Florjan Lipuš «Schotter», Jung und Jung

«Schotter» ist keine Geschichte, aber erzählte Geschichte. «Schotter» ist lautes Denken darüber, was Vergessen und Verdrängung anrichten kann, wenn Leiden und Erinnerung zum Permaschmerz werden. «Schotter» verlangt von Leserinnen und Lesern genauso viel ab, wie es Florjan Lipuš Überlebensfrage ist, sich zu erinnern.

Florjan Lipuš musste als Kind mitansehen, wie seine Mutter wie eine Kriminelle verhaftet und abgeführt wurde, weil sie als Partisanen verkleidete Gestapomänner bewirtete, während Florjans Vater in der deutschen Wehrmacht Kriegsdienst leistete. Florjan Lipuš Urtrauma, über das er in allen seinen Büchern auf die eine oder andere Weise schreibt. Sein erster Identitätsverlust, aber längst nicht sein letzter, weil er dort geblieben ist, an der Grenze der Sprachen, der Sprachgrenze zwischen Deutsch und Slowenisch, an der Grenze zwischen Vergessen und Bewahren, an einer Grenze, an der sich noch immer unüberwindbare Gräben ziehen, Gräben in denen Hass und Verblendung mottet, Hass, der sich bis in die Gegenwart manifestiert und Lipuš befürchtet, dass die Zeit jene Wunden nicht heilt.

Überall finden Gedenkmärsche statt «gegen das Vergessen». So auch diesen Frühling in Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens, jenen zum Gedenken, die am 29. April 1943 wegen angeblichen Hochverrats nach einem Schnellgericht hingerichtet wurden, darunter Bewohner jenes Ortes, in dem Florjan Lipuš aufwuchs. Dabei sind die Motive jener, die daran teilnehmen ganz verschieden; von tiefem Verlustschmerz über Angehörige oder Freunde bis zur reinen Neugier. Was macht dieses Gedenken mit einem Dorf, in dem jeder jeden kennt? – Und Florjan Lipuš kennt sein Dorf, ein Dorf, das wie viele andere damals mitten in den Wirren des Krieges steckte, eines Krieges, der im Mai 1945 nicht einfach aufhörte wie ein lang andauerndes Unwetter.

Florjan Lipuš entlarvt das verräterische Grinsen jener, die mit dem Ausspruch «Alles wird gut» jede Woge glätten, jede Tiefe füllen, jede Untiefe verbergen. Aus «Schotter» schreit die Angst, dass nichts besser wird, dass die Geschichte keinen Anlass zur Hoffnung gibt, dass das Böse aus der Vergangenheit in der Gegenwart verschwinden würde. Es versickert in den Schottersteinen zwischen den Baracken, in denen Frauen wie seine Mutter gemartert und gequält wurden. Doch was versickert, ist nicht weg, nur verborgen, mottet und fault im Untergrund weiter.

Gibt es eine angemessene Form des Erinnerns? Genügt ein Augenblick, eine Denkpause, ein Gedenkmarsch, der sich nur wenig in das Leben des Einzelnen einmischt? Ich spüre in den Sätzen dieses Buches den ungestillten Schmerz, das ewig scheinende Wehklagen darüber, dass gewisse Verletzungen durch nichts getilgt werden können. Im Gegenteil. Die Angst vor versuchter Tilgung potenziert den Schmerz.

Florjan Lipuš schreibt mit spitzem Bleistift gegen das Vergessen, schreibt von Hand auf Papier, gegen das Flüchtige, das Ungefähre, gegen das Oberflächliche. Als würde sich die Spur seines Bleistiftes durch das Papier hindurch in die Seelen seiner Leserinnen und Leser graben, einer Sorte Mensch, denen Achtsamkeit mehr als nur Modewort ist, die Bücher wie Schätze mit sich herumtragen, auch wenn der Edelstein von dunkler, lichtschluckender Farbe ist. Er leidet mit den Frauen, die seine Mütter waren, den Frauen, denen man alles Grauen auferlegte, die keine Chance hatten, ihm zu entrinnen.

Ein kleines Interview mit Florjan Lipuš:

Es sind immer die gleichen oder ähnlichen Themen, um die sich ihr Schreiben bemüht. Fühlen Sie sich manchmal nicht als Gefangener?
Als Gefangener fühlt man sich als Kärntner Slowene in mancherlei Hinsicht, allein schon wegen der Sprache und der Reaktion der Öffentlichkeit auf sie, durch familiäre Verhältnisse, durch persönliche Entscheidungen, durch die man sich freiwillig in die Gefangenschaft begibt. Auch das Dorf nimmt einen gefangen.

Sie schreiben in „Schotter“ über „das Dorf“, mit Sicherheit über ihr Dorf, in dem Sie schon seit Jahrzehnten leben. Hat sich das Verhältnis zwischen Ihnen und dem Dorf und umgekehrt in all den Jahren verändert?
Es hat sich stark zum Schlechten verändert. Mein Verhältnis zum Dorf hat sich sicher verschlechtert und umgekehrt auch.

Der Krieg, die Gewalt sitzt sitzt wie ein unsterblicher Virus in den Genen der Menschen. Ist die Hoffnung auf „Frieden“ Augenwischerei? Vor allem jetzt, wo sich eigentlich die ganze Kraft der Menschheit hin zum Klimaschutz bündeln müsste?
Hier sind Berufenere aufgerufen, für vernünftige und brauchbare Lösungen zu sorgen.

Sie waren einmal Lehrer. Stünden Sie vor einer Schar junger Lehrerinnen und Lehrer, was würden Sie ihnen ganz besonders ans Herz legen?
Als Lehrer fühlte ich mich ganz und gar und in jeder Hinsicht für die mir anvertrauten Kinder verantwortlich, aber ich würde nie Erwachsenen irgendwelche Ratschläge erteilen. Ich fände es anmassend, meinen Mitmenschen irgendetwas ans Herz zu legen.

Ich weiss, dass Sie mit Bleistift schreiben. Eine fast zärtliche Geste angesichts der Wucht, die in Ihrer Sprache liegt. Im Gegensatz zur Lebensspur lässt sich jene eines Bleistifts radieren. Liegt darin der Reiz solchen Schreibens?
Der Bleistift hat für mich nur einen Sinn, nämlich Bleistift zu sein, einfach und praktisch. Und radiert wird auf meinen Blättern überhaupt nicht, sondern durchgestrichen und neu formuliert. So kann es sein, dass ein Satz dann im Buch eine halbe Seite oder einige Millimeter Bleistift verbraucht hat.

Manuskriptseite, vom Autor zur Verfügung gestellt © Florjan Lipuš

«Schotter» ist Mahnmal. «Schotter» ist Denk-mal!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach, Unterkärnten. Er veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Ubersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen: Petrarca-Preis 2011, Franz-Nabl-Preis 2013 und Grosser Österreichischer Staatspreis 2018.

Der Übersetzer Johann Strutz, geboren 1949, lebt als Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Ruden/Ruda, Kärnten. 2011 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Literarische Übersetzer.

Rezension von Florjan Lipuš «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

«Ich schreibe, um mich selbst zu retten» literaturblatt.ch vom 17. 11. 2017

«Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert» Florjan Lipuš erhält den Österreichischen Staatspreis 2018

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Daria Wilke «Die Hyazinthenstimme», Residenz

Ein Schloss auf einem Hügel, «Settecento», mitten im steirischen Wald, ziemlich weit von einer Stadt mit Namen Bad Bleibenberg. Ein Mann, der sich einen ganzen Hofstaat hält, junge Burschen mit schönen Stimmen sammelt, sie zu Kastraten macht und ihre Stimmen schult. Ein Mann, den alle den Zaren nennen, Herrscher über eine Welt, die dem Barock huldigt, mitten in fiktiver Gegenwart.

Man glaubt zu spüren, dass die Autorin in einem Theater ihre Kindheit verbrachte. Die Welt, die sie beschreibt, ist beseelt von rauschenden Stoffen, dick aufgetragener Schminke, opulenten Perücken, dunklen Bildern und raffinierter Kulisse. Ihre Figuren, die die Gegenwart nur zu berühren scheinen, sind aus dieser entführt, gekauft, mitgenommen, von der Strasse, armen Familien entrissen, voll der Hoffnung, dereinst mit ihrer Engelsstimme auf der Bühne die Menschen zu bezaubern. Ihrer Männlichkeit vom Hausarzt, dem «Fleischer», beraubt, geschult und gedrillt, geformt und abgerichtet, wachsen sie unter dem allwissenden Auge des Zaren zu Hyazinthenstimmen, um wie eine Blume aufzugehen, durchstrahlt von der Musik, dem Zauber der reinen Stimme. Verblüht welken sie langsam dahin, wählen selbst ihren Tod oder verschwinden in den Zwischenschichten einer Welt, die sich jener des «Zaren» entzieht.

