David Wagner «Der vergessliche Riese», Rowohlt

Er besucht seinen Vater. Einen Vater, der sich ungewollt immer mehr von ihm entfernt. Einen Vater mit Demenz. Dieses grosse Vergessen, das einem einen Menschen wegnimmt, immer weiter weg, bis dieser trotz körperlicher Nähe ganz entschwindet, bis sich das Vergessen durch alles hindurchgefressen hat.

Als Arno Geiger 2011 seinen Roman „Der alte König in seinem Exil“ veröffentlichte, war es ganz offensichtlich für viele Leserinnen und Leser, als hätte da jemand ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, die Geschichte einer unaufhaltsamen Abkehr, die Geschichte um einen an Alzheimer erkrankten Vater. Ich war an einer Lesung des Schriftstellers, an der er schon zu Beginn der Lesung klarmachte, dass er weder Fachmann in Fragen zu dieser Krankheit sei und auch keine Lust habe, eine Pandorabüchse zu öffnen.

David Wagner erzählt die Vater-Sohn Geschichte bis zu jenem letzten Satz: „Wer sind eigentlich deine Eltern?“ Eine Erzählung über einen langen, unvermeidbaren Abschied. David Wagner erzählt von den Besuchen des Sohnes bei seinem Vater. Zuerst im Glashaus in Andernach, später in der grossen Villa für Demenzkranke am Rhein. David Wagner schildert Begegnungen, in denen er Dialoge in Echtzeit erzählt, wie sich Wiederholungen immer mehr ausbreiten, die Entfernung aus der Gegenwart immer grösser wird. David Wagner tut dies so schlicht und geradlinig, dass ich mich tief in die Begegnungen hineingezogen fühle, ohne dass der Schriftsteller je in eine sentimentale Ebene abrutschen würde. Ich werde unmittelbarer Zeuge eines Verschwindens. Ich werde durch die immer gleichen Fragen des Vaters, der äusserlich noch immer rüstig und agil erscheint, durch die herzlich hartnäckigen Antworten des Sohnes tief in dieses Gefühl hineingesogen, als würde die Insel im Meer des Vergessens Stück für Stück wegbrechen und immer kleiner werden. Nur die fernen Streifen in der Vergangenheit, die Bilder aus der Kindheit aus der Familiengeschichte während und nach dem grossen Krieg, sind unmittelbar, als würden sie wie Wetterwolken in die absolute Windstille des Vergessens einbrechen.

Es sind nicht die Geschichten der Familie, nicht die Episoden von Vater und Sohn, auch nicht die zuweilen auftretende Komik, sondern die Art und Weise, wie David Wagner über diese Besuche schreibt, seine Zurückhaltung, seine Liebe, seine Behutsamkeit, sein Respekt. Wenn ein Vater nur mehr in der Erinnerung der Riese ist, der einem auf seinen Schultern durch das Leben trägt.

Es wird bei Lesungen aus diesem Buch ganz ähnlich sein wie bei Arno Geiger. David Wagner macht eine Tür auf, von der wir lieber wollen, dass sie geschlossen bleibt. Und für all jene, die gezwungen wurden hindurchzugehen, jenen Menschen an der Hand zu nehmen, weil ein Gang alleine immer unmöglicher wird, jenen gibt er zwar keine Hoffnung, aber den Mut, den Zauber einer Kleinigkeit. Der Vater ist schlussendlich im Pflegeheim, im Waisenhaus für alte Kinder. Ausgeschlossen von den Erinnerungen, die nicht mehr einzuordnen, nicht mehr kontrollierbar sind. Eingeschlossen ins Vergessen. Und wenn dann diese Vater-Sohn-Gespräche mit einem Mal voller Tiefe, Weisheit und Wissen strahlen, dann wird klar, dass Demenz nicht nur ein dunkler, schwarzer Abgrund sein muss.

© Linda Rosa Saa

David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Sein Roman «Vier Äpfel» stand er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

Rezension von «Ein Zimmer im Hotel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild: Sandra Kottonau