufgabe, die alles zusammenhielt.
Man lebt sein Leben lang ein Leben, dem man eigentlich eine andere Richtung geben will.
Man lebt ein Leben, in das man hineinrutschte, dass irgendwann wie ein fremder Mantel zu seinem eigenen wurde, der aber doch nie passte, zu gross, zu klein, oder einfach falsch.
Eine Ehe zerbricht, weil die eine Seite sich von der andern Seite abwendet, weil man im Bruch von Konventionen Auffrischung erhofft, die dann aber mehr zerstört als zulässt.

«Und nachdem sie einige Minuten auf dem Sofa gesessen und geweint hatte, verliess sie das Haus, das ganz so aussah, als wäre nichts geschehen.»

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels beschreibt die amerikanische Mittelschicht. Man lebt in guten Berufen, verdient gutes Geld, lebt in grossen, manchmal auch viel zu grossen Häusern. Die Strassen sind sauber und in den Gärten wehen die Wimpel zu den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren. Trotzdem fehlt den Menschen die Zufriedenheit, das Glück. Es sind bloss ganz kurze Momente, die das Glück ausmachen und sie stehen in keinem Zusammenhang mit Status, Erfolg, nicht einmal mit der Liebe zu anderen Menschen. Annette Mingels beschreibt Menschen, die nicht angekommen sind, die sich in Umlaufbahnen verlieren.

«Sie stellte ihn sich vor: einsam und nass. Den Kopf vorgereckt, irgendetwas witternd, bereit zur Flucht.»

Wer eine in sich geschlossene Geschichte erhofft, wird enttäuscht sein. Aber genau dieses scheinbar Zufällige macht den Reiz dieses Romans aus. Er zeigt genau das; wie jeder von uns in seinem Leben eingespannt ist. Man begegnet Menschen und ihren Geschichten. Die einen haben mit den anderen zu tun, die Getroffenen selbst sehen sich nur aus der Distanz. Ich mache mir mein Bild, mache mir Geschichten, mache mir meinen Reim. Keine einzige Geschichte, nicht einmal die eigene, erzählt sich chronologisch. Die Chronologie zwingt sich durch unseren Ordnungswillen auf.

«Hinein ins Helle und Warme. Wenigstens für kurze Zeit.»

Was bei Annette Mingels Erzählen beeindruckt, ist ihre Nähe zu den Personen und ihr Geschick, sich nicht durch Deutung und Psychologie aufzudrängen. Jede Episode hat das Zeug zu einem ganz eigenen Drama; Dramen, die ausbrechen, Dramen, die sich anbahnen, Dramen, die sich abwenden oder ersticken. Jede dieser Episoden hätte das Potential zu einem eigenen Roman.

Manchmal, wenn nachts der Zug in einer Vorstadt stehen bleibt und man mit einem Mal die Gelegenheit hat, in die hell erleuchteten Wohnungen hineinzublicken, sucht der Blick nach den kleinen und grossen Theatern, die sich im Scheinwerferlicht der Normalität abspielen. Annette Mingels tut genau dies. Sie blickt hinein. Sie tut es ohne Voyeurismus, tut es mit aller Behutsamkeit. Der Titel des Romans „Dieses entsetzliche Glück“ beschreibt genau jenen Kippzustand, jenen Moment, der je nach Perspektive in ganz anderm Licht steht, dann ist der Titel zu diesem äusserst gelungenen Kunstwerk perfekt.

«Dieses entsetzliche Glück, hier zu stehen und Kenji wieder nah zu sein.»

Und dann sind da die letzten Sätze zu den Geschichten, von denen einige hier in die Rezension eingefügt sind. Wie die leuchten!

Interview

Sie lebten in Deutschland und in der Schweiz und seit ein paar Jahren in San Francisco. Warum ist Ihr Roman ausgerechnet in Virginia angesiedelt?

Vor einiger Zeit wohnte ich für zwei Jahre in der Nähe von New York – es war eine Gegend, die ich von meiner Kindheit her kannte; meine Verwandten lebten dort und ich hatte sie mehrere Male besucht. Mir waren von damals viele Erinnerungen geblieben und eine Vorliebe für die kleinen Städte im Osten des Landes. Virginia habe ich während einer Reise kennen gelernt, und als ich nach einem Ort in Amerika suchte, an dem mein Roman spielen könnte, kam mir eine Kleinstadt dort in den Sinn. Hollyhock ist eine Mischung aus Realem, Erinnertem und Imaginiertem geworden.

Ihr Roman ist aufgebaut wie ein „Episodenfilm“. Als ich vor bald zwanzig Jahren den Film „L.A. Crash“ sah, war der Film eine Offenbarung. Auch wenn die Dramen in ihrem Episodenroman viel subtiler und stiller sind – was reizte Sie an dieser Erzählform?

Ich habe zwei literarische Vorlieben, die Eingang in das Buch fanden: in stilistischer Hinsicht liebe ich sowohl den weiten Bogen des Romans als auch die Pointiertheit der Kurzgeschichte; ein Episodenroman kann beides wunderbar verbinden. Und in inhaltlicher Hinsicht liebe ich die Darstellung konkreter Personen, konkreter Lebensumstände, die den Fokus eher auf den Einzelnen als auf das grosse Ganze richtet. Ich mag es sehr, Personen in kurzen Episoden nahe zu kommen – es sind Einblicke in verschiedene Leben, nichts ist auserzählt. Den Film „L.A.Crash»  kenne ich nicht, aber den Film „Shortcuts“ habe ich damals sehr gemocht.  

Ihr Roman spiegelt das Leben einer gehobenen Mittelschicht in den USA. Ist er jene Gesellschaft, weil Sie ein Teil dieser sind oder weil es eine wegbrechende Spezies ist?

Es ist nicht nur die gehobene Mittelschicht, die vorkommt, sondern auch eher einfache Leute, wie eine Drogeriemitarbeiterin oder ein Schreiner. Aber es stimmt schon: Ich habe nicht über Leute am Rand der Gesellschaft geschrieben, und auch die meisten Probleme, die ich darstelle, sind nicht extrem – auch wenn sie sich für den Einzelnen bisweilen so anfühlen können. Ich gehe beim Schreiben nicht so rational vor, dass ich mir vorher überlege, über welche Gesellschaftsschicht ich schreiben möchte. Es ist mehr so, dass mir ein Bild, eine Situation, eine Figur in den Kopf kommt, und sich daraus eine Geschichte entwickelt, die mich bisweilen selbst überrascht. Und das sind dann vielleicht tatsächlich eher Themen und Personen, die mir irgendwie vertraut sind. Zudem habe ich gewisse Hemmungen, über Dinge zu schreiben, die ich nur von aussen beobachtet oder mir angelesen habe.

Obwohl Sie ganz nah gehen, verlieren Sie sich nie in Details. Trotz der Nähe bleibe ich als Leser auf Distanz, weil sie weder deuten noch erklären, schon gar nicht psychologisieren. Wie sehr mussten Sie sich während des Schreibens vor allzu grosser Nähe zu Ihrem ProtagonistInnen „schützen“?

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man über eine Figur, über die man schreibt, viel mehr wissen muss, als man dann in der Geschichte selbst beschreibt. So ist das bei mir auch: viele meiner Figuren, eigentlich alle, sind mir sehr vertraut, aber nicht alles an ihnen breite ich für den Leser oder die Leserin aus, es schwingt eher mit. Die Konkretion, mit der ich die Figuren in ihrem Handeln vor mir sehe, verhindert vielleicht, dass ich als Erzählerin zu sehr erkläre und erläutere: es ist mehr so, dass ich das, was ich vor meinem geistigen Auge sehe, hinschreibe. Am ehesten kann man das vielleicht mit einem Film vergleichen, in dem ja auch mehr gezeigt als erklärt wird. 

Und doch spürt man wenig von dem, was man als Europäer nach den vergangenen Präsidentschaftswahlen beinah befürchtete; diesen Riss durch die Gesellschaft, der ein Land zu spalten droht. Ist das nur die Sicht aus der Ferne oder Realität?

Ich glaube durchaus, dass es diesen Riss gibt – und nicht erst seit Trump. Es gibt zahlreiche politische und soziale Gründe dafür – angefangen beim Zweiparteiensystem über ein insuffizientes Gesundheitssystem bis hin zu den Bildungseinrichtungen, die je nach finanzieller Situation der Eltern ganz unterschiedliche Möglichkeiten bieten. In meinem Buch gib es schon ein paar Hinweise auf ethnische, ökonomische und soziale Gefälle, aber diese sind meist auf den Kosmos der Kleinstadt beschränkt. Eine Analyse der amerikanischen Gesellschaft zu geben, war nicht mein Anspruch – ich traue es mir als Europäerin auch nicht zu. Ich beschränke mich in meinem Schreiben auf die privaten Konflikte und Nöte der Figuren, wobei diese ja durchaus von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst sind. Hätte ich dieses Buch in den letzten Monaten und nicht schon im vergangenen Jahr geschrieben, würden politische Themen jedoch wohl mehr Eingang gefunden haben, ganz einfach, weil die Politik und ökonomischen Nöte in 2020 ein dominanteres Thema für jeden Einzelnen hier in den USA waren. 

Welches Buch aus Ihrem Bücherregal lässt sie momentan nicht los?

Ich lese gerade das neue Buch von Ali Smith, „Winter», und die neue Erzählsammlung von Richard Ford „Irische Passagiere“. Beide liebe ich sehr – Ford für seine Eleganz, die er in Kurzgeschichten viel eher hat als in seinen viel zu langen Romanen. Und Smith’ Bücher liebe ich dafür, dass sie so seltsam sind; sie haben stets etwas leicht Skurriles an sich, das man nicht so recht zu fassen bekommt.  

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Was alles war» von Annette Mingels auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders

Frédéric Zwicker «Radost», Zytglogge

Fabian verliert seinen Job bei einer Lokalzeitung. Und weil ihm der Zufall eine Reise schenkt, macht er sich mehrfach auf; zweimal an den Strand von Sansibar und viel länger als beabsichtigt nach Zagreb, einer Stadt, die ihn aufnimmt und ihm etwas schenkt, was in seinem Städtchen zuhause nicht erreichbar schien. Frédéric Zwickers zweiter Roman „Radost“ berührt.

Fabian gewinnt eher zufällig einen Weihnachtswettbewerb: Einen Flug nach Sansibar und sechs Nächte Unterkunft im Hotel Emerson Spice in Stone Town. Fabian fliegt hin, weil es eine Schande gewesen wäre, das Geschenk in den Wind zu schlagen und weil er Mahmut, seinen Nachhilfeschüler nicht enttäuschen wollte, der für ihn beim Wettbewerb mitgemacht hatte.
 In Sansibar am Strand lernt er einen aufdringlichen, lauten Landsmann kennen. Einen Schweizer im Massai-Kostüm, mit Kurzschwert an der Hüfte und langem, dünnen Gehstab. Es bleibt nicht die einzige Begegnung zwischen Fabian und Max, dem auf- und abgedrehten Landsmann am Stand. Fabian rettet ihm wahrscheinlich sogar das Leben, denn der «weisse Massai» bleibt nach zwei Messerstichen im Sand liegen.
Jahre später, nach einem Konzert von Johan, Maxens Bruder, treffen sich die beiden wieder im „Ochsen“ und Max schlägt ihm vor, nachdem Fabian eine durchaus erfolgreiche Reportage über ihn, den seltsamen Landsmann geschrieben hatte, eine Biographie über ihn zu schreiben. Fabian ahnt, dass er sich in eine wirre Geschichte hineinziehen lassen könnte, lehnt vorerst ab. Aber nachdem seine Stelle in einer Lokalzeitung nach der Fusion mit einer andern Lokalzeitung den „Synergien“ zum Opfer fällt, wird aus dem schnell abgelehnten Angebot ein Rettungsanker. Max stammt aus reichem Haus! Sein Vater war Besitzer einer kleinen aber feinen Privatbank!

Frédéric Zwicker «Radost», Zytglogge, 2020, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-7296-5055-8

Max ist nicht irgend ein Max. Max tritt auch nicht einfach so als weisser Massai am Stand von Sansibar auf. Max ist ein Getriebener, ein von einer Krankheit Gebeutelter: Er leidet unter schizoaffektiven Störungen, macht sich in manischen Phasen zum Narren. Max erklärt: „Es kommt mir vor, als gingen die Menschen in unserer Gesellschaft alle gradeaus, mit ausgestreckten Speeren. Wenn jemand aus dem Trott fällt, stehen bleibt oder die Richtung wechselt, wird er aufgespiesst.“ Das ist seine positive Sicht. Doch Max endet des öftern im Abseits; auf dem Polizeiposten, im Gefängnis oder in der Klinik. Und weil sich Max durch das Suchen und Finden eines anderen Klärung in seinem Leben verspricht, soll Fabian sein Biograph sein, Nachforschungen darüber anstellen, was in jenen Zeiten geschah, als das Leben von Max aufgespiesst wurde.

