José Eduardo Agualusa „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, C. H. Beck

Ein Roman wie ein verschlungenes Wurzelwerk. Ein Roman, dessen Autor einem unweigerlich zum Freund wird, weil er mich verzückt, in Trance versetzt. Darf man überschwänglich sein? Ich bin es. Dieser Roman ist ein Meisterwerk. Er protzt nicht. Dafür ist er schlicht genial.

Es sind die ineinander verschlungenen Geschichten um Ludovica, ein lichtscheues Wesen. Perlenschnüre, die sich ranken und winden, jede einzelne ein Schmuckstück. Eine Art literarische Fuge, die aber derart natürlich gewachsen scheint, dass er für mich rätselhaft bleibt, wie ein Autor mit absolut unverkrampfter Leichtigkeit so schreiben kann. Ein Werk voller Überraschungen, bunter Charakteren. Ein Feuerwerk an Fantasie und sprachlicher Kreativität. Ein Buch, an dessen Ende man mit Verwunderung und Wehmut zurückblättert, überall noch einmal hineinliest, weil man erahnt, wie viel man der Spannung wegen überlesen hat oder sich erst erschliesst, wenn einem das grosse Ganze am Schluss der Lektüre bewusst wird. Ein Kunstwerk.

Angola in den Jahren des Umsturzes. Die Kolonialmacht Portugal zieht sich aus dem Land zurück und Chaos und Willkür bricht aus. In einem Hochhaus in der obersten Etage mitten in der Stadt wohnen Orlando und Odete. Kurz bevor die Unruhen ausbrechen, nehmen sie Lidovica, Odetes Schwester, bei sich auf. Nicht nur weil sie sich künftig um den Haushalt kümmern will, sondern weil Ludo seit dem „Unfall“ mit der Welt draussen nicht mehr zurechtkommt. Ein lichtscheues Wesen, der man den Panzer raubte.

Eines Abends, kurz bevor sich die drei ins Mutterland Portugal absetzen wollen, bleibt Ludo für einen Abend allein in der Wohnung zurück. Auch am Morgen danach. Orlando und Odete kehren nicht zurück, dafür die Panik in Ludos Leben. Nachdem Fremde am Telefon etwas zurückfordern, von dem Ludo keine Ahnung hat, findet sie beim verzweifelten Suchen in den Sachen ihres Schwagers einen Revolver. Ludo schiesst durch die geschlossene Tür, als drei schwarz gekleidete Männer durch die Türe rufen. Ludo schleppt den Toten hinauf auf die Dachterrasse, wo Orlando einen Garten anlegte, vergräbt die Leiche und mauert die Tür zur Wohnung zu, mit Backsteinen und Mörtel, aus dem ein Pool hätte werden sollen.

Ludo bleibt fast drei Jahrzehnte eingeschlossen in der Wohnung hoch über der Stadt. Zusammen mit Fantasma, einem Albino-Schäferhund, weggeschlossen von allem, mehrfach nahe am Hungertod.

Die Geschichte bleibt aber nicht hinter der zugemauerten Wohnungstür. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, nimmt Ludo Einfluss in das Geschehen in der Stadt. Revolutionäre, Folterer, Täter und Opfer kreuzen sich in einem Staat, der sich über die Jahrzehnte stets neu zu erfinden versucht. Ein Gewirr aus Geschichten und Handlungssträngen, das leicht leserlich bleibt und schlussendlich scheinbar spielend die Entwirrung findet.

Nach fast dreissig Jahren schlägt ein kleiner Junge mit einer Spitzhacke die Mauer von innen auf. Alles, war in der Wohnung aus Holz war, selbst der Parkettboden, ist weg. Und weil auch kein Papier mehr für Ludos Aufzeichnungen da war, sind alle Wände in der leeren Wohnung mit Kohle vollgeschrieben. „Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein.“

Diese 188 Seiten sind literarischer Hochgenuss. Ein Roman mit einem grossen Herz, viel Melancholie und dem tiefen Glauben, dass Liebe und Leidenschaft die grössten Geschichten schreiben. Eines der Bücher, die man auf die Insel mitnehmen will. Wie schade, kann man Ludovica nicht in die Arme nehmen. Aber lesen, lesen!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für «A General Theory of Oblivion».
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Michael Kegler, Übersetzer angolanischer, brasilianischer, mosambikanischer, portugiesischer und anderer portugiesischsprachiger Literatur. Herausgeber der Website www.novacultura.de über Literatur und Musik des portugiesischen Sprachraums. Mitglied der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Birgit Vanderbeke „Wer dann noch lachen kann“, Piper

Ich las Birgit Vanderbekes neuen Roman „Wer dann noch lachen kann“ mit angehaltenem Atem. Ein Buch, das zur Sprache bringt, worüber andere schweigen. Birgit Vanderbeke traut sich hinzuschauen, tut das, was ihr Herr Winkelmann damals im Flüchtlingslager, als sie selbst ein kleines Mädchen war, ans Herz legte. Er sagte: Immer ganz genau hinschauen, hörst du!

Birgit Vanderbekes Bühne ist die Familie. Keine Bühne mit Kulissen, sondern  wahrhaftiger Hintergrund. Sie erzählt von ihrer Kindheit, die man keinem Kind wünscht. „In dieser Sache hatte ich etwas Pech.“ Was lakonisch klingt, ist Programm des Romans. Birgit Vanderbeke malt nicht den Schmerz und die Verwundung. Sie zelebriert die Kraft, die sie daraus entwickelt. Eine Kraft, die sie zu Sprache macht.

Vater und Mutter sind da, wenn auch nicht so, wie es sich für das Idyll Kleinfamilie ziemt. Vater arbeitet sich in leitende Funktion hoch in der Chemie und Mutter versucht sich nach einem Arbeitstag als Lehrerin als Mutter und Hausfrau. Was nach Familie aussieht, birgt Höllenqualen. Schon ganz am Anfang des Romans setzt die Autorin dem Schicksal des Mädchens in ihrem Buch all die Schicksale Verfolgter, Geflohener, Heimatloser, Ertrunkener gegenüber. Solcher, die nicht „bloss“ Pech mit den Eltern, sondern Pech mit ihrer ganzen Welt, selbst mit ihrem eigenen Leben hatten und haben.

Mit der Familie geflohen aus dem Osten, vorübergehend in einem Flüchtlingslager und im Westen alles daran setzend, am Aufschwung teilzuhaben, ist das kleine Mädchen, das oft nicht will, wie man es gerne hätte, eine Last, ein Prüfstein, ein lästiger Klotz. Je länger die Kampfehe der Eltern dauert, je tiefer sich die Mutter in Abhängigkeiten von Ärzten und Medikamenten, von Beruhigungsmitteln und Diagnosen verliert, desto wichtiger wird abends die starke Hand des Vaters, die den Bengel ins Lot prügeln soll. „Das Mädchen braucht eine starke Hand.“ Und wenn das noch zu wenig ist, auch einmal eine Portion Valium aus dem Tablettensortiment der Mutter.

Das Mädchen hat nur sich selbst und die tiefe Stimme im Ohr, die sie liebevoll „Karline“ nennt. Und nachts tröstet sie der Mikrochinese, dem sie alles erzählen kann.

„Sie hören dir einfach nicht zu und denken, wenn sie dir nicht zuhören, hälst du irgendwann die Klappe, bist endlich still und isst deine grünen Bohnen.“

Die Misshandlungen an der Tochter werden zum Martyrium. Bei den Ausbrüchen des Vaters bleibt es nicht. Ebenso tief gehen die verbalen Verunglimpfungen der Mutter. Beschimpfungen und Verurteilungen, die mit Mutterliebe nichts gemein zu haben scheinen. Sie beschreiben höchstens den Grad der mütterlichen Verzweiflung. Ebenso schmerzhaft sind die nicht enden wollenden Gänge zu einer ganzen Kette von Ärzten – bis es mir als Leser beinahe den Magen umdreht.

Viel später lässt sich die mittlerweile junge Frau nach einem Verkehrsunfall überreden, einen Mikrokinesietherapeuten zu konsultieren. Er würde ihre dauernden Schmerzen im Gegensatz zur traditionellen Medizin behandeln können. Was dort geschieht, unter den Händen eines alten Mannes, dessen Wesen die Verkörperung des Mikrochinesen aus der Kindheit zu sein scheint, ist viel mehr als Schmerztherapie.

Birgit Vanderbekes Roman ist nicht einfach, weil ihre Sprache den Inhalt kontrastiert. In wenigen Sätzen steckt derart viel Katastrophe, ohne dass die Autorin diese ausmalt, dass einem beim Lesen klamm wird. Warum diesen Roman trotzdem lesen? Wer nicht bloss zur Erbauung und Unterhaltung liest, wer sich wie von Herrn Winkelmann damals im Flüchtlingslager aufgefordert fühlt, genau hinzuschauen, liest dieses Buch und staunt.

Fünf Fragen an Birgit Vanderbeke:

So wie Kinder in den Jahren des unbegrenzt scheinenden Aufschwungs oft sich selbst überlassen waren, so kontrolliert sind sie in der Gegenwart, nie mehr allein, ständig in digitaler Begleitung. Letzthin beklagte sich ein in die Jahre gekommener Pädagoge am Radio, er vermisse das Kindergeschrei draussen. So sehr aus übermässiger „Freiheit“ damals Einsamkeit werden konnte, scheinen sich Kinder und Jugendliche heute in der digitalen Vernetzung zu verfangen. Welchen Rat gäben Sie einer werdenden Familie?

Die digitale Kindheit ist eine Katastrophe.
Ich mag, was Edward Snowden dazu gesagt hat: „Ein heute geborenes Kind wird nicht mehr wissen, was Privatleben ist. Es wird nicht mehr wissen, was ein Moment Privatsphäre bedeutet, einen Gedanken zu haben, der weder aufgenommen wurde, noch analysiert. Das ist ein Problem, denn das Privatleben ist wichtig, das Privatleben hilft uns zu bestimmen, wer wir sind und wer wir sein wollen.“
Und da allerdings fangen auch die kulturellen Unterschiede an. In Frankreich, wo ich lebe und wo mein vierjähriges Enkelkind lebt, sind
 die Bedingungen für eine Kindheit vermutlich etwas anders als in der Schweiz. Ganz sicher sind sie anders als in Deutschland. Hier in Frankreich werden die Kinder zunehmend nicht mehr geboren, sondern per Kaiserschnitt in die Welt befördert und sodann immer häufiger nicht gestillt, sondern mit künstlicher Nahrung gefüttert. Dies ist ein Trend in allen westlichen Ländern, der sich in naher Zukunft eher verstärken dürfte. Die Mütter in Frankreich geben – aus historischen Gründen und seit dem Ende des 2. Weltkriegs – ihre Kleinkinder sehr früh aus den Händen, oft schon im Alter von sechs Wochen, und lassen sie auswärtig betreuen. Die Folge ist in Frankreich ein, vorsichtig gesagt, kühles Verhältnis zu Kindern. Dazu paßt, dass junge Eltern schon mal den pädagogischen Rat bekommen, ihre Kinder während der ersten sechs Monate von elektronischen Medien möglichst fernzuhalten. Ab dann offenbar nicht mehr. Ich sehe im Sommer regelmäßig mengenweise Mütter, die in der Badeanstalt mit dem Display ihrer Apparate beschäftigt sind, während ihre Kinder gerade ihre ersten Kopfsprünge oder sonst irgendwas machen, für das sie sich sonderbarerweise Aufmerksamkeit, Beachtung oder sogar ein Lob gewünscht hätten, aber sie sind es nicht gewöhnt. In keinem Bereich ihres Kinderlebens. Selbst beim Essen.
Frankreich ist, was Kinder betrifft, vom ersten Lebenstag an eine weitgehend empathiefreie Zone. Entsprechend unbekümmert bedienen sich Eltern elektronischer Technologien, um sich ihre Kinder vom Leib zu halten, wobei „vom Leib halten“ ganz wörtlich zu nehmen ist: weg vom eigenen Körper. Auf Abstand. Von ganz klein an.
Umgekehrt ist es ebenfalls nicht ganz leicht: technologische und elektronische Abstinenz kann von einem bestimmten Alter an zum Handicap für ein Kind werden. Ich denke gerade jetzt oft darüber nach, weil im Augenblick unser Sohn und seine Frau der Auffassung sind, Louis sei noch nicht bereit dafür, den „kleinen Lord“ zu sehen, während ich der Auffassung bin, dass Louis besser demnächst den „kleinen Lord“ sehen sollte, als irgendwann mal bei einem Kindergeburtstag mit einem „ersten“ richtigen Film konfrontiert zu werden, den sich seine Eltern in diesem Fall nicht selbst aussuchen konnten. Nur am Rande: genau das ist im übrigen schon geschehen. Louis war mit seiner Schulklasse sogar schon zweimal im Kino, beide Male wurden Zeichentrickfilme gezeigt, die Eltern waren nicht dabei und wissen also nicht, was Louis gesehen hat. Einem solchen Kinobesuch hätte ich zum Beispiel nicht zugestimmt, während ich nichts dabei gefunden habe, mit meinem Sohn im selben Alter im Kino zuerst „Mary Poppins“, später „Sindbad der Seefahrer“ und im Alter von fünf Jahren zu Hause eine Kassette mit „Hatari“ anzuschauen, letztere Kassette übrigens so oft, dass er den Film bis heute auswendig kann. Fernsehen wiederum gab es nicht, und zwar weder für die Erwachsenen noch fürs Kind.
Das Spektrum reicht also von der kompletten Gleichgültigkeit, infolgedessen der elektronischen Verwahrlosung bis hin zu Zensurmaßnahmen im Dienste eines Kindeswohls, dessen Wahrnehmung oder auch Definition selbstverständlich im Rahmen des elterlichen Machtbereichs liegt, von dem man Eltern bitten möchte, ihn gelegentlich zu reflektieren, was aber sehr schwer ist, weil man als junge Mütter/Väter unaufhörlich mit grauenvollem pseudo-pädagogischen (wie auch pseudo-ernährungswissenschaftlichem) Zeug traktiert wird und das Kindeswohl ein heiß umkämpfter Markt mächtiger Protagonisten ist. Ich kann mich erinnern, dass ich „seinerzeit“ versucht habe, mich in der Beziehung zu unserem Sohn am liebsten überhaupt nicht pädagogisch, sondern nach Möglichkeit auf Augenhöhe zu verhalten, was ich im übrigen auch heute vertreten würde, weil ich es für ein Merkmal demokratischen Umgangs überhaupt halte.