«Das Leben und Sterben ausserhalb deiner Welt existiert für dich nicht, wenn du im Schloss lebst.»

Das Haus «Settecento» mit seinen 365 Fenstern, 52 Türen, 31 Räumen auf jedem Stockwerk, 24 Säulen in den Arkaden des Schlosses, 60 Bildern in der Galerie, 7 Wendeltreppen und 7 grossen Öfen, einem grossen Zimmer voller Singvögel, einer Bibliothek, in der das Kerzenlicht die Szenerie Venedigs im 17. Jahrhundert an die Wände malt, einem Tonstudio und vielen Schlafzimmern, in denen die Zöglinge morgens mit einem gemeinsamen Miserere den Tag beginnen – eine Welt aus der Zeit gefallen.

In jenem Kosmos, jenen Räumen, in denen die wirkliche Gegenwart ausgeschlossen ist, werden Matteo und seine Zwillingsschwester Nina gross, damals zwei Kinder, die die Mutter in der Nähe von Moskau nur zusammen aus ihrer Obhut weggeben wollte. Und als eines Tages der kleine Timo auf Settecento erscheint, gezeichnet von den Misshandlungen auf der Strasse, als Matteo auf der Bühne die Menschen zur musikalischen Verzückung bringt und die Damen um ihren Atem, als Timo sich für diesen einen Schnitt bereiterklärt und auf dem Kopfkissen Matteos eine tote Nachtigall liegt, wendet sich das Blatt.

«Jetzt weiss ich, wie es ist, wenn du auf einer Bühne stehst und das ganze Theater in deiner Macht hast. Wenn das Tier mit dir verschmilzt, dich aufnimmt und bis zum Ende nicht loslässt. Wie es ist, wenn der Zuschauerraum zuerst still wird, als würden dort alle auf der Stelle sterben, um dann, wenn du die letzte Note aushauchst, gewaltig zu explodieren.»

Dann stürzt sich einer der Jungen von der Mauer in den Schlossgraben. Matteos Zwillingsschwester Nina verschwindet mit Timo, Matteos Schützling. Und schlussendlich verschwindet das Tier in Matteo, seine Stimme, von einem Tag auf den anderen. Matteo macht sich auf den Weg, flieht, obwohl ihm der Schatten des Zaren folgt, auf die Suche nach seiner Schwester, nach sich selbst, dem Tier. Bis nach Wien, in eine Stadt, in der die Reste des Barocks von damals kleben, die aber so ganz anders pulst als Settecento.

Daria Wilke beschreibt Wien aus der Sicht eines fast Ausserirdischen. Auf der Suche durch das Wien von heute vexiert immer wieder das Wien des Barocks, erfüllt von Musik und den Stimmen der Kastratensänger, von denen man damals besessen schien.

Die Inspiration für das Haus Settecento lieferte das Schloss Gleichenberg in der Südoststeiermark (jetzt ist dort allerdings nur eine Ruine, das Schloss wurde 1983 durch Feuer zerstört).

Die barocke Kulisse dieses Romans spiegelt sich in der Klangfarbe der Sprache. Daria Wilke inszeniert gekonnt, malt mit satten Farben, ohne sich zu verlieren. Alles ist Kulisse, alles Fassade. Was die Kinder in diesem Schloss empfinden, hat dem grossen Zweck zu gehorchen. Was Daria Wilke beschreibt, kann durchaus als Metapher dafür verstanden werden, was sich in totalitären Staaten abspielt, in denen nach den Gesetzen der Monarchie, jener Staatsform, die mit Revolutionen und Reformen längst nur noch Staffage sein sollte, nach alten Mustern funktioniert, in denen das Individuum bloss zu funktionieren hat, zum Wohle des Staates, zum Wohle des Hauses.

«Wenn ich singe, bin ich da.»

«Die Hyazinthenstimme» ist eine Liebeserklärung an die Geheimnisse der Musik, an Wien und die Sehnsucht nach einem Ort der Geborgenheit, eine Liebeserklärung an die Freundschaft und all jene Figuren, die nicht der Norm entsprechen. Grosse Literatur, berauschend erzählt, von barocker Wucht und durchtränkter Leidenschaft für die grosse Bühne!

Beste Grüsse an die JurorInnen des Österreichischen Buchpreises 2019!!!

Interview mit Daria Wilke:

Bei der Lektüre ihres Romans würde ich immer wieder an Kafkas „Das Schloss» erinnert. Ging Ihnen das beim Schreiben ebenso?
Sosehr ich Kafka liebe, hatte ich eher andere Assoziationen – „Orlando“ von Virginia Woolf, „Herr der Fliegen“ von William Golding oder „Winterspiele“ von Jean-Claude Mourlevat. Aber vor allem inspirierte mich „Geschichte der Kastraten“ von Patrick Barbier, obwohl das eigentlich ein Sachbuch ist.

Sie lieben den Barock, das was Musik in jener Zeit zum Blühen brachte. Klingt in Ihrem Roman auch ein bisschen das Wehklagen darüber durch, dass wir in einer Zeit der Sachlichkeit, der Funktionalität, der Zweckoptimierung leben?
Ich liebe unsere Zeit – wegen der Funktionalität und der Zweckoptimierung auch, ich lebe wahnsinnig gerne Hier und Jetzt. Aber das Leben als Kunst, als Spiel und Genuss, als Karneval – ja, das fehlt mir, das konnte man so gut im Barock.   

„Die Hyazinthenstimme» ist die Geschichte von Matteo auf der Suche nach sich selbst, seiner Schwester, wahrer Freundschaft, nach dem vollkommenen Moment, der vollkommenen Musik. Von Moskau in den steirischen Wald, über Venedig bis nach Wien. Eine lange Reise! Sie scheinen im Schreiben angekommen zu sein!
Ich hätte mir gewünscht, dass diese Reise noch länger wäre.

Sie lieben Figuren, Rollen, lassen ein ganzes Sammelsurium von theatralisch auftretenden Gestalten agieren; den Zaren, den Windsammler, den Teufel, die polnischen Zwillinge, einen Arzt, den alle nur den Fleischer nennen. Ihre Fantasie scheint eine grosse Bühne zu sein. Sind das die Bilder aus Ihrer Kindheit?
Nein, eigentlich nicht. Die Welt von „Die Hyazinthenstimme“ ist erst während des Schreibens entstanden. Aber was das Ganze mit meiner Kindheit verbindet, ist die Vorstellung, dass ein literarischer Text eine Bühne, ein Theater ist. Und auf dieser Bühne sollte es möglichst wild zugehen.

Sie sind in Russland aufgewachsen. Die Schilderungen dieses Schlosses mitten im Wald erinnerten mich an den Hofstaat vieler „monotheistischer» Staatsmänner (immer Männer), sei es nun Putin in Russland oder Erdogan in der Türkei. Zufall oder bloss meine Interpretation?
Ich hatte keine konkreten Vorbilder. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit diesen Gedanken, die an und für sich nicht originell sind: wie geht es in einer geschlossenen Welt zu – sei es ein Internat, ein Unternehmen, ein Staat oder eine Jugendclique. Diese Eigendynamik, die sich da entwickelt und strenge Hierarchie, der sich jeder unterwirft – mein Buch ist ein Versuch, so eine in sich geschlossene Welt zu konstruieren. Nur halt eine Welt, die mit der Musik und Kunst des Barocks verbunden ist.

Hörten Sie während des Schreibens jene Musik, zumindest das, was von ihr heute nachempfunden werden kann?
Ja, ununterbrochen. Die barocke Musik, von Monteverdi und Porpora bis Rameau und Telemann, begleitete mich die ganze Zeit. Und die Arien, die für Kastraten geschrieben wurden, natürlich auch. Es gefiel mir, die Barockraritäten auszugraben – zum Beispiel, jene Musik, die Kaiser Leopold I. komponierte… Es gab vor einigen Jahren in Paris eine großartige Inszenierung von Cavallis „Eliogabalo“ mit Franco Fagioli in der Hauptrolle – diese Aufnahmen habe ich auch ständig gehört, für mich war das alles Inspiration pur.

© Aleksandra Pawloff

Daria Wilke geboren 1976 in Moskau in eine Schauspielerfamilie. Daria Wilke verbrachte ihre Kindheit in einem Puppentheater, in dem ihre Eltern gearbeitet haben. Nach dem Studium der Psychologie, Pädagogik und Geschichte arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Tageszeitungen in Russland. 2000 übersiedelte sie nach Wien, wo sie auch heute lebt und an der Universität Wien arbeitet. Sie hat bisher mehrfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher auf Russisch veröffentlicht, „Die Hyazinthenstimme“ ist der erste Roman, den sie auf Deutsch geschrieben hat.

Sprachsalz: Vladimir Sorokin » Manaraga Tagebuch eines Meisterkochs», Kiepenheuer & Witsch

2037: Das Weltgefüge hat sich nach globalen Kriegen verändert, der Kampf für Gottesstaaten ohne Ende, die Lust nach Zerstreuung ohne Ende und Bücher bloss noch Brennmaterial für ausgefallene Gastronomie der Superreichen und ewig Gelangweilten. Vladimir Sorokin schrieb eine Mischung aus Dystopie und Satire, einen Roman, der vor Witz und Seitenhieben sprüht, das Tagebuch eines von sich selbst Gefangenen.

Vladimir Sorokin erschien nicht – krank. Aber weil ich mich als Leser seiner Bücher lesend auf den Abend an den Sprachsalz Literaturtagen in Hall vorbereitete, veröffentliche ich meine Leseeindrücke als Referenz an den Abwesenden, nur schon als Respektbezeugung davor, dass da einer im Sprachenkampf gegen einen totalitär-autoritären Herrscher respektlos ehrlich bleibt.

Chefkoch Géza hetzt mit seinem Koffer von kulinarischem Hotspot zu Hotspot. Schaschlik vom Stör auf dem Idioten, Hammelschulter auf Don Quichotte oder Thunfischsteak auf Moby Dick. Géza ist Meisterkoch für Book ’n’ Grill, jettet von Kontinent zu Kontinent, kassiert für ein Kunststück, eine „Lesung“ auf einem Grill gerne 10000 Pfund. Wirklich gelesen wird schon lange nicht mehr. Ist auch gar nicht notwendig, denn wer die nötigen flüssigen Mittel zur Verfügung hat, leistet sich elektronische Flöhe, die in den Ohren eingelassen flüstern, was wissenswert ist, selbstredend auch das, was in Büchern steckt. Mit der weltweiten Cloud vernetzt scannen die kleinen Dinger im Kopf alles ab, antworten auf Gedanken, kommunizieren gar. Géza braucht daher auch keine Freunde mehr, allerhöchstens die eine oder andere weibliche Haut, wenn nicht real, so doch zumindest per Order als Traum in seinen Kopf. 

Bücher werden keine mehr gedruckt, höchstens Banknoten. Und weil man dem illegalen Genuss der Reichen einen Riegel schieben will, weil die Bibliotheken auf der ganzen Welt gerupft werden, steigen die Preise für Nachtigallen auf Puschkin, Pferdenüsse auf Majakowski oder Kalbsnüstern auf Pasternak ins Unermessliche, nicht zuletzt für die Kosten derer, die auch nicht vor Blut zurückschrecken, um an die Erstausgaben zu kommen. Géza ist stolz und selbstbewusst, schimpft jene Naiven, die glauben für seine Kunst brauche es keine besonderen Fähigkeiten, „jeder halbwegs versierte Koch könne ein Steak auf den Nackten und den Toten braten“.

Aber seine Welt wankt, als er durch einen verschlüsselten Code zu einer Sondersitzung der obersten Gilde der Edelköche gerufen wird, an irgend einen verborgenen Ort der Welt, geschützt von bis an die Zähne bewaffneten Securityleuten. Die Gilde ist bedroht, den kopierte Massenware bedroht das millionenschwere Geschäft, den sicheren Platz in der Welt der Uperclass. Am Berg Manaraga baut ein Abtrünniger eine gigantische Maschine, mit der sich hunderte absolut identische Einzelstücke unbegrenzt vervielfältigen lassen. Und weil der Gilde alle erdenklichen Mittel zur Verfügung stehen, soll Géza als Auserwählter zusammen mit einem Sonderkommando zum grossen Schlag ausholen.

Vladimir Sorokin spielt mit Sprache, Geschichte, Zukunftsängsten und all dem, was schon in der Gegenwart schräge Züge entwickelt. Genuss ist alles, das Leben ein Spielplatz. Kunst ist Spektakel, die Literatur nur noch die Glut für Fleischeslust. Da taucht im Roman auch mehrfach Tolstoi auf, der dem Original zum Verwechseln ähnlich sieht, einmal riesengross mit einem kleinen Mammut in seinem Gepäck oder in Originalgrösse auf einem Schloss mit Frau, Tochter und einem eben erst fertig geschriebenen Manuskript, das für Möhrenfrikadellen herhalten muss. Überhaupt ist der Roman ein Schaulaufen verquerer Figuren und Szenerien, voller Anspielungen, Metaphern und Seitenhieben, nicht zuletzt gegen die postsowjetische Literatur.

Ein grossartiges Literaturspektakel über Literaturspektakel der besonderen Art. Aber kein Buch für „Geschichtenverliebte“- eben ein Tagebuch.

© Maria Sorokina

Vladimir Sorokin, geboren 1955, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie «Die Schlange», «Marinas dreißigste Liebe», «Der himmelblaue Speck» und zuletzt «Der Tag des Opritschniks», «Der Zuckerkreml» und «Der Schneesturm». Zuletzt erschien von ihm der große polyphone Roman «Telluria». Sorokin ist einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands und sieht sich regelmäßig heftigen Angriffen regimetreuer Gruppen ausgesetzt.

Saskia Luka «Tag für Tag», Kein & Aber

Es bricht über Maria herein! Es stirbt ihr Mann Georg, urplötzlich, wie aus dem Nichts. Dann holt sie ihre alt und müde gewordene Mutter Lucia aus einem kleinen kroatischen Bergdorf, das sich immer mehr und mehr entvölkert. Und zuschlechterletzt bricht ihre noch nicht volljährige Tochter Anna die Schule ab und vergräbt sich in ihrem Zimmer.

Ein Frauenroman? Mitnichten, wenn es diese überhaupt gibt. Ein Generationen-, Familienroman, ein Heimatroman der ganz besonderen Art, ein Abschiedsroman, ein Entwicklungsroman, ein Roman einer noch jungen Autorin, der hellhörig macht, weil da jemand schreibt, der es versteht, ganz verschiedene Lesarten einer Geschichte anklingen zu lassen. Ein Roman, der durch seine behutsame Sprache besticht, die Art, wie die Autorin mit grösster Zärtlichkeit Personen, Gegenstände, Landschaften und Situationen beschreiben, als würde sie mit der Hand sanft über das Beschriebene schreiche(l)n.

Maria, die als Kind Marija hiess und in dem kleinen Dorf in Dalmatien aufwuchs, lebt als Künstlerin schon lange in Deutschland, nabelte sich einst ab von einer Kindheit am Rande eines Krieges, eines Krieges, der den Tod bis in ihre Familie brachte. Zusammen mit ihrem Mann Georg kaufte sie sich in Bayern ein Haus, renovierte es gemeinsam mit ihm, um dieses Zuhause in dem Moment wieder zu verlieren, als das Herz ihres Mannes völlig unerwartet aufhört zu schlagen. Wieder bricht der Tod in ihre Familie ein. Was sich wie Heimat anfühlte, droht zu entgleiten. Noch mehr, als sie sich gezwungen fühlt, ihre Mutter aus dem leer gewordenen Dorf in Kroatien zu sich zu holen, eine alte Frau mit Kopftuch, klobigen Schuhen und mehreren Röcken übereinander, eine Frau, die kein Deutsch versteht und sich zu Beginn ihres Exils im Haus ihrer Tochter weigert, das Wasser aus dem Hahn zu brauchen. Was sie ein Leben lang für das einzig Richtige hielt, tut sie weiterhin. Sie holt das Wasser im Garten.

„Ich habe damals gedacht, das alles hat nichts mit mir zu tun. Es hat alles mit uns zu tun.“

So sehr sich Marias Mutter von ihrem Zuhause entfernte, so sehr entfernt sich ihre Tochter Anna. Beide schweigen sie zeitweise und lassen Maria alleine. Alle drei sind sie entwurzelt; Lucia von ihrem Dorf in den Bergen, Anna von ihrer Herkunft und den Schienen in die Zukunft, Maria von ihrem Mann, der ihr ihr Zuhause war. Manchmal zieht sie sich ins Zimmer ihres verstorbenen Mannes zurück und schreibt Briefe an ihn, die sie an die Adresse jenes Hauses in Kroatien schickt, in ein leeres Haus.

„Manchmal ändert sich alles an einem einzigen Tag.“

Saskia Luka schildert mit grossem Einfühlungsvermögen, starken Sätzen und dem sicheren Gefühl für Komposition das Leben dreier Generationen unter einem Dach. Die Tochter Anna sucht nach Antworten, einem guten Weg aus dem Dämmerzustand von Trauer und betonierter Rolle in der Familie. Maria sucht den Stand, nachdem ihr der Tod ihres Mannes den Boden unter den Füssen weggerissen hatte, den Ort, an dem sie Wurzeln schlagen kann, Ordnung in einem Leben, dass sich im Chaos eines Dreigenerationenhaushalts aufzulösen droht. Und Lucia, die Mutter und Grossmutter einen Weg, mit Würde das zur Last gewordene Leben zu verlassen. Ein Abschiedsroman, weil Anna weg will, Maria das Leiden satt hat und Lucia sterben will. Im Haus der drei Frauen entwickelt sich eine ganz eigene Dramatik. Maria steht zwischen Tochter und Mutter, zwischen einer jungen Frau, die ausbrechen will, die autonom werden will, frei von Erwartungen und einer alten Frau, die sich immer mehr einer Welt verweigert, die sie nicht mehr interessiert.

„Das Trauerwetter hatte Verwüstungen hinterlassen, aber sie lebte noch.“

Es ist, als ob die Schriftstellerin Saskia Luka in viel kräftigeren Farben sehen würde als ich. Ohne es der Leserin und dem Leser auf die Nase zu binden, erzeugt sie mit ihrer Sprache genau das: Farben, Farben!

Ein Interview mit Saskia Luka:

Ein fast verlassenes Dorf in Dalmatien, ein Dorf in Bayern. Während das eine zerfällt oder durch EU-Zuschüsse entstellt wird, scheint das andere tief in der Zeit verankert, Häuser wie Festungen, in denen Dramen kaum nach aussen dringen. Die Tochter Anna will ausbrechen, sich Normen entgegenstellen, die Mutter Lucia sich dem Tod stellen. Lieben sie Gegensätze? 

Ich liebe die Frauen des Buchs, weil sie so menschlich sind. Sie tragen viele Seiten in sich, sie verändern sich, sie sind widersprüchlich, sie tun, was sie können, sie nehmen sich Raum für ihren Schmerz, sie sind verletzlich. Sie kommen gerade nicht sehr gut miteinander zurecht, sie sind unterschiedlich, aber sie halten das auch aus. Sie begleiten sich, trotz allem, trotz aller Unterschiedlichkeit. 

Maria ist nach dem Tod ihres Mannes herausgerissen, heimatlos. Ihre Tochter distanziert sich, genauso wie ihre Mutter, nur in gegensätzlicher Richtung, obwohl sie diese doch zu sich nach Bayern genommen hatte. Ihr Roman beschreibt die Suche nach Heimat, die Sehnsucht nach einer Ordnung, mit der man leben kann. Sie leben in Berlin und auf der dalmatinischen Insel Brač. Hat ihren das Schreiben Antworten gegeben? 

Ich denke, es hat Auswirkungen gehabt, dass ich Tag für Tag hauptsächlich auf einem Friedhof geschrieben habe – eigentlich war ich auf der Suche nach einem ruhigen Ort – ich war glücklich in der Naturvielfalt mitten in der Stadt, ich habe die Jahreszeiten bewusster erlebt und zwischen den Grabsteinen plötzlich ganz andere Fragen gestellt. Das Schreiben ist mein Weg, mich mit mir und der Welt zu verbinden und natürlich gibt es Antworten.

Maria kehrt zurück ins Dorf ihrer Familie, zurück zum Friedhof, wo ausser Georg ihre Toten liegen. Wenn sie in Deutschland auf dem Friedhof sitzt, meist nicht einmal dort, wo ihr Mann Georg begraben liegt, ist das ein ganz anderer Friedhof. In Dalmatien spiegelt sich das Leben in den Namen auf den Grabsteinen und Kreuzen. In Deutschland in den Begegnungen, vor allem in der Begegnung mit Adam, der im Roman die Rolle des wahren Freundes übernimmt. Sie berühren in ihrem Roman den Krieg immer wieder, schildern den Tod als immerwährenden Begleiter. Lehrt Sie die Geschichte, den Tod mitzunehmen? 

Ich war selbst überrascht, als Lucia – die Grossmutter in meinem Buch – starb und ich erinnere mich, dass ich geweint habe, als ich die Zeilen in den Computer tippte, Lucia den letzten Atemzug tat und tot war. Dann bin ich spazieren gegangen und habe meine Kinder vom Kindergarten abgeholt – und während ich dies hier schreibe, frage ich mich, ob ich erzählen sollte, dass ich um meine Romanfigur geweint habe. In solchen Momenten weint man um alles, einen geliebten Menschen, einen vergangenen Tag. Berührt zu werden ist, was uns lebendig macht und der Tod ist keine Drohung, er ruft uns zu: Lebe!

Maria baut zusammen mit ihrem Mann ein Haus um, macht es zu ihrem Nest, zum Nest einer Familie. Am Schluss ihres Buches reist Maria ins Dorf ihrer Mutter und baut auch dort das Haus um, rettet es vor dem Zerfall. Muss man Häuser bauen oder Familien gründen, um zuhause zu sein? 

Nein, natürlich nicht. In beiden Fällen baut Maria kein Haus – sie erhält sie, bewahrt sie. Das Haus ihrer Familie in den dalmatinischen Bergen würde ohne sie zerfallen und letztlich in Bäumen verschwinden. Es ist ein Ort voller Erinnerungen, den sie nun doch bewahren möchte, vielleicht für ihre Tochter Anna. Der Versuch, ein „Nest“ für ihre Familie zu bauen, scheitert: ihr Mann stirbt, ihre Tochter geht, und vielleicht ist sie am ehesten in ihrer Arbeit zuhause.

So zart die Art ihres Beschreibens, so klar ihre Sprache, so offen bleiben die Geschichten ihrer Protagonisten. Sie malen nicht aus, geben längst nicht alles preis, verknappen das Preisgegebene bis zu einem Konzentrat. Exemplarisch dafür der im Krieg gefallene Bruder Marias. Es ist, als hätten sie mich als Leser eben erst mit dem Personal eines ganzen Kosmos vorgestellt. Absicht? 

Jeder hat seine Geschichte – und wir kennen sie nicht. Wir sollten behutsamer miteinander umgehen. Gerade bin ich in ein Dorf gezogen, wo es quasi gar nicht den einzelnen Menschen gibt, er ist immer Teil seiner Familie(ngeschichte), von Generationen… Viele Leute hier wissen nicht, wie sie uns greifen und einordnen sollen, weil unsere Familien hier nicht verwurzelt sind. Wir sind fremd. Und niemand hier besitzt seine Geschichte. Andere machen sie sich zu eigen, schmücken sie aus, erzählen sie weiter. Ich lerne viele neue Menschen kennen und oft bin ich überrascht – ich versuche mich daran zu erinnern, dass ich ihre Geschichte nicht kenne. 

Vielen Dank!

Saskia Luka wurde 1980 in Köln geboren. Nach ihrem Studium der Germanistik in Bonn arbeitete sie in Berlin im Bereich Presseund Öffentlichkeitsarbeit und als freie Texterin. Saskia Luka ist verheiratet und hat zwei Kinder. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und auf der dalmatinischen Insel Brač.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Linus Reichlin «Keiths Probleme im Jenseits», Galiani

Ein Versprechen aus der Vergangenheit zwingt Fred, alles stehen und liegen zu lassen, um seinem Freund Ben, der mittlerweile Promiarzt in Kalifornien ist, in Not beizustehen. Fred tut es wirklich, obwohl sein Leben nicht das eines Kompromisslosen ist. Ben fährt ihn auf eine Insel mitten im Meer. Auf eine Insel, auf der die Musikgeschichte neu geschrieben werden soll.

Fred ist Lehrer, Buchautor und bald sechzig. Einem seiner Bücher über Quantenphysik schenkte der Zufall hohe Verkaufszahlen und sogar eine Übersetzung ins Amerikanische. Fred ist Single und braucht Bildschirm und Decknamen, um mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Seine Arbeit als Lehrer von gelangweilten Teenagern, die nicht akzeptieren können, dass sich das Universum nicht um sie dreht, ödet ihn an. Das einzige, was ihn wirklich am Leben hält, ist seine Liebe zur Musik. So lässt er sich mit seiner Coverband an Hochzeiten, Geburtstagen und Scheidungsfeten engagieren. Sein grosses Idol ist Keith Richards, Leadgitarrist und Songwriter der Rolling Stones, der Mann mit Stirnband, exzessivem Leben und einem Gesicht, in dem jede Falte ein Leben erzählt.

Ausgerechnet bei einem Date mit einer Internetbekanntschaft erfährt Fred, dass Keith Richards gestorben sein soll. Etwas, was nicht sein soll, denn Fixsterne gehen nicht unter. Aber als sich die Befürchtung bestätigt, ist Fred der Ruf seines alten Freundes von der anderen Seite des grossen Wassers gerade recht, auch wenn ihn sein Musikfreund aus seiner Coverband mit dem Ende seiner Freundschaft droht, sollte er nicht rechtzeitig zum Engagement an einer Scheidungsparty sein.
Fred fliegt und wird von Ben, dem Arzt und Lynn seiner Begleitung empfangen. Aber statt helfen, statt irgend einer Not die Stirn bieten zu können, zwingt ihn Ben, eine 5-Millionen-Schweigeverpflichtung zu unterschreiben im Hinblick auf all das, womit er konfrontiert werden wird. Auf der Insel, die nur mit Taxibooten erreicht werden kann, stehen zwei Häuser. Ein grosses und ein kleines. Und während in den Medien die Beerdigung Keith Richards in allen Einzelheiten verfolgt wird, behaupten die beiden Ärzte Lynn und Ben, dass sich im Obergeschoss des Haupthauses Keith Richard von seinem Sterben erhole.

Fred, der sich mit Fragen der Wahrscheinlichkeit auseinandersetzt, scheint es nicht verwunderlich, dass eben jene Wahrscheinlichkeit ausgerechnet sein Idol aussuchte, um ihn vor der Sterblichkeit zu retten. Aber was für eine Rettung, wenn man zu einem Leben in einer Parallelwelt verbannt ist, wenn man seiner Bedeutung als Meilenstein in der Musikgeschichte nicht ins Fundament krachen will und dieses zerbröseln könnte, wenn man der bleiben will, der man über Jahrzehnte geworden ist, nicht dieser eine, der von den Toten auferstanden ist. Was für eine Rettung, wenn man als Toter nicht einmal mehr an die Millionen auf Bankkonten herankommt, wenn man Erinnerung bleiben will, eine gute Erinnerung und kein Untoter.

«Es gibt nur eine einzige Säule, auf der das Leben ruht, und diese Säule heisst Wahrscheinlichkeit.»

Fred soll helfen Probleme zu lösen, weil Fred an die Wahrscheinlichkeit glaubt. Und Fred ist mit auf der Insel, wie sein Leben eine leere Schublade ist und sie nun endlich mit Bedeutung gefüllt werden soll. Erst recht, als Fred den Gang ins verbotene Obergeschoss wagt und sieht, dass da wirklich Keith Richards sitzt, mit den Füssen in einer Plastikwanne. Fred und Keith freunden sich an, weil irgendwann beide gleichzeitig eine Gitarre in Händen halten, für Keith genauso wie für Fred das Tor zu einer neuen Welt, einer Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Beide soll die Musik retten, Fred aus seiner Bedeutungslosigkeit, Keith aus seinem Dasein auf einer Insel im Nirgendwo.

Linus Reichlin erfindet sich mit jedem seiner Romane neu. «Keiths Probleme im Jenseits» sprudelt vor Ideen und Skurrilitäten. Zugegeben, ich war mir bei der Lektüre nicht immer sicher, ob Linus Reichlin den Bogen nicht überspannt. Aber vielleicht ist das meine helvetische Lesart eines helvetischen Schriftstellers, der so gar nicht tut, womit ich gerechnet hätte. Linus Reichlin nimmt mich mit an den Pool von Jonny Depp, an den Tisch mit Don Was, dem Musikproduzenten von Bob Dylan, Joe Cocker oder Elton John, weit, weit weg von den Kleinbürgersorgen um Termine, in eine Welt zwischen Schein und Sein, zwischen Traum und Trauma.
Es braucht für die Lektüre jenen Funken Wahrscheinlichkeit, den man jeder möglichen Wendung des Lebens geben muss!

Ein Interview mit Linus Reichlin:

Sie schreiben einen Roman über die Wahrscheinlichkeit. Eine Geschichte, in der ausgerechnet jener, der an sie mehr als nur glaubt, scheitert. Sie ziehen Schubladen, die sonst tunlichst verschlossen bleiben, um ein Leben, das eine leere Schublade ist, mit Leben zu füllen. Ihr Schreiben muss ein ziemliches Abenteuer gewesen sein!

Es gab zwei Phasen: In der einen schrieb ich ein Jahr lang eine erste Fassung, die absoluter Mist war, völlig misslungen. Danach schrieb ich in drei Monaten fast in einem einzigen Atemzug die zweite Fassung, an der dann keinerlei Korrekturen mehr notwendig waren. Der Stoff war schwierig, weil er mit dem dramaturgischen Maximum beginnt. Der Produzent Samuel Goldwyn sagte mal, das Rezept für eine gute Geschichte sei: «Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern». Das war hier genau das Problem, aber es ist gelöst!

Fred ist ein Einsamer. Ausgerechnet zu seinem Idol, das fast ein ganzes Leben unerreichbar schien, dass wegzusterben drohte, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Geben und Nehmen. Aber auch sie scheitert. Träume scheitern, die Liebe scheitert. Was scheitert nicht?

© Susanne Schleyer

Wir werden geboren, und unweigerlich sterben wir. Man kann also von einem grundsätzlichen Scheitern sprechen. Aber zwischen all dem Scheitern gibt es ja auch immer Momente des Glücks, des Gelingens, der Zuneigung. Fred und Keith erleben wunderschöne Momente, in denen ihnen grossartige Songs gelingen, und Fred selbst ist ein Mensch, der selbst mit prekären Situationen gut zurecht kommt. Dass der Held am Ende scheitert, liegt vielleicht auch an David Bowies Geist, wer weiss …

Sie überraschen mit jedem ihrer Romane. Es gibt kein Reichlin’sches Thema, die immer gleichen Fragen, die sie kreisen lassen. Sie scheinen sich als Schriftsteller stets neu zu erfinden. Birgt das nicht auch eine Gefahr, nämlich jene, die treue Leserin, den treuen Leser zu erschrecken?

Doch, die Gefahr gibt es durchaus. Aber man verändert sich mit der Zeit, wieso also sollte man stets über die gleichen Themen schreiben? Ich bin jetzt in einer Phase, in der es mich interessiert, originelle Stoffe mit philosophischem Hintergrund auf witzige Weise zu beschreiben. Ich bin auf der Suche nach einem Humor, der aus der Tiefe kommt, so zu sagen einem nachdenklichen Lachen. «Keith» ist das erste Buch aus dieser Serie. 

Nichts ist unmöglich, schon gar nicht das Scheitern. Aber nur aus Angst dort zu verweilen, wo man sich eine sicher geglaubte Existenz eingerichtet hat, das scheint nicht ihr Plan zu sein. Wo lag die Uridee, der Urgedanke ihres Romans?

Die Idee kam auf unübliche Weise. Ich erwachte morgens und hatte fast die ganze Geschichte schon im Kopf. Normerweise dauert es Wochen, bis eine Geschichte konzipiert ist, hier nicht. Sobald Keith Richards und der Tod so zu sagen zusammenkamen, entwickelte sich die Geschichte ganz von selbst. Das Schreiben war anfangs schwierig, kein Wunder bei einem solchen Thema, aber die Ideenfindung nicht.

Sie lieben Musik und kennen sich aus. Man begegnet vielen Namen und noch viel mehr Musiktiteln. Wenn man sich beim Schreiben so sehr in der Welt der Musik bewegt, hört man dann auch die entsprechende Musik?

Natürlich! Es sind fast ausschließlich Lieblingssongs von mir, die erwähnt werden. Ich bin zur Musik der 70er aufgewachsen, das war ein großes Glück, denn die Musik jener Zeit war außergewöhnlich gut, und es gab eine Menge hervorragender Musiker; David Bowie, die Stones, Hendrix, Joplin, Lou Reed, Led Zeppelin – lauter Ausnahmetalente. Und für mich eine der zentralen Figuren war und ist Keith Richards. Er verkörpert diese Zeit wie kein anderer.

Vielen Dank!

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Kategorie Unterhaltung) gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman «Er» schrieb der Stern: »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien «Das Leuchten in der Ferne», ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan. 2015 folgte der Roman «In einem anderen Leben», 2016 «Manitoba».

Rezension von Linus Reichlins «Manitoba» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Willy Vlautin «Ein feiner Typ», Berlin Verlag

Horace, ein «Halbblut», dessen Mutter nichts von ihm wissen wollte, lebt zusammen mit dem alt gewordenen Schafzüchterpaar Reese in den Bergen von Nevada. Obwohl die Reeses nichts lieber täten, als dem fleissigen jungen Mann ihre Farm zu übergeben, obwohl alles auf dem stillen Fleck nach der starken Hand des Jungen Mannes ruft, zieht es diesen in die Stadt. Er will Champion werden.

Willy Vlautin erzählt ganz im Stile der Grossen. Wie John Steinbeck, der in seinen Romanen immer wieder Geschichten um die kleinen Farmer erzählte. Willy Vlautin tut dies unaufgeregt, ohne Geschwätzigkeit, keine Geschichten, sondern einmal mehr jenen des grossen American Dream. Horace will Boxer werden, glaubt fest an seine Bestimmung, die nur daran scheitern kann, es nicht getan zu haben, den Moment versäumt zu haben, auch wenn er weiss, dass er kein Kind des Glücks war, denn weder Vater noch Mutter haben sich um ihn gekümmert.

Mr. und Mrs. Reese züchten seit Jahrzehnten in der kargen Landschaft Nevadas Schafe. Und weil weder die beiden Töchter noch der Sohn das kleinste Interesse zeigten, dereinst die Farm zu übernehmen, der wie vielen anderen in der Gegend wegen fehlender Nachfolge der unweigerliche Niedergang droht, setzt das alternde Ehepaar ganz auf den Ziehsohn. Horace hat nicht nur gute Hände für die Arbeit und die Tiere, sondern ist auch sonst die Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit in Person. Er lebt in einem Trailer, den er peinlich sauber hält und ist mit Tieren genauso fürsorglich wie mit Menschen, selbst dann, wenn sie nichts von dem Respekt zurückgeben.

Aber Horace hat einen Traum. Er will beweisen, dass mehr in ihm steckt, als ein Schafhirt in den Bergen Nevadas, dass er nicht bloss das Resultat einer Katastrophe ist, dass er mit Einsatz und Entschlossenheit ein Champion werden kann, ein Boxchampion. Er steigt in einen Bus und fährt los, obwohl er weiss, dass die Gesundheit von Mr. und Mrs. Reese nicht zum besten steht. Obwohl er weiss, dass es für die beiden zu spät sein könnte, wenn er erfolgreich zurückkehren wird.

Aber die Reise in die Stadt wird trotz Talent, Gutmütigkeit, Entschlossenheit und ganzem Einsatz zu einem Desaster, an dem Horace zu zerbrechen droht. Die Welt draussen, die Menschen in der Stadt funktionieren nicht so, wie sie es tun sollten, dass Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nicht auf der Strecke bleibt. Horace scheitert an der Verlogenheit und Verkommenheit derer, die in ihm eine Geldquelle sehen. «Ein feiner Typ» genügt nicht in den Stadt- und Menschenwüsten der amerikanischen Gegenwart. Wer den American Dream realisieren will, muss nach den Spielregeln der Zeit kämpfen. Und diese sind innerhalb des Ringes genau die gleichen wie ausserhalb; nur der Stärkere gewinnt. Horace zerbricht. Er zerbricht an der Welt, aber auch an der eigenen Schwäche, der eigenen Lüge, der Unfähigkeit, das zu tun, wonach der Moment ruft, im Bus der Schwangeren mit ihrem Kind zu helfen, die nicht auftaucht, als der Bus mitten im Nirgendwo nach einem Stop weiterfahren soll, dem Mädchen, das ihn liebt, aber in ihrer Not ihrer Liebe nicht folgen kann.

Und auf der anderen Seite Mr. Reese, für den Horace wie ein Sohn ist, der alle Hoffnungen auf den jungen Mann setzt, der weiss, dass seine Tage als Schafzüchter gezählt sind, der keinen mehr findet, der die harte Arbeit in den Bergen mit ihm teilt. «Ein feiner Typ» ist die Geschichte von Freundschaft, von tiefer Verbundenheit, die sich mit dem Traum der Selbstverwirklichung streitet. Man ahnt vom ersten Kapitel weg, dass ein Drama droht. Man sieht tief in die Seele eines geschundenen Landes, einer Gesellschaft von Verlierern, sei es auf dem Land, aber noch viel mehr in den Städten, hinter glitzernden Fassaden, hohlen Versprechungen und den Verlockungen des grossen Geldes. «Ein feiner Typ» ist meisterhaft erzählt, liest sich mit ungeheurem Zug und lässt einem tief blicken.

© Lee Posey

Willy Vlautin (geboren 1967) ist ein amerikanischer Autor, Musiker und Songschreiber. Von 1994 bis 2016 war er Leadsänger, Gitarrist und Songschreiber der Rockband Richmond Fontaine aus Portland, Oregon. Zurzeit ist er Mitglied der Band The Delines. In Reno, Nevada geboren und aufgewachsen hat er seit Mitte der Neunziger Jahre elf Alben mit Richmond Fontaine und seit 2014 drei Alben mit The Delines aufgenommen. Vlautin hat fünf Romane geschrieben: «Motel Life», «Northline», «Lean on Pete», «Die Freien» und «Ein feiner Typ».

Der Übersetzer Nikolaus Hansen (1951), geboren in Hamburg, war Verleger u. a. von Rohner & Bernhard, Rowohlt, marebuchverlag und Arche/Atrium. Er ist Autor, Mitveranstalter des Harbour Front Literaturfestival in Hamburg und Übersetzer, u. a. von Joseph Conrad, Robert Stone, William Kotzwinkle, Deborah Eisenberg, Wallace Shawn, James Salter, Kamila Shamsie und Edward St Aubyn.

Webseite des Musikers und Schriftstellers

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Matthias Brandt «Blackbird», Kiepenheuer & Witsch

Motte ist 15 und irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsenwerden hängen geblieben. Die Welt eines 15jährigen 1976 und Gleichaltriger heute unterscheidet sich wesentlich, wenn auch dieses Gefühl des Nirgends-Hingehören damals wie heute dasselbe ist. Matthias Brandt versteht es wie kein zweiter, ins Lebensgefühl einer «längst» vergangenen Zeit zurückzuschwimmen.

Blackbird singing in the dead of night
Take these broken wings and learn to fly
All your life
You were only waiting for this moment to arise
(Paul McCartney, Beatles, 1968)

Schule ist Nebensache, viel wichtiger das, was zwischen Schulzeit und Familienzeit passiert, erst recht, wenn fast nichts passiert. Morten, den sein Freund Bogi nur Motte nennt, weil seine Eltern sich trennen, sein Vater arbeitslos und mit der Neuen in die Pampas zieht und seine Mutter ihre Traurigkeit wie einen übergrossen Spiegel mit sich herumträgt. Und weil das, was zuhause passiert, ihn einfach nicht in Ruhe lassen will, ist zum einen da die Freundschaft zu Bogi und die Blicke des Mädchens, die ihn nicht mehr loslassen.

Bis das Telefon klingelt und Bogis Eltern ihm mitteilen, dass sein Freund im Spital sei, krank und wohl eine Weile nicht zur Schule kommen werde. Non-Hodgkin-Lymphom heisst das Ding, dass Bogi am Spitalbett festkrallt und unsägliches Schuldgefühl bei Motte, der sich nicht traut, Bogi wie einen Freund im Spital zu besuchen. Und wenn er es dann doch schafft, dann ist die Umarmung hölzern und nichts flammt auf, was zuvor Selbstverständlichkeit war. Wie gar nichts mehr selbstverständlich zu sein scheint, alles aus den gewohnten Bahnen zu kippen scheint. Noch mehr, als ihn das Mädchen versetzt, für das er Stunden des Wartens investiert hatte, die genau die Richtige schien. Noch mehr, weil er auch in der Schule zu verstehen beginnt, dass ihn das Leben um die Wirklichkeit betrügt, «alte Säcke» ihn und seine Schulkameraden schikanieren.

Aber Bogi kommt zurück, wenn auch nicht in die Schule. Sie treffen sich wieder, bei ihm zuhause, in Bogis Zimmer, hören Musik und quatschen. Morten wohnt mittlerweile in einem andern Stadtteil, von seiner Mutter «verschleppt», von Vater hängen gelassen. Aber es kommt noch viel dicker. Nachdem Motte und seine Kumpane Bogi noch einmal für ein Fussballspiel überreden, rufen ihn Bogis Eltern wieder an. Bogi ist erneut im Spital. Und als er ihn besucht, wird er Zeuge eines letzten Kampfes. Bogi stirbt.

Solch belastende Lektüre? Selten habe ich mich bei der Lektüre eines Buches derart amüsiert wie bei Matthias Brandts Roman. Mag die eigentliche Geschichte eine traurige sein, Matthias Brandt erzählt sie mit derart lockerem Witz und einer überragenden Empathie, dass man regelrecht eintaucht in ein Panoptikum schräger Figuren und Geschichten. Kein Wunder, wenn man sich irgendwann nachts betrunken auf einem Zehnmeterbrett zusammen mit Elvis wiederfindet und der einzige Weg hinunter der unmögliche Richtung Wasser sein kann, auch wenn da keine Flügel wachsen. «Blackbird» erzählt davon, wie wenig die Welt eines 15jährigen mit der von Erwachsenen zu tun hat, erst recht dann, wenn ihnen Haare aus den Ohren wachsen.

Matthias Brandt, geboren 1961 in Berlin, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Für seine Leistungen ist er vielfach ausgezeichnet worden. Als Autor debütierte Matthias Brandt 2016 mit seinem hochgelobten Erzählband «Raumpatrouille».

Rezension zu «Raumpatrouille» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Arne Lesmann

Andreas Maier «Die Familie», Suhrkamp

«Die Familie» ist ein zu tiefst beeindruckender Roman über Brüche; jene in der Geschichte, jene zwischen den Generationen. «Die Familie» ist das Protokoll einer Zerstörung, die Auswirkungen dessen, was ein Familientsunami ausrichten kann, auch wenn zwischen Erschütterung und Überflutung Jahrzehnte liegen. Exhumierung von Geschichte!

«Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren eigenen», steht vor dem Epilog zu Andreas Maiers neuem Roman «Die Familie». «Wir sind Kinder der Schweigekinder», in einem Dialog, nachdem es dem Erzähler wie Schuppen von den Augen fällt. Schlüsselsätze für den Autor, Schlüsselsätze für mich als Leser. Ob autobiographisch oder nicht, was letztlich keine Rolle spielt, beschreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman ein weit verbreitetes Familienphänomen; das Schweigen. Ausgerechnet dort, in jenem Gefüge, der Wiege des Staates, dem Nest aus dem jeder Vogel ausfliegt, werden Schweigen kultiviert und Geheimnisse gehütet. In einer deutschen Familie jenes Deutschland ausgeblendet, das sich tausend Jahre lang auf einen mehr als gewaltigen Marsch durch die Geschichte aufmachen wollte und glücklicherweise, aber zu einem unsäglich hohen Preis, scheiterte.

«Die Familie» erzählt Geschichte, auch jene, die nicht stattgefunden haben darf. Andreas wächst als eines von drei Kindern in einer Kleinstadt auf, am Ufer eines Flusses, auf einem grossen Grundstück, auf dem einst ein Mühle stand, später die Hallen einer Fabrik. Andreas Vater ist Jurist, gefragter CDU-Mann, hochgeachtetes Mitglied der Gesellschaft. Das familieneigene Grundstück, das seit Generationen der Familie gehören soll, von Mauern und Gewächs umgeben, steht in Kontrast zu all den kleinen Wohneinheiten rundum und versinnbildlichendes Zeichen für Erfolg, Wohlstand und eine grosse Portion Überlegenheit. Man ist sich seines Standes bewusst.

In dieser Welt wächst Andreas auf, auch wenn er schon als Kind merkt, dass sich Risse in den Grundfesten bilden. Zum einen, weil sich der um ein paar Jahre ältere Bruder partout nicht zähmen lässt, als Kind lieber auf dem Kinderplaneten spielt, als Jugendlicher lieber im Jugendzentrum hockt und vom Sozialkundelehrer Krafft «schlecht beeinflusst» wird und schlussendlich sogar ganz mit der Familie bricht. Zum andern, weil sich auch die Schwester niemals fassen lässt, der Onkel, der Bruder seiner Mutter angeblich nur noch die Konfrontation sucht.

Das mit allen Mitteln verteidigte Familienidyll, das der Vater wenn nötig auch mit juristischen Mittel zu verteidigen weiss, kippt endgültig, als die Mauern der alten Mühle fallen, des letzten Überbleibsels einer Geschichte, die man mit viel Strategie unter einer soliden Grabplatte verschwinden lassen wollte. Der Fall jener Mauern hört nicht mehr auf, sie decken alles zu, was Mutter und Vater mit ihrem Schweigen im Verborgenen belassen wollten. Bis der mittlerweile zum Schriftsteller gewordene Erzähler durch eine Freundin erfährt, dass nichts von der angeblichen Familiengeschichte und hochgehaltenen Familientradition so ist, wie der Schein es wahren sollte.

«Die Familie» ist durchaus exemplarisch. Fast am Schluss steht der Erzähler vor einem Grab. Nicht jenem seiner Familie, aber am Grab einer jüdischen Familie, die wie Hunderttausende anderer unter der Hakenkreuzfahne enteignet und vernichtet wurde. So wie sich damals Familien «pulverisierten», tut dies die Wahrheit mit der Familie des Erzählers.

«Es bedeutet, dass es mich gar nicht gibt.»

Andreas Maiers Roman fesselte mich! Kaum ein Gefüge ist derart zerbrechlich wie «Familie». In keinem Gefüge kann ein Virus derart katastrophale Auswirkungen haben wie in der Familie. Viren, die durch Lüge und Schweigen freigesetzt werden und dieses Gefüge über Generationen vergiften. Andreas Maier schrieb keine Anklage, aber man spürt sein Leiden. Wie in keinem seiner Bücher bisher.

© Jürgen Bauer

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier lebt in Hamburg.

Rezension über «Der Kreis» (2016) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Christos Chryssopoulos «Parthenon», Haymon

Angenommen: Der Eifelturm in Paris, das Brandenburger Tor in Berlin, das Colosseum in Rom oder der Parthenon auf der Athener Akropolis: Explosionen erschüttern nicht nur Fundamente der Bauwerke, sondern das Fundament einer ganzen Nation. So wie am 11. September 2001 mit dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New York. Was treibt Menschen dazu? Warum das zerstören, was über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zur Identifikation einer Stadt, einer Nation, der Menschheit gehört?

Christos Chryssopoulos stellt die Frage, ob Griechenland noch Griechenland wäre, würde man es von den marmornen Zeugen aus der Vergangenheit «befreien». Was ist Griechenland ohne seine Geschichte, ohne den Tourismus, der den antiken Mauern nachsteigt, ohne das Bewusstsein, der Nabel einer Hochkultur zu sein.

Ein Mann liebt sein Land. Er liebt den Tempel auf dem Stadtberg, von dem er nur in der dritten Person spricht, ein grosses Er, als wäre das Gemäuer die Verkörperung einer Gottheit über Stadt und Staat. Und weil er sich, seine Stadt und sein Land vor der erdrückenden und alles vereinnahmenden Omnipräsenz dieses Ers befreien will, pulverisiert er mit einem konzertierten dumpfen Krachen den Panthenon zu Staub.

«Literatur kann gefährlich sein.»*

«Panthenon» ist nicht durcherzählt, sondern eine Mischung aus verschiedenen Stimmen; jener des wahrscheinlichen Attentäters, beobachtet in einer Zelle, Zeugenaussagen, den Stimmen jener, die in der Mitte des Jahrhunderts in Manifesten in der obsessiven Antikenverehrung die Ursachen für den geistigen und ideologischen Niedergang Griechenlands sahen, und eines labilen Soldaten, der sich ausgerechnet unter jenen findet, die ins Erschiessungskommando einberufen werden, um das gefällte Todesurteil gegen den Bombenleger zu vollstrecken.

«Das kollektive griechische Bewusstsein wurde und wird in den Grundfesten erschüttert.»*

Dass Griechenland mittlerweile nicht nur geistig und ideologisch angezählt ist, sondern auch wirtschaftlich und sozial, gibt dem schlanken Roman mehr als nur eine aktuelle Komponente. «Ich hatte nicht vor, Böses zu tun. Ich wollte nicht zerstören», beschwört der Festgenommene in seiner Zelle. «Es verlangte mich nur danach, uns von dem zu befreien, was als unübertroffen vollkommen angesehen wurde. Ich empfand mich selbst als jemanden, der ein Geschenk anbietet, einen Ausweg, eine Herausforderung.» Am Morgen nach den Explosionen lichten sich Staub und Rauch und statt der ewigen Silhouette tut sich der Himmel auf. Was er tat, war kein Affekt, keine Reaktion, sondern ein Befreiungsschlag, der eine Stadt, ein Land, ein Volk aus dem Würgegriff von Tradition, Geschichte und Mythos befreien soll.

«Wie reagieren wir in der Gegenwart, wenn wir die Last der Vergangenheit auf dem Rücken tragen?»*

Christos Chryssopoulos tut dies literarisch, nicht als möglichst realistische Fiktion. «Parthenon» ist ein Kunstwerk, in dem sich Stimmen spiegeln und reflektieren. Ein Roman, der sich mit dem beschäftigt, was Identität ausmacht, worin sich Staaten spiegeln und sonnen, auch wenn jene Geschichte aus viel mehr Pathos als Wirklichkeit entspringt. «Parthenon» ist auch ein Buch der Gegensätze; es beginnt mit der Stimme eines überzeugten Machers, eines Mannes, der sich ganz und gar nicht als Zerstörer und schon gar nicht als Verbrecher sieht. Das Buch endet mit der Stimme eines Soldaten, einer von 15, die auf Befehl auf den Verurteilten schiessen sollen, eines Soldaten, der bislang immer die Augen verschloss, wenn der Abzug den Schuss auslöste.

«Die Profilierung des Nicht-Profanierbaren ist die politische Aufgabe der kommenden Generation.» Giorgio Agamben

«Parthenon» ist das erste seiner Bücher, das ins Deutsche übersetzt wurde.

(*Zitate aus dem Gespräch in Leukerbad vom 29. Juni 2019)

Christos Chryssopoulos erlebt die schwierigen Verhältnisse in Griechenland hautnah und sieht es als Pflicht, in seinen Büchern Stellung zu beziehen. Der 1968 in Athen geborene Schriftsteller, Übersetzer und Fotograf studierte Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. verlieh ihm die Französische Republik 2015 den Titel des Ritters der Wissenschaften und Künste. Christos Chryssopoulos ist Mitglied des Europäischen Kulturparlaments und schreibt regelmäßig für die nationale und internationale Presse. Seine Bücher werden weltweit übersetzt.

Theo Votsos, geb. 1966 in Stuttgart als Sohn griechischer Arbeitsmigranten, arbeitet als freiberuflicher Übersetzer griechischer sowie deutschsprachiger Literatur. Daneben ist er für diverse Medien als Film- und Literaturredakteur tätig. Er hat in Konstanz und Tübingen Politologie, Soziologie und Philosophie studiert.

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

R. O. Kwon «Die Brandstifter», Liebeskind

In der Liebe liegt nicht unbedingt die Rettung, aber mit Sicherheit Leidenschaft. Will liebt Phoebe. Sie lernen sich auf einem us-amerikanischen Campus kennen. Sie aus gutem Haus, er ein mittelloser Stipendiat. Aber Phoebe entgleitet ihm in den Bann einer Sekte, einer kleinen radikalen Gruppe, die auch vor Extremismus und Gewalt nicht zurückschreckt.

Dass dieser Roman in den Staaten zu einem Bestseller geworden ist, erstaunt nicht. Die junge Autorin sticht mit ihrem Buch in eine stetig wachsende Eiterbeule, die sich in einer immer radikaler werdenden Gesellschaft in den verschiedensten Färbungen ausbreiten kann. Meinungen werden zu Wahrheiten erklärt, das Fremde zur Bedrohung, Toleranz zu Schwäche und Gewalt zur Selbstverteidigung. Nicht das Radikalisierung ein us-amerikanisches Phänomen wäre, aber wenn gesellschaftliche Veränderungen in den USA zum Modell dessen werden, worauf sich Europa vorzubereiten hat, dann lohnt sich die Lektüre eines Buches wie «Die Brandstifter» erst recht.

Schon das erste kurze Kapitel, in dem aus der Sicht von Will erzählt wird, lässt keinen Zweifel daran, dass eine Katastrophe geschehen ist, eine Explosion. Am einen Ort steigt Rauch aus, Menschen sterben und wahrscheinlich sitzen auf einem Dach in Sichtweite andere und lassen Weingläser klirren, stossen an auf das, was Bomben ins Rollen bringen sollen. «Die Brandstifter» ist ein Erklärungsversuch eines mehrfach Zurückgelassenen, eines Mannes, der zu verstehen versucht, aber nicht kann, der die Zündschnur hat brennen sehen, aber nicht in der Lage war, die Lunte zu löschen.

Will lernt Phoebe an der prestigeträchtigen Edwards University kennen. Er schaffte es nur mit einem Stipendium an diese Uni und muss seinen Lebensunterhalt mit Jobs finanzieren, mal im Service eines Gourmettempels, mal als Assistent an der Uni selbst. Will ist zurückhaltend, schickt einen Teil seines Verdienstes an seine alleinstehende Mutter und tut sich auch sonst schwer, in das Studentenleben neben Vorlesungen und Studium zu tauchen. Bis er Phoebe kennenlernt, einen Stern aus einer anderen Welt, eine junge Frau, der alles viel leichter zu fallen scheint. Was ganz zaghaft beginnt, wird für Will zu einer Obsession, denn je mehr Nähe er zu Phoebe gewinnt, desto mehr scheint sie sich ihm zu entziehen. Je besser er sie kennenlernt, desto durchscheinender und dünnwandiger wird das Konstrukt, worauf das Leben der jungen Studentin gebaut ist. Will erfährt von einer zerrissenen Familie, einem Vater auf Tauchstation und einer Mutter, die an der Seite ihrer Tochter bei einem Autounfall sterben musste. Er spürt, wie viel Schuldgefühle Phoebe mit sich herumträgt, wie sehr sie sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlt. Nicht nur, weil sie sich weigerte, ihrer Mutter das Fahren zu überlassen, sondern weil Phoebe nicht jenes Leben leben wollte, das die Mutter vor Augen hatte.

Das alleine wäre Stoff genug für einen Roman. Aber R.O. Kwon will mehr. Phoebe lernt in dieser Phase grösster Verunsicherung, eine Verunsicherung, die durch die bedingungslose Liebe Wills nicht leichter geworden ist, den schon etwas älteren John Leal kennen, einen Mann mit Charisma und Mission. Ein Mann, der allerhand vorgibt; er habe einst Priester werden wollen, habe Nordkoreanern von China aus zur Flucht verholfen, sei gefangen genommen worden, hätte in Lebensgefahr fliehen können. John Leal sammelt eine kleine Gruppe Suchender um sich, die sich mehr und mehr von der Mitwelt abkoppeln, bis zur Selbstkasteiung geisseln und in einer kleinen Hütte im Nirgendwo Anlauf nehmen für diese eine finale Aktion, die das Übel mit einem lauten Knall ausbrennen soll.

Will muss zusehen. «Die Brandstifter» ist die Geschichte eines Zurückgelassenen, von einem, der die drohende Katastrophe sieht, aber unfähig ist, ihr entgegenzuschreiten, auf die brennende Lunte zu stehen. Eines jungen Mannes, der die Liebe gewinnt und gleichzeitig verliert, der mit jeder Umarmung den Kontakt mehr und mehr verliert, bis er nicht einmal mehr sicher ist, ob es Phoebe überhaupt noch gibt. Ein wichtiges Buch, ehrlich geschrieben, ohne amerikanischen Pathos, aber mit ergreifender Unmittelbarkeit.

R.O. Kwon wurde in Seoul geboren und wuchs in Los Angeles auf. Sie schreibt für verschiedene amerikanische Tageszeitungen und Magazine. Ihr Debütroman »Die Brandstifter« avancierte 2018 in den USA zu einem Bestseller und galt vielen Kritikern als eines der besten Bücher des Jahres. Er wurde u.a. für den National Book Critics Circle Award und den Los Angeles Times Book Prize nominiert. R.O. Kwon lebt in San Francisco.

Die Übersetzerin Anke Burger studierte Amerikanistik, Germanistik und Publizistik in Heidelberg, an der Freien Universität Berlin und der University of Texas in Austin. Sie schloss ihr Studium 1994 mit einem M. A. ab und siedelte dann nach San Francisco über, wo sie über sieben Jahre lang zu Hause war. 2003 wurde sie mit dem Wieland-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

R.O. Kwon liest am 18. September in Zürich!

Beitragsbild © Smeeta Mahanti