Fabian bekommt Geld, Kontaktdaten, Adressen und macht sich auf, weil auch sein eigenes Leben aus Tritt und Trott gefallen ist, auf die Spurensuche eines seltsamen Zeit- und Artgenossen. Zurück ins reiche Elternhaus, ins Nobelinternat in St. Gallen, seinen ersten Emanzipationsversuchen. Schlussendlich wird daraus eine Radtour über Kärnten bis nach Zagreb und wieder zurück an den Stand von Sansibar, wo zwei Messerstiche beinahe das Ende bedeutet hätten.

Fabian macht sich auf, weil ihn die Reise lockt, das Abenteuer, die Spur, das Fremde. Diese eine verrückte Radost nach Zagreb, für mehrere Monate weich finanziert in einer Stadt, die er bisher nur mit Trainerhosentypen verband und  für ihn wie damals für Max zur Offenbarung wird. Er, dem es bisher nicht leicht fiel, Freundschaften zu schliessen, wird Teil einer ganzen Klicke, lernt Ana kennen, taucht ein in fremde Leben, erfasst immer mehr von Mad Max, macht eine Reise; eine Reise für Max, die dieser nicht zu tun vermag, eine Reise für sich, weg aus seinen starren Banden und eine Reise in die Welt – über Zagreb bis nach Sansibar.

„Radost“ heisst auf kroatisch „Freude“. Und es macht Freude, in Frédéric Zwickers zweiten Roman einzusteigen, um sich eine Reise lang in seinen Windschatten zu begeben. Wie schon in seinem Debüt „Hier können Sie im Kreis gehen“ erzählt Frédéric Zwicker witzig und pointenreich. „Radost“ löst die Rätsel um Max nicht. Max bleibt ein Rätsel, so wie letztlich alle Rätsel bleiben, selbst die nächsten, selbst jene, an die man sich verliert. Frédéric Zwickers Reise ist nicht überfrachtet, bleibt behutsam. Wer erfahren will, erfährt unweigerlich auch vieles über sich selbst. Wer aufbricht, gewinnt immer, wenn auch nicht dort, wo man sich den Gewinn erhofft.

Interview mit Frédéric Zwicker:

Dass es Sansibar und Zagreb sein müssen, scheint alles andere als zufällig. Ich weiss, dass es dich vor allem musikalisch in den vergangenen Jahren immer wieder nach Zagreb gezogen hat. Aber warum Sansibar? Liegt es an der Magie des Namens, der, zumindest für mich, Sehnsucht suggeriert?

Im Jahr 2013 war ich für einen sechsmonatigen Arbeits- und Reiseaufenthalt im östlichen und südlichen Afrika unterwegs. Zwei Wochen verbrachte ich auf Sansibar. Dort hörte ich die Geschichte der falschen Massai, also jener Männer, die keine Massai sind, sich aber als solche verkleiden, um erfolgreicher im Souvenir- und im Sextourismus-Geschäft zu sein. Diese Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Kopf und wurde zur Initialzündung für «Radost».
Sansibar steht für mich in gewisser Weise stellvertretend für die Erfahrungen, die ich während meiner Afrika-Reise in sechs verschiedenen Ländern machte. Meine Vorstellungen und Vorurteile zerschellten täglich an den Realitäten, denen ich begegnete. Da liegt für mich die Parallele zu Zagreb und zu Ex-Jugoslawien. Auch dort zeigte die intensive Auseinandersetzung mit Menschen und Kultur bald, dass mein Balkan-Bild völlig klischiert und verzerrt gewesen war.
Die Magie des Namens, wie du es nennst, spielte aber durchaus auch eine Rolle. Ich wollte sie einem kritischen Blick unterziehen und schauen, was am Ende davon übrigbleibt.

Max beauftragt Fabian, über ihn eine Biographie zu schreiben. Max ist aber weder uralt noch berühmt. Er braucht diesen Text wahrscheinlich nur, weil er sich selbst verstehen will, sein Leben, seine Krankheit, seine Aussetzer, das, was er durch sein Tun auslöste und bewirkte. Und Max hat Geld. Ist dein Schreiben auch der Auftrag an dich, dein eigenes Leben besser zu verstehen? Eine Art Sicht von „aussen“?

Nein. Mir geht es beim Schreiben nicht um mich, auch wenn der Einfluss, den ich mit meinem Denken und Fühlen auf meine Texte habe, natürlich gross ist. Aber umgekehrt ist das auch der Fall. Ich bin für die Arbeit an „Radost“ mit dem Velo von Rapperswil nach Zagreb gefahren, habe dort ein halbes Jahr, auf Sansibar fünf Wochen gelebt und gearbeitet. Das hätte ich nicht getan, wenn ich nicht dieses Buch hätte schreiben wollen. Mein Leben beeinflusst also mein Schreiben, mein Schreiben aber auch mein Leben. Durchs Schreiben lerne ich so durchaus sehr viel über mich. Das ist aber nur da und dort das, was am Ende zwischen den Buchdeckeln steht.

Das „Städtchen“ hier und Zagreb dort. Das eine Rapperswil, das andere eine Metropole. Was hat das eine, was dem andern fehlt?

Zuerst eine Parallele: In beiden Städten gibt es Menschen, die sich für eine vielfältige, kritische Kultur interessieren und einsetzen. Und da wie dort gibt es politischen Widerstand gegen zu viel Lebendigkeit. Aber in Zagreb ist das kulturelle Angebot viel reichhaltiger als hier. Es gibt dort mehr Freiräume, auch wenn sich meine Freunde in Zagreb darüber beklagen, dass diese ständig schrumpfen. Ebenfalls ein Unterschied: In Rapperswil sind fast alle Häuserfassaden makellos. Zagreb bröckelt vielerorts. Könnte es sein, dass die Fassade in der Schweiz generell wichtiger ist als in Ländern, wo die Wirtschaft nicht gar so tonangebend ist?

Ist Max erfunden oder ein Zusammenzug verschiedenster Charakteren? Oder steckt in dieser nur schwer fassbaren Person gar ein Spiegelbild?

Max ist inspiriert von einem Freund von mir. Der war nie in Sansibar und hat Zagreb das erste Mal gesehen, als er mich dort besucht hat. Auch seine Familiengeschichte, wie sie im Buch dargestellt ist, ist frei erfunden. Aber im Kern ist Max› Biographie, die Fabian im Buch recherchiert und aufschreibt, eine wahre Geschichte.
 

Max passt nicht in die von unserer Gesellschaft vorgegebenen Schemen. Zumindest dann nicht, wenn ihn seine Krankheit packt und Dinge tun und sagen lässt, die sich allen Konventionen entziehen. Dabei tragen doch die meisten Menschen die Lust mit sich, aus Konventionen auszusteigen, sei es auch nur für einen kurzen Moment, alle Hemmungen zu verlieren. Wie sehr rüttelt diese Lust an dir? Ist deine Musik ein Ventil dafür?

Der Ausbruch aus der Norm ist etwas, was mich schon in meiner Kindheit antrieb. In der ersten Klasse sang ich dem Samichlaus vor versammelter Klasse eine Version von „Was isch das für es Liechtli“ vor, bei der der Samichlaus am Ende stirbt. Der Lehrer rief meine Mutter an und klagte, ich hätte etwas wahnsinnig Schlimmes gemacht. Sie dachte an sexuellen Missbrauch oder schwere Körperverletzung und konnte das Lachen knapp unterdrücken, als er ihr erzählte, was passiert war. Solche Geschichten gibt es viele. Und ja, meine Musik und die Auftritte auf der Bühne sind sicher auch von der Lust am Unkonventionellen und auch an der Hemmungslosigkeit geprägt. Allerdings bin ich in den letzten Jahren viel ruhiger geworden. Mein Interesse am Unkonventionellen ist aber unvermindert gross.

Welcher Buchtitel lässt dich warum nicht los? Welcher Song?

Das kann ich eigentlich unmöglich beantworten, weil es von beidem zu viele gibt. Aber wenn ich ein Buch nennen müsste, wäre es wohl «Frederick“ von Leo Lionni. Ich habe das Bilderbuch über die Maus, die keine Nüsse, dafür Farben und Wörter sammelt und Geschichten erzählt, zur Taufe geschenkt gekriegt. Wundersamerweise wurde es mir ein wenig zur Biographie.

Und ich entscheide mich für den Song „Ovaj ples dame biraju“ der wohl berühmtesten jugoslawischen Rockband „Bijelo Dugme“. Das war eines der ersten jugoslawischen Lieder, die ich hörte. Später befasste ich mich intensiv mit der Musik Ex-Jugoslawiens. Es lohnt sich sehr, das Musikvideo zum Song auf Youtube anzuschauen.

Frédéric Zwicker als Bandmitglied von «Hekto Super» mit «Kleine Männer»

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche.

Rezension von «Hier können Sie im Kreis gehen» auf literaturblatt.ch