Aus den Wunden Ihrer Kindheit wurde später schöpferische Kraft. Auch wenn der Schmerz durchdringt, höre ich keinen Zorn und schon gar keine Verbitterung. War es der Rat von Herrn Winkelmann, genau hinzuschauen, der Sie vor der seelischen Verätzung bewahrte? Nicht nur genau nach aussen hinzuschauen, sondern auch nach innen?

Ich habe diesem Onkel Winkelmann sehr vieles zu verdanken (und seiner Frau Eka und ihrem Mann, Onkel Grewatsch, ebenfalls, allen dreien): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Beispiel. Güte. Geduld mit mir und anderen. Vielfältigkeit im Leben und Denken. Aber auch eine gewisse Unerbittlichkeit. Gründlichkeit. Mut.

Sie setzen das Unglück des Mädchens von Beginn weg in Relation zu all den schlimmen Kinderschicksalen der Gegenwart. Verbirgt sich darin eine Spur Scham? Ihr Roman ist alles andere als eine nach innen gerichtete Bauchnabelschau, das das eigene Schicksal über alle andere setzt. Wieviel Optimismus ist übrig geblieben?

Keineswegs schäme ich mich für Dinge, die mir zugefügt worden sind, allerdings habe ich lange über etwas nachgedacht, was im Augenblick eine gefährliche Wendung in den westlichen Zivilisationen nimmt. Ich denke, dass ein Opfer das Recht hat, auf eine Tat hinzuweisen, die an ihm begangen worden ist. Im Strafrecht nennt man das „eine Anklage erheben“. Das Opfer ist allerdings nicht zu einem Urteil befugt. Das ist allein ein Richter. In der kürzlich zur Hysterie getriebenen „Me-too“-Welle hat man sehr genau sehen können, dass da etwas Entscheidendes vor einiger Zeit eingeführt wurde und inzwischen sehr drastisch passiert, indem nämlich die selbsternannten Opfer in unseren Kulturen zu ebenfalls selbsternannten (und von Medien in ihrer Selbsternennung ermutigten) Richtern werden. Das ist außerordentlich gefährlich, es setzt unser Rechtssystem außer kraft, und zwar nicht nur das juristische, sondern ganz allgemein unseren Kompaß, der ohnehin schon sehr ungesund auf die beiden Pole „Gut“ gegen „Böse“ zusammengeschrumpft worden ist. Das, was dazwischen liegt, nämlich der überwiegende Teil dessen, was Leben ausmacht, wird in seiner gesamten „Artenvielfalt“ mal kurz verdampft. Was inzwischen der Form nach entstanden ist, könnte man so formulieren: Jemand glaubt, dass ihm jemand anderes etwas Unerlaubtes angetan hat. Unerlaubt ist inzwischen dank unserer jahrelangen Übung in «political correctness» ziemlich vieles, manche dieser Verbote kenne ich oder kennt der „Täter» vielleicht gar nicht jeder, aber so ist es. Aufgrund dessen, was also jemand glaubt, dass ihm an Unerlaubtem angetan ist von jemandem, der vielleicht zum Zeitpunkt der Tat gar nicht wußte, dass es nicht erlaubt ist oder war, wird dieser Täter mal kurzerhand von demjenigen, der glaubt, dass ihm das angetan worden ist und von dem inzwischen jedenfalls die Medien wissen, dass es verboten ist oder war, verurteilt, und zwar immer zur Höchststrafe, weshalb ja Kevin Spacey heute seinen Beruf so wenig mehr ausüben kann wie Sebastian Edathy und Jörg Kachelmann, an dessen „Fall“ man genau erkennen kann, worum dieses Opfer-Theater geht, denn Jörg Kachelmann kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, obwohl ein Gericht ihn freigesprochen hat, und auch in Spaceys und Edathys Fall hat es entweder gar keinen Prozeß oder gar keine Verurteilung seitens eines Gerichtes gegeben. Wir sind also im Begriff, die Exekutive in den westlichen Zivilisationen aus der Instanz zu entfernen, wo sie in demokratische Verfassungen zu liegen hat und in gesellschaftliche Hände zu verlagern, die nicht dazu ermächtigt sein sollten, Urteile zu fällen und Strafen zu verhängen.

Sie erzählen in Ihrem Roman nicht aus. Da bleiben viele Leerstellen, die sich während des Lesens aber unweigerlich mit Vorstellung füllen. Manchmal beinahe penetrant, vorschnell. Sie erzählen aus einer Innensicht, spitzen zu, was mir als Leser oft den Atem stocken liess, auch aus Angst, was alles noch passieren könnte. Ihre Sprache braucht Stimme. Viele Passagen las ich laut – und sie drangen tief ein. Sie reduzieren, verdichten. Sind sie eine Dichterin?

Dichten ist rhetorisch das „Verdichten“, das metaphorische Sprechen und Denken.
In diesem Sinn bin ich absolut keine Dichterin.
Was ich tue, ist genau das Gegenteil: ich versuche, Zusammenhänge aus der Metapher rauszuholen. Ich denke – wie die meisten Frauen – überwiegend metonymisch. Das setze ich ein, um scheinbar von Stöckchen auf Hölzchen zu kommen (oder umgekehrt), assoziative Schleifen, das Abschweifen, auch manchmal das Weglassen zu erlauben, mit den Erträgen, die ich beim Abschweifen und Weglassen gesammelt habe, wieder zurückzugehen und auf diese Weise Klarheit in Verhältnisse zu bringen, die ich als „verschwiemelt“ oder auch metaphorisch verfestigt oder verknotet empfinde. Ich versuche, Klarheit zu gewinnen, weil ich glaube, dass Klarheit etwas Wunderbares und Erstrebenswertes ist.

Sie widmen Ihre Aufmerksamkeit nicht dem Schmerz, sondern der Kraft, der inneren Kraft, der Selbstheilung. Wo ist die Grenze? Wie schafft man es, aus Schmerz kreative Energie zu gewinnen?

Keine Ahnung.
Ehrlich.
Aber ich denke darüber nach. Der dritte Band dieser Trilogie hat seit vergangener Woche einen Titel, den ich noch nicht verraten möchte. Bei mir selbst habe ich ein Wort für das, was im Augenblick ziemlich gelöscht wird und ziemlich weit auch schon ausgelöscht worden ist, und ich denke, da liegt ein Schlüssel: Es so etwas wie „Menschenwissen“.
Vielleicht kriege ich’s raus oder komme der Antwort näher. Ich weiß es noch nicht.

Frau Vanderbeke. Ich bin tief beeindruckt von der Offenheit, die Sie zeigen. Ich bedanke mich für die geschenkte Zeit und bin sicher, dass die Antworten längst nicht nur mich zum Nachdenken zwingen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebt im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die Brüder-Grimm-Professur an der Kasseler Universität.

Webseite der Autorin 

Besprechung ihres vorletzten Romans auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Jürg Halter „Mondkreisläufer“, Der gesunde Menschenversand

Jürg Halter dichtet nicht auf dem Standbein und trotzdem aus dem Stand heraus. Jürg Halter ist Dichter und bezeichnet sich zuweilen als Drifter. Ein driftender Dichter ist er sicher. Ein Vorspiegler wörtlicher Tatsachen. Einer, der listig und lustig behauptet, den Dingen aber nie den Ernst nimmt, denn Jürg ist nicht Ernst.

„Mondkreisläufer“ ist fast ein Gespräch, erinnert an den Fragenkatalog von Max Frisch. „Wie oft hast du in deinem Leben etwas getan, wozu du dich entschieden hast? Stehen Fühlen und Denken bei dir noch in einem Zusammenhang? Was für ein Verhältnis hast du zu deiner Machtlosigkeit? Wie lange beweist dich das Spieglein an der Wand noch?“ Jürg Halter fordert heraus. „Mondkreisläufer“ ist kein Roman, keine Erzählung, keine Geschichte. Ein Prosatext, der sich an mich wendet, der mich auffordert, mitzudenken, erst recht mit dem Denken anzufangen.

Als ich Jürg Halter zum letzten Mal zuhörte, war dies an der BuchBasel 2017 an der Greifengasse hinter einem Schaufenster. Er las drinnen als Teil einer Adventsdekoration und ich hörte draussen zu, in der Kälte, angeschupst von Vorbeieilenden. Er hörte mich nicht, ich ihn sehr gut durch einen Lautsprecher vor der Scheibe. „Mondkreisläufer“ ist genau so. Jürg Halter scheint mich zu sehen, aber nicht zu hören. Er scheint zu reagieren, auf mein Nicken, mein Kopfschütteln, mein Schulterzucken.

Die Lektüre flutscht nicht, sie beisst, kratzt und steht quer. In der Literaturlandschaft subversiv. Ein Monolog eines Wahn-sinnigen, der uns mitnimmt auf die Reise zu einer bergenden Mutter. Ein Text, der mich mitnimmt, mit Fragen und Aufforderungen:

Denken ist gefährlich, Denken hat Denken zur Folge, du wirst zum  Gedankenverfolgten, treiben sie dich in die Enge oder an den Rand des Abgrunds, können Gedanken tödlich sein.“

Ursprünglich war „Mondkreisläufer“ als Theaterstück geschrieben. Das Buch ist eine Weiterentwicklung des Theaterstücks in einen schillernden Prosatext, herausgegeben von einem Verlag, der sich wie der Autor Jürg Halter auf neues Terrain begibt.

Jürg Halter ist neben vielen anderen Gast am 3. Lyrikfestival NEONFISCHE 2018 im Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Am Wochenende vom 3. und 4. März lesen und performen neben Jürg Halter auch Joachim Sartorius, Robert Schindel, Kathrin Schmidt, Ernst Halter, Raphael Urweider, Frédéric Wandelère, Klaus Merz, Meret Gut, Cornelia Travnicek, Tim Holland sowie die Übersetzerinnen Elisabeth Edl und Marion Graf.

Bild: Corinne Futterlieb

Jürg Halter, geboren 1980 in Bern, lebt meistens in Bern, wo er Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern in studierte. Jürg Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zählt zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Auftritte in Europa, Afrika, den USA, Russland und Japan. Zuletzt erschienen: «Wir fürchten das Ende der Musik», Gedichte (Wallstein, 2014) und «Das 48-Stunden-Gedicht» mit Tanikawa Shuntarō (Wallstein, 2016).

Webseite des Autors

Patrick Deville „Viva“, Bilgerverlag

Auf Patrick Devilles grosser Reise „durch Raum und Zeit“ begegnet sich der 1940 ermordete Lew Dawidowitsch Bronstein, der sich in gefälschten Papieren nur noch Lew Trotzki nannte und der britischen Schriftsteller Malcom Lowry nicht wirklich. Aber Patrick Deville verwebt die zwei Geschichten; von einem, der Geschichte schreibt und einem, der eine Geschichte schreibt. 

Malcom Lowry ist der Autor des Romans „Unter dem Vulkan“. Während Trotzki in Mexiko im Exil seine letzten Jahre verbringt, schreibt Lowry unweit von Trotzki an der ersten Fassung seines 1984 verfilmten Romans, der zu den grossen Romanen des 20. Jahrhunderts gehört. Patrick Deville verwebt in seinem kunstvollen Roman die zwei Biographien, zwei Leben zweier Getriebenen, minuziös recherchiert. Auch wenn die Geschichten in den Fakten manchmal fast zu ertrinken drohen, entwirft Patrick Deville ein faszinierendes Panorama über zwei Menschen und ihre Zeit. Ein Panorama, das die Fantasie abenteuerlicher nicht hätte erfinden können. Lew Trotzki, der Macher – und Malcom Lowry, der Zauderer. Und trotzdem spült es beide über die nördliche Hemisphäre, auf einer Riesenwelle, die die Welt in den Zweiten Weltkrieg spült. Ein aufschlussreiches Buch über Trotzki, der Legionen besiegt, von einem Eispickel besiegt. Von Lowry, von Zweifeln zerfressen, der sich selbst mit Tabletten vernichtet.

“Er dachte immer, es genüge, recht zu haben, und genau damit lag er falsch. Er glaubte, es genüge, mit gutem Beispiel voranzugehen, mit Taten, körperlichem Mut, Rechtschaffenheit, Vernunft. Er ist ein antiker Held, ein Mann Plutarchs“

Jahrelang fährt Trotzki mit seinem Gefolge in einem gepanzerten Zug durch ein Riesenreich im Umbruch. 1937, mit 57 Jahren steigt Trotzki wieder in einen Zug. Diesmal in Mexiko, zusammen mit seiner Frau, einem mexikanischen General und der noch jungen Künstlerin Frieda Kahlo. Ein mit Holz getäfeltes Abteil. Drei Jahre später stirbt Trotzki in seinem zu einer Festung umgebauten Haus im Süden von Mexiko-Stadt. Ein Sowjetagent, der sich als Sekretär tarnt, erschlägt den Revolutionär mit einem Eispickel, nachdem Trotzki schon einmal knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Gab es eine Liebesgeschichte zwischen der Malerin Frieda Kahlo und dem ewigen Revolutionären Trotzki? Ausgerechnet Frieda Kahlo, von der man sagt, sie hätte Josef Stalin, Trotzkis Erzfeind verehrt. Patrick Devilles Roman „Villa“, Teil eines grossen von 1860 bis in die Gegenwart angelegten Grossprojekts, versprüht den Geist des Aufbruchs zwischen den Weltkriegen, von unerbittlich Suchenden, von Schicksalen, die aus heutiger Sicht fremd und viel weiter weg erscheinen als 70 Jahre. Ein dichter Teppich von Bildern, Stimmungen, Fakten, Querverweisen, schwindelerregend, gegensätzlich, bunt, ineinander verzahnt und beeindruckend konstruiert.

Zugegeben, es braucht auch eine Portion Biss, ein echtes Interesse an Geschichte und, zumindest in meinem Fall, die Muse, langsam zu lesen, um zwischendurch Atem zu holen. Zeit, um nachzuschlagen, virtuell oder haptisch. Erstaunlich genug, dass Patrick Deville einen lesbaren Weg findet durch die schiere Menge an Recherchematerial. Ein Buch über jene Jahrzehnte, die die Welt in weiten Teilen komplett veränderte.

