John Burnside „Ashland & Vine“, Knaus

Ich hörte John Burnside an der BuchBasel 2017 im vergangenen November zum ersten Mal. John Burnside ist ein schottischer Bär. Ein Mann, dessen Leben sich in sein Gesicht und in seine Stimme grub. Ein Mann, dem man alles zutraut, auch den Mut, seine Geschichte irgendwo in den USA anzusiedeln, mit Themen, die die Staaten schon mehr als ein Jahrhundert umtreiben; traumatische Kriege, Rassenhass und Bürgerrechtsbewegungen, Selbstjustiz, Drogen und Gewalt.

Jean lebt zurückgezogen in einem viel zu gross gewordenen Haus mit Zimmern, die sie längst nicht mehr bewohnt, in denen Geschichten, Erinnerungen eingeschlossen sind. Sie ist alt geworden, hackt Holz vor ihrem Haus, nicht nur, um Brennholz für den Winter zu bekommen. Ihr Leben ist am Ende. Was sie lebendig bleiben lässt, ist das stille Erinnern im Takt der Axt.

Kate ist jung, meist von Alkohol zugedröhnt oder masslos verkatert. Sie lebt bei Lauritz, einem Dokumentarfilmer, der sie in lichten Stunden durch die Aussenbezirke der Stadt schickt auf der Jagd nach Geschichten. Bis sie, obwohl die Adresse nicht auf Lauritz Liste steht, in Jeans Garten steht und die beiden Frauen ins Gespräch kommen. Jean macht Kate ein Angebot. Bleibt diese von nun an trocken, trinkt keinen Alkohol mehr, erzählt Jean ihr ihre Geschichte, ihre Geschichten. Und als wäre dies der Moment gewesen, den Kate brauchte, um von der Sauferei loszukommen, aufzuwachen, bleibt sie wirklich trocken. So trocken, dass es sogar Lauritz merkt, dass mit seiner sonst so willigen Mitbewohnerin etwas passiert.

«Wenn Menschen Geschichten erzählen, lügen sie, was die Ereignisse betrifft, aber nicht über die anderen Dinge, da lügen sie nicht – zumindest nicht absichtlich.»

Dabei zeigt es sich, dass beide, die alte Jean und die junge Kate, eine Geschichte loszuwerden haben. Beide verloren ihren Vater, Kate durch den Alkohol und Jean durch einen ungesühnten Mord an der Kreuzung «Ashland and Vine». Beide Frauen schleppen Geschichten mit sich herum, von denen sie sich nur distanzieren können, wenn sie erzählt sind, geteilt. Erst erzählt, ergeben Geschichten einen Sinn. Beide tragen Geheimnisse mit sich herum, deren Last sie niederdrückt, verunmöglichen, ein befreites Leben zu führen. Beide sind nicht nur verwundet, sondern jede auf ihre Art allein gelassen, zurückgelassen. Beide von ihren Liebsten, die ihnen am meisten bedeuteten, verlassen.

Jean wartet auf den Tod. Dass Kate in ihrem Garten erschien, war wie ein Zeichen und eine letzte Chance, vielleicht doch noch mit den Gespenstern aus ihrer Vergangenheit Frieden zu schliessen. Mit den «Mächtigen», die hinter dem Mord an ihrem Vater nie ihr Gesicht zeigen mussten, mit ihrem Bruder Jeremy, der damals auf Seiten der Alliierten in den Krieg zog, um für sein Vaterland zu kämpfen und als Gebrochener und an der Seele Verstümmelter aus diesem Krieg zurückkehrte, mit dem Verschwinden der beiden Kinder ihres Bruders, Simon und Jennifer, beide in den Wirren des Kalten Krieges, Simon als Deserteur in Vietnam und Jennifer im bewaffneten Untergrund, abgetaucht. Und mit Lee! Lee war nicht nur Jeans Geschäftspartnerin, sondern ihre grosse Liebe, die aber einen Geck heiratete und mit der Hochzeit für immer verschwand.

John Burnside erzählt ganz behutsam aus dem Leben zweier ganz unterschiedlicher Frauen, einer jungen, die die Liebe bisher nicht finden konnte und einer alten, die sie endgültig verloren glaubt. John Burnside ist ein grosser Erzähler. Einer, der in grossen Bögen erzählt, Personen bis in ihre Feinheiten lebendig macht, der Gefühlswelten plastisch formt, einem das Personal in seinem Buch zu Freunden macht. Trotz der 400 Seiten ist «Ashland & Vine» leicht zu lesen. Burnside fesselt bis ganz zum Schluss mit der Preisgabe von Geheimnissen und lässt genauso viel verschlüsselt, um die Geschichte glaubhaft bleiben zu lassen.

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis.