Uwe Timm „Ikarien“, Kiepenheuer und Witsch

Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb der Franzose Étienne Cabet den Roman “Voyage en Icarie“ (Reise nach Ikarien), einen utopischen Roman, die Gesellschaft neu zu erfinden. In Uwe Timms grossem Roman „Ikarien“ reist ein amerikanischer Soldat mit deutschen Wurzeln, Michael Hansen, durch das vom Krieg geschundene Nachkriegsdeutschland auf den Spuren des deutschen Wissenschaftlers Alfred Ploetz, den Wegbereiter der Eugenik („Erbgesundheitslehre“).

Uwe Timm ist einer jener wenigen Schriftsteller, die einem ein ganzes Leben durchs Lesen begleiten können. Vom Kinderbuch (zB. „Die Zugmaus“) übers Jugendbuch (zB. „Der Schatz auf Pagensand“), Abiturlektüre („Halbschatten“), Essays (zB. „Von Anfang und Ende“) bis zu Romanen, die unauslöschlich zu einem Begleiter des Lebens wurden (zB. „Rot“). Das schaffen nur wenige. Vielleicht noch der 2017 verstorbene Peter Härtling.

Der Roman beginnt mit einer Szene, die zeigt, worum es Uwe Timm in seinem neuen Roman geht. Der Krieg ist aus. In den Strassen einer zerstörten Stadt hüpft, springt und lacht ein tapsiger Junge. Es ist Karlchen. Seine Eltern hatten ihn 12 Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Karlchen ist ein Junge mit Down-Syndrom. Ein Kind, dass die Nationalsozialisten unter ihrem Euthanasie-Programm umgebracht hätten, dass keinen Platz gehabt hätte im arischen Herrenrassensystem des Tausendjährigen Reiches.

In einem Interview erzählte Uwe Timm, diesen Jungen hätte es so gegeben, in der Stadt Coburg, in der die Menschen nach dem Krieg aufzuwachen schienen. Aber so ungebremst die Freude des Jungen war und so gross das Staunen, dass ehemalige Parteibonzen plötzlich die Gosse wischen, so schnell fiel das Leben wieder in alte Muster zurück. Man hänselte Karlchen wieder ungeniert und einstige Parteigrössen waren zurück in wichtigen Ämtern und Positionen.
Der Stoff habe ihn während Jahrzehnten beschäftigt, nicht nur weil Alfred Ploetz der Grossvater seiner Frau sei, sondern weil ihn der Stoff seit seinem Roman «Morenga» umtreibe, der schrecklichen Geschichte deutscher Kolonialmacht in Afrika.

Michael Hansen, ein junger amerikanischer Offizier mit deutscher Herkunft, soll nach letzten regionalen Kämpfen und Scharmützeln das Archiv des 1940 verstorbenen Arztes und Begründers der Eugenik Alfred Ploetz in Sicherheit bringen und durch Befragungen herausfinden wie die Verwicklungen zwischen den Nazis und dem Rassenhygieniker Alfred Ploetz waren. Michael Hansen macht sich auf den Weg durch ein zerstörtes Deutschland, durch Landschaften, die wie Idylle trügen und Städte, in denen Menschen in Schutt und Asche hausen. Das Deutschland der grossen Dichter und Denker, das Deutschland, das sein Vater und später die ganze Familie verliess, ein Deutschland, dass für den Rückkehrer nur schwer zu verstehen ist.

“Ikarien“ erzählt auch von der Idee vieler Erneuerer im 19. Jahrhundert, neue Gesellschaftsformen, neue Arten des Zusammenlebens zu schaffen und zu formen. Der junge Alfred Ploetz war fasziniert von den Ideen des französischen Revolutionärs Étienne Cabet, der in Amerika die Gemeinde Ikarien gründete, eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die nach ganz anderen Gesetzen funktionieren sollte, ein utopisches Projekt. Ploetz besuchte jene Gemeinde noch vor Ausbruch des ersten Weltkriegs, war aber enttäuscht darüber, dass das Experiment an den Schwächen der Menschen zu scheitern drohte. In ihm wuchs die Überzeugung, dass nur in einem optimierten Menschen jene Qualitäten brauchbar werden, die eine neue Ordnung sichern würde. Aus einem Idealisten wurde ein glühender Verfechter und Begründer der Rassengesetze und all ihrer fatalen Folgen. Zucht und Züchtigung als Optimierung. Nicht unerwartet erhält Uwe Timm nach der Lektüre seines Romans viele Briefe von Leserinnen und Lesern und ihren Familiengeheimnissen, die plötzlich aufbrechen.

Michael Hansen findet den ehemaligen KZ-Häftling Wagner, einen einstigen Freund und Weggefährten Alfred Ploetz und führt mit ihm Interviews. Gespräche, die klar machen sollen, wie es zu den Auswüchsen des Rassenwahns kommen konnte. Befragungen mit einem Mann, der sich Jahre lang im Keller eines Antiquariats verstecken musste, jenem Ort, an dem auch all die verbotenen Bücher während des Naziregimes ein Asyl gefunden hatten. Hansen findet aber auch eine Zwischenwelt, ein aus der Zeit gefallenes Land, verunsicherte Menschen, Frauen ohne Männer, ein Deutschland, das nach dem Endkampf nicht nur äusserlich mit seiner Zerstörung zu kämpfen hatte.

“Man muss sich im Anderen und den Anderen in sich sehen.“

Zugegeben, „Ikarien“ ist für jene gut und spannend zu lesen, die an Geschichte interessiert sind, die nicht bloss unterhalten sein wollen, die sich mit einem solchen Buch Fragen zu stellen bereit sind, die alles andere als leicht zu beantworten sind, die sich Themen stellen wollen, die schwer verdaulich sein können. Nicht zuletzt der Frage, wie man selbst reagiert hätte in einer anderen Zeit, einem anderen Umfeld, unter anderen Vorzeichen. „Ikarien“ ist ein wichtiges Buch, ein Buch, das Stellung bezieht, gegen all die Leugner und Verdreher, die als gewählte Volksvertreter wieder Politik machen, sei es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Was im 19.Jahrhundert Cabel in seinem „utopischen“ Ikarien nicht schaffte, schaffte die braune Ideologie im 20. Jahrhundert nicht, denn Gesellschaft wächst nicht aus Ideen, sondern aus den Sehnsüchten des Menschen.

Alfred Ploetz ist eine Faust-Figur, jemand, der einen Homunkulus erschaffen will, alles in den Dienst der Rationalität setzt, Empathie von Wissenschaft trennt. Ein Pakt nicht mit dem Teufel, aber mit den Nazis, dem Faschismus, in der Hoffnung, dass «Erkenntnis» zum politischen Programm wird.
Aber «Eugenik» ist keine «deutsche Erfindung», sondern eine Zeiterscheinung, die schon in den USA, Schweden und Dänemark Anwendung fand.
«Optimierung», «Selbstoptimierung, «pränatale Medizin» – Parallelen zu Gegenwart!

Uwe Timm, geboren 1940, freier Schriftsteller seit 1971. Sein literarisches Werk erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt „Vogelweide“, 2013, „Freitisch“, 2011, „Am Beispiel eines Lebens“, 2010, „Am Beispiel meines Bruders“, 2003, mittlerweile in 17 Sprachen übersetzt, „Der Freund und der Fremde“, 2005, und „Halbschatten“, 2008. Uwe Timm wurde 2006 mit dem Premio Napoli sowie dem Premio Mondello ausgezeichnet, erhielt 2009 den Heinrich-Böll-Preis, 2012 die Carl-Zuckmayer-Medaille und den Schillerpreis 2018.