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.

Bilgerverlag? Der Verlag mit dem Finger mehr? 2001 wurde der Verlag von Ricco Bilger und Kurt Heimann gegründet. Urs Augsburger und Urs Mannhart wurden in dem kleinen Verlag gross. Ein erstaunliches Unternehmen, das Bücher in einem unverwechselbaren Kleid entstehen lässt. Buchkunst, die viel Leidenschaft, eben einen Finger mehr als alle andern zeigt! Ein Verlag mit ungebrochenem Mut und eigenständigem Gesicht!

Patrick Deville, geboren 1957, ist ein französischer Schriftsteller. Nach Studien und der vergleichenden Literatur und der Philosphie in Nantes hat Deville im Nahmen Osten, Algerien und in Nigeria gelebt. In den neunziger Jahren hielt er sich in Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern auf. Er publiziert seit den achtziger Jahren. Seine Romane «Pura Vida» und «Äquatoria» wurde ins Deutsche übersetzt. Sein Roman «Kampuchéa» wird im Jahr 2011 von der Zeitschrift Lire zum besten französischen Roman des Jahres ernennt. Sein vorletzter Roman «Peste et Choléra» aus dem Jahr 2012 handelt von dem Bakteriologen Alexandre Yersin.

Peter Stamm „Agnes“, Film (2016) und Buch, Arche (1998)

Diesen Monat erscheint Peter Stamms neuster Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Grund genug, seinen ersten Roman, der bei Erscheinen seines neuen vor 20 Jahren Kritiker und Leser ins Staunen versetzte, „Agnes“ noch einmal zu lesen. Damals war „Agnes“ eine literarische Überraschung. Heute ist „Agnes“ Schullektüre, so etwas wie ein Klassiker. Und der Film vom Regisseur Johannes Schmid?

Agnes ist Physikstudentin in Dallas. Sie schreibt an einer Dissertation über die «Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallen». In der gleichen Bibliothek der Universität recherchiert ein doppelt so alter Mann über amerikanische Luxuseisenbahnen. Eine Auftragsarbeit. Die beiden kommen sich schnell näher. Als Agnes erfährt, dass er sich einst auch mit Prosa versuchte, fordert ihn Agnes auf, eine Geschichte über sie zu schreiben. Mehr aus Gefälligkeit, vielleicht auch um Agnes Eindruck zu machen, beginnt er wirklich zu schreiben. Über Agnes, über sie beide, über das Aufkeimen einer Beziehung. Aber beide bleiben einander ein Geheimnis. Agnes bleibt fahrig, von Stimmungen getrieben, er ist mehr verunsichert als verliebt, angezogen von der Abenteuerlust eines kühlen Entdeckers. Eines Tages öffnet er mit Agnes Schlüssel ihre Wohnung, bleibt eine Weile, beginnt zu schreiben, kramt in den Sachen, sieht den einzigen Schmuck an der Wand, ein Poster mit einer Figur des Künstlers Kokoschka mit dem  Titel «Mörder, Hoffnung der Frauen», die Karte eines Freundes und in einer Schublade Tabletten. Während die Geschichte um Agnes auf Papier immer weiter gesponnen wird, er Idylle spriessen lässt, wird die Beziehung der beiden immer gereizter. Erst recht, als Agnes ihm erklärt, sie sei schwanger. Erst recht, als er darauf nicht mit Freude reagiert. Während sie enttäuscht und zornig seine Wohnung verlässt, sie, die schon von ihrer eigenen Familie abgeschnitten lebt, bleibt er, paralysiert, perplex. Er schreibt weiter, in verschiedenen Varianten. So, dass es für den Leser nie ganz klar ist, auf welche Seite die Geschichte nun wirklich kippt.

Der erste Satz im Roman ist: Agnes ist tot. Eigentlich gibt es keinen Zweifel. Und doch gelingt es Buch und Film, ein eigentliches Vexierbild entstehen zu lassen. Film und Buch schaffen es, viel mehr nicht zu erzählen und nur anzudeuten, als es bis in die Feinheiten auszumalen. Peter Stamm deutet vieles nur an, lässt mehr Leerstellen, Lücken, genug Raum für Mutmassungen und Interpretationen. Vielleicht liegt genau hier der Grund, dass der Erstling von Peter Stamm zur Mittelschul- und Hochschullektüre im In- und Ausland gehört.

«Agnes» erzählt von der Einsamkeit der Menschen. Da sind zwei, die lieben und doch nicht zueinander finden. Da sind zwei, die in einer Grossstadt  leben, aber weitgehend isoliert sind. Alles scheint sich nur um die Individuen zu drehen. Es bleibt spürbar kalt. Nicht nur weil Agnes nachts in den Schnee hinausgeht und sich entkleidet. Ein unterkühltes Erzählen, dass man Peter Stamm auch in seinen folgenden Büchern nachsagt.

Buch und Film lohnen sich auf jeden Fall. Ich mag es, wenn ich mit einer ordentlichen Portion Ratlosigkeit zurückgelassen werde. Warum sollen Geschichten alles erklären, alles zu deuten versuchen. Das Leben lässt genauso Lücken, Unerklärliches, Unfertiges, bloss Begonnenes.

Ich bin gespannt auf den neuen Roman von Reter Stamm!

Eine Inhaltsangabe des neuen Romans, der im kommenden Februar erscheinen soll: Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viel jüngeren Lena. Er erzählt ihr, dass er vor 20 Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht. So beginnt ein beispiel­los wahrhaftiges Spiel der Vergangenheit mit der Gegenwart, aus dem keiner unbe­schadet herausgehen wird.
Können wir unserem Schicksal entgehen oder müssen wir uns abfinden mit der sanf­ten Gleichgültigkeit der Welt? Peter Stamm erzählt auf kleinstem Raum eine andere Geschichte der unerklär­lichen Nähe, die einen von dem trennt, der man früher war. (aus der Vorschau des Verlags)

160 Seiten, bei S. Fischer, ab 22. Februar im Buchhandel, am 21. Februar Buchtaufe im Kaufleuten Zürich, Moderation Jennifer Khakshouri

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane ›Nacht ist der Tag‹ und ›Weit über das Land‹ sowie unter dem Titel ›Die Vertreibung aus dem Paradies‹ seine Bamberger Poetikvorlesungen.

Margrit Schriber „Glänzende Aussichten“, Nagel und Kimche

Pia gehört eine Tankstelle in der Nähe der Autobahn. Pia trägt Latzhose und manchmal den Hut ihres schon lange verstorbenen Vaters. Er war ihr Lehrer gewesen, hat ihr alles gezeigt. Pia weiss alles über Motoren, auch wenn sie es selber nie für nötig gefunden hat, einen Führerschein zu erwerben. Pia wäre glücklich, wenn sich die Erde im immer gleichen Tempo drehen würde und die Männer so nicht wären.

1980, irgendwo im schweizerischen Mittelland. Noch hat es Wiesen hinter der Tankstelle. Selbst Gigi, Pias Nachbar, glaubt in seinem Containerbüro, dass er eines Tages seinen Occasionsverkauf teuer verscherbeln und dann irgendwo seine Haut an der Sonne schmeicheln lassen wird. Pia weiss, dass das wenige Geld, das sie mit Benzin, Sonnenbrillen und Illustrierten verdient, auf die Dauer nicht reichen wird. Was ihr ihr Vater einst als Perle übergeben hatte, droht an der Moderne zu scheitern.

