Artur Dziuk «Das Ting», dtv

Im Berlin der Gegenwart treffen sich Linus, Adam, Kaspar und Niu und gründen in einer versifften Wohnung ein Start-up-Unternehmen, ein Tool, das körperbezogene Daten seiner Nutzer sammelt, um ihnen Entscheidungen zu erleichtern oder gar abzunehmen. Ein besserer, glücklicherer, erfolgreicherer Mensch soll man werden. Das «Ting» ein permanenter Begleiter zur Selbstoptimierung.

Wir bewegen uns im Netz, sorglos darüber, was mit unseren Daten und Spuren passiert. Wir sind durch unsere Mobilphones jederzeit zu orten. Wir geben Daten preis, die ein cleveres Ührchen am Handgelenk als modisches Accessoire getarnt, der Cloud in den Rachen wirft. Unsere Küche ist vernetzt, unser Arbeitsplatz überwacht, fast alle Daten für den einigermassen gewieften Hacker unschwer einsehbar.
Und doch glauben wir noch immer daran, dass die Maschine unser Leben erleichtert. Noch immer glauben wir, dass mit zunehmender Begleitung von Technik und künstlicher Intelligenz das eigentliche Leben nur leichter und angenehmer wird. Und wir lächeln gequält, wenn man im Netz von den Verrückten liest, die im Wald nach dem urspünglichen Leben suchen, die sich dem Konsum verweigern oder in irgend einer abgelegenen Gegend der Welt die Langeweile kultivieren.

Noch immer verspricht die Wirtschaft Hand in Hand mit der Wissenschaft den Traum der unbegrenzten Möglichkeiten. Es braucht nur Talent, Entschlossenheit und Disziplin. Genau das vereint das Geviert, das sich daran macht, einen digitalen Glücksbringer markttauglich zu machen. Linus als Entwickler, Niu als Programmiererin, Adam als Geschäftsmann und Kaspar als Investor der ersten Stunde. Eine Idee schweisst die vier zusammen, lässt vergessen, was im Leben zuvor getrennt hätte. Ein Verrat zwischen Linus und Adam, eiserne Familientraditionen bei Kaspar und tiefe Einsamkeit bei Niu. So ist der aus vier Perspektiven erzählte Roman gar nicht so sehr die Geschichte einer Geschäftsidee, auf die die Welt nur zu warten scheint, sondern ein Roman darüber, was die Mechanismen einer Zweckgemeinschaft anrichten können, erst recht dann, wenn man sich freiwillig seiner Entscheidungsfreiheit berauben lässt und alles dem einen untergeordnet werden muss, wenn Erfolg bedingungslos wird, wenn sich alles einer Idee, einer Ideologie unterwirft.

Wenn man dem Internet zu glauben wagt, soll Steve Job, Mitbegründer von Apple und einer der erfolgreichsten Start-up-Unternehmen der Gegenwart kurz vor seinem Tod gesagt haben: «… In den Augen der Menschen gilt mein gesamtes Leben als eine Verkörperung des Erfolgs. Jedoch abgesehen von meiner Arbeit, habe ich wenig Freude in meinem Leben. Letztendlich gilt mein Reichtum nur als Fakt des Lebens, an den ich gewohnt bin. In diesem Augenblick, wo ich in einem Krankenbett liege und auf mein ganzes Leben zurückblicke, verstehe ich, dass all die Anerkennung und all der Reichtum, worauf ich so stolz war, an Wert verloren haben vor dem Gesicht des kommenden Todes…»

Alle vier Hauptpersonen starten als Gezeichnete in ihr abenteuerliches Unternehmen, mieten sich ein in einer ehemaligen Kirche, werden zu ihren eigenen ersten Testpersonen mit der Abmachung, dass dem der Firmenanteil verloren geht, der sich nicht an die Ratschläge des Tings hält. Das Unternehmen wächst, die Einsamkeit in der undurchschaubaren Verwicklung digitaler Zusammenhänge auch. Und als Google ein gigantisches Übernahmeangebot macht, zerbröselt das, was zuvor wie Freundschaft aussah.

Artur Dziuk Blick auf die Welt ist ein optimistischer. Vielleicht eine Spur zu optimistisch, angesichts dessen, mit welcher Begeisterung man sich in sämtlichen Lebenslagen auf Technik verlässt. Die Stärke des Romans liegt in den Figuren und den Geschichten um diese herum, ihre Herkunft, ihre Sehnsüchte, ihr Schicksal und die Blendungen. Artur Dziuk scheint sich viel mehr um die Beziehungen des Gevierts zu interessieren, als um die nachvollziehbare Erfolgsstory eines Start-ups. Ich hätte dem Buch eine ordentliche Prise mehr Pfeffer gegönnt. Das Buch ist spannend und lesenswert und für einen Debütroman mehr als beachtlich.

Ein Interview mit Artur Dziuk:

Durch den Roman schimmert die These, dass ein Team nur solange funktioniert, wie Ziele genau definiert und der Weg dorthin reglementiert ist. Glaubt man moderner Betriebsphilosophie, dann braucht es aber mehr als das. Und wenn man einigen wenigen glaubt, dann ist „Team“ glorifizierter Irrglauben. Selbst die Schriftstellerei ist weit weg von Teamarbeit. Ist Team nicht einfach der Traum eines nicht zu erreichenden Idealzustands?
Was mich als Schriftsteller interessiert, sind der Druck und die Spannungen, die auf ArbeitnehmerInnen im modernen Arbeitskontexten wirken. Ein Team ist meist nur nach aussen hin eine Gemeinschaft mit gleichem Ziel und definierten Prozessen. Zwischen KollegInnen herrschen oftmals Konkurrenz, Missgunst und Taktierereien, was in einer Gesellschaft, die den kapitalistischen Wettbewerb schon in der Grundschule startet, auch nicht verwunderlich ist. Der Ellbogenkampf um die nächste Sprosse auf der Karriereleiter, die existentielle Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und die Umerziehung von abgesicherten ArbeitnehmerInnen zu unabhängigen Entrepreneuren verändern und formen das Innenleben, die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen. Genau dort möchte ich ansetzen.

Es siegt in ihren Roman nicht die Liebe, auch nicht die Freundschaft, sondern Geld, Macht und Intrige. Alle vier ProtagonistInnen verlieren durch das Ting den letzten Rest ihrer Fähigkeit zu Empathie. Ist das eine der Einsichten des Schriftstellers Artur Dziuk, dass sich Selbstoptimierung und echte Gemeinschaft niemals vereinen?
Ich würde nicht zustimmen, dass die vier Figuren die Fähigkeit zur Empathie verlieren, vielmehr machen sie von jener seltener Gebrauch. Und das würde ich Personen tatsächlich attestieren, bei denen der Wille zu Selbstoptimierung und Effizienz fest im Mindset verankert sind: Der stete Blick nach innen führt zu weniger Empathie und politischem Bewusstsein. Wer meint, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, der schiebt auch jedes Problem, jedes Scheitern dem Individuum allein in die Schuhe. Auf den Gedanken, dass an negativen Erfahrungen nicht die/der Einzelne, sondern unsere gesellschaftlichen Strukturen schuld sein könnten, kommen viele gar nicht mehr.

Alle vier sind Losgelassene, Verlassene, Vergessene. Selbst die Familie mag nicht mehr zu kompensieren, was durch den Druck der gesellschaftlichen Normen zu bröckeln beginnt. Schon gar nicht die Religion, ausser sie wird zu Selbstzweck und damit der dem Glauben an den uneingeschränkten Fortschritt gar nicht so fremd. Wo sehen sie das Glück in 50 Jahren?
Glück wird es immer geben, auch wenn unsere Welt in 50 Jahren womöglich eine sehr viel unbequemere und sehr viel trostlosere sein wird. Vielleicht liegt ein Problem aber auch in solchen Aussagen. Wenn man sich anhört, wie über gesellschaftliche Veränderungen und Zukunftsperspektiven gesprochen wird, fällt auf, dass wir gänzlich verlernt haben, positive Visionen zu entwickeln, für die es sich zu kämpfen lohnt. Veränderungen werden nur noch angemahnt, um die nächste Krise oder den Totalzusammenbruch abzuwenden. Krisenfetisch schürt zwar Ängste und gewinnt so Wahlen, aber führt aus lösungsorientierter Sicht nur zu Stillstand.

Ihre Gesellschaftskritik blitzt manchmal durch. Lohnt es sich als Schriftsteller, Zurückhaltung zu üben, nett zu sein? In den Lucky Luck Comics reitet der brave Cowboy gegen den Horizont. Aber wenn der Horizont immer mehr wegbricht und es keine Perspektiven gibt, in irgend einer Ferne das Glück zu finden. Ist das Glück nicht unmittelbar da?
Beim Schreiben spielen Aspekte wie «Zurückhaltung» oder «Nettigkeit» keine Rolle. Und schon gar nicht geht es jemandem, die/der ihre/seine Zeit mit dem Schreiben von Literatur verbringt, um «Entlohnung». Vielmehr treibt mich beim Schreiben um, welcher Blick auf die Welt und welche Sprache am besten zwischen Form und Inhalt vermitteln. Darüber hinaus möchte ich in meinen Texten keine pauschalen Aussagen treffen und einseitig verteufeln. Reflektion von Gegenwart ist ein wichtiger Aspekt für mich beim Schreiben, aber Kritik sollte auch positive Facetten zulassen. «Das Ting» ist natürlich alles andere als ein positiver Roman. Aber manchmal denke ich, dass er vielleicht genau das hätte werden sollen. Womit ich wieder auf die positiven Visionen anspiele.

An einer Stelle begegnet Adam jemandem, der ihn als einen der jungen Gründer von Ting erkennt. Er schiesst von sich und Adam ein Selfie und fragt ihn, ob er für einen Studenten wie ihn einen Tipp hätte. „Du musst 70 Stunden in der Woche arbeiten, alle zwischenmenschlichen Beziehungen ignorieren, die dir nicht nützen und Erfolg zum einzigen Massstab deines Lebens machen.“ Eine Antwort, die von vielen mit Zeigefingern unterstrichen wird. Und Ihr Tipp?
Ich würde es vorziehen, mich mit direkten Ratschlägen zurückzuhalten. Aber ich freue mich natürlich über LeserInnen, die bei der Lektüre von «Das Ting» etwas für sich mitnehmen können. Und sei es bloss eine gute Zeit.

© Gunter Glücklich

Artur Dziuk wurde 1983 in Polen geboren. Er studierte in Berlin und machte den Master of Arts im Literarischen Schreiben an der Universität Hildesheim. Er gilt als eines der neuen jungen literarischen Talente: 2013 war er Finalist beim 21. open mike. Er erhielt verschiedenste Stipendien und nahm an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teil. «Das Ting» ist sein Romandebüt. Heute lebt er in Hamburg.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Kai Weyand «Die Entdeckung der Fliehkraft», Wallstein

Karl unterrichtet Sträflinge im Gefängnis. Obwohl er der ist, der nach ein paar Stunden das Gefängnis verlassen kann, fühlt er sich in seinem Leben gefangen. Eines Nachts bricht er aus seinem Gefängnis aus und schneidet in seinem Zorn gegen alles Unnötige eben den Stoff durch, der einen anderen vor dem Fallen schützen soll und ist mit einem Mal nicht nur gefangen, sondern verloren.

Karl ist verheiratet und Vater eines kleinen Jungen. Karl ist sich nicht mehr sicher, ob er seine Frau Lydia noch liebt. So sicher ist sich auch Lydia nicht, denn Karl wird seltsam, sein Leben immer mehr eine Anhäufung von unerklärbaren Andeutungen, ihre Ehe ein Grabenkampf im Dauerbeschuss von Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Karl liegt nachts wach neben seiner Frau, sieht den Rücken, der einst Zentrum aller Sehnsucht war und jetzt nur noch die abgewandte Seite seiner Frau. Er fährt zur Arbeit in die Strafanstalt zu all den schweren Jungs, liest Gedichte von Rilke und stellt Fragen, die die tätowierten Männer mit Armen so dick wie Autoreifen aus der Reserve locken. Bis ihm einer der Häftlinge ein Bündel Papier in die Hand drückt, einen langen Brief, in dem er erzählt, wie er im Krieg mit einem Orden für sein Töten belohnt wurde und in Deutschland mit 15 Jahren Zuchthaus, weil er seine Schwester vor den Misshandlungen ihres Ehemannes bewahren wollte.

Karl ist gefangen. Er bringt einen Strauss weisse Tulpen mit nach Hause, schenkt unterwegs der Mutter aus der Nachbarschaft, die wie immer mit dem kleinen Homer an ihm vorbeigeht, eine Tulpe, weil der kleine Junge es will, streckt die sechs verbliebenen seiner Frau hin, die interpretiert, dass man etwas sagen will, wenn man sechs statt sieben weisse Tulpen schenkt. Und weil er diese Nachbarin dann auch noch mitten auf der Strasse umarmt und diese weint, versteht Lydia gar nichts mehr, schon gar nicht, weil Karl ihr zu verstehen gibt, es zu erklären sei zu kompliziert. Aber zu dem Zeitpunkt ist Karl nicht mehr bloss gefangen, sondern verloren. Verloren in den Konsequenzen seines Tuns, verloren in einem immer intensiver werdenden Austausch übers Smartphone mit einer Frau, die er gar nicht kennt. Einer Frau, der er all jene Fragen zu stellen traut, in denen er sonst eingeschlossen bliebe. Einer Frau, die in so sehr in Bann zieht, dass sich das, was zwischen ihm und seiner Frau geblieben ist, immer mehr relativiert. Verloren, weil Karl es versäumt, es nicht bloss geschehen zu lassen.

Kai Weyand schreibt von der Liebe, jenem zarten Fluidum, dass sich allzu leicht verflüchtigt, selbst dann, wenn man es institutionell festzuhalten versucht. Wie einem die Liebe den Kopf verdrehen kann, wie der Ausbruch aus einem Gefängnis zu unsäglichem Verlorensein führen kann. «Die Entdeckung der Fliehkraft» ist geschrieben mit der Erkenntnis, dass es Halt braucht, dass man sich so sehr in den Strudel unkontrollierbarer Ereignisse hineinmanövrieren kann, dass die Folgen katastrophal sein können.

Kai Weylands Roman ist wie ein Zug, dessen Lokführer abgesprungen ist. Allein schon durch die Wucht der Geschehnisse erhöht sich das Tempo immer mehr und ein Ende ohne Schrecken ist unabwendbar. Die Lunte brennt. Und nicht einmal der, der sie entfacht, ist in der Lage, sie zu löschen.

© Dorothee Wetzel

Ein Interview:

Auf der einen Seite eine Ehe, die in Gewohnheit, Alltag, Routine und sich türmenden Missverständnissen erstickt, auf der andern Seite eine Frau, die er nicht kennt, der er schreibt, Fragen stellt, auf die er sonst nicht einmal käme, der er Dinge erzählt, von denen er erst beim Schreiben merkt, wie wichtig sie werden. Ist nicht einfach die Langzeitbeziehung ein Ding aus der Vergangenheit? Nicht einmal das gemeinsame Kind zuhause rüttelt Karl zurück. 

Ich denke nicht. Wenn wir uns verlieben, fangen wir an zu träumen und der Traum ist ja, dass das, was man erlebt, möglichst lange halten möge. Eine Langzeitbeziehung ist also das, was wir uns wünschen. 

Aber Karl und Lydia passiert, was in vielen langjährigen Beziehungen passiert: sie vergessen, was einmal gewesen war, dass die Gegenwart mal Zukunft gewesen war, also etwas, was sie sich mal in leuchtenden Farben ausgemalt hatten. Im Strudel der Alltagsbewältigung haben sie aufgehört, die guten Zeiten der Vergangenheit lebendig zu halten. Sie haben aufgehört, sich gemeinsam zu erinnern und damit dem langsamen Zerfall des Beziehungsfundaments Vorschub geleistet. Statt gemeinsam haben sie angefangen, sich allein, jeder für sich zu erinnern. Aber wenn man sich alleine für sich erinnert, besteht die Gefahr, dass das blasse Licht der Gegenwart auch die Vergangenheit blass färbt, und auf einmal denkt man, ach, vielleicht war die Beziehung ja noch nie so richtig toll. Dann verliert die Erinnerung den Kern von Wahrheit und wird zur Bestätigung des eigenen Gefühls. Damit das nicht passiert, braucht es das gemeinsame Erinnern. Das gemeinsame Erinnern ist das Gespräch für die Zukunft.

Sie filetieren die Beziehung zwischen den Eheleuten Karl und Lydia mit messerscharfem Blick. Aber auch jene zwischen Karl und seinem stumm gewordenen Vater im Altersheim. Je näher die Menschen, desto länger der Weg?

Ich glaube, da ist etwas Wahres dran. Vielleicht liegt es an Folgendem: Der Mensch, der weiter weg ist, kann erobert werden, der, der uns nah ist, muss gehalten werden. Das sind zwei verschiedene Bewegungen.

Der Schwung, nach dem wir Menschen uns sehnen, erfahren wir in der Eroberung. Da ist Tempo, wir fliegen mit wehenden Fahnen voran, spüren uns in der Bewegung, das ist etwas Wunderbares. In der Eroberung liegt ein Versprechen. Möglicherweise ist man einem Schatz auf der Spur. Das Nahe kennen wir bereits, haben wahrscheinlich schon entdeckt, dass nicht alles Gold ist, was einst verlockend geglänzt hat. Ob wir jetzt noch etwas Neues entdecken, ist ein großes Fragezeichen, und die Erkundung ist mühsam, weil man erstmal seine bereits gesammelten Urteile beiseite schieben muss. 

Das Halten erfordert Kraft und Ausdauer. Und wenn das, was man hält oder zu halten versucht, nicht mit den besten Erinnerungen versehen ist, muss man sich währenddessen noch mit der Frage auseinandersetzen, warum man das eigentlich macht. So geht es Karl mit seinem Vater. Er besucht seinen Vater im Altersheim, aber warum eigentlich, weiß er nicht. Ob es sich lohnt, etwas zu halten, was schwer ist, kann einem ja keiner sagen.

Homer dagegen, der kleine Junge aus der Nachbarschaft, dem Karl immer wieder einmal begegnet und der ihn in Rätsel und seine ungefilterte Ehrlichkeit verstrickt und Karoline, die Frau, der Karl schreibt – beide sind weit weg, scheinen Karl aber viel mehr in seinem Herzen zu berühren. Aber ob weit entfernt oder eigentlich doch so nah – Karl scheitert an Beziehungen. Nicht so bei seiner Arbeit im Gefängnis, beim Unterrichten der Gefangenen, einer Klientel, die nicht weglaufen kann, bei der er es meisterhaft versteht, Nähe und Distanz zu dosieren. Warum scheint im Beruf so einfach, was bei den Nächsten so schwer fällt?

Die Rolle im Beruf ist klarer definiert, in der Regel haben wir ein Aufgabenspektrum, das wir zu bearbeiten haben und für das wir Qualifikationen erworben haben. 

Welche Qualifikationen in einer Beziehung von Nöten sind, muss ja immer neu verhandelt und erspürt werden. Manchmal redet man, obwohl man zuhören sollte, und dann redet man noch das Falsche. Schwupps sind schon zwei Minuspunkte auf dem Konto, und die Nähe, die man herstellen wollte, hat auf einmal zu einer großen Distanz geführt. Arbeitskollegen können uns nerven, aber Partner können uns in den Wahnsinn treiben, positiv und negativ: Himmel und Hölle. Unsere Sehnsucht nach Nähe oder Distanz ist abhängig von so vielen. Morgens wünschen wir uns Nähe am Abend und dann läuft der Tag so verquer, dass wir abends nur noch unsere Ruhe haben wollen. Beim Partner ist es möglicherweise andersherum. Das richtige Distanz-Nähe-Verhältnis ist so selten, wie Tage mit der richtigen Wohlfühltemperatur, meistens ist es zu warm oder zu kalt, gerade noch war der Wind erfrischend und auf einmal ist es zu kühl.

Sie arbeiteten selbst als Lehrer im Strafvollzug. Als Lehrer baut man sich eine Aura, ein Image. Sei es im Umgang mit Kindern oder Erwachsenen. Einer dieser Sträflinge im Roman schreibt auf eine Frage, die im Unterricht gestellt wurde, ob man das Gefühl habe, zurecht im Gefängnis zu sein, Karl einen Brief. Ihre Rolle als Lehrer im Strafvollzug muss eine ganz spezielle gewesen sein. Sie waren nicht Angehöriger, nicht Bewacher. Wird man Vertrauter?

Vertrauter war ich nie, wollte ich auch nie sein, das wäre mir zu intim gewesen. Ich wollte nicht über meine Rolle als Lehrer hinaus und möglicherweise falsche Erwartungen wecken. Aber ich wollte zeigen, dass ich vertrauenswürdig bin, dass meine Worte und mein Handeln keinen doppelten Boden haben. Lernen funktioniert meines Erachtens über Beziehung. Das ist in einem Gefängnis nicht anders, als in einer normalen Schule. Der Respekt, den ich den Menschen entgegengebracht habe, das Interesse an ihnen und die Leidenschaft im Unterricht waren ehrlich und nicht gespielt. Dennoch ist man als Lehrer ein Stück weit auch Schauspieler. Das Lernen braucht auch Unterhaltung, aber die Wahrheit hinter dem Spiel muss immer ersichtlich und glaubhaft sein.  

Karl macht sich schuldig. Im Roman in mehrfacher Hinsicht. „Er entfernt Gitterstäbe“. Eine Schuld, die wahrscheinlich ungesühnt bleibt, die Karl mittragen wird. All die schweren Jungs im Knast sitzen Jahre ab für eine ihnen zugeschriebene Schuld. Auf welcher Seite der Gitterstäbe liegt die Freiheit?

Die Schuld ist natürlich ein Gefängnis, auch wenn man nicht im Gefängnis sitzt, und umgekehrt gilt es auch; man kann sich frei fühlen hinter Mauern. Die sehr schöne 4. Strophe des Liedes „Die Gedanken sind frei“ drückt das sehr gut aus. 

Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei.

Sophie Scholl hat die Meldodie dieses Liedes ihrem Vater, der wegen hitlerkritischer Äußerungen im Gefängnis saß, auf der Blockflöte vorgespielt. Das ist ein in meinen Augen sehr schönes Bild für das Gefühl von Freiheit diesseits und jenseits der Gitterstäbe. Freiheit ist da, wo man sie fühlt. 

Kai Weyand, geb. 1968, absolvierte ein Studium an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er arbeitete als Lehrer im Strafvollzug, ist Mitarbeiter einer Sozietät und lebt bei Freiburg. Sein 2015 erschienener Roman «Applaus für Bronikowski» wurde in die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015 aufgenommen.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Dragica Rajčić Holzner «Glück», Der gesunde Menschenversand

So wie das Dorf „Glück“ in Dalmatien kaputt und halb verlassen kein Ort ist, an dem man bleiben kann, ohne sich fesseln zu lassen, selbst wenn es der Ort von „Familie“ ist, ist Glück nie Zustand, höchstens Sehnsucht, ein Ort, an dem Ana nie ankommt.

„Wir Kinder hatten kein Wort
sondern dienten als Empfänger der Verheissungen des Vaters.“

Gebunden durch Gewalt in der Familie, von Generation an Generation weitergegeben, tief verankerten Verletzungen und Zerstörungen bis weit in die Vergangenheit, flieht Ana zusammen mit Igor in die USA, wandert aus, um „Glück“ zu verlassen und ihr Glück zu finden, vielleicht sogar gemeinsames Glück. Aber das Unglück, die ewige Zerstörung, klebt wie Harz am Leben der jungen Frau. Als wäre dieses in den Genen eingeschrieben, unauslöschlich, unabwendbar. 

„Ich wollte nicht Mutter werden
ich wollte fliegen
in Luft leben
Gedichte schreiben“

Die Idee einer grossen, glücklichen Liebe mit Igor auf der anderen Seite des Ozeans, in maximaler Distanz zum alten Leben, erweist sich als Irrtum. Was Igor in seiner Familie zurückzulassen versucht, wird durch Einsamkeit und Alkohol in ein Leben gebrannt, dass sich nicht aus den Ketten befreien kann. Ana wacht auf in den Schlägen ihres Mannes, im Blut ihres abgetriebenen Kindes, im Wunsch nach einem endgültigen Schnitt, ob bei ihm oder bei ihr, nur endgültig. 

„Ich glaube
mich wird der Schmerz vernichten
bevor ich es ablege
erzählen ohne Linderung
um erzählend sich zu vergewissern
dass es etwas gibt
wozu erzählen gut ist
es hilft nichts
es gibt keinen ersten Stein zu werfen“

Ana flieht in ein Frauenhaus, in ein Womenirrhaus, ein Haus der verirrten Frauen, am Leben geirrt, in der Liebe verirrt, vom Leben beirrt. In ein Haus, angespült an einen Fels aus Illusionen, geplatzten Hoffnungen und den zerrissenen Glauben an die Liebe, wo Blut geleckt wird, alle das selbe Blut lecken, gezeichnet, ernüchtert, verlassen. Wo man den letzten Rest Mut sammelt, um noch einmal beginnen zu können, um sich noch einmal zurück in die Hölle zu wagen, von der manche glauben, sie hätten einen zweiten Ausgang, einen für sich und einen für die unauslöschliche Idee einer Liebe.

„wie kann einer
sich Glück wachsen lassen
wie die Haare“

Was einst als Theaterstück aufgeführt wurde, ist nun als Text in Buchform zu lesen; kein Theater mehr, auch kein Roman. Die Autorin Dragica Rajčić Holzner bewegt sich zwischen den Sparten. Noch immer ist die Stimme der Protagonistin hörbar. Aber der Autorin geht es längst nicht bloss darum, von einem Menschen zu erzählen, der sich nur mit grösster Kraftanstrengung aus Schienen herausheben kann, von einer Gesellschaft, die von vererbter Gewalt, Stumpfheit und fehlender Empathie gezeichnet ist. Solche Geschichten gibt es zuhauf. Es ist die Art, die Kunst, wie Dragica Rajčić Holzner schreibt, erzählt. 

Gesetzt wie ein langes Gedicht stutzt man bei der Lektüre ob der Brüche, die durch den ein oder anderen „kroatischen“ Spracheinschluss verunsichern. Wortspielereien, die immer wieder zu Kippsätzen werden, die ganz überraschende Mehrdeutigkeiten erzeugen. Eine ganz eigene Textfärbung, die dem Buch nicht bloss Authentizität, sondern Eigenwilligkeit schenken. Dragica Rajčić Holzner vermeidet so, dass der Text sich auf eine emotionale Lesart einprägt. Natürlich geht es um eine junge Frau, die sich in ihrem Leben zu emanzipieren versucht. Natürlich geht es um eine Schriftstellerin, die ihre Stimme sucht, die sich aus einer scheinbar genetisch verankerten Umklammerung lösen will. Um eine junge Frau, die an die Liebe glaubt, um von ihr geschlagen zu werden, die wie viele andere mit selbstzerstörerischer Kraft zurück ins Verderben gezogen wird. Aber der Text, die Art ihres Erzählens funktioniert auch als Sound, als Spur der Verdichtung. Es gibt Sätze, die wie Hammerschläge an Intensität kaum zu überbieten sind, Szenen, die in ganz wenigen Worten maximale Wirkung erzeugen. Dragica Rajčić Holzner spielt mit der Sprache, aber nie mit mir als Leser.

„Glück“ ist literarisches Glück!

Dragica Rajčić Holzner, Geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozierende für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Rajčić Holzner schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke und hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt «Warten auf Brauch» und «Buch von Glück». Sie wurde unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.

Textauszug auf gegenzauber.literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Michael Köhlmeier «Die Nacht der Diplomaten», Svato Verlag

Schon erstaunlich. Seit über 40 Jahren wirkt der Buchkünstler Svato Zapletal in seinem Atelier, seinem Verlag in Hamburg. Dort entsteht Buchkunst für ein Publikum, dass das Buch selbst als Kunstwerk betrachtet, dem ein Buch nicht bloss Informationsträger ist, sondern Kunstobjekt selbst, Schmuck, Materie gewordenes Resultat von Leidenschaft, Meisterschaft und Liebe zu Wort, Bild und Papier.

Michael Köhlmeier, mehr als Schriftsteller, sondern König in Sachen Märchen, Sagen und Fabeln, hat in Zusammenarbeit mit dem Buchgestalter und Künstler Svato Zapletal eine Buchperle für Auge, Hand und Seele geschaffen.

Seit Erfindung der Buchdruckerkunst waren Illustrationen fester Bestandteil der Buchkunst. Selbst vor hundert Jahren blühte das illustrierte Buch. Und zwar nicht einfach in Form einer Bebilderung, sondern als Kontrapunkt, Ergänzung, Gegenüberstellung. Die Gestaltung eines Buches beschränkte sich nicht bloss auf den Satz, die Wahl des Papiers und die werbetechnisch optimale Ummantelung durch einen «Schutzumschlag». Text, Schrift, Illustration, Gestaltung bis hin zum Format, der Bindeart – alles vereinte sich im Buch.
Dass Bücher heute oft nur noch Textträger sind und weder Auge noch Hände zu schmeicheln wissen, ist dem Zwang der Wirtschaftlichkeit geschuldet. Umso mehr erstaunen mich Einzelkämpfer wie Svato Zapletal (Svato Verlag), Christian Ewald (Katzengraben Presse) oder Christa und Toni Kurz (Edition Thurnhof), die mit ihren Büchern, Publikationen und Papierkunstwerken in Kleinstauflagen Werke schaffen, die sich gegen Schnelllebigkeit, Verbrauch und Konsum wehren. Es ist ein Versuch gegen die Vergänglich- und Beliebigkeit, gegen Massenware und Masslosigkeit.

Nach Jahren, in denen sich für Svato Zapletal fast ausschliesslich klassische DichterInnen anerboten, sind es in der Gegenwart immer häufiger Namen, die auch aus zeitgenössischer Literatur den Text bieten: Doris Dörrie, Hans Magnus Enzensberger, Cees Nooteboom.
Neustes Werk aus dem Svato Verlag ist «Die Nacht der Diplomaten» von Michael Köhlmeier. Ein österreichischer Autor, der sich nicht erst seit dem Rechtsrutsch im eigenen Land pointiert zu Wort meldet. Ein Autor, der sich nicht scheut, zu gesellschaftlichen oder politischen Themen Stellung zu beziehen.

Wie wählen Sie Ihre Texte aus?
Man könnte es einfach ausdrücken: Nach Vorlieben. Am Anfang waren es Expressionistische Dichter – da fühlte ich eine Verwandtschaft. Und natürlich, jetzt immer mehr, die moderne Prosa – etwas riskant, da das etwaige Publikum mitziehen muss; das Ganze ist ja schliesslich eine kostspielige Sache, es wird zwar in einer kleinen Auflage hergestellt, aber dennoch ist es eine Auflage.

Wie gehen Sie bei der Umsetzung vor?
Lesen, lesen, lesen, immer wieder, dann zwei Wochen Pause und dann die Schrift festlegen, das ungefähre Format, dann fange ich an zu skizzieren. Das nimmt oft eine Richtung an, die überhaupt nicht verwirklicht wird. (Für dieses Buch waren es an die siebzig Skizzen, aber es waren mal auch einhundertsiebzig, bis ich wusste, was ich machen werde. Hand in Hand damit wird irgendeine „Dramaturgie“ des Buches gemacht. Da ist der Satz des Textes mit eingeschlossen. Und dann geht es an das Schneiden der Platten – meist benutze ich die Technik der „verlorenen Form“, die ist zwar etwas riskanter, aber man braucht nicht so viel Material (es sind bei den Bildern ca. 80 Druckvorgänge). Und das ist, inklusive des Druckens, mehr oder weniger Fleissarbeit.

Gibt es Rückmeldungen von Kunden?
Selten lässt sich jemand auf eine Gestaltungsdiskussion ein, es sind eher Kollegen – oder meine Frau – bei denen es eine produktive Kritik gibt. Ohne mir auf die Schulter zu klopfen, sind die Kunden oft ziemlich begeistert, da sie ja auch wiederholt kaufen; die anderen schweigen weise…

Michael Köhlmeier erzählt in «Die Nacht der Diplomaten» von einem Gespräch zwischen Henry Kissinger, damals Sonderbeauftragter für Fragen der nationalen Sicherheit in der Regierung der USA, und Tschou En-lai, Ministerpräsident der Volksrepublik China, um den Besuch von US-Präsident Nixon bei Chinas Staatsoberhaupt Mao Tse-tung vorzubereiten. Im Laufe eines immer freundlicher werdenden Gesprächs stellte Tschou En-lai jene Frage, die alle anderen Fragen übertraf: «Halten sich die Vereinigten Staaten von Amerika die Option offen, über dem Gebiet der Volksrepublik China eine Atombombe abzuwerfen?» Eine Frage, die Kissinger mit einem Ja zu einer Drohung gemacht hätte und mit einem Nein zu einem Versprechen. Also erzählte der gefuchste amerikanische Diplomat eine Geschichte. Die Geschichte eines in die Tiefe gestürzten, verwundeten Löwen.

Keine platte Geschichte, eine Geschichte, die glauben macht, es gäbe auf einfache Fragen einfache Antworten. Eine Geschichte, die einem vor Augen führt wie Macht und Politik funktioniert. Eine Geschichte, die Haken schlägt und zeigt, wie wirkliche Diplomatie funktioniert. Grossartig erzählt, grossartig illustriert, grossartig umgesetzt!

Michael Köhlmeier, geboren 1949, wuchs in Hohenems/Vorarlberg auf, wo er auch heute lebt. Für sein Werk wurde der österreichische Bestsellerautor unter anderem mit dem Manes-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet.

Webseite des Verlags

Kaspar Schnetzler «Adieu Monsieur Monet», bilgerverlag

Ein Katzenbuch? Ich lese keine Katzenbücher. Und doch ist die Erzählung «Adieu Monsieur Monet» ein Buch über eine Katze, einen Kater. Und doch kein Katzenbuch! Eine Erzählung über einen Grossvater. Darüber wie eine Enkelin mit der ihr ganz eigenen Mischung aus Bestimmtheit und Charme eine feste Ordnung aus den Fugen bringt.

Ob Kaspar Schnetzler Katzen mag, weiss ich auch nach der Lektüre nicht. Mit Sicherheit nicht die Tatsache, dass sie Haare lassen, die Katzenstreu nur schwer verbergen kann, was die Tiere hinterlassen und sich Katzen nie an demokratisch gewachsene Regeln halten. Kaspar Schnetzlers Kater, der nicht zuletzt Monsieur Monet heisst, weil der Grossvater im Umgang mit dem zugetragenen Tier genau weiss, dass der Kater nie den Stellenwert einnehmen wird, den Katzen sehr oft geniessen, ist nur geduldet. Als seine Enkelin mit ihm das Programm gegen Einsamkeit startet, war das logische Folge eines traditionellen Museumsbesuch von Grossvater und Enkelin, als sich neben einem Bild von Ferdinand Hodler ein liegender Akt von Felix Valloton in den Vordergrund drängte und die Enkelin nach einem zu lange scheinenden Blick des Grossvater diesen fragt: «Grossvater, bist du einsam?» Und weil Enkelinnen tun dürfen, was die eigenen Kinder niemals hätten tun dürfen, steht diese eines Tages mit einem Kater in einem Korb und allem Nötigen zur Erstversorgung des Jungtiers in einer Tasche am Bahnhof.

Seit ein paar Jahren, schon lange pensioniert, seine Frau war gestorben, hatte er sich in seinem klein gewordenen Leben eingerichtet. Die Beziehung zu seiner einzigen Tochter hatte lange schon Risse bekommen, mit denen er sich abgefunden hatte, nicht längst nicht mehr zu kitten waren. Einziger Grund, warum er den mehr oder minder höflichen Kontakt aufrecht hielt, war die Enkelin, mit der Grova ab und an einen Tag verbringen durfte. Und wie alle Kinder spürt das Mädchen, was Erwachsene aus lauter Zurückhaltung nie benennen würden. Es wird ein Kater einquartiert, fremdbestimmt und ohne Zurück, denn Grova würde vor dem einzigen Menschen das Gesicht verlieren, für den sich eine übermenschliche Anstrengung noch zu lohnen scheint.

Ein Kater. Nicht nur der Gang in den «Fressnapf», jenes Geschäft, das alles anzubieten hat, was der Tierliebhaber mit Freude auszugeben bereit ist, wird zum Martyrium, sondern sein ganzes Leben, das mit einem Mal vollkommen vom Eigensinn einer Katze dominiert wird. Wär «Adieu Monsieur Monet» ein Katzenbuch, hätte Kaspar Schnetzler Anekdote an Anekdote gereiht. Aber dem Autor ging es darum, was ein Mädchen mit Entschlossenheit zum Wanken bringt. Grova ist nicht erst seit Grossmutters Tod von grantiger Natur. Es scheint, als wäre die Existenz des Tieres ein letzter Feldzug aus dem Jenseits gegen die Schweigsamkeit und Engstirnigkeit eines Mannes.

Wer das Buch liest und Katzen nicht mag, wird sich auch nach der Lektüre dieser Erzählung nicht in ein Katzenabenteuer wagen. Aber er wird sich fragen, was es braucht, um aus der Bahn geworfen zu werden. Und wer Katzen liebt, den wird freuen, mit wieviel Raffinesse dieses Tier die Krone der Schöpfung gängeln kann. Kasper Schnetzler ist feinsinniger Beobachter und trifft den Ton eines nicht nur von der verstorbenen Frau Verlassenen präzis.

Und vielleicht ist «Adieu Monsieur Monet» eine Tür für die grossen Romane eines Meisters des feinen Humors.

© Ayse Yavas

Kaspar Schnetzler (1942) lebt in Zürich. Er schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays, Theaterstücke und Journalistisches. Ausgezeichnet wurde er mit einem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Zürcher Journalistenpreis, einer Ehrengabe des Kantons Zürich.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Peter Weibel «Schneewand», edition bücherlese

Warum setzen sich Menschen Gefahren aus? Warum begeben sich Menschen an jene Grenzen, die über Leben und Tod entscheiden können? Was passiert in solchen Grenzsituationen? Ist es die Sehnsucht nach der ultimativen Nähe? Peter Weibel nimmt mich in der Erzählung «Schneewand» hinauf auf einen Berg, mitten in einen Sturm, ins unsägliche Weiss tagelangen Schneetreibens. Warm anziehen!

Myriam ist hoffnungsvolle Cellistin mit politischem Bewusstsein, Kathrin Ärztin und Mutter zweier Kinder, Leon Lehrer, immer wieder an der Grenze, an seiner Aufgabe zu zerbrechen. Sie sind alle nah dran, jeder auf seine Art.

«Der Schnee war nie so gewesen. Nie wie der Schnee an diesem Morgen: Bestürzend, feindselig, fremd.»

Leon kennt die Berge, man vertraut seinem Berggängerurteil. Und als sich seine Wetterbedenken verflüchtigen, machen sich die drei auf den Weg hinauf auf den Berg, in eine Hütte weit oben, in der sie euphorisiert übernachten, um am nächsten Morgen festzustellen, dass sich das Wetter doch nicht so entwickelte, wie vorausgesagt wurde. Es schneit. Und weil es am frühen Morgen nur die Optionen gibt, schnell den Abstieg zu wagen oder in der Hütte abzuwarten, wagen es die drei. Sie trauen sich ins Weisse, stapfen durch den Schnee hinab, um irgendwann festzustellen, dass es ein Fehler war, dass man durch Lawinen, Erfrieren oder einen Absturz das Leben riskiert. Sie kämpfen sich zurück und finden zu ihrem Glück einen Rettungscontainer, der ihnen für einige Tage das Überleben sichert.

«Die Verzweiflung spaltet, weil der Widerstand nicht eindeutig ist, weil es keine klare Antwort darauf gibt.»

Menschen sitzen fest. Ausgerechnet in der Weite der Natur wird einem die eigene Endlichkeit unmittelbar vor Augen geführt. Menschen sitzen fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück, keine Entscheidung, nur das Warten und die Hoffnung. Was es zum Überleben braucht, reicht für vier, fünf Tage. Man teilt auf, nicht nur das, was zum Essen bleibt, sondern auch den Schlaf. Um nicht einfach hinüber- und abzugleiten. Man stapft durch den Schnee vor dem Container, jene wenigen Meter hin und her, die einem für eine gewisse Zeit die Wärme in die Glieder zurückgeben.
Aber vor allem stellt man sich Fragen. Die drei im Container in der sich immer weiter ausdehnenden Zeit und ich als Leser, der mir während der Lektüre die Wolldecke bis unters Kinn ziehe. Was bleibt vom Leben?

«… aber es gab keinen Lehrgang für die Ohnmacht auf der Rückseite des Wissens.»

Ganz oben auf dem Berg, ganz weit weg von allem, eingeschlossen in den Schnee sind Myriam, Kathrin und Leon Gefangene. Alle Euphorie ist weg, dafür unter jedem Gedanken nackte Angst. Im Alltag weiss man vielleicht, dass das Leben endlich ist. Aber in Situationen, in denen man unmittelbar mit dem möglichen Ende konfrontiert wird, in denen der Alltag zu einer Erinnerung, einem Traum, zu Sehnsucht werden kann, stülpt sich Innerstes nach aussen. Man beginnt zu fragen, Bilder steigen auf. Myriam beginnt von Siniša Glavašević zu erzählen, jenem jungen Mann, der in Vucovar fürs Radio Geschichten für das Leben schrieb, während draussen Bomben fielen und Häuser explodierten. Leon erzählt von seinem schwindenden Glauben an die Zukunft, dem tiefen Schmerz einer Trennung und Kathrin als Ärztin von einer sterbenden Patientin, gleich alt wie sie, deren Kinder verständnislos am Bett standen.

«Die Worte blieben lange im Raum hängen, wie Eiskristalle … an der offenen Tür, an den Wänden, auf den Kleidern.»

Peter Weibel erzählt knapp und dicht. Mag sein, dass die Erzählung durch seine Gestrafftheit manchmal etwas überladen wirkt. Als ob das Konzentrat von allem im Gegensatz zu dem unendlichen Weiss des fallenden Schnees, dem Heulen und Pfeifen des Sturmes den Lesegenuss überreizen würde. Nichts desto trotz ist Peter Weibel eine mehr als beeindruckende Schilderung einer Extremsituation gelungen, die mich mitzieht bis an die Grenzen der Existenz. Dorthin, wo die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden.

Ein kleines Interview mit Peter Weibel:

Eine Erzählung über eine Grenzerfahrung. Drei BergängerInnen eingeschlossen in Sturm und Schnee und die Angst, nie mehr zurück in den Alltag zu gelangen. Je mehr wir von den Gefahren wissen, desto mehr lockt sie. Man springt von Klippen, stürzt sich von Brücken, hangelt sich ungesichert durch den Fels. Warum braucht das der Mensch?
Die Grenzerfahrung. Ihre literarische Gestaltung ist die zentrale Linie des Textes; es gibt dazu einen bedeutenden Satz von Karl Jaspers; Wir werden wir selbst, wenn wir auf Grenzsituationen offenen Auges zugehen. Wir erfahren uns selbst an den Rändern, nicht in der Mitte des Lebens – dabei sind die Grenzsituationen, die uns zu Menschen machen, nicht die gesuchten Grenzsituationen beim Sprung von Klippen oder Brücken – es sind diejenigen, in die wir hineingeworfen werden, ohne sie gesucht zu haben: eine hereinstürzende Katastrophe, eine Epidemie (Camus’ Pest) – oder eben: ein unvorhersehbares Eingeschlossensein in Nebel und Schnee.

Je weiter man sich vom Alltag entfernt, je stärker wird die Sehnsucht nach ihm. Noch ein Paradox?
Die Entfernung vom Alltag und die Sehnsucht nach Alltag in der zu weiten Entfernung von ihm ist ein Paradox – und in dieser Dualität liegt wohl ein Dilemma unserer Existenz: Wir müssen uns von Alltag entfernen können, um ihn zu erkennen – aber wenn wir uns zu weit entfernen (oder entfernen müssen, zum Beispiel durch eine Krankheit), wird das Erkennen zum Schmerz über etwas Verlorenes.

Sie flechten in ihre Erzählung das Schicksal von Siniša Glavašević ein, der während der Schlacht um Vukovar während des Kroatienkriegs von serbischen Freischärlern umgebracht und verscharrt wurde. Oder jenes von Vedran Smailović, der als Cellist von Sarajevo in die Geschichte einging. Hinter diesen beiden, die sich in Grenzsituationen begaben, steht ihr Kampf für die Menschlichkeit. Entsteht der Drang, sich in Gefahr zu begeben durch die Sehnsucht nach Bedeutsamkeit?
Menschen wie Siniša Glavašević und Vedran Smailović (oder Izet Sarajlić, der in den Kriegsbunkern in Sarajevo Gedichte gegen den Krieg auf Papierservietten geschrieben hat) sind die einzigen Helden, die ein Krieg hervorzubringen hat. Sie sind es nicht aus Hunger nach Bedeutsamkeit, sondern weil sie in ihrer Menschlichkeit keine andere Wahl haben (Sisyphos!). Myriam spricht es in der Erzählung einmal aus: Klänge (oder Worte) können die Welt nicht verändern, sie können das Verderben nicht aufhalten – aber sie können die Welt wärmen.

Wir entfernen uns immer mehr von dem, was Leben ausmacht. Ist ihre Erzählung der Versuch, mich als Leser aus meiner latenten Betäubung zu wecken?
Es wäre vermessen, jemanden durch Literatur wecken  zu wollen. Literatur, Sprache ist nicht dazu da, belehren zu wollen – sie ist dazu da, Fragen zu stellen.

Jedem Kapitel ihrer Erzählung sind Zitate vorangestellt. Solche von grossen Schriftstellern, aber auch von solchen, denen das Vergessen droht. Zum Beispiel Walter Matthias Diggelmann oder Ludwig Hohl. Wie fanden sie den Weg in ihre Erzählung?
Die Zitate. Sie sind mir wichtig, weil sie zum Nach-Denken auffordern (im Lektorat haben wir beschlossen, jedem Kapitel ein Zitat voranzustellen). Jedes Zitat soll einen inhaltlichen Kern eines Kapitels vorauswerfen, der im Text zwischen den Zeilen steht. Und natürlich ist es auch eine Hommage an die AutorInnen, die mir alle viel bedeuten. Die meisten verwendeten Texte sind in meinem Kopf gespeichert, einzelne habe ich bewusst auf ihre inhaltliche Botschaft hin gesucht.

Foto © Ayse Yavas

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmässig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, etwa mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013), dem ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017) und verschiedenen Essaypreisen. Peter Weibel lebt in Bern.

Rezension von «Der Schmetterling schläft» (Waldgut Verlag) auf literaturblatt.ch

Rezension von «Mensch Keun» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Sorj Chalandon «Am Tag davor», dtv

Seit Jahrhunderten wird Bergbau betrieben. Und immer stiegen Menschen hinab, um den Profit jener zu bedienen, die mit dem Abgebauten das grosse Geschäft machten. Ein schmutziges Geschäft, das Tausende von Toten forderte. Und wer seine Grubenarbeit überlebte, war doch vom Tod gezeichnet, nicht nur von der Angst, sondern durch den feinen Staub, der sich in jeder Zelle festsetzt.

Am 27. Dezember 1974 sterben über 40 Bergleute in der Grube Saint-Amé in der nordfranzösischen Bergbaustadt Liévin, einer Stadt die vom Kohleabbau lebte, in der noch heute, 40 Jahre nach der Stilllegung der letzten Gruben, vieles an jene Zeit erinnert. «Am Tag davor» ist aber weit mehr als die Geschichte, das Protokoll einer Grubenkatastrophe und deren Auswirkungen. Der neue Roman von Sorj Chalandon leuchtet in die Seele eines Verwundeten, beschreibt das ganz persönliche Drama eines Mannes, der unter den Felsbrocken seiner eigenen Geschichte verschüttet liegt, der gefangen von seiner Sicht der Dinge, seinem Wahn, seiner Erklärung der Welt die Dinge in die Hand nehmen will, um sich am Leben, der Ungerechtigkeit zu rächen.

Sorj Chalondons Roman erzählt die Geschehnisse jener Tage kurz vor und kurz nach dem Grubenunglück. Im zweiten Teil des Romans ist es eine ganz andere Katastrophe. Die von Michel, der 1974 sechzehn ist und seinen älteren Bruder und Bergmann in jener Katastrophengrube im Spital sterben sieht, der sich von seinem Vater, der immer gegen die  gefährliche Arbeit untertags war, losgeschickt sieht, sich für den Tod seines Bruders und seiner Kumpel zu rächen. Einen Tod, den er dem reinen Profit zuschreibt, gezielter Liederlichkeit. Michel heiratet, bekommt eine Stelle als Lastwagenfahrer, weil er der Bruder eines Opfers ist, muss seinen verbitterten Vater vom Strick im Stall losbinden und begraben, sieht seine verbitterte Mutter sterben, findet eine Frau, die den Alp mitheiratet, die an Krebs erkrankt, die er im Sterben begleitet. Michel zieht sich immer mehr in sich zurück. Sein Plan, sich für sein eigenes und das Unglück seiner Familie zu rächen, wird zum Wahn. Bis er sich durch akribische Vorbereitung jenem Mann gegenüber sieht, den er seit Jahrzehnten für den Tod der 42 Bergleute, für den Tod seines grossen Bruders verantwortlich macht. Aus dem Verbrechen damals wird Verbrechen heute. Michel lässt sich festnehmen, nackt, mit Kohlenstaub eingeschmiert, wird eingesperrt und angeklagt.

Aber im Gefängnis, im Gerichtssaal, in Gesprächen mit seiner Verteidigerin, denen er sich immer wieder durch Schweigen entzieht, wo eigentlich der zweite Teil seines Rachefeldzuges gegen die Obrigkeit, gegen den Profit, gegen die Willkür stattfinden soll, wird Michel mit einer ganz anderen Wahrheit konfrontiert. Nicht nur Michel in seinem nie versiegenden Schmerz, sondern auch ich als Leser, der sich im ersten Teil des Romans ganz und gar auf die Seite Michels geschlagen hat, der ich darauf wartete, bis sich die Faust des Opfers gegen Ungerechtigkeit erhebt.

„Am Tag davor“ ist die Geschichte eines Wahn-sinnigen, eines Mannes, der all meine Sympathien gewinnt, der sein Leben nach einem Fehler, einem Unglück in eine Richtung drückt, die alles künftige Unglück in ein anderes Licht rückt. Der sein Tun rechtfertigt, seinem Plan, sich für all das Unglück an einem Mann und der Öffentlichkeit zu rächen, rechtfertigt. „Am Tag davor“ ist ein Roman darüber, dass nicht nur Michel in seinem Schmerz, sondern jeder seine Gegenwart, den Plan seiner Zukunft auf eine Vergangenheit baut, die er nur durch seine Augen sehen kann. Augen, die sich trüben, die verschieben, ausblenden, verwischen – lügen.

„Am Tag davor“ ist deshalb ein Meisterwerk, weil der Roman vielschichtig, nicht vorhersehbar, überraschend und entlarvend ist. Weil Sorj Chalandon viel mehr als eine Katastrophe schildert. Weil ich als Leser ertappt werde, mir als Leser genau das passiert, worin sich Michel in seinem Leben nach 1974 manövrierte; eine Gegenwart, die auf Sand baut, die wegrutscht, wenn man sich den Fakten stellt. Der Roman bietet derart viele Spielarten der Interpretation, dass man das Buch nach der letzten Seite noch lange aufgeschlagen liegen lassen will.

Vielleicht geht es Sorj Chalandon ja auch nur auf den ersten Blick um die Geschichte des Grubenunglück und das Schicksal Michels. Vielleicht ist «Der Tag davor» ein Roman darüber, was Geschichte ist. Wo die Wahrheit liegt in einer Gesellschaft, die sich Informationsgesellschaft nennt, wo scheinbar alle Fakten auf dem Tisch liegen. Grosse Literatur!

© D. Rouvre

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, war viele Jahre lang Journalist. Seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit nahezu allen grossen französischen Literaturpreisen gewürdigt. «La légende de nos pères» (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. «Die Legende unserer Väter». «Mein fremder Vater» wurde mit dem Prix du Style ausgezeichnet.

Rezension von «Mein fremder Vater» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Peter Stamm «Marcia aus Vermont. Eine Weihnachtsgeschichte», S. Fischer

«I have opened the door
In sign of surrender. The house is filling with cold.
Why will you stay out there? I am ready to answer.
The doors are open. Why will you not come in?»

Zeilen eines Gedichts, das der Erzähler in einem antiquarisch erstandenen Büchlein im kleinen Ort in Vermont findet. Ein paar Zeilen, Einladung und Abschreckung zugleich. Erinnerungen sind Türen. Und hinter manchen Türen verstecken sich Geschichten zu Erinnerungen, die durch die Zeit zu Fiktion werden. Erinnerungen sind immer erfunden. Gesehen und erfühlt durch ganz eigene Wahrnehmung, geformt und verändert bis zur Unkenntlichkeit.
Und mit einem Mal, einem Moment, in dem der Lichtschein einer fernen Erinnerung ins Bewusstsein scheint, machen sich Türen auf zu Zeiten, die in der Vergangenheit vergessen schienen. Türen, die einladen, die im Ungewissen lassen, ob es gut ist, die Tür ganz zu öffnen und einzutreten.

Peter war schon einmal in den Staaten, vor dreissig Jahren, damals noch ein unbekannter Künstler auf der Suche nach einem Weg, einem Ziel. Damals begegnete er durch Zufall auf den Strassen New Yorks einer jungen Frau, Marcia, der er für eine Zigarette Feuer gab, deren Hand er berührte, die ihn mit dieser Berührung in ein anderes Dasein zog, eine Wohnung, ein Bett, in Beziehungen, Freundschaften. Die Tage um Weihnachten bis Neujahr ziehen den jungen Mann in einen Strudel von Geschehnissen, die so intensiv sind wie sie abrupt enden. Erst drei Jahrzehnte später, wieder an Weihnachten, will Peter, mittlerweile gestandener Künstler, wissen, was aus dem geworden ist, was mit einem Mal wieder aufblitzt. Er lässt sich in eine Künstlerresidenz einladen, von der er weiss, dass sie von Marcias reichem Vater initiiert wurde, verbringt Tage im Schnee in Vermont, eingeschlossen von einem Blizzard, zusammen mit einem Bildband, in dem er Fotos von sich und Marcia findet und einem Text ganz am Schluss des Buches mit dem einen Satz «Ein Kind ward uns geboren». Peter wartet auf die Begegnung, auf Klärung, wird krank und sieht im Fieber seine Träume Fiktion und Realität ineinander verlaufen.

Eine Weihnachtsgeschichte, die die alte Frage «Was wäre wenn?» stellt. Fragen, die sich stellen, wenn die Zeit stehen bleibt, wenn man dick eingeschneit ist, wenn sich Fieberträume mit der Gegenwart queren. Ist das, was ich an Erinnerungen mit mir herumtrage, was das Fundament meines Denkens ausmacht, bloss eine sirrende Spiegelung? Eine Täuschung? Verblendung? Ist da sogar ein Kind aufgewachsen, von dem er nichts wusste.
So sehr die Reise damals, vor mehr als dreissig Jahren, ein Befreiungsschlag gegen ein altes klebriges Leben war, so sehr holt Peter in seiner eingerahmten Gegenwart ein Leben ein, dass er so nicht geführt hatte.

Peter Stamms 80seitige Weihnachtsgeschichte ist auch eine Erleuchtungsgeschichte, auch wenn das Licht an ihm vorbeizieht. «Ein Kind ward uns geboren», dieser Satz in jenem Buch, in dem Peter Fotos von sich und Marcia fand, sind wie ein Blitzstrahl in ein Leben, dass während den Tagen in Vermont, über dreissig Jahre nach den Tagen mit Marcia, zu einem Wendepunkt werden könnte, so wie Weihnachtsgeschichten fast immer Wendepunktgeschichten sind.

© Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Weit über das Land» und «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Rezension von «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Christoph Ransmayr «Arznei gegen die Sterblichkeit», S. Fischer

«Ein Schriftsteller? Ein Dichter? Nein, ich erhebe keinen Anspruch auf solche Titel. Ein Erzähler? Nennen Sie mich, wie Sie wollen», meint Christoph Ransmayr über sein Selbstverständnis als Autor. Mit «Arznei gegen die Sterblichkeit» macht Christoph Ransmayr ein Geschenk.

Drei Geschichten, ein schmales Büchlein. Damit macht man eine Zugfahrt durch eine regenverhangene Landschaft zu einem Ereignis, das unerwartet lange Warten beim Arzt zur Reise bis in die Steinzeit, man besänftigt den unruhigen Geist, der sich nachts gegen den Schlaf wehrt.

In seiner Vorgeschichte unter dem Titel «Arznei gegen die Sterblichkeit» macht sich der Schriftsteller Gedanken zu seinem Tun, seinem Schreiben, vergleicht sich mit dem alten, vernarbten Mann, der vor mehr als einer Million Jahren unter einer überhängenden Felswand an einer Feuerstelle sitzt und Geschichten erzählt. «Das einzige Tauschmittel, mit dem er … für menschliche Gesellschaft bezahlen kann, ist der Brückenschlag von den Dingen und Gestalten des Lebens über den Abgrund der Sprachlosigkeit hinweg in das Reich der Laute, des Flüsterns, des Schreiens und der Worte.» Christoph Ransmayr sieht sein Tun wie jenes des Geschichtenerzählers, der sich damit seine Existenzberechtigung gibt. Leicht nachvollziehbar in einer Zeit, in der Optimierung und Leistung zählen, in der einem eine Aufgabe zugesprochen wird, in der man zu funktionieren hat. Etwas, was mit der Kunst alles andere als harmoniert. Etwas, was immer und immer wieder Rechtfertigung fordert, dass allzu schnell und leicht als Beigemüse abgeurteilt wird, wo vergessen wird, dass das Erzählen, die Sprache, die Kunst überhaupt Identität schafft, Selbstbewusstsein. Kunst erinnert, mahnt, konfrontiert, provoziert, hinterfragt. Was wäre eine Gesellschaft, die sich all das nicht leisten würde?

In der ersten Geschichte «Mädchen mit gelbem Kleid» erzählt Christoph Ransmayr vordergründig von einer Reise nach, der Begegnung mit einem Kind, das sich mit dem Schleppen eines Wasserkanisters abmüht, denn die einzigen Rohre, die je verlegt wurden, gehören Konzernen zur Bewässerung ihrer Plantagen, von der Begegnung mit Berggorillas, dort wo Forscherin Dian Fossey hinterrücks erschlagen wurde. Ransmayr offenbart, wie sehr sich Europa über Jahrzehnte an der Welt bediente, sie sich zu Untertan machte, schamlos ausbeutete, Mensch, Tier, Natur, Bodenschätze. Dass der Reichtum Europas bis in die Gegenwart vom Blut der Jahrhunderte getränkt ist. Ransmayr reist nicht als Tourist. Schon sein Buch «Atlas eines ängstlichen Mannes» macht klar, dass Christoph Ransmayr keine Reiseziele sammelt. Es sind Begegnungen, zu denen mich der Autor mitnimmt, Begegnungen mit Menschen, mit der Menschlichkeit, auch dort, wo sie vergessen scheint.

In der dritten Geschichte «An der Bahre eines freien Mannes» erzählt er die Geschichte von Kohlhaas. Nicht jene mit der sich Kleist in den Kanon der deutschen Literatur schrieb und doch von jenem Kohlhaas, jenem aufrechten, guten Menschen, der sich mit der Justiz anlegt und an der «Gerechtigkeit» zugrunde geht. Ransmayr erzählt von seinem Vater, einem unehelichen Kind, mit vielen Talenten gesegnet und gefördert, der sich während des Krieges erfolgreich um eine Nazikarriere «drückte», Lehrer wurde, engagiertes Mitglied einer kleinen Landgemeinde, bis man ihm den Strick um den Hals legte und ihn in einem dorfinternen Machtkampf unlauterer Geschäfte beschuldigte. Sein Vater verstrickte sich mit der Justiz und dem Dorf und als er endlich freigesprochen in sein altes Leben zurückkehren wollte, starb seine von Sorgen gequälte Frau. Eine Geschichte darüber, dass es manchmal nicht reicht, Gutes zu tun, ein guter Mensch sein zu wollen. Vielleicht auch eine Geschichte darüber, dass sich Ransmayr selbst nicht traut, von sich selbst als Dichter und Schriftsteller zu sprechen.

«Arznei gegen die Sterblichkeit» ist Anstoss für vieles. Ein literarisches Kleinod, ein wunderbarer Beweis für die Kunst eines grossen Schriftstellers. Und für all jene, die Ransmayr schon lange kennen eine Ode an die Erinnerung.

© Magdalena Weyrer

Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen «Die Schrecken des Eises und der Finsternis», «Die letzte Welt», «Morbus Kitahara», «Der fliegende Berg» und dem «Atlas eines ängstlichen Mannes» erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter «Damen & Herren unter Wasser», «Geständnisse eines Touristen», «Der Wolfsjäger» und «Gerede». Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen. Zuletzt erschien der Roman «Cox oder Der Lauf der Zeit».

Autorenwebseite

Rezension von «Cox oder Der Lauf der Zeit» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Susanne Gregor «Das letzte rote Jahr», FVA

Das Jahr, in dem die Mauern fallen, sich Grenzen unerwartet öffnen, eine Zeitenwende über Europa hereinbricht; 1989. In Žilina, in der tschechoslowakischen Provinz, erleben drei Freundinnen, die in einem Plattenbau seit «Ewigkeiten» übereinander wohnen, wie sich nicht nur im Land, sondern bei der Arbeit, in den Familien, in der Schule, den Köpfen und den Herzen mit dem letzten roten Jahr alles ändert.

Die Ich-Erzählerin Miša und ihre beiden Freundinnen Rita, sie wohnt über ihr und Slavka unten, alle 14 und irgendwo zwischen Kindheit und noch nicht Erwachsensein verloren, erleben, was erst nur gerüchteweise, dann durch ausländische Radiosender und schlussendlich im Fernsehen wie ein langsamer Tsunami über die Länder am eisernen Vorhang hereinbricht. Die Vertrautheit der drei Mädchen, die unverrückbar und uneinnehmbar schien, zerbricht an den Geschehnissen, die nichts so zurücklassen, wie es einst für eine Ewigkeit eingestanzt war. Susanne Gregor schrieb einen Wenderoman aus der Sicht eines Mädchens, das sich mit dem Untergang der sozialistischen Tschechoslowakei aus Freundschaft, Familie, Sicherheit und Kindheit herausgerissen fühlt.

Susanne Gregor beginnt ihren Roman, als Miša in der Gegenwart von der Arbeit in einem Wiener Café und dem anschliessenden Besuch in der Bibliothek mit einem Stapel Bücher nach Hause kommt und den Fernseher einschaltet. In einer Vorabendseifenoper sieht sie im Hintergrund ein Gesicht, das sie kennt. Das Gesicht von Rita. Das Gesicht einer der beiden Freundinnen, die sie nach den Turbulenzen im Spätherbst 1989 aus den Augen verlor. Miša erinnert sich. Erinnert sich an einen Frühling, in dem alles in gewohntem Trott begann; die Streitereien der Eltern, die Besuche der sauberkeitsversessenen Grossmutter, die ewig mittelmässigen Leistungen in der Schule und die Beschwerden der entsprechenden Lehrer.

Aber was wie ein Rumpeln in den Tiefen der Sedimente schon vernehmbar ist, rüttelt auch an der Selbstverständlichkeit einer gewachsenen Freundschaft. Mišas Freundin Rita, die über ihr wohnt, verrennt sich immer mehr als überzeugte sozialistische Pionierin, schwänzt die Schule, weil ihre schichtarbeitenden Eltern fehlende Kontrolle zur Erziehungsmaxime erklären. Und Slavka unter ihr versteigt sich in ihrer schwärmerischen Liebe für den jungen Geschichtslehrer und ihrer Bestimmung als Gymnastiktänzerin. Momente des vertrauten Zusammenseins werden immer seltener, Selbstverständlichkeiten bröckeln.

Miša findet weder in der Schule noch zuhause jene Antworten, die die Gegenwart an Fragen stellt. Allerhöchstens Bücher tun es. Sie erzählen vom Leben, von der Liebe, von den grossen Geheimnissen. Miša weiss, dass hinter der Verstocktheit ihres grossen Bruders, hinter den Streitereien ihrer Eltern und den Andeutungen ihrer Grossmutter Wahrheiten verborgen sind, die nicht aufzuschlüsseln sind. Noch viel weniger, weil sich bis in die Familien mit den Geschehnissen des Jahres 1989 alles zu wandeln beginnt.

Es sind nicht so sehr die Geschehnisse aus der Sicht eines halbwüchsigen Mädchens, die mich an diesem Roman überzeugen, sondern wie Susanne Gregor es schafft, jene Risse in Politik und Gesellschaft, die Umwälzungen jenes Jahres aus der Sicht eines Mädchens zu schildern. Frühling, Sommer, Herbst und Winter in der Provinz, im Schatten des Weltgeschehens. Eine Welt zwischen Kindheit und Erwachsensein, Lichtjahre von beidem entfernt, dem naiven Glück eines Kindes und der geschlossenen Welt der selbst erklärten Erwachsenen. Alles bewegt sich, nichts ist mehr so, wie es einmal war. Die mit Stacheldraht und Schiessbefehl gesicherten Grenzen brechen auf, die Berliner Mauer fällt. Aber die Mauern und Grenzen fallen auch in den Menschen, die sich nicht mehr hinhalten lassen. Susanne Gregor erfühlt den Schmerz zerbrechender Freundschaft, einer Desillusionierung, die in ein ganzes Leben einbricht.

«Das letzte rote Jahr» ist ein Roman des grossen Aufbruchs, solide erzählt mit dem sicheren Gespür für die Feinheiten im Kleinen wie im Grossen. Die fast nüchterne Erzählweise kontrastiert mit den umwälzenden Geschehnissen des letzten roten Jahres, wie immer dünner werdendes Eis zerbricht, Geschehnisse auf der grossen Bühne Familien zerreissen, bis Vaclav Havel, damals eben mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet und eben noch Monate wegen «Rowdytums» im Gefängnis, zum ersten Präsidenten eines neuen Landes wurde.

Susanne Gregor, 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich. Nach dem Studium der Germanistik und Publizistik in Salzburg lehrte sie ein Jahr lang an der University of New Orleans. Seit 2005 wohnt Gregor in Wien, wo sie Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. 2009 gewann sie den Förderpreis des Hohenemser Literaturpreises und 2010 den ersten Preis der exil-literaturpreise. 2011 erschien ihr Debütroman «Kein eigener Ort», 2015 der zweite Roman «Territorien», 2018 folgte der Erzählband «Unter Wasser».

Webseite der Autorin

Zum Beitragsbild: Nach der Lektüre von Vaclav Havels Buch «Angst vor der Freiheit» (Rowohlt) schrieb ist damals in aller Naivität einen Brief an der Adresse der Prager Burg. Zurück kamen zwei von Sachbearbeitern geschriebene Sätze und ein Foto mit der Signatur Vaclav Havels. Seither steht steht die Fotographie auf einem Regal in meiner Bibliothek.