Da sind auch die Männer keine Hilfe. Nicht der windige Luc mit seinem schnittigen Amerikaner, seinen Schmeicheleien und Drohungen. Nicht Gigi, der Occasionskönig mit seinen gebräunten Muskeln. Nicht Bolt, der Regionalvertreter des Benzingrossisten. Nicht Holzer, der Immobilienmann und Liebhaber ihrer Freundin Luise und schon gar nicht Andy, der Arzt, der sie einmal zum Glühen bringt. Höchstens Waldi. Aber Waldi ist ein Plüschhund auf der Kasse im Laden und nickt, wenn die Kasse klingelt. Er hört ihr zu.

“Glänzende Aussichten“ spielt gekonnt mit Klischees. Während des Lesens spielen sich unweigerlich Bilder ein, die an Filme erinnern, nicht zuletzt an solche mit Josef Hader. Dass die grosse Könnerin mit fast 80 derart spitzen Witz und Spitzigkeit in ihren Roman bringt, erstaunt nicht. Margit Schriber unterhält gekonnt, zeichnet ihre Figuren mit viel Liebe fürs Detail. Alle sind sie auf ihre Art Verlierer und Versager. Und wer den Roman liest, staunt über den Wiedererkennungseffekt. Zum Beispiel bei Luc, einst Pias Liebe. Bis Pia merkt, dass Luc viel mehr in sich selbst und seinen Auftritt verliebt ist und er bloss Personal und Zuschauer braucht. Einer dieser Aufgeblähten mit unendlichem Glauben an sich selbst, nicht zu brechendem Selbstvertrauen und der festen Überzeugung, die Sonne im System zu sein.

“Was uns tief im Innern trifft, darüber reden wir nicht.“

Pia kämpft sich durch, durch alle Widrigkeiten, die sich ihr in einer langen Kette entgegenstellen. Auch nach ihrem Entschluss, auf ihrem Grund eine Waschanlage bauen zu lassen, reissen Rückschläge nicht ab. Die Geschichte spiegelt das Frauenbild der 80er Jahre. Und wenn auch die Protzbeutel weniger werden – solange die Sorte zu Präsidenten werden, hat sich eben doch nicht viel geändert.
Und die Geschichte ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Margrit Schriber weiss wovon sie schreibt. Sie kennt den Geruch von Benzin und Motorenöl, auch wenn ihre Kurzbiographie nicht danach aussieht.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Margrit Schriber bei ihrer Buchpremière in der Kantonsbibliothek Schwyz

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Pascale Kramer „Autopsie des Vaters“, Rotpunktverlag

Pascale Kramer zog mit 26 nach Paris. Heute zählt sie zu den grossen Autorinnen der Schweiz, trotzdem. Vielleicht gerade deshalb, weil sie den „Blick von aussen“ an sich schulte. „Eine Meisterin der Zwischentöne, des beredten Schweigens, der ‚non-dits‘. Eine, die die Zeichen der Zeit – und des Zeitgeistes – virtuos dechiffriert“, so Bundesrat Alain Berset anlässlich der Verleihung des Schweizer Grand Prix Literatur 2017.

In den Romanen Pascale Kramers geht es immer ums Ganze. Keine einfachen Geschichten, nichts Episodisches. Keine Lektüre, mit der es sich so einfach unterhalten lässt. Kein papierner Fastfood. Pascale Kramer spürt der Zeit auf den Nerv. So auch in ihrem neuen Roman „Die Autopsie des Vaters“.

Gabriel tötet sich selbst. Er schluckt Glasscherben. Seine viel jüngere Lebenspartnerin Clara findet ihn in seiner kleinen Zweitwohnung in der Stadt. Clara telefoniert Ania, Gabriels einzigem Kind, die seit Jahren den Kontakt zu ihrem schwierigen Vater verloren hat. „Ihr Vater ist heute nacht in seiner Wohnung in Monceau gestorben.“ Ania hört die Stimme und sieht auf ihren tauben Sohn, der genau zu spüren scheint, dass etwas eingebrochen ist. Ania lässt ihren Sohn in fremder Obhut und fährt nach Monceau. Ein Treffen mit Clara. Ein Treffen mit einer Fremden, die die Frau ihres Vaters war, eines Fremdgewordenen. Erst recht in den Jahren des gegenseitigen Schweigens, als sie in der Presse von ihrem Vater las. Vom langsamen Abrutschen bis zur endgültigen „Entgleisung“, als Gabriel von seinem Landhaus aus öffentlich Partei ergreift für zwei junge Einheimische, die unweit von seinem Haus einen afrikanischen Sans-Papiers brutal zusammenschlagen und ertränken. Ein Skandal.

Wider Willen kehrt Ania in ein Leben zurück, von dem sie sich schon als Kind loszureissen versuchte, von einem Vater, der sie nicht verstehen wollte und konnte. Nicht ihre Mühen in der Schule, nicht ihre Distanziertheit in der Zeit im Internat, nicht ihre Liebe und Ehe mit Novak, einem Serben und schon gar nicht ihren tauben Sohn Théo. Ania kehrt zurück in ein Leben, von dem sie sich mit aller Kraft getrennt hatte, in die Nähe eines Vaters, der sich mit seinem Freitod ganz ihrem Verständnis entzog. Die zurückgelassene Unordnung ihres Vaters hatte sich mit seinem Tod noch weiter verschoben. Als hätte ein Erdbeben in bodenloser Tiefe die Schichten darüber so sehr verückt, dass nichts mehr zusammenfinden kann, nichts.

Der Roman gipfelt in den Vorbereitungen zum Begräbnis in Gabriels Haus. Dort sammelt sich das Personal eines Dramas, als wäre es das Setting eines Film noirs. Dort prallen Welten aufeinander, die weiter nicht entfernt sein könnten. Um das Haus rottet sich der Hass, im Haus Missverständnis und tiefes Misstrauen. Und mitten im Geschehen Ania, eine zu tiefst verunsicherte Frau, die zusehen muss, wie selbst die innige Zweisamkeit mit ihrem Sohn Théo am Riff des Vaterhauses zu zerbrechen droht. Erschüttert von einer Mischung aus Hilflosigkeit und nagenden Schuldgefühlen.

Pascale Kramer schildert die Zerrissenheit einer ganzen Gesellschaft, das Gift alter Verletzungen, die Verheerungen Unausgesprochenem. Die Autorin richtet ihren Fokus genau dorthin, wo man viel zu schnell in Versuchung gerät wegzuschauen. Und das alles in einer Sprache, die mich staunen lässt. Pascal Kramer kann in einem einzigen Satz ganze Geschichten erzählen, Türen aufreissen, epische Hintergründe aufblitzen lassen. Sie beschreibt Stimmungen, Szenen und Situation derart gekonnt, dass man die sinkenden Temperaturen zu spüren glaubt.

Grosse Literatur einer grossen Autorin!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman „Die Lebenden“ (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Zur Übersetzerin: Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Ein wunderbares Filmporträt über Pascale Kramer

Informationen zu Pascale Kramer und ihren Roman „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“

Titelfoto: Copyright: BAK/Corinne Stoll

Melinda Nadj Abonji „Schildkrötensoldat“, Suhrkamp

Auf dem Kreuz steht Kertész Zoltán 15.12.1970 – 5.4.1992. Anna besucht ihren Cousin ein letztes Mal. Vier Monate nach seiner Beerdigung. Melinda Nadj Abonji schrieb mit „Schildkrötensoldat“ einen Roman über die Enge einer Welt, die sich auf Krieg einstellt. Über einen Mann mit blauen Augen, aus dem etwas hätte werden können. Ein Buch über den Schmerz nicht helfen zu können.

Ganz am Ende des Romans stellen sich Fragen: Wem gehören wir? Dem Staat? Gott? Den Eltern? Der Luft? Uns selbst? Dem Tod.“ Fragen, die mit dem Romanende stehen bleiben. Fragen, die der Roman bloss stellen, aber nicht beantworten will.

Zoltán ist Annas Cousin. Die beiden wachsen zusammen auf. Es verbindet sie eine Liebe, die nach anderen Berührungen sucht, die körperlich ganz flüchtig bleiben. Anna, die Zoltán immer Hanna genannt hatte, weil das „H“ die feinste Möglichkeit sei, sich hinzusetzen, sich auszuruhen. Zoltán ist anders als alle andern, interessiert sich nicht für Autos, Geld, Muskeln oder Titten. Zoltán kümmert sich viel lieber um seinen Garten und hortet in einem Schuppen neben dem Haus seiner Eltern jene Schätze, die ausser Hanna niemand zu verstehen scheint.

Dabei haben Zoltáns Eltern so grosse Hoffnungen in den Jungen mit seinen blauen Augen, glauben, dass aus ihm etwas ganz besonderes werden könnte, schon allein weil er in der männlich dominierten Gesellschaft des zuammenbrechenden Vielvölkerstaates Jugoslawien ein männlicher Nachkomme ist. Aber Zoli macht seinem Vater keine Ehre. Nicht im Ort, wo er ein Aussenseiter bleibt, nicht in der Schule, wo er die Klappe nicht halten kann, nicht in der Lehre, wo ihn der Bäckermeister blutig schlägt, nicht als Sohn und schon gar nicht als zukünftiger Held, den die Armee aus ihm machen soll.

Zoltán ist „dem Teufel vom Karren gefallen“, dem Vater vom Motorrad und im Dreck liegen geblieben. Dabei war sein Sohn einst sein ganzer Stolz, ein Versprechen für die Zukunft. Ein Versprechen, dass dieser nicht einlöste. Einen Vater bestraft, der seinen Sohn dafür bestraft und ihn im permanenten Konjunktiv leben lässt. Was alles hätte werden können. „Wem gehört diese leere Flasche?“ Beschimpfungen, die beim Lesen schmerzen.

Beide, (H)anna und Zoli (Zoltán)  verstehen einander eine Kindheit und Jugend lang ohne viele Worte, als hätten sie wie Fledermäuse Organe, die Schallwellen ganz anders hören können. Er Zoltán und sie Anna, die Wörter wie farbige Kiesel sammeln.

„Glück ist eine Luke, aus der man an einem warmen Tag den Kopf hinausstreckt, oder nicht?“

Und dann, in dieser Kaserne, die schon während der Zeit des Zweiten Weltkriegs „Adolf Hitler Kaserne“ hiess, soll aus Zoltán ein Soldat werden, ein ganzer Mann. Einer, der schiessen und morden kann, den man auf die Schlacht von Vukovar vorbereitet, wo doch Verwandte und Freunde wohnen. Aber Zoli stirbt langsam, bricht ein unter dem Drill und der Härte seiner Vorgesetzten.

„Ja, es ist wahr, ich habe in den Worten immer einen Unterschlupf gesucht, ein Schlupfloch.“

Melinda Nadj Abonji erzählt mit verschiedenen Stimmen. Wie Anna als Lehrerin von Zürich in die serbische Stadt Zrenjanin reist. Zur Kaserne, in der Zoltán zum Soldaten werden sollte. Aus der man ihn krank, verstört, verwundet und erloschen nach Hause schickte. Sie fährt zurück ins Dorf ihrer Kindheit, begegnet all den Bildern, die mit Zoltán auf dem Friedhof begraben sind. Ein Gefallener, nicht als Held im Krieg, sondern ein aus der Gesellschaft Gefallener, ein Verlorener. Melinda Nadj Abonji erzählt mit derart viel Empathie, mit einer Sprache, die weit übers blosse Erzählen hinausgeht. Gefühle werden sicht- und hörbar. Spürbar viel wird offenbar, was Zoltáns Leben, was die Freundschaft, die Liebe zwischen Anna und Zoltán ausmachte. In einer Sprache, die sich der Interpunktion wie in der Musik bedient. Melinda Nadj Abonjis Sprache ist Musik, gebündelte, akustisch wiedergegebene Wahrnehmung.

© Gaetan Bally

Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej, Serbien, geboren. Anfang der siebziger Jahre übersiedelte sie mit ihrer Familie in der Schweiz. Sie lebt als Schriftstellerin und Musikerin in Zürich. Für ihren Roman „Tauben fliegen auf“ erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis.

Titelfoto: Werner Biegger (Melinda Nadj Abondji mit dem vom Roman völlig verzückten Moderator Thomas Strässle)

Webseite der Autorin

Paolo Cognetti „Acht Berge“, DVA

Dass „Acht Berge“ so sehr begeistern kann, liegt mit Sicherheit auch darin, dass Paolo Cognetti Sehnsucht beschreibt. Sehnsucht nach Freundschaft und Verbundenheit. Nicht nur jene unter Menschen, sondern jene zu Tieren und ganz offensichtlich zum einfachen Leben in und mit den Bergen. Und doch ist „Acht Berge“ kein verklärender Berglerroman.

Grana liegt am Fusse des Monte-Rosso-Massivs. Dort lernen sich die beiden Kinder Bruno und Pietro kennen. Bruno ist der letzte im Dorf, der Jüngste, Sohn einer stillen Mutter und eines groben Vaters. Pietro folgt seinen Eltern, die in Mailand leben, ihr Sehnsuchtsort aber die Berge sind. Pietros Vater schleppt seinen Sohn ruhelos auf all die Gipfel rund um Dorf, während Pietros Mutter aus dem Haus im Dorf ein vorübergehendes Zuhause zu machen versucht. Bruno und Pietro freunden sich an, auch wenn es nicht ausgetauschte Geheimnisse sind, die sie verbinden, als vielmehr die gemeinsam erlebten Geheimnisse, jede Sommer aufs Neue. Sie beide erkunden ein zum Teil entvölkertes Dorf und sein Tal, dringen ein in längst verlassene Häuser, entdecken Schauplätze, an denen einst Leben stattgefunden hatte. Zwischen den beiden beginnt eine Verbindung zu wachsen, die erst durch einen Faustschlag zwischen den beiden ungleichen Vätern unterbrochen wird. Bruno bleibt im Tal und Pietro versucht und sucht sein Glück als Dokumentarfilmer auf dem Dach der Welt. Eine Welt, die sich in vielem von der in den italienischen Alpen unterscheidet, die ihn aber gedanklich immer wieder zurückführt nach Grana. Irgendwann kehrt Pietro zurück. Bruno ist geblieben. Er kauft sich eine Alp, Kühe und das, was fürs Käsemachen nötig ist. Und weil sich irgendwann Lara, eine entflohene Städterin dazugesellt, scheint das Wagnis eines eigenen Alpunternehmens zu klappen. Während Bruno und Lara wirtschaften, richtet sich Pietro in einer Alphütte weit über den beiden ein und erzählt von den Schönheiten eines stillen Lebens in den Bergen.

“Mir war, als könnte ich das Leben der Berge in Abwesenheit des Menschen sehen. Ich mischte mich nicht ein und war ein gern gesehener Gast. Da wusste ich wieder, dass ich mich in ihrer Gegenwart niemals einsam fühlen würde.“

“Acht Berge“ ist ein Porträt einer ganzen Familie. Irgendwann in der Pubertät wird jede Vertraulichkeit zwischen Vätern und ihren Söhnen auf die Probe gestellt. Wenn es der Vater dann nicht schafft, seinem nicht nur äusserlich gross gewordenen Sohn auf Augenhöhe zu begegnen, so ist das genauso katastrophal und zerstörerisch wie die Unfähigkeit eines Sohnes, seinen Vater vorsichtig vom Thron zu heben. „Acht Berge“ ist ein Familienroman, über Familien, die zerbrechen, die genauso zugeschüttet werden, wie eine Alp, die man nicht jeden Frühling wieder herrichtet. „Acht Berge“ ist die Geschichte von Pietros Familie, einer Familie, die den Schmerz und tiefe Verletzungen über Generationen hinweg mit sich herumschleppt. Darüber dass in jeder Familie unendlich viel Sehnsucht steckt. Sehnsucht nach einem Fels, der bleibt.

Paolo Cognetti bedient die Sehnsucht nach Nähe und Unmittelbarkeit, nach Einfachheit und Reduktion. Er tut es ohne Sentimentalität, ohne Verklärung, lässt hoffen und scheitern. Ein beeindruckendes Buch in einer klaren und einfachen Sprache. Es sind die Bilder, die kantigen, holzschnittartigen Zeichnungen, die überzeugen. Paolo Cognetti weiss, wovon er schreibt. Er ist durchdrungen davon! Ein Buch, das man zufrieden beiseite legt und sich auf den nächsten Frühsommer freut, um bei Wanderungen etwas von dem zu finden, was in „Acht Berge“ beschrieben ist.

Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt die Sommermonate am liebsten in seiner Hütte im Aostatal auf 2000 Metern Höhe. Er hat Mathematik studiert, einen Abschluss an der Filmhochschule gemacht und Dokumentarfilme produziert, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Auf Italienisch sind von ihm schon Erzählbände und zwei Romane veröffentlicht worden. »Acht Berge« stand über Monate auf Platz 1 der Bestseller in Italien. Der Roman erhielt u.a. den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, und erscheint in über 35 Ländern.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Iris Wolff „So tun, als ob es regnet“, Otto Müller Verlag

Iris Wolffs Sprache schmeichelt einem. Sie mäandert, trägt ganz behutsam Schicht für Schicht ab. Iris Wolff will keine Geschichte zu Ende erzählen. Sie wirft einen Stein in die Geschichte einer Familie und es ziehen Wellen weg vom Zentrum des Geschehens, entschwinden aus Sichtweite, um sich mit anderen Wellen zu kreuzen. Ein schmaler Roman, der ein ganzes Jahrhundert birgt, in einer Sprache erzählt, die fasziniert und in höchstem Masse bezaubert.

«Roman in vier Erzählungen» ist dem Buch vorangestellt und jedem dieser vier Erzählungen, die ganz fein miteinander verbunden sind, durch die Linie einer Familie, diesem Band, wonach man sich sehnt, diesem Band, dass so leicht reissen kann, ein einzelner Satz aus der jeweiligen Erzählung. Ein Satz wie ein Thema. Ein Roman über fast hundert Jahre bis in die Gegenwart, verankert in vier Zeiten, in Momenten, Zwischenzeiten, ausgeleuchtet ein paar Seiten lang, um den Faden viel später wieder aufzunehmen, in ganz anderem Licht. Iris Wolff konzentriert Geschichte genauso wie Sprache. Sie schreibt so, wie Erinnerung geschieht, in Bildern, das eine ausleuchtend, das andere im Dunkeln lassend.

So wie ich mir bei manchen Büchern gewünscht hätte, man hätte sich auf das Wesentliche konzentriert, weniger wäre mehr gewesen, eine Stimme hätte zu Mässigung gemahnt, so gross war das Bedauern darüber, dass das Lesevergnügen nach 163 Seiten schon zu Ende war. Ich hätte der stillen Stimme der Autorin noch lange zugehört und bin mir sicher, dass da etwas Grosses zu wachsen begonnen hat!

Ein junger österreichischer Soldat wird zusammen mit einem Offizier von der winterlichen Front weg in ein Karpatendorf abkommandiert. Weg von der eisigen Kälte, weg vom Tod und der dauernden Angst, hinein in ein Dorf, in eine Familie. Weg vom Grabenkrieg im weiten, waldigen Gebirge in eine warme Stube, ein weiches Bett, an einen reich gedeckten Tisch. Jacob, der Soldat, freundet sich mit der jüngsten Tochter an, erzählt ihr Geschichten, zuletzt auch jene seines Bruders, der weit weg seine Schuhe am Rand einer tiefen Schlucht auszog. Eine Geschichte später, Jahre dazwischen, treffen sich der Grossvater Elemér und seine Enkelin Henriette im Garten, beide schlaflos, von Unruhe gepackt in der «Gesellschaft der Schlaflosen». Eine Familie droht durch die Geschichte zerrissen zu werden und Herniette weiss, dass sie nicht ist, wie die anderen, nicht einmal wie ihre Schwestern. Noch einmal Jahre später, als der Mond durch Amstrong in Besitz genommen wird, Vicco an der Distanz zu seiner Mutter Henriette zu zerbrechen droht, Liane kennenlernt und mit ihr bis zum Schwarzen Meer im Trabi fährt. Und noch einmal Jahre später, Henriette ist als Grossmutter und ganz besondere Frau bloss noch Erinnerung, die junge Hedda auf einer Insel im Meer erfährt, dass ihr Vater Vicco an Krebs erkrankt ist. Hedda beobachtet ein Paar, das in einen Fischerkahn steigt. Ein Boot, das nie zurückkehrt. So wie die Wellen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.

Man möchte es laut hinausrufen; Hier glänzt Sprache auf, hier schreibt und erzählt jemand in einer Sprache, die poetisch funkelt. Hier ist ein Buch, das man nicht versäumen darf, das man nach der Lektüre für eine Weile an die Brust drückt, weil man es nicht loslassen will. Unbedingt lesen!

Iris Wolff liest aus ihrem Roman am 12. Januar im Bodman-Haus in Gottlieben TG, um 20 Uhr.
Moderiert wird die Lesung von Julia Knapp.

Iris Wolff geboren 1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen. Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg an der Lahn. Langjährige Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, 2013 Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg. Neben dem Schreiben ist sie am Kulturamt der Stadt Freiburg im Breisgau tätig. Ihr erster Roman „Halber Stein“ erhielt den Ernst-Habermann-Preis 2